Netvel: "Im Netz" - 12. Kapitel































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In einem Traum lag ich im Bett und fühlte im Halbschlaf, daß Rafa sich neben mich gelegt hatte. Gleich zog ich ihn an mich, und es gab wilde Umarmungen und Küsse. Rafa biß mich und leckte mich ab. Wir waren einige Zeit miteinander beschäftigt. Wir wechselten auch ein paar Worte miteinander.
Leider konnte ich mir die Unterhaltung nicht merken. Ich entschuldigte das damit, daß ich nicht richtig wach war.
Leute kamen ins Zimmer und wollten etwas von Rafa. Rafa sprang gleich auf und strebte ihnen nach. Ich legte die Arme um Rafa und hielt ihn zurück. Ich schickte auch alle aus dem Zimmer, die sich dort aufhielten. Ich wollte mit ihm allein sein.
Rafa trug ein weißes T-Shirt, das ich als das Adobe-T-Shirt erkannte. Es ist ein Werbegeschenk der Software-Firma Adobe und liegt im Institut. Auf dem T-Shirt ist eine bunte Grafik zu sehen, und darunter steht "State of Rapture".
Ich kuschelte mich an das T-Shirt. Rafa ließ sich wieder mit mir ins Bett sinken. Er schloß halb die Augen und atmete schwer. Er stürzte sich aufs Neue auf mich und biß mich so oft in den Hals, daß er mich fast entzweibiß. Weit unter die Gürtellinie ging es allerdings nicht. Ich streichelte Rafa nur die Hüfte. Schließlich sprang Rafa auf und rief:
"Mein Zug!"
Ich fragte ihn, warum und weshalb er überhaupt bei mir sei. Rafa erklärte, er sei rein zufällig da; er müsse eigentlich sofort weiter. Er griff seine Sachen, die in einer Zimmerecke lagen. Das Zimmer, in dem wir uns befanden, gehörte zu einer weißen Villa mit grünem Rasen davor. Begleitet von mir lief Rafa einen Weg hinunter zu einer Ampel. Dort erwarteten ihn mehrere junge Leute, Freunde und Bekannte von Till. Es standen auch mehrere ausländische Geschäftsleute mit Aktenköfferchen dort, unter ihnen ein Schwarzer, eine Art Mohrenkönig. Der wollte von Rafa in gebrochenem Deutsch Auskünfte haben.
Ich hielt Rafa nach wie vor umarmt. Er tat verwundert und fragte mich, weshalb ich das täte.
"Rafa, komm', das weißt du doch ganz genau", erwiderte ich.
Ich küßte ihn, und da fuhr auch er fort, mich zu küssen. Dann hatte er wieder große Eile und wollte zu seinem Zug.
"Warum bist du denn überhaupt hier?" wiederholte ich meine Frage von vorhin. "Wie bist du in diese Lage gekommen?"
"Das ... kann ich dir jetzt nicht erzählen", antwortete Rafa. "Ich habe ... keine Zeit mehr."
Das kam mir wie eine Ausrede vor.
Ich suchte in meinem Gedächtnis nach Fragen, die ich Rafa stellen wollte, doch ich konnte mich an keine erinnern.
Einem nach dem anderem reichte Rafa die Hand zum Abschied. Ich hatte mich bei Rafa untergehakt und schritt neben ihm her wie eine Ehefrau. Dann ging ich mit ihm zum Bahnhof. Ich hoffte, daß mir auf dem Weg noch Fragen einfielen.
"Echt, ich habe noch so viele Fragen an dich, und ich weiß nicht, wie ich sie dir stellen soll in den nächsten Wochen", klagte ich.
"Wenn du mich erreichen willst - ich bin zuhause - ab sieben", gab mir Rafa einen Hinweis.
"Aber ich kann dich doch gar nicht anrufen, wenn du eine Freundin hast", warf ich ein.
"Zwanzig", sagte Rafa. "Sie ist zwanzig. Nur eine - Information."
"Das ist für mich schon nichts Neues mehr", entgegnete ich. "Das weiß ich schon länger. Schließlich hat man seine Informanten ... Du suchst dir eben immer Freundinnen, die garantiert nicht zu dir passen."
Rafa kicherte. Ich fuhr fort:
"Bis auf mich. Ich passe zu dir. Aber mich willst du ja nicht als Freundin."
Rafa kicherte wieder.
