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Ein Ausflug
Darien bewunderte den großen dunkelbärtigen Mann, der vor einem technisch hochgerüsteten Kleintransporter stand und ihm dessen Innenleben erklärte. Der Mann hieß Irvin und redete endlich einmal so mit Darien, wie er es sich von den Erwachsenen wünschte. Der elfjährige Darien fühlte sich selbst schon ein bißchen wie ein Erwachsener, auch wenn er noch die Sachen aus der Kinderabteilung tragen mußte.
Bei Irvin war eine junge Frau mit langen curryfarbenen Locken, die hieß Kendra und war Irvins Freundin. Kendra hatte Augen wie Honig und eine Haut wie Bronze. Darien fand sie wunderschön, wie eine Fee.
"Willst du nicht ein Stück mitfahren?" fragte Irvin schließlich.
Er sollte nie zu Fremden ins Auto steigen, das wußte Darien. Andererseits taten seine Eltern nicht eben viel, damit er das Vergnügen haben konnte, das er sich erträumte.
"Sie haben selber schuld", dachte Darien. "Bin ich eben weg. Und mit so einem Auto!"
Der Kleintransporter hatte vorne drei Plätze, Darien bekam den mittleren. Es ging über die Bundesstraße, bis zu einem Tankstellenmarkt. Irvin kaufte Zigaretten. Die blondierte Verkäuferin erzählte mit einem Seufzen:
"Ja, seit sie überall Personal abbauen, muß ich drei Tankstellenmärkte alleine betreuen ... stellen Sie sich das mal vor ... alleine! Da bin ich immer in dem mittleren, der liegt zwischen den anderen, die in den Nachbardörfern sind."
"Und wie bezahlen die in den anderen Märkten?" fragte Darien.
"Da steht die Kasse, und die Leute legen das Geld 'rein", erklärte die Verkäuferin. "Eigentlich sollte das mit SB-Kasse laufen und überwacht werden mit Kameras, aber die SB-Kasse, das wird nichts, weil die meisten Leute hier nicht mit Karte bezahlen können. Und die Kameras sind seit ein paar Monaten offline ... das darf man eigentlich gar nicht erzählen ... aber hier draußen in der Provinz geht es halt noch anders zu."
Der Tankstellenmarkt im Nachbardorf war ebenso herausgeputzt wie der vorherige, mit Lichterketten und Zierblumen. Auf dem Tresen standen Töpfe mit Usambara-Veilchen. Darien beobachtete die Kunden, die ruhig und mit Sorgfalt ihr abgezähltes Geld in die Kasse legten, wenn sie etwas ausgesucht hatten. Es war eine einfache Kasse, ein Metallbehälter mit einem Griff am Deckel - wie die, die man auf Schulfesten neben das Waffeleisen stellt.
"Welch ein Vertrauen", ging Darien durch den Kopf.
Kendra stand in der Tür und wartete, bis kein Kunde mehr im Geschäft war.
"Oh, ich darf mir bestimmt etwas leihen", sagte sie mit Kinderstimme und einem großen Aufschlag ihrer langbewimperten Honigaugen.
"Die Kasse ist nicht da, um etwas zu leihen", mahnte Darien. "Die Kasse ist da, um zu bezahlen."
"Für mich ist sie auch da, um etwas zu leihen", wisperte Kendra mit rauher Stimme. "Mir leiht sie etwas. Ich gebe es ja auch gleich wieder zurück, nicht wahr?"
"Das ist nicht richtig", sagte Darien.
"Für mich ist es richtig", erwiderte Kendra. "Die Kasse hat nichts dagegen, daß ich sie mitnehme. Ich bringe sie ja auch wieder zurück."
Sie ergriff die Kasse und brachte sie ins Auto.
Die nächste Station auf der Fahrt war eine Veranstaltungshalle - ein schmuckloser Betonbau, jedoch das offene Portal und das warme Licht, das durch die großen Fenster strahlte, gab ihm etwas Weihevolles. Umrahmt wurde das Gebäude durch Waschbetonplatten, Grünanlagen und Pflanzkübel aus Waschbeton.
Irvin stellte den Kleintransporter vor dem Portal ab und ging hinein, als sei er ein geladener Gast. Darien wartete mit Kendra im Auto. Eine halbe Stunde dauerte es, dann kam Irvin mit Siegermiene zurück, setzte sich ans Steuer und berichtete:
"Die waren alle da, die Stadtverwaltung, die Wirtschaft, die ganzen Leute mit Geld. Die jammern zwar immer, sie haben keins mehr, aber wenn es darum geht, sich eine neue Insel oder einen neuen Schlitten zu kaufen, haben sie immer welches."
