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Wasserschloß
Umrankt vom Grün der Schlingpflanzen stand auf dem Grunde eines Mühlenweihers ein Schloß, besetzt mit Kieselsteinchen, und seine Bewohner hat kein Menschenauge je gesehen. Sollte doch einmal jemand hinuntergeraten, so kehrte er nie wieder zurück in das Licht des Tages. Unten im Teich war es finster wie in einem Keller, selbst bei strahlendem Sonnenschein drang nur ein mattgrüner Schimmer hinab zu dem schlammigen Boden.
Schon vierhundert Jahre lebte der Wassergeist Ares in diesem nassen Keller. Er hatte alle seine Brüder vertrieben, die ihm das Schloß streitig machen wollten, das der Vater hinterlassen hatte. Durch den Wiesenbach waren sie fortgeschwommen zu anderen Gewässern. Die Mühle war längst abgerissen worden, und statt ihrer wurden Lagerhallen gebaut. Ares hörte das Rattern der Lastfahrzeuge aus der Ferne. Dort oben ging die Zeit weiter. Ares befürchtete, man könnte den Weiher zuschütten, doch um ihn herum wurden Schotterwege angelegt, und das Gras wurde gemäht. Dies erzählten die Nixen, die Ares zu Diensten waren. Nachts tauchten sie aus dem Weiher auf und sahen sich um.
Im Winter fror der Weiher zu. Ares betrachtete von unten die wachsende Eisschicht.
"Niemand kann mehr hinaus", dachte er, "für Wochen werde ich nicht mehr erfahren, was oben vor sich geht."
Er betrat die Grabkammer im Erdreich, wo die Vermißten lagen. Daß sie ertrunken waren, konnte man droben nur vermuten. Wohin ihre Körper verschwanden, blieb ein Rätsel. Die Menschen verbreiteten die Legende vom Wassergeist, der niemanden mehr hinaufließ, der je sein Schloß gesehen hatte.
In der Grabkammer stand eine Truhe mit Schätzen, die in den Teich gefallen waren. Die Menschen wagten schon lange nicht mehr, nach ihnen zu tauchen. Ares war besonders stolz auf einen Ring aus Platin, in den graviert war:
"Lilia für immer."
Er steckte sich den Ring an den kleinen Finger. Lilia würde ihm nie gehören, aber den Ring konnte ihm keiner wegnehmen.
ice pond
Auf der Eisfläche liefen sie Schlittschuh. Ares lauschte dem Kratzen der Kufen. Er wollte sich nicht danach sehnen, bei den Menschen zu sein.
"Was sind die schon?" sagte er zu seiner Kurtisane Heron. "Diese niederen Kreaturen ... gewöhnliche Menschen, die kaum jemals hundert Jahre alt werden."
"Wart Ihr nie da draußen?" fragte Heron.
"Du weißt es nicht besser, du bist erst zweihundert Jahre alt", entgegnete Ares, "aber ich versichere dir, es lohnt sich nicht."
Heron fragte nicht weiter, um ihren Herrn nicht zu verärgern.
Der Frost dauerte lange. Die Menschen schlugen Löcher in das Eis und nahmen große Blöcke heraus, weil sie an das Wasser kommen wollten.
"Ich muß doch einmal sehen, wie es da zugeht", dachte Ares an einem besonders kalten Tag.
Er hüllte sich in einen Mantel, der unsichtbar machte, stieg durch eines der Löcher hinauf und ging ans Ufer. Der sandige Boden war hartgefroren und mit Rauhreif bedeckt. Der Himmel war grauweiß, und es war etwas neblig. Ares konnte kaum ins Licht sehen, so ungewohnt hell war es hier oben. Er ging durch das verlassene Betongerippe eines Rohbaus. Es war Sonntag; heute arbeiteten sie nicht.
Eine Gestalt fiel ihm auf, die trug ein flatterndes eisblaues Kleid, das zu leicht war bei der bitteren Kälte. Die Gestalt kehrte sich um und schaute Ares mit großen Augen an. Der Mantel, der unsichtbar machte, war an einem Betonvorsprung hängengeblieben und hatte sich gelöst, so daß sie ihn sehen konnte.
"Ist das nicht zu kalt?" fragte Ares.
"Auf Erden friere ich nicht mehr", erwiderte die Gestalt. "Und du? Was trägst du für ein seltsames Gewand?"
Er betrachtete ihre blaßblauen Haare, die in kleine Zöpfchen geflochten waren und wie ein Wasserfall über ihre Schultern fielen.
"Und warum sind deine Haare blau?" fragte er.
"Meine Haare sind aus Plastik", erklärte sie. "Ich habe sie nur angesteckt."
"Warum läufst du in diesem Kleid herum? Du bist doch viel zu dünn angezogen."
"Und warum läufst du hier völlig durchnäßt bei Frost über die Baustelle?"
"Eigentlich hättest du mich doch gar nicht sehen sollen. Der Mantel hier ... dafür kann ich nichts, wenn der aufgeht."
"Bist du der Wassergeist, von dem die Leute reden? Dann kannst du mir meinen Ring wiedergeben, den ich im Teich verloren habe."
"Den kriegst du nicht mehr."
"Hab ich's geraten, du bist der Wassergeist."
"Und du bist Lilia. Lilia für immer."
"Ich war Lilia."
"Und was bist du jetzt?"
"Ihr Geist. Ich bin in der Luft zu Hause und darf manchmal zur Erde kommen, und jetzt bin ich wieder hier und suche nach jemandem, der mir den Ring wiedergeben kann."
"Wer hat ihn dir eigentlich gegeben?" fragte Ares. "Dein Verlobter?"
"Nein, das war mein Taufgeschenk. Er soll mich für immer verbinden mit dem, der mir etwas Verlorenes wiederbringt."
Ares zog den Ring vom Finger und gab ihn dem Geist.
"Nimm ihn und vergiß mich", verlangte er. "Nimm ihn und vergiß, daß ich mich vergessen habe."
Die bleiche Gestalt nickte. Sie erhob sich in die eisige Luft und löste sich auf in dem grauweißen Nebel.
ice sky
"Hier oben in der Kälte hätte ich mir fast die Finger verbrannt", erschauerte Ares. "Nur wieder hinab in das Wasser, hinab in die Dunkelheit ... und vergessen."
In der Nacht ging Heron auf die Suche nach Ares. Sie fand nur seinen Mantel, festgefroren auf der reifbedeckten Erde.
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