"Find out
What this fear is about ..."
(Tears for fears - "The working hour")


Am Ende eines langen Tages

... blicke ich auf ein Regal mit unerledigten Sachen. Jede von ihnen ist ein Sinnbild für etwas, mit dem ich nicht fertiggeworden bin. Im goldenen Licht der Abendsonne stehen hölzerne Eisenbahnwaggons aufgereiht, es gibt einen Setzkasten mit Figürchen, daneben Bauklötze und Bücher. Die Sachen erinnern an Icons der Zeichensätze "Wingdings" und "Dingbats", lauter Symbole für Buchstaben oder geschäftliche Angelegenheiten.
Das Leben ist eine Investition, eine abstrakte Aufgabe, die man lösen oder verfehlen kann. Das Gold der Abenddämmerung wird zu schwarzen Pixeln auf weißem Grund.
Das Regal ist einfach gezimmert aus groben Brettern und steht im Büro des Copyshops, wo ich arbeite. Die Figuren im Setzkasten scheinen auf etwas zu warten; ihre Plastikaugen haben einen gespannten, offenen Blick, wenn sie in der Abendsonne aufglühen. Während ich meinen Schreibtisch aufräume, sehe ich die orange leuchtenden Eisenbahnwaggons und denke:
"Der Weg ist das Ziel. Es gibt keinen Anfang und kein Ende."
Danach spiele ich "Men at work", ein Computerspiel aus früheren Zeiten, in dem es darum geht, möglichst viel in möglichst wenig Zeit zu schaffen, um eher Feierabend zu bekommen. Für das Spiel mußte ich meinen Computer erst herrichten, weil es dafür sonst zu veraltet wäre. Viele Speichermedien sind sehr kurzlebig, und ich finde es wichtig, ausrangierte Rechner aufzuheben, um auch ältere Daten noch lesen zu können.
Gwyneth, die bei uns Praktikantin war, hat sich nicht auf digitale Datenträger verlassen. Sie schrieb ihre Aufzeichnungen mit Feder und Tinte in romantisch verschlungener Schrift auf Papier, meistens handgeschöpftes Bütten. Sie hatte das im Kunstunterricht gelernt und Freude daran gefunden. Ihre Texte können Jahrhunderte überdauern. Umso flüchtiger war ihr eigenes Leben. In diesem Leben blieb vieles unerledigt. Ich sehe es vor mir wie ein verstaubtes Werkzeugregal, in dem niemand aufgeräumt hat.
"Ich, Gwyneth" lautete die Überschrift eines Lebensberichts, den Gwyneth in den Copyshop mitbrachte.
"Das haben wir in der Therapie gemacht", erzählte sie.
"Mit dreizehn bin ich mit meinem Freund zusammengekommen", schrieb Gwyneth, "und den hatte ich, bis ich neunzehn wurde. Er stand schon auf mich, als ich sechs war, aber er hat noch gewartet bis kurz vor meiner Konfirmation, ehe er mir gesagt hat, daß er auf mich steht. Da war er vierzig. Es war unser Nachbar. Meine Eltern durften nicht wissen, daß ich mit ihm zusammen war. Sie sollten glauben, daß es nur ein Bekannter der Familie wäre. Das war aber ganz einfach, meinen Eltern das vorzuspielen. Die haben wenig gefragt. Sie haben sich nur gewundert, daß ich am Strand mit Pullover rumgelaufen bin. Mein Freund wollte nicht, daß andere mich im Bikini sehen. Er hat mir gesagt, was für Sachen ich anziehen soll. Ich wollte, daß ich ihm gefalle, denn er war auch immer nett zu mir. Er wollte aber nicht, daß ich noch Freunde und Bekannte habe außer ihm. Er wollte, daß ich immer für ihn da bin, und dafür war er auch immer für mich da. Irgendwann war es mir aber zuviel, ich wollte nicht mehr so eingeengt werden. Ich bin zu Hause ausgezogen und habe meinen Freund verlassen. Er bedroht mich seitdem am Telefon. Dabei hat er schon wieder eine andere Freundin, die ist dreizehn. Und ich habe mich verliebt in Elisabeth, die seit einem halben Jahr bei mir wohnt. Meine Eltern wollen nicht, daß wir zusammen sind, weil sie mitbekommen haben, daß Elisabeth mit Drogen zu tun hat. Als ich mich das erste Mal so richtig mit Elisabeth gestritten habe, habe ich mich danach zum ersten Mal selber verletzt. Ich habe mit einer Rasierklinge so fein geschnitten, daß man hinterher nichts mehr sieht oder fast nichts. Ich habe neue Tattoos, Celtic-Muster, die wollte ich nicht zerstören."
Als Gwyneth bei uns im Copyshop anfing, hatte sie sich gerade von ihrem Freund getrennt und ihre hochgeschlossenen Kleider abgelegt. Sie ging nun sehr schick und elegant in Schwarz, mit halbdurchsichtigem Oberteil, Lackhose und 15-Loch-Plateaustiefeln. Ihre Augen waren sorgsam geschminkt und mit feinen Kajalstrichen umrahmt, die schwarz gefärbten Haare hatte sie in feine Zöpfchen geflochten und kunstvoll aufgesteckt. Ihre jugendliche Schönheit ließ die innere Verwüstung nicht ahnen.
Im Copyshop gefiel es Gwyneth. Sie hatte Pläne, eine Druckerausbildung zu machen.
"Ich weiß aber nicht, ob ich dafür genug Durchhaltevermögen habe", schrieb sie auf einer Grußkarte an die Mitarbeiter des Copyshops, einige Wochen nach Beendigung ihres Praktikums. "Ich hoffe, ihr mögt mich, auch wenn ich nicht immer nett zu euch war. Es ist ein langer Weg, das zu werden, was ich sein will - ich, Gwyneth."
Das ließ mich an meinen eigenen Weg denken. Wann war ich wirklich "ich, Laureen"? Wann war ich mit mir zufrieden?
Der Informatikstudent Shara teilt meine Begeisterung für das nostalgische Spiel "Men at work". Er hat eine Vinylplatte der Band Men at work, ein Album aus dem Jahr 1983, als noch niemand an CD's dachte.
"Wir können nicht immer nur arbeiten", findet er, "wir müssen uns auch mal umdrehen und rückwärts blicken. Sonst geht uns unsere Vergangenheit verloren und damit auch unsere Zukunft. Wir müssen stehenbleiben lernen ohne die Furcht, danach nicht mehr weiterlaufen zu können."
Shara kennt eine Sozialarbeiterin aus der Beratungsstelle, wo Gwyneth in Therapie war. Sie hat ihm erzählt, daß Gwyneth eines Tages, anstatt sich zu verletzen, Tabletten eingenommen hat und daran gestorben ist, im Alter von gerade zwanzig Jahren. In aller Stille hat sie sich davongestohlen.
"Die Leute in der Beratungsstelle sind nicht sicher, ob Gwyneth wirklich sterben wollte", berichtete Shara. "Es kann auch nur als Hilferuf gedacht gewesen sein, der dann auf tragische Art fehlgeschlagen ist."
Das Schicksal ist asymmetrisch. Es gibt Menschen, die wollen am Leben bleiben und können es nicht, es gibt Menschen, die können am Leben bleiben und wollen es nicht, und es gibt Menschen, die nicht wissen, ob sie leben wollen oder nicht.












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