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Dezember-Rosen
Es war ein lichter, klarer Morgen mit frostiger Luft. Rauhreif glitzerte auf dem gepflasterten Weg, der zum Hauseingang führte. Die schwere hölzerne Tür mit dem Rundbogen hatte ein auf der Spitze stehendes vergittertes Fensterchen. Auch die Fenster neben der Tür trugen schmiedeeiserne Gitter. Rings um die Tür rankten Kletterrosen an der verputzten Wand hinauf. Sie trugen immer noch einige lichtrosa Blüten, als wenn der Frost ihnen nichts anhaben konnte. Gestern hatte es geschneit, und eine feine Schneedecke lag auf den Dächern und in den Gärten.
Granya empfing Cydat im Eingangsflur.
"Du solltest heute im Haus bleiben", sagte er zu Granya, die sich einen schweren Kaschmirschal umgelegt hatte.
"Steht wieder etwas in der Zeitung?" fragte sie.
"Ach ...", zögerte Cydat. "Du kennst das doch. Die neue MCD ist draußen, das Video ist da gleich mit drauf, und die Leute sehen dich, und alles ist wie immer. Du kannst dich verhüllen, und sie erkennen dich doch. Das hat keinen Sinn."
"Ich verstehe das einfach nicht", seufzte Granya. "Ich gehöre nicht zu den Leuten, die mit viel Geld in die Charts gehypt werden. Ich gehöre noch nicht einmal zu der Band richtig dazu."
"Es ist eine Art Magnetismus", meinte Cydat. "Es ist eine magnetische Ausstrahlung. Du läßt niemanden kalt. Entweder sie verehren dich und verfallen dir, ohne es zu merken und ohne zu wissen, warum ... oder sie entwickeln Ablehnung, Geringschätzung und Haß."
"Neid ... Eifersucht ...", nickte Granya. "Ich sehne mich nach den Tanznächten im 'Bunker'. Da gibt es abstrakte Musik und lauter Menschen, die dasselbe Schicksal haben wie ich - sie fallen immer nur auf. Im 'Bunker' kann man in der Musik und in der Menge untergehen."
"Ich weiß nicht, wie ich empfinden würde, wenn ich ein Mensch wäre", überlegte Cydat. "Ich bin nur eine Maschine. Vielleicht kann ich deshalb mit dir eng zusammenarbeiten und dein Manager sein."
"Das ist es - arbeiten. Jemanden wie mich kann man nirgendwo einstellen. Als Angestellte muß ich ein bestimmtes Haus vertreten, eine Firma. Ich aber bin nur ich selbst und stehe auch nur für mich selbst und für die Filme, in denen ich zu sehen bin. Ich bin zu bekannt. Wenn ich daran denke, es gibt Leute, die ziehen sich vor der Kamera aus und so weiter, und die meisten davon vergißt man ganz schnell wieder, es sei denn, man erinnert sich an ihre schönheitschirurgischen Verstümmelungen. All diese Skandale sind mir fremd, und dennoch ..."
"Manche Menschen trifft es halt."
"Kennst du irgendwen, den es so getroffen hat wie mich? Der das alles kennt? Den will ich kennenlernen, damit mich mal jemand wirklich versteht."
"Sylvain."
"Ach, Sylvain. Ich fühle mich ihm so nahe, daß ich ganz vergessen habe, daß es ihm kein Stück anders geht als mir. Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen ..."
Als Cydat gegangen war, setzte Granya sich im Wintergarten auf eine Recamiere aus Peddigrohr. Der Überwurf der Recamiere war bestickt mit rosa Rosen.
"Wann hören die Rosen vor der Haustür eigentlich auf zu blühen?" fragte Granya in Gedanken. "Wie halten sie dem Frost stand?"
Im Radio erzählte jemand von einem Unfall auf der A8. Es klingelte. Granya schaute durch das Fensterchen in der Haustür, sah aber niemanden. Sie legte die Kette vor und öffnete die Tür einen Spalt weit.
"Sylvain!"
Sie konnte die Tür nicht schnell genug aufbekommen. Während sie Sylvain ins Innere des Hauses zog und die Arme um seine Schultern legte, dachte sie darüber nach, wie er durch die Lichtschranken aufs Grundstück gelangt war, ohne daß Alarm ausgelöst wurde.
Im Wintergarten setzte sich Sylvain neben Granya auf die Recamiere.
"So geht es nicht", sagte Granya.
Sie streifte Sylvain den Mantel von den Schultern, setzte sich auf seinen Schoß und lehnte ihren Kopf an seine Halsbeuge.
"Das kann ich nicht fassen", sagte sie und holte tief Atem. "Hier habe ich hinausgesehen, durch diese Fensterscheiben, auf den Abhang. Im Nebel habe ich dich gesehen, in dem dunklen Wald dort unten habe ich dich gesucht, immer habe ich dein Bild vor Augen gehabt. Und jetzt kann ich dich hier in den Armen halten ..."
"War ich wohl ein bißchen länger weg, dieses Mal."
"Es ist anders als sonst. Du bist wirklich da, du wendest dich mir wirklich zu. Du kannst es."
Sie blickte in seine Augen.
"Dieses lebenswarme Gesicht", sagte sie, "dieser Geruch wie Weihrauch und Patchouli, das ist einmalig, das kannst nur du sein, das kann nur Wirklichkeit sein. Ich will das nie vergessen."
"Wie du mich immer auf einen Sockel stellst ... ich bin doch nur ein Mensch - kein Gott, den man anbeten kann."
"Ich habe dich nie angebetet, und ich freue mich, daß du ein Mensch bist und nichts anderes."
Sylvain blickte nach draußen, dann schaute er Granya an und lächelte.
"Was strahlst du so?" fragte er.
"Das ist die Liebe in deinen Augen", erwiderte Granya.
"Woher willst du denn wissen, daß ich dich liebe?"
"Was ist schon 'Wissen'? Was bedeutet das denn schon? Was man fühlt, das hat Bedeutung."
"Für mich war immer das Wichtigste, daß mich niemand verletzen kann. Das hat für mich Bedeutung. Gefühle für einen Menschen kann man abstellen, das Gefühl der Enttäuschung nicht."
"Und du hast geglaubt, daß ich dich enttäusche?"
"Ich will nie enttäuscht werden, von dir nicht und auch sonst von niemandem. Deshalb komme ich allen zuvor. Ich enttäusche die anderen, ehe sie mich enttäuschen können."
Am Nachmittag erwachte Granya auf der Recamiere. Eine Blüte von der Kletterrose lag vor ihr auf dem Teppich. Sylvain war nicht mehr da.
Die Dämmerung kam früh. Cydat sah die Rosenblüte in einer Vase auf einem Tischchen stehen, als er den Wintergarten betrat. Granya lag in den Überwurf gehüllt auf der Recamiere. In der Luft hing ein Geruch wie Weihrauch und Patchouli. Cydat konnte sich das nicht erklären, zumal er kein Rauchwerk entdecken konnte.
"Und jetzt nicht einmal mehr Sylvain", sagte Cydat. "Wer soll dich noch verstehen können, wenn es ihn nicht mehr gibt? Hast du gehört von dem Unfall auf der A8?"
"Das habe ich, doch, heute vormittag um halb elf, und gleich danach kam Sylvain hierher."
"Das geht nicht", widersprach Cydat. "Sylvain ist bei dem Unfall ums Leben gekommen, kurz nach zehn. Und weil ich weiß, daß du mir nicht glauben würdest, habe ich dir einen Durchschlag vom Totenschein besorgt."
"Sylvain ... Deshalb hat er sich so gezeigt, wie er wirklich ist. Deshalb war er so zugänglich. Er wußte, er ist tot - und sicher vor Enttäuschungen."
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