"What's your name? What's your nation?"
(Simple Minds - "This earth that you walk upon")
Ein Haus stand zwischen den kahlen Bäumen, wie aus dem Nichts aufgetaucht, fremd und doch zugleich wie etwas Vertrautes, lange Vermißtes und beinahe Vergessenes. Das Haus stand da als stummer Vorwurf:
"Warum bist du nicht zurückgekommen?"
"Wohin hätte ich denn gehen sollen?" fragte Louise, als sie auf dem Fernsehmonitor das Haus erblickte. "Ich habe in dem Haus nicht gewohnt. Wir waren nur einmal hier zu Besuch, meine Eltern sind inzwischen tot, und keiner weiß mehr, wie die Leute hießen, die wir besucht haben. Vielleicht wohnen sie gar nicht mehr in dem Haus, vielleicht leben sie auch gar nicht mehr."
Louise verstand nicht, weshalb ausgerechnet ein Haus, in dem sie nur für wenige Stunden zu Besuch gewesen war, nach so vielen Jahren ein Gefühl von Heimat in ihr weckte, ein Gefühl, das sie bisher nicht gekannt hatte. Es war kein ungewöhnliches Haus. Es stand für sich allein und abseits, ähnelte aber den Häusern in dem angrenzenden Viertel. Es konnte achtzig oder neunzig Jahre alt sein. Es hatte eine gepflegte graurosa Fassade und vergitterte Fenster im Erdgeschoß. Die Gitter waren lichtrosa lackiert. Die Haustür bestand aus schwerem Holz. Drei breite Stufen führten hinauf. Mehr war es nicht, was Louise erhaschen konnte, auch als sie die DVD-Aufnahme in Standbildern ansah.
Nicht nur Heimat verband Louise mit dem Haus, sondern auch Trauer und Verlust, und all das konnte sie nicht verstehen. Es waren Erinnerungen, die ein Eigenleben führten, weit weg und kaum erreichbar.
Louise fand heraus, in welcher Stadt der Dokumentarfilm gedreht worden war, der im Fernsehen ausgestrahlt wurde, und sie machte sich auf die Suche. Im Regen des Vorfrühlings ging sie auf frisch gegossenen Betonplatten hangabwärts.
"Beerdigungswetter", dachte sie.
Als sie das rätselhafte graurosa Haus gefunden hatte, blieb sie nur kurz davor stehen, um niemandem aufzufallen. Sie las die Namen am Zauntor und war sicher, die Bewohner nicht zu kennen. Zwischen dürrem Geäst hindurch machte Louise einige Fotos mit dem Smartphone und ging weiter. Sie hoffte, daß das Gerät nicht naß geworden war und daß niemand in dem Hause sie gesehen hatte.
"Das Haus ist ein Hinweis, aber mehr kann es nicht sein", dachte Louise. "Die früheren Bewohner müssen weggezogen oder tot sein. Wenn ich nur wüßte, was das Haus mir sagen will ..."
Am Rechner bearbeitete sie die Fotos, zerschnitt und veränderte sie und hoffte, auf diese Weise die Antwort auf ihre Fragen zu finden.
Im Frühsommer ging Louise noch einmal durch die fremde Stadt, in der ihr dieses eine Haus so vertraut vorkam. In der Nähe des Hauses verlief eine schmale Asphaltstraße. Louise folgte ihr ein Stück hangaufwärts und kam an einen abgelegenen Friedhof. Nebel hing in der Luft, verhüllte die Sonne und dämpfte die Schritte. Keine Menschenseele war hier zu sehen. Über dem Eingangstor gab es einen Spalierbogen, der von Kletterrosen umrankt war. Sie blühten hellrosa. Ein breiter Weg führte auf die Kapelle zu, ein jahrhundertealter Klinkerbau, ebenfalls berankt von hellrosa Kletterrosen, die verschwenderisch blühten.
Louise wußte, daß Friedhofskapellen meistens verschlossen waren, und sie wußte, was sich im Inneren von Friedhofskapellen befand, wenn keine Trauerfeier lief: leere Bänke, ein Altar - nichts Geheimnisvolles, nichts Übersinnliches. Und doch schien der Anblick der Kapelle etwas zu verheißen, zu versprechen. Die Kapelle ähnelte einem Dornröschenschloß, in dem ein untotes Wesen verborgen war, das auf Erlösung wartete. Louise machte Fotos mit ihrer Kamera, und auf den Bildern entwickelte sich jene Märchenlandschaft, die der Wirklichkeit nicht standhalten konnte.
