Jeder hat mich gern


Ist das überhaupt möglich, daß einen jeder gernhaben kann? Doch, das ist es. Berni beweist es. Sie hat sich überzeugt, daß die Schönheit von innen heraus beginnt, bei der bewußten Beherrschung des Körpers, ja bei der Selbstbeherrschung überhaupt. Sie hat gelernt, daß die äußere Schönheit nur zusammen mit der "Schönheit der Seele" einen guten Klang gibt.
Ja, aber Schönheit verliert, wenn nicht damit ein allzeit anmutiges und liebenswürdiges Verhalten zu allem und jedem verbunden ist.
(Reklametext, Boje-Verlag 1957, zu: A. Fromme-Bechem, "Jeder hat mich gern - Kleiner Wegweiser für junge Mädchen")





Isolde Haller war die Beliebteste von allen - zumindest glaubte sie das. Sie sah schon als kleines Mädchen wie eine entzückende junge Dame aus und erwählte mit spitzen Fingern ihre Verehrer. Die Mutter sorgte dafür, daß Isoldes Frisur und Kleidung stets den neuesten Trends entsprachen. Sie brachte ihrer Tochter bei, sich modisch nach den Hochglanzmagazinen zu richten, die in dem gemütlichen, sonnendurchfluteten Wohnzimmer daheim auf dem Couchtisch lagen. Frau Haller war eine hochgebildete Frau, die sich nach der Geburt ihrer Tochter in eine leidenschaftliche Hausfrau und Mutter verwandelt hatte. In der Villa der Hallers blitzte es vor Sauberkeit, und im Garten blühten die schönsten Blumen: im Frühjahr der Flieder, im Sommer die Rosen, im Herbst die Astern, im Winter die Schneeglöckchen. Vormittags kam die Zugehfrau, nachmittags der Gärtner. Abends kam der Vater nach Hause und setzte sich an den liebevoll gedeckten Tisch, auf dem stets ein Strauß frischer Blumen stand. Er staunte über Isoldes feine Manieren und ihre guten Schulnoten. Isolde wußte, daß sie etwas Besonderes war, und sie ließ ihre Banknachbarn niemals abschreiben. Der Vater lobte sie und bewunderte sie unendlich. Für Isolde stand fest:
"Wenn ich groß bin und heirate, muß mein Mann genauso sein wie Vati!"
In der Tanzstunde schaute Isolde belustigt dabei zu, wie die jungen Herren um ihre Gunst kämpften. Der schöne Gunnar gewann das Rennen. Er hieß eigentlich Gunnar Benedikt Freiherr von Hochfeld und war der Erbe eines uralten Adelsgeschlechts. Sein Friseur war so teuer, daß die meisten Jugendlichen sich keine der erlesenen Frisuren leisten konnten. Deshalb trug nur Gunnar eine so prächtige Gelfrisur mit feinen Strähnchen, die ihm etwas Verwegenes gaben. Gunnar hatte mehr Geld, als er ausgeben konnte, spielte aber gern den Underdog, den Piraten, den Punk. Seine Lederjacke sah abgerissen aus, hatte aber so viel Geld gekostet, wie andere Jugendliche in einem ganzen Jahr als Taschengeld bekamen. Gunnar war noch zu jung, um Auto fahren zu dürfen, deshalb hatte er einen Chauffeur, sein "Taxi". Er lud Isolde in sein "Taxi" ein und fuhr nach der Tanzstunde mit ihr nach Hause. In seinem Elternhaus bewohnte er das Dachgeschoß. Seine Eltern waren selten zu Hause, meistens war nur das Hausmädchen da. Gunnar und Isolde wurden schnell zum Traumpaar der Schule. Isoldes Eltern blickten wohlwollend auf die schönen jungen Leute und hofften, daß ihre Tochter dereinst Gunnar heiraten und eine gute Partie machen würde.
"Es gibt keine schönere Debütantin als Isolde", schwärmte die Mutter.
Nachdem Gunnar zum dritten Mal fremdgegangen war, saß Isolde wehklagend im Kreise ihrer Freundinnen im Wintergarten der Hallerschen Villa und ließ sich bedauern. Isolde schluchzte in ihr Taschentuch. In einem großen Aschenbecher verbrannte sie Fotos, auf denen Gunnar und sie Arm in Arm zu sehen waren, beim innigen Kuß und am Strand. Auf die Asche streute sie Rosenblätter.