Der Weg folgte einer Autostraße und führte auch durch ein Waldstück. Außer uns waren dort keine Menschen zu sehen. Durch die Bäume schimmerte der Bahnhof, ein älterer Bau. Ich zerbrach mir darüber den Kopf, was ich Rafa noch fragen konnte. Ich erinnerte mich an keine von all den drängenden Fragen, die ich an ihn habe. Und die Zeit verging.
"Mir fällt einfach nicht ein, was ich von dir wissen will", seufzte ich. "Ach, vielleicht nochmal - wie bist du in diese seltsame Lage gekommen?"
"Das ..."
Er fing an zu sprechen, und da fiel mir etwas ein, das ich Rafa außerdem noch fragen konnte:
"Warum meinst du, daß ich mich durch dich zerstöre?"
Doch es war zu spät, diese Frage zu stellen, denn ich wachte auf.

Meine Begegnungen mit Rafa sind kurz, leidenschaftlich und fordernd. Alles, was ich mit ihm zu reden und zu tun habe, muß ich zusammendrängen auf wenige Augenblicke oder manchmal auch einige Stunden. Ich muß mich an alles Wichtige rechtzeitig erinnern.
Eben rief U.W. an. Er erzählte von einem Gerücht. Nach diesem Gerücht soll Rafa seit etwa zwei Wochen nicht mehr mit Meta zusammen sein. Außerdem soll Joël den sonntäglichen Technoblock im "Nachtlicht" übernommen haben. Dann müßte ich ja wohl kommen ...
Das Adobe-T-Shirt, das im Institut lag, habe ich mitgenommen, weil niemand etwas dagegen hatte.



Am Freitag besuchte ich abends Merle; in ihrem Zustand wollte sie freilich nicht mehr mit in die "Halle" kommen. In der "Halle" gab es dieses Mal eine EBM-Nacht, die diesen Namen auch verdiente. Cyrus und Kappa spielten durchweg Musik aus dem härteren elektronischen Bereich, auch "War combattery 2" von :wumpscut: war dabei. Zwischendurch gab es einen Wunsch; jemand wollte "Rosa Zeiten" hören. An sich fände ich das Stück ja noch erträglich, wenn nicht die Stimme der Sängerin so grob und flach klingen würde.
Die Sängerin war anwesend, tanzte aber selten. Sie hatte rosa Haare, die zu vielen kleinen Zöpfchen geflochten und zu einem Springbrunnenpferdeschwanz hochgebunden waren. Sie trug ein bauchfreies Hemdchen, das fast alles zeigte. Es sah nach einer "Zweckgarderobe" aus, mit der jemand verführt werden sollte. Rafa war in der "Halle" nicht anwesend. Kappa sagte durchs Mikrophon, es würde nachher im "Nachtlicht" weitergehen, und es gebe dort auch Freibier.
Lenni und Lena sind am Donnerstag im "Nachtlicht" gewesen. Es lief ein gemischtes Programm, kein richtiges Industrialprogramm. Es gab aber eine Runde Sauren für jeden Gast. Das entspricht dem großzügigen Stil von Rafa und dem werbenden Stil von Kappa.
In der "Halle" traf ich Lenni und Lena, Constri und Derek, Talis und Ellen und Rikka und Seth. Seit Talis seine Ellen hat, sitzt Rikka mit ihrem Seth wieder bei uns, und es gibt keine Trennung in unserem Freundeskreis mehr. Ich stand vor den vier Pärchen, allein, ohne Rafa. Ich bin mit meinen Leuten vertraut und nie einsam; dennoch ist es merkwürdig, wenn man sie alle so in Pärchen geordnet dasitzen sieht, aneinandergeschmiegt und sich liebkosend, und ich als Einzige darf den Mann, den ich liebe, kaum je berühren und nur in Abständen von Wochen mit ihm reden.
Gegen drei fuhren viele Gäste aus der "Halle" ins "Nachtlicht", und auch wir fuhren dorthin, mit Ausnahme von Talis und Ellen. Ich sah Daria gleich am Rand der Tanzfläche sitzen und klopfte ihr zur Begrüßung auf die Frisur.
"Heyy", sagte Daria.