Friedhöfe waren ein Ort, um Tote zu begraben, und sie wurden mit Blumen geschmückt, um die Toten zu ehren, das war alles.
Am Rechner fügte Louise die Bilder von dem geheimnisvollen Haus und der rosenumrankten Friedhofskapelle zu Collagen zusammen. Sie fühlte sich wie bei einem Puzzle-Spiel.
"Heimat", das war der Begriff, der ihr zu dem graurosa Haus eingefallen war. Über Tote sagte man, sie seien "heimgegangen".
"Heim?" fragte Louise in die leere Luft. "Wohin denn heim? Wo ist denn 'zu Hause'? Wo soll das sein? 'Himmel', was ist das für ein Wort? Ein Wort für nichts."
Sie erinnerte sich an die Geschichten, die sie sich als Kind ausgedacht hatte. Es ging fast immer um Friedhöfe und um das Jenseits. Louise fand ihre Geschichten schon damals kitschig, schrieb sie aber dennoch, weil sie nur so in Worte fassen konnte, was sie beschäftigte. Eine der Geschichten lautete folgendermaßen:
Wiedersehen
Laury war zurückgekehrt - nur dies war in Yvaines Gedanken. Laury war ihr Nachbar, und sie waren früher auf dem Friedhof spazieren gegangen, um das Gruseln zu lernen. Sie gingen vor Tau und Tag, damit die Eltern nichts mitbekamen. Es wurde aber kein Gruseln daraus, sondern ein langes Gespräch. Einige Wochen danach zog Laury weg. Was Laury für Yvaine bedeutete, wußte außer ihr niemand. Als er sie nach zwei Jahren anrief und sie fragte, ob sie mit ihm wieder einmal auf den Friedhof gehen wollte, versprach sie es ihm gleich für den nächsten Morgen.
"Dort werde ich bald liegen", dachte sie, "in der kalten Erde. Wie kann jemand in kalter, dunkler Erde Ruhe finden?"
Als sie durch den Torbogen ging, wußte Yvaine noch immer nicht, ob sie Laury erzählen sollte, daß sie todgeweiht war.
Nun war sie hier; sie hatte all ihre Kraft zusammengenommen, um Laury wiederzusehen, und sie wußte, noch einmal würde es ihr nicht gelingen, hierher zu gehen. Jede Rose, die sie sah, jeder Torpfosten, jede Mauer - sie würde heute all dies zum letzten Mal sehen.
Der Nebel war so dicht, daß Yvaine ihre Schritte kaum hörte. Also wäre auch Laury kaum zu sehen und zu hören, wenn er auf den Friedhof kam.
Yvaine drückte die schmiedeeiserne Klinke herunter. Mit Mühe schaffte sie es, die schwere Eichentür zu öffnen. Niemand war in der Kapelle, nur das kalte Licht des frühen Morgens fiel auf den steinernen Altar.
"Nur ausruhen", dachte Yvaine und ließ sich auf den Altar sinken.
Die aufgehende Sonne färbte das Licht im Kirchenraum rotgolden, als Laury hereinkam. Er hatte auf das Wiedersehen mit Yvaine gehofft, die er schon lange heimlich verehrte - heute wollte er es ihr endlich sagen. Er fand Yvaine in einem weißseidenen Nachthemd auf dem Altar liegend und wollte das rauchgraue Wolltuch über sie werfen, das zu Boden gefallen war. Dabei fühlte er sich seltsam allein. Er hielt inne und betrachtete Yvaines regloses Gesicht.
"Sie ist das Mädchen, das ich immer gesucht habe", dachte Laury.
Er setzte sich auf eine Kirchenbank und umklammerte das Wolltuch. Er wußte, er würde sich von nun an so alleine fühlen wie nie zuvor. Er war bei ihr, er war bei Yvaine, und er war doch so allein, wie ein Mensch nur sein kann, der am Leben ist. Der Tod würde dieses Alleinsein beenden, nur der Tod konnte ihn mit Yvaine zusammenführen.
"Warum nur habe ich mir immerzu solche kitschigen Geschichten ausgedacht?" zerbrach Louise sich den Kopf. "Was hat das zu bedeuten? Wieder und wieder sind junge Leute umgekommen oder an unheilbaren Krankheiten gestorben, dunkle Mächte haben sie in ihrem Bann gehalten und Liebende voneinander getrennt. Immer dieser Kitsch, immer klischeehaft, immer überzeichnet ... das einzige Heile in den Geschichten war die reine, unbeirrbare Liebe. Am Ende half die den Leuten aber nichts mehr, immer siegte der Tod."