In einem Bierstübchen mit Buntglasfenstern setzte Irvin sich mit Kendra und Darien an den Tresen. Darien entschuldigte sich, um zur Toilette zu gehen. Auf dem Rückweg zögerte er. Irgendetwas im Hinterflur - ein verblichenes Tapetenmuster, ein Geruch wie nach Bohnerwachs, das Schlagen einer dünnen Holztür - ließen ihn innehalten. Er blickte vorsichtig in den Schankraum und lauschte.
Irvin saß dem Wirt gegenüber und raunte geheimnisvoll klingende Worte, ähnlich wie ein Zauberkünstler.
"Und, was heißt das?" fragte der Wirt.
"Das heißt übersetzt, daß wir Lösegeld wollen", erklärte Irvin. "Das habe ich denen aber nicht gleich gesagt, ich wollte erst eine Show machen und dann damit 'rüberkommen. Und dann habe ich gesagt, ihr könnt mich festnehmen oder umbringen, das ist ganz gleich, aber dann ist der Junge tot. Und das wollten die nicht. Also bin ich durch den Mittelgang aus dem Saal ... ganz langsam über den roten Teppich ..."
"Und keine Polizei."
"Nein, ich habe gesagt: 'Keine Polizei.' Und da war keine Polizei. Die konnten wohl immer noch nicht wechseln, worum es ging. Die dachten wohl immer noch an einen Trick."
"Entführer", erkannte Darien. "Und die Geisel bin ich."
Leise öffnete er eine Hintertür, schlich am Haus entlang und kam auf einen schmalen Gehweg. Vor ihm lag eine breite Treppe, die talwärts führte. In der Mitte verlief ein stählernes Geländer. Darien konnte gut über Geländer rutschen. Es war eine Möglichkeit, schnell viel Land zwischen sich und die Entführer zu bringen. Als Darien unten angekommen war, ließ er sich verschlucken von dem Gestrüpp einer Brache, einem niedrigen Wald. Im schattigen Grün leuchteten die Zweige weiß blühender Bäume. Darien lief über den federnden Boden bis zu einem Mäuerchen, auf dem sich früher ein Zaun befunden hatte. Nichts war zu hören außer seinen eigenen Schritten. Darien stieg über das Mäuerchen, drehte sich um und schaute zurück, reglos dastehend.
"Entweder lauern sie ... oder sie wissen noch nicht, daß ich weg bin ... oder sie suchen mich, haben mich aber noch nicht gefunden", ging er verschiedene Möglichkeiten durch.
Darien kannte sich in dieser Gegend nicht aus und hoffte, auf Park- und Wanderwegen eine ausreichend große Entfernung zurücklegen zu können, damit die Entführer bei dem Versuch scheiterten, ihn mit dem Auto zu finden. Es war dunkel geworden, als Darien mit Anlauf in einen Bus stürmte, der eben seine Türen öffnete. Darien setzte sich auf die Rückbank, zog sein Handy hervor und rief zu Hause an.
"Wo bleibst du denn?" fragte die Mutter entgeistert. "Du hast doch noch Schularbeiten zu machen."
"Ich hatte zu tun", erklärte Darien. "Ich mußte zwei Entführer abschütteln."
"Was für Entführer?"
"Kinderräuber."
"Ach - die aus dem Festsaal, von denen die im Radio erzählt haben?"
"Die waren das", nickte Darien. "Denen bin ich entkommen. Ich bin schon im Bus nach Hause. Und ich wollte dich fragen, ob du mich von der Haltestelle abholen kannst, nur zur Sicherheit."
"Nun mach' aber halblang."
"Na, ausnahmsweise mal", bat Darien.
"Du läßt dich kidnappen, und dafür darf ich am Abend nochmal mit dem Auto 'rausfahren."
"Alles klar - gleich an der Haltestelle?" vergewisserte sich Darien. "In siebzehn Minuten bin ich da. Ist echt nett von dir, echt."
"Ja, ich bin echt nett. Ach ja - was ist eigentlich mit dem Hemd, das aus dem teuren Geschäft?"
"Das hängt im Schrank."
"Ach, da bin ich aber erleichtert, daß du das heute nicht anhast", seufzte die Mutter. "Ich stelle mir gerade vor, die Gangster knallen dich ab, und das Hemd ist hin, das kann man doch dann nicht mehr flicken."
Sie wartete an der Haltestelle auf Darien. Als beide die Treppe im Hausflur hinaufgingen, sagte die Mutter in Gedanken:
"Eigentlich bin ich doch bescheuert. Warum rege ich mich darüber auf, was mit deinem Hemd passiert? Es ist doch dein Hemd, ich muß es doch nicht anziehen. Das ist genauso, wenn Frau Manthey zum dritten Mal ihre teure Uhr verliert. Darüber brauche ich mich auch nicht aufzuregen."
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