Isoldes Eltern entschieden sich, ihre Tochter auf ein Internat zu geben, wo sie einen besseren Umgang finden konnte als den zwar adeligen und vermögenden, aber windigen Gunnar. Tränenreich nahm Isolde Abschied von den geliebten Eltern.
"Im Internat gibt es auch Reitunterricht", tröstete die Mutter.
"Aber es ist so weit weg von daheim", seufzte Isolde.
Zum Weihnachtsfest durfte Isolde nach Hause fahren. Wie schön war es, die geliebte Heimat wiederzusehen! Am zweiten Weihnachtstag erwartete sie eine Überraschung. Ein junger Herr machte seine Aufwartung. Er hieß Frederik Kunnstraub und war der vielversprechende Sohn eines Studienfreundes von Isoldes Vater. Frederik war frischgebackener Jurist, und dank geschäftlicher und familiärer Beziehungen stand ihm eine strahlende Karriere bevor. Er war höflich und bescheiden und so ganz anders als der ungestüme Gunnar. Isolde ahnte, daß sie ihrem Vater eine große Freude machen würde, wenn sie Frederik heiratete. Als Frederik unterm glitzernden Regen des Silvesterfeuerwerks um sie warb, hauchte sie:
"Ja!"
Die Verlobungszeit verging mit ungeduldigem Warten. Frederik hatte beruflich viel zu tun und konnte nur dann und wann ein Wochenende freinehmen, um Isolde zu sehen. Isolde mußte arg viel lernen, um ein gutes Abitur zu machen und studieren zu dürfen. Am Ende war es soweit. In der Aula wurden feierlich die Zeugnisse überreicht. Isolde fuhr mit ihren Eltern nach Hause - in ihrem ersten eigenen Wagen, den sie zum Abitur geschenkt bekommen hatte.
"Ihr seid so still", wunderte sie sich über ihre Eltern.
In der Villa der Familie Haller war es merkwürdig leer geworden, seit Isolde ins Internat gezogen war. Ihr eigenes Zuhause kam ihr fremd vor. Am Kamin stießen Isolde und ihre Eltern auf das bestandene Abitur an.
"Du bist jetzt erwachsen", sagte Herr Haller und räusperte sich. "Deshalb sollst du nun auch erfahren, wie es in deiner Heimat weitergegangen ist. Deine Mutter und ich haben uns getrennt."
Isolde konnte es nicht fassen. Tränen rannen wie Perlen über ihre gepuderten Wangen. Sie krallte ihre nude-rosé lackierten Fingernägel in ihre Designer-Jeans und schluchzte:
"Aber ihr liebt euch doch."
"Wir haben uns immer noch lieb", nickte die Mutter. "Aber das Schicksal hat deinen Vater auf einen anderen Weg geführt."
Nach und nach stellte sich heraus, daß Frau Haller jahrelang mit dem Gärtner ein Verhältnis gehabt hatte und daß Herr Haller mit seiner Sekretärin zusammengezogen war. Fräulein Wiese - die Sekretärin - war zweiundzwanzig Jahre alt und stammte aus einfachen Verhältnissen. Herr Haller hatte seiner Frau das große Haus am Stadtrand überlassen und lebte mit Vanessa Wiese in einer Penthouse-Wohnung in der Innenstadt.
Frau Haller und ihre Tochter nahmen wochenlang an Wellness-, Beauty- und Workout-Kursen teil. Frau Haller wollte jünger wirken, um einen neuen Mann zu finden. Isolde wollte am wichtigsten Tag ihres Lebens in ihr Brautkleid passen und strahlend schön darin aussehen - wie eine Prinzessin, nicht wie eine prüfungsmüde, übernächtigte Abiturientin.
Im Mai läuteten die Hochzeitsglocken. Alle waren sie da - Frau Haller mit ihrem Scheidungsanwalt, in den sie sich sogleich verliebt hatte, und Herr Haller mit Vanessa Wiese, die nur wenig älter war als die Braut. Und da war Frederik. Vorm Altar wartete er auf Isolde, die am Arm ihres Vaters auf ihn zuschritt.