Die Botschaft der Geschichten lautete, daß die Liebe keine Wunder vollbringen konnte, auch dann nicht, wenn sie bedingungslos und endgültig war. Das Böse siegte immer, nur über die Toten hatte es keine Gewalt mehr.
Bevor Louise sich mit Friedhöfen und dem Jenseits befaßte, schrieb sie Schauergeschichten über ihre Mitschüler, darunter eine Traumerzählung:
Guidos Herz
Guido war ein artiger Junge, zumindest den Erwachsenen gegenüber. Innerhalb seiner Klasse trat er als Anführer auf und schlug kleinere Kinder. Eines Tages tobten die Jungen in der Pause besonders wild in einem fensterlosen Raum herum, dessen Wände und Boden ganz und gar maigrün waren. In der Mitte des Raumes stand ein weiß melamierter Tisch mit schwarzen Stahlrohrbeinen. Auf der Tischplatte stand ein Satz in Druckschrift, der lautete:
"Wer sich das Herz herausnimmt, hat immer Glück."
Guido entdeckte den Satz zuerst, und er las ihn vor. Die anderen Jungen scharten sich um ihn. Neben dem gedruckten Satz lag ein Teppichmesser mit gelbem Griff. Guido riß sich ohne Zögern das Hemd auseinander und schnitt sich das Herz heraus. Er legte es auf den Tisch und sagte zufrieden:
"So, da liggt es gguuu ... hick!"
Ehe Guido den Satz zuendesprechen konnte, kippte er tot vornüber. Nun gab es unter den Jungen kein Halten mehr. Einer nach dem anderen schnitt sich mit dem Messer das Herz heraus. Auch einige Mädchen folgten ihrem Beispiel, so daß schließlich elf tote Kinder über- und untereinanderlagen. Die noch lebenden Kinder stiegen eine mit maigrünem Teppichboden bespannte Treppe hinauf in einen anderen, ebenfalls fensterlosen Raum. Sie schlossen die Tür und spielten Fußball mit einem maigrünen Tennisball. Nach einer Weile hörten sie durch die Tür lautes Rufen. Sie schauten nach, was dort wäre, und sie sahen, daß die Toten ebenfalls Fußball spielten, sich aber dauernd stritten.
Diese Mischung aus "Das kalte Herz" von Hauff und den Menschenopfern der Maya war Guido und einigen anderen Kindern offenbar nicht gut bekommen. Bei Erwachsenen hätte man sich gefragt, welche Substanzen ihnen dazu verhalfen, derartige Heldentaten auszuführen. Bei Schulkindern bot hingegen das Imponier- und Imitationsverhalten eine ausreichende Erklärung.
Noch heute fröstelte es Louise, wenn sie ein Rudel Schuljungen herumlärmen hörte.
Immer schon war es besser gewesen, nicht aufzufallen. Wer nicht auffiel, wurde nicht angegriffen, das hatte Louise gelernt.
"Wie kann man sterben, ohne daß es den anderen auffällt?" fragte sich Louise. "Daß die Leute glauben, man sei am Leben, aber man ist doch längst nicht mehr da?"
Das einzig Sichere auf der Welt war der Tod, doch im Tode war man keineswegs sicher; es wußte doch keiner, wie es im Jenseits zuging. Es hatte also keinen Sinn, vor der Zeit zu sterben. Louise wollte sich gern unsichtbar machen und nur dann erscheinen, wenn es unvermeidbar war.
Eine von Louises Schauergeschichten war noch älter als "Guidos Herz". Auch diese Geschichte war die Niederschrift eines Traumes:
Der Turm
Der Traum handelt von einem nächtlichen Gewitter und einem schneeweißen Kirchturm mit Garagentor. Es ist ein Glockenturm ohne Glocken. Eigentlich sollten sie zur Messe läuten, doch die Anwohner verhinderten erfolgreich, daß Glocken aufgehängt wurden. Sie wollten den Lärm nicht, und der Turm blieb stumm.
Den Turm gibt es wirklich, doch befand sich in dem Traum das Garagentor nicht unten im Erdgeschoß, sondern viel weiter oben, in der Mitte des Turmes. Das Tor war nicht verriegelt, und im Sturm schwang es weit auf und sank dann wieder nach unten und schlug an. Ich hing draußen am Griff des Tores und konnte nicht ins Innere des Turmes gelangen. Hinunterspringen konnte ich auch nicht, das hätte mich das Leben kosten können.
"Heimat", dachte Louise, als sie sich an diese Geschichte erinnerte, "das ist wirklich Heimat. So fühlt es sich an, zu Hause zu sein."
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