Dann begrüßte ich Carl, Dorgath und Genoveva, ein Mädchen, das häufig im Brautkleid ausgeht. Ich war viel auf der Tanzfläche. Rafa machte einen großen Sprung über seinen Schatten. Er bot Raritäten wie "Soldier Soldier" von Spizzenergi, "Across the Universe" von Laibach und "Geile Tiere" von Geile Tiere. Des Weiteren spielte er "Louise" von Clan of Xymox, "Aufprall" von Calva y Nada und "Severance" von Dead can dance, das Genoveva sich gewünscht hatte. Der Höhepunkt war für mich eine mittelalterlich klingende Version von "Lord of Ages" von Blood Axis. Ich habe mir immer gedacht, daß Rafa dieses Stück gefallen müßte, weil es so streng, feierlich und doch rhythmisch ist.
"So, jetzt will ich aber sehen, daß alle auf die Tanzfläche springen", sagte Rafa einmal, in seinem gewohnten Erziehertonfall.
Rafa freute sich wohl über die Gäste aus der "Halle", die das "Nachtlicht" bis in die Morgenstunden füllten. Kaum waren wir gekommen, sagte Rafa durchs Mikrophon, daß es an der Hauptbar für jeden einen Sauren gebe.
"Wo ist die Hauptbar?" fragte jemand.
"Die Hauptbar ist die ganz große Bar", erklärte Rafa, und es klang, als moderiere er die Kinderstunde.
Rafa blieb bis zum Ende hinterm DJ-Pult. Kappa saß meistens bei seiner Freundin Genna. Meta bediente und saß später vor der Bar mit einigen Leuten. Sie ging nie zu Rafa. Es war wieder, als wenn Rafa und Meta Fremde füreinander wären. Ich fragte Daria, was von dem Gerücht zu halten wäre, daß Rafa sich von Meta getrennt hätte.
"Ach, wo!" entgegnete Daria. "Die sind noch zusammen!"
Daria ist auch noch mit Dolf zusammen, und dennoch verhalten sich die beiden wie Fremde. Einmal nur hat Dolf mit Daria geredet, am früheren Abend.
"Ich glaube, Rafa hat ziemliche Angst davor, ohne Freundin zu sein", sagte ich zu Daria.
"Auf jeden Fall", meinte sie.
Rafa war mehrfach vor mir geschützt. Da war einmal seine "Festung", das DJ-Pult. Diese Zuflucht lasse ich stets unangetastet. Dann schützte Rafa die Tatsache, daß eine Freundin vorhanden ist. Und schließlich war da noch die Sängerin, die auch ins "Nachtlicht" gekommen war und dort fast zu jedem Stück tanzte, immer unmittelbar vorm DJ-Pult. Sie tanzte abgewandt von Rafa, doch sie winkte ihm öfter zu und gab ihm Zeichen. Es sah sehr danach aus, als wenn sie Rafa wieder für sich gewinnen wollte. Rafa schien das gelassen zu nehmen. Ich frage mich nun, ob ihm das anbietende Verhalten der Sängerin schmeichelt oder ob er darin lediglich einen Nutzen für sich sieht. Die Sängerin bewacht ihn noch immer, obwohl sie nicht mehr mit ihm zusammen ist. Und noch immer scheint sie mich als ihre eigentliche Gegnerin zu betrachten. Sie ist mir wieder auf die Toilette gefolgt und richtete ihr Makeup, während ich meines richtete. Es kam auch schon in den letzten Wochen verdächtig oft vor, daß sie sich zur gleichen Zeit nachschminkte wie ich.
Rafa hielt seinen Kopf meistens gesenkt. Er schien es sich zu verbieten, mich anzusehen.
Rafas Tracht war die gleiche wie am letzten Samstag. Er war aber nicht mehr so sorgfältig rasiert. Was mache ich, wenn er es wieder schafft, mit mir zu kommen und nicht richtig rasiert ist? Ich will doch sein Gesicht streicheln können ...
Weil es dieses Mal im "Nachtlicht" etwas leerer war, konnte ich eine kunstvolle Wandmalerei genauer betrachten. Es ist der "Nachtlicht"-Schriftzug, ganz groß. Die beiden T's haben die Form von Grabkreuzen. Die Wandmalerei hat die Besonderheit, daß die Grabkreuze Namen tragen. Auf dem ersten Kreuz steht "Honey" und auf dem zweiten "Kappa". Unten rechts hat der Künstler signiert: "Honey '94". Vielleicht hat Rafa dem Schriftzug so gestaltet, um anzudeuten, daß er und Kappa sich mit der Discothek ein Denkmal setzen wollen. Ich finde auch, daß man aus der Wandmalerei die enge Verbundenheit von Rafa und Kappa lesen kann.
Übrigens soll Xentrix in dieser Nacht auch kurz bei der Konkurrenz hereingeschaut haben.
Daria erzählte mir, daß Carl ihr endlich seinen Saverio gezeigt hat. Sie findet ebenso wie ich, daß Carl und Saverio sich ähnlich sehen und gut zusammenpassen würden.
"Findest du, daß Rafa und ich auch zusammenpassen?" fragte ich Daria.
"Na, du bist nicht sein Typ", meinte sie. "Er steht doch auf lange Haare. Aber du läßt die dir wohl nicht wachsen."
"Den ganzen Freundinnen von Rafa haben die langen Haare nichts genützt", meinte ich. "Er hat sie alle verlassen. Ich denke, es gehört mehr dazu als lange Haare, um mit Rafa fertigzuwerden."
Ich mag mir meine Haare nicht wachsen lassen. Ich fühle mich von langen Haaren behindert. Zudem sind meine Haare weich und dünn und sitzen viel besser, wenn sie nur Kinnlänge haben.
Dorgath klagte, die Leute und die Musik in der Szene seien so kraftlos.
"Das erlebe ich ganz anders", meinte ich. "Vielleicht kommen dir die Leute nur so kraftlos vor, weil du selber kraftlos bist. Als ich einmal lahm war, ist mir die Welt um mich herum auch lahm vorgekommen."
"Das ist zu überdenken", meinte Dorgath, und als er mit dem Überdenken fertig war, teilte er mir mit, nun wäre seine Kritik an der Szene hinfällig geworden.
Es gab auch noch das angekündigte Freibier. Rafa scheuchte ein bißchen, damit auch jeder sich sein Glas holte -
"... denn bald ist Ende damit."
Gegen fünf Uhr war die Sängerin endlich fort, und ich konnte Rafa ungestört anschauen. Er machte ein wenig Theater hinterm DJ-Pult und bewegte sich merkwürdig zu der Musik. Zwischendurch warf Rafa ganz besonders heftig den Kopf auf die Seite. Das könnte auf seine Unsicherheit hinweisen. Er könnte damit sagen wollen:
"Was ich eben gemacht habe, habe ich gar nicht gemacht. Das ist wegradiert."
Rafa blickte nun häufiger in meine Richtung, doch er stand im Gegenlicht, und ich konnte nicht feststellen, ob er mich wirklich ansah. Vielleicht wollte Rafa mit seiner Kopfschüttelei "wegradieren", daß er mich beobachtete.
Rafa spielte noch ein schnelles EBM-Stück an, doch allein wollte ich dazu nicht tanzen. Rafa blendete das Stück wieder aus. Dann folgten noch ein Stück und der Abschiedsgruß, der mich immer ein bißchen an den "Abendgruß" vom Sandmännchen erinnert:
"So, das war das letzte Stück. Kommt gut nach Hause. Und - tschüß."
Nach diesem Gruß kam Rafas "DJ-Stück", zu dem er tanzte. Er tanzte wieder so wie am vergangenen Samstag, allein in der Mitte der Tanzfläche und mit Blick auf das DJ-Pult. Er hatte sich auch wieder ein langsames, romantisches Lied ausgesucht.
"Komm' zurück", klagt der Sänger.
Rafa hatte nach dem Ende des musikalischen Programms noch hinterm DJ-Pult zu tun. Ein stark betrunkener, zerlumpt aussehender Punk kam auf die Tanzfläche und grölte laut und wild. Es hörte sich so an, als würde der Punk gleich irgendetwas in Stücke schlagen.
"Was ist denn das jetzt hier?" fragte Rafa durchs Mikrophon, sanft tadelnd und im wahrsten Sinne des Wortes von oben herab.
Da gab der Punk Ruhe. Rafa hat eine elegante Art, Randalierer abzuwiegeln und ihnen gleichzeitig einen Schuß vor den Bug zu geben. Allerdings verschießt er sich auch gelegentlich, etwa dann, wenn er den Fehler macht, die Angreifer nach ihrem Alter zu fragen. Oft sind die Angreifer älter als Rafa, und der Satz "Ihr seid ja Kinder" würde nicht wirken.
Rafa stellte sich zu Kappa und Dolf, nicht zu Meta, und Meta kam auch nicht zu ihm. Ich ging mit Daria und Genoveva fort; wir gehörten zu den letzten Gästen. Dolf verabschiedete sich nicht von Daria.
Inzwischen hat es sich abgekühlt. Ich habe fürs "Elizium" wieder etwas Kurzes angezogen. Unter anderem liefen "Hope like a Candle" von Blackhouse, "Deiche" von den Sex Gang Children und zwei Stücke von SPK, außerdem "Saltarello" in der Version von Corvus Corax, mit Maultrommeln und Dudelsäcken. Das Stück ist schneller als das von Dead can dance. Sein ungewöhnlicher Rhythmus macht es wild und ausgelassen trotz seiner Strenge. Ich stürmte mit Bertine im Gleichschritt über die Tanzfläche, und als das Stück vorbei war, sahen Bertine und ich uns an und riefen wie aus einem Mund:
"War das geil! Das ist ja viel besser als das von Dead can dance!"
Bertine ist schon seit längerer Zeit im "Elizium" Stammgast, ich habe sie aber erst kürzlich kennengelernt.
Xentrix hat sich inzwischen die Haare fast ebenso schneiden lassen wie ich. Auf der einen Seite trägt er einen ausrasierten Fassonschnitt, der zur anderen Seite hin in einen Pagenkopf übergeht. Xentrix' Haare sind nur etwas länger als meine, und er trägt keinen Pony, sondern eine Tolle.
"Oh, du hast ja meine Frisur!" bemerkte ich. "Nicht wahr, Dorgath? Er hat meine Frisur."
"Ich schlachte dich", drohte Xentrix.
Carl ging zwischendurch für eine Stunde ins "Nachtlicht", mit einigen Neugierigen, die es noch nicht kannten. Zu ihnen gehörte auch Chantal. Sie fand die Musik im "Nachtlicht" gut. Carl meinte, die Musik sei im "Elizium" eindeutig besser. Er brachte ein paar Leute aus HB. mit her, nett aussehende Jungen mit Pferdeschwänzen, denen es ebenfalls im "Elizium" besser gefiel. Dafür waren im "Nachtlicht" mehr Leute zu sehen, die sich schön geschmückt hatten. Auch Rafa soll sich feingemacht haben. Seine Haare waren hochgestellt, und hinten trug er noch ein Zöpfchen. Seine Kleider waren jedoch die gewohnten. Carl berichtete mir, daß Rafa im "Nachtlicht" umherlief, wie er es einst im "Elizium" getan hat und daß er sich mit allerlei Leuten unterhielt. Die Sängerin saß hinten in einer Ecke mit irgendeinem Jungen. Meta soll nur einmal zum DJ-Pult gekommen sein, als Rafa gerade dort war; sonst hat Carl die beiden nicht miteinander gesehen.
Carl hielt Ausschau nach Saverio. Der war aber nicht da. Mit Chantal setzte sich Carl an den Tisch, an dem Saverio am Freitag gesessen hat. Am Nachbartisch saß Rafa mit Genoveva und deren Freund. Rafa drehte sich zu Carl um und grüßte mit "'n Abend!" oder "Tach!", und Carl grüßte zurück mit einem Lächeln oder "Hallo!". Rafa hat sich vielleicht gedacht, daß Carl mein Gesandter war und nachsehen sollte, was er so trieb. Ich finde es auffällig, daß Rafa Carl grüßte und mit Genoveva sprach. In der Freitagnacht standen Daria, Genoveva und ich lange beieinander und gingen später gemeinsam fort. Wieder einmal suchte Rafa die Begegnung mit Menschen, die mit mir zu tun haben.
Daß Rafa hochgestellte Haare trug, wertet Carl als Hinweis auf eine "Baggerstimmung". Auch das Umherlaufen deutet an, daß Rafa zu seinem "alten Verhalten" zurückkehren will, um etwas "Neues" aufzutun. Rafa gibt sich gern als "Jedermanns Liebling" und Schürzenjäger, wenn er "frei" ist und eine Beziehung anstrebt. Nur werde ich auch beim nächsten Mal nicht die Erwählte sein; ich darf es nicht sein, denn Rafa würde sonst seine Liebe zu mir eingestehen. Es bleibt ihm nichts übrig, als mit zusammengebissenen Zähnen seinen Beziehungswirrwarr fortzuführen. Ich frage mich, wie müde Rafa werden muß, ehe sein Widerstand gebrochen ist.
Daria war in der Samstagnacht auch im "Nachtlicht". Sie und Carl wechselten ein paar Worte. Er sagte ihr, daß ich im "Elizium" sei.
Ich ging öfters hoch und sprach mit Xentrix und Luie. Cyrus war auch da, aber mit ihm sprach ich nicht. Bei Cyrus ist es wie bei Kappa: es gibt nur seltene Phasen, in denen wir uns unterhalten. Ich erzählte Xentrix, daß die Musik im "Nachtlicht" am Freitag noch recht gut geworden sei, später, als er schon fort war.
"Oh, nein, also - ich lege keinen Wert darauf, W.E zu hören!" rief Xentrix.
"Das war das ja auch nicht, das ist es ja!" entgegnete ich. "Ab drei, als wir aus der 'Halle' kamen, lief auf einmal bessere Musik. Der hat voll die Raris gespielt. Der hat 'Geile Tiere' gespielt."
"Das spiel' ich auch!"
"Ja, aber der auch."
"Der hat 'Geile Tiere'?"
"Ja!"
"Woher?" fragte Xentrix.
"Das weiß ich nicht; der hat es eben", erwiderte ich. "Und er hat von Laibach 'Across the Universe' gespielt und 'Severance' von Dead can dance ... und eine Mittelalterversion von 'Lord of Ages' von Blood Axis."
"Rafa?" rief Xentrix und machte große, runde Augen.
"Ja!" rief ich. "Ich wußte immer, daß er auf das Stück steht. Er hat es nur verleugnet und die Leute mit diesem 'Neue Deutsche Welle'-Brei überkippt."
Xentrix lachte. Ich fuhr fort:
"Ja, er weiß, wenn er Leute wie mich halten will, muß er anständige Sachen spielen."
Joël soll laut Xentrix nicht damit zufrieden sein, am Sonntagmorgen im "Nachtlicht" aufzulegen.
"Er will den Freitagabend", sagte Xentrix.

In einem Traum ging Rafa auf einer Treppe an mir vorbei. In seiner kühlen Art grüßte er mich:
"Bis nachher."
"Ja", sagte ich.

Zwei Tage später hatte ich einen Traum, der eine Fortsetzung sein könnte:

Rafa vermißte mich im "Nachtlicht". Er wollte mich unbedingt noch sehen und kam mit einer Eskorte von sieben oder acht schwarzgewandeten Jungen in meine Wohnung. Er legte sich zu mir ins Bett, und wir umarmten und küßten uns leidenschaftlich. Ich tadelte Rafa, weil er nicht vernünftig rasiert war. Rafa hatte sich völlig ausgezogen. Mich zog er nicht aus; ich behielt mein Nachthemd und mein T-Shirt an. Ich legte mich auf Rafa, und meine Beine kamen zwischen seine zu liegen. Er verlangte sehr nach mir, beherrschte sich aber mit Mühe. Es wurde mir wieder so heiß, wie mir war, als ich im März mit Rafa im Bett lag. Ich warf alle Decken auf den Boden bis auf eine, die dünne, die Rafa so gefällt. Sie hatte einen Bezug, den ich nicht kannte, einen hellblau-weiß gestreiften. Die übrige Bettwäsche war die rosafarbene.
Als mir nicht mehr so heiß war, kuschelte ich mich an Rafas Schulter und fiel für kurze Zeit in Schlaf. Beim Erwachen wurde ich gewahr, daß Rafa nicht mehr in meinen Bett lag. Ich fand neben mir einen "Austauschbalg", einen schmächtigen Burschen, der ganz angekleidet war, sogar mit Jacke. Der Bursche sagte im Auftrag von Rafa folgende Worte:
"Du bist unheilbar. Du bist wirklich unheilbar. Dir kann man nicht helfen."
"Na - wer weiß; vielleicht kann man mir doch helfen", erwiderte ich und legte meine Wange an die des Jungen. "Ich habe nämlich sehr starke Gefühle. Wo ist Rafa eigentlich?"
"Das weiß ich nicht."
Ich sprang aus dem Bett und sah um mich. Hinter dem Fußende meines Bettes standen zwei weitere Sofas im Zimmer, und auf diesen und auf meinem grauen Zweisitzer saßen die restlichen Jungen, die Rafa mitgebracht hatte. Ich trug meine Kontaktlinsen nicht und konnte nicht erkennen, ob Rafa unter den Jungen war. Ich erkannte aber Xentrix.
"Xentrix", sprach ich ihn an, "wo ist Rafa?"
"Der geht gerade. Laß' ihn gehen ..."
"Nein!" sagte ich bestimmt. "Nein!"
Ich lief barfuß durch den Flur. Ganz hinten sah ich die