"Endlich heiße ich Isolde Kunnstraub!" jubilierte sie im Stillen.
Rosenblätter wurden über das neuvermählte Paar gestreut, und Isolde mußte an die Rosenblätter auf der Asche von Gunnars Fotos denken. Wie weit lag das zurück, wie fremd war ihr Gunnar geworden! Sie hatte Gunnar von Hochfeld schon seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Wie man sich erzählte, hatte der vermögende Gunnar bereits seine erste Firmenpleite hinter sich. Wenn er so weitermachte, würde sein Erbteil bald verbraucht sein.
Frederik Kunnstraub war eine sichere Bank, ein Fels in der Brandung. Isolde fühlte sich an seiner Seite so geborgen wie in ihren Kindertagen im Elternhaus. Und Frederik war erleichtert, weil er sich mit seiner jungen Ehefrau nicht blamieren konnte. Er hatte in Isolde eine Frau gefunden, die absolut parkettsicher war und sich mit den repräsentativen Pflichten einer Ehefrau perfekt auskannte. Frederik ließ sie studieren und besorgte ihr über seine Kontakte eine Teilzeitstelle.
"Vollzeit wäre ungünstig", raunte Frederik ihr zu. "Du weißt doch, was wir vorhaben ..."
Isolde jauchzte. Sie konnte ihrem Mann schon bald ein süßes Geheimnis anvertrauen. Ihre Eltern und Schwiegereltern wurden Großeltern!
Im Laufe der Jahre kamen drei Kinder zur Welt. Isolde beschloß, ihre Kinder nicht spüren zu lassen, daß sie berufstätig war. Ihr Vorbild war ihre eigene, stets treusorgende Mutter. Isolde war so oft zu Hause wie möglich, damit die drei Kleinen nicht die Nanny für ihre Mutter hielten. Versonnen schaute Isolde dem Gärtner zu, einem gutaussehenden Asylbewerber.
"Wenn er nicht so schön wäre", seufzte Isolde.
In einem "Landfrieden"-Hochglanz-Journal betrachtete sie die neuesten Deko-Tips mit Schnittblumen. In fröhlicher Ereignislosigkeit wälzte sich ihr Leben dahin, zwischen Meetings, Strand-Resorts und aufwendig verzierten Kindergeburtstagstorten. Ebenso fröhlich und ereignislos wälzte Isolde sich mit ihrem Mann im Bett, bis er ihr eines Tages eröffnete, daß er mit einer Jüngeren fremdging.
"Schon?" fragte Isolde tonlos. "Aber ich bin doch erst vierunddreißig."
"Daß Franziska erst achtzehn ist, ist ein Zufall", erwiderte Frederik milde. "Sie hätte ebenso gut älter sein können als du. Es geht nicht ums Alter, wenn zwei Menschen sich verlieben. Die Liebe fragt nicht nach Äußerlichkeiten."
"Aber ich dachte, du liebst mich!" rief Isolde mit zitternden Lippen.
"Ja, ich liebe dich ... aber ..."
"Bin ich dir nicht mehr gut genug?" schluchzte Isolde.
"Du bist wunderbar", schmeichelte Frederik. "Du bist die wunderbarste Frau, die ich kenne. Im Grunde verdiene ich dich gar nicht."
Isolde riß Frederiks Sachen aus dem Kleiderschrank, wie sie es in zahllosen Fernsehfilmen gesehen hatte. Wenn im Film ein Ehemann fremdging, riß seine Frau immer seine Sachen aus dem Kleiderschrank. Anschließend übernachtete der Mann im Hotel, und seine Frau log den Kindern vor, er sei auf Geschäftsreise.
"Kleines, nun sei doch vernünftig", beschwichtigte Frederik. "Ich hab' dich doch immer noch gern."
"Du kannst mich gernhaben", zischte Isolde ihrem Mann zu.






Isolde Kunnstraub, geborene Haller, hatte eine Doppelgängerin. Sie hieß Sabrina Reuter und wurde gemeinsam mit Isolde eingeschult. Obwohl Sabrina dem Aussehen nach eine Zwillingsschwester von Isolde hätte sein können, fiel weder Isolde noch sonst jemandem die Ähnlichkeit der beiden Mädchen auf. Vielleicht hatte das etwas damit zu tun, daß Sabrinas Mutter keine Hochglanz-Zeitschriften las und kaum etwas von modischen Trends wußte. Ebenso wenig kannte Sabrina sich damit aus. Sie mußte sich mit Rasenmäher-Haarschnitten begnügen und trug abgelegte Kleider der Nachbarskinder. Sabrinas Eltern konnten sich ohne Weiteres ein Häuschen im Grünen leisten, hatten aber nichts übrig für teure Kleider oder Hobbies. Sie fuhren Unfallwagen und holten die Möbel vom Sperrmüll. Statt Marken-Spielzeug gab es Pappkartons und Filzstifte. In den Urlaub fuhren die Reuters überhaupt nicht. Wenn sie verreisten, besuchten sie Verwandte, weil man dort kostenlos wohnte. Sabrina bekam von ihren Eltern mehr Vorwürfe als Lob. Vorwürfe lernte sie als Normalität kennen, Lob als Ausnahme. In der Schule erntete Sabrina auch von den Lehrern Vorwürfe. Sie tat für die Schule nur gerade so viel, daß sie nicht sitzenblieb. Sie las ihre Schulbücher durch, anstatt dem Unterricht zu folgen. Wenn die Schulbücher ausgelesen waren, las sie in anderen Büchern weiter und legte sie so hin, daß die Lehrer es nicht mitbekamen. Sabrina war in ihrer Klasse unbeliebt, und das wußte sie auch. Wer den neuesten Trends nicht entsprach, war unbeliebt. Als ihre Klassenkameraden zur Tanzstunde gingen, rechnete Sabrina sich aus, wie es ihr dort ergehen würde, und verzichtete freiwillig. Ihre Eltern nahmen das erfreut zur Kenntnis, weil es ihnen Kosten ersparte. Sie wollten das Dach isolieren, und das war teuer. Sabrina gehörte zu den wenigen Mädchen in ihrer Klasse, die als Teenager keinen Freund hatten. Mit achtzehn Jahren entdeckte Sabrina die Discotheken, die sie insgeheim schon immer gesucht hatte. Dort liefen Leute herum, die in der Schule ausgestoßen wurden, die im Sportunterricht als Letzte in die Riegen gewählt wurden und die weder bei Lehrern noch bei Mitschülern beliebt waren. Einige von ihnen waren besonders einfallsreich, was die Garderobe anging. Aus Second-Hand-Klamotten fertigten sie raffinierte Kostüme an, nähten sich Kleider selbst und schafften es, mit wenig Geld aufregend oder gar schockierend auszusehen. Auch Sabrina gelang das, und sie fühlte sich auf einmal gar nicht mehr ausgestoßen. Sie tanzte an den Wochenenden die Nächte durch, und weil sie weder rauchte noch trank, kostete sie das fast nichts. Weil ihr die Eltern keinen Führerschein bezahlten und es nur wenig Taschengeld gab, fuhr Sabrina häufig mit dem Zug oder mit wildfremden Menschen in wildfremden Autos. Sie hatte Wachsamkeit gelernt und war stets nüchtern, so daß sie mit den wildfremden Menschen umzugehen wußte. Ihre Schulnoten wurden besser und besser, sie schaffte ein Numerus-Clausus-Abitur und studierte gleich danach. Ihre Eltern nahmen das wohlwollend zur Kenntnis und zahlten ihr so viel Unterhalt, daß es für die halbe Miete reichte. Um auch die andere Hälfte und überdies ihren Lebensunterhalt bezahlen zu können, ging Sabrina arbeiten. Sie nahm einen Studentenjob in einer international operierenden Firma an und erfuhr nach der dritten Verleumdung von einer Kommilitonin, daß in dieser Firma absichtlich Studentinnen gequält wurden, weil man sich einen Spaß daraus machte. An der Universität gab es viele nette Studenten. Einige von ihnen rieten Sabrina, endlich den neuesten Modetrends zu folgen. Sabrina tat, was sie konnte, doch beim Anblick einer gestreiften Hemdbluse bekam sie einen Würgereiz, der sich nur besserte, wenn sie stattdessen ein Sweatshirt im Graffiti-Dekor kaufte. Um schicker zu werden, ergänzte sie ihre Garderobe durch ungewöhnliche Designer-Outfits. Nach dem Studium hatte Sabrina genug Geld und fuhr in ihrem Auto mit ihren Freunden durchs Nachtleben. Sie arbeitete gerne in ihrem Beruf und hatte Routine entwickelt im Umgang mit übler Nachrede, Verleumdung, offen geäußertem Haß, eigentümlichen Vorhaltungen und märchenhaften Gerüchten. Um das abstoßende Gefühl loszuwerden, das durch üble Nachrede, Verleumdung, offen geäußerten Haß, eigentümliche Vorhaltungen und märchenhafte Gerüchte erzeugt wurde, erzählte Sabrina ihren Kollegen davon. Das half, vor allem wenn sie gemeinsam darüber lachten.
"Bösartige Menschen sind immer in der Minderheit", tröstete sich Sabrina.
Inzwischen waren die meisten ihrer Freunde verheiratet oder schon wieder geschieden. Sabrina wollte eine eigene Familie haben, doch die Liebe ihres Lebens erwies sich als Windhund.
"Sein Problem", sagte sich Sabrina. "Damit werde ich meine Zeit nicht verschwenden. Ich will überleben und Mensch bleiben, das ist das Wichtigste."
Daß sie nicht nur eine Taufpatenschaft, sondern gleich drei übernahm, war ein Geschenk, mit dem Sabrina nicht gerechnet hatte. Eine Familie hatte sie nun jedenfalls, wenn auch nicht im traditionellen Sinne.
Sabrina fragte sich, ob es möglich war, daß man von allen - wirklich allen Menschen gemocht wurde.
"Dann müßte man auch von Hitler, Stalin, Pinochet und dem perversen Paul Schäfer von der Colonia Dignidad gemocht werden", folgerte sie. "Will ich das denn? Will ich, daß mich jeder mag, jeder Massenmörder, jeder Oligarch, jeder Sadist, jeder Kinderschänder?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Dieses Gesindel kann mich mal", zischte sie und dachte an all diejenigen, denen sie üble Nachrede, Verleumdung, offen geäußerten Haß, eigentümliche Vorhaltungen und märchenhafte Gerüchte verdankte. "Die können mich gernhaben."






Vierzig Jahre nach der Einschulung gab es ein Klassentreffen. Zu diesem Anlaß erschien auch eine solariumgebräunte, desillusionierte Isolde Haller, geschiedene Kunnstraub. Im hauchdünnen Etuikleid mit maßgeschneiderter Figur trippelte sie auf High Heels in den Gasthof, wo lauter ehemalige Klassenkameraden versammelt waren. Die Herren und Damen im mittleren Alter versuchten mühselig, einander daran zu erinnern, wer sie waren. Isolde berichtete, sie habe endlich herausgefunden, wer sie wirklich sei - durch Spirituelles Malen und Klangtherapie. Inzwischen liebe sie die gesamte Menschheit und werde von der gesamten Menschheit geliebt. Positives Denken sende positive Energie aus, und die komme immer zurück.
Sabrina Reuter marschierte auf leisen Sohlen in den Gasthof und betrachtete die Szene. Sie hatte sich Gesichter schon immer schlecht merken können und erkannte auch jetzt nicht, daß Isolde Haller die gleichen Gesichtszüge hatte wie sie selbst. Ebensowenig erkannten es die anderen. Sabrina trug Grautöne und schien einem längst vergangenen Zeitalter entstiegen zu sein, irgendwo zwischen Kaiserin Sissi und Art Deco. Sabrina hatte immer darauf geachtet, ihren hellen Teint zu erhalten. Während Isolde an einer Zigarette zog, trank Sabrina Espresso. Isoldes gebleichtes Haar war strähnig geworden, da half die teuerste Pflege nichts. Sabrina war bei ihrer Naturfarbe geblieben, ob nun echt oder nicht. Das Haarteil war jedenfalls künstlich.
"Du strahlst unwahrscheinlich viel positive Energie aus", sagte Isolde staunend zu Sabrina, als sie sich einander vorstellten. "Du hast voll die astralen Schwingungen, echt spirituell. Dich hat bestimmt jeder gern!"







... ZU "SHORTSTORIES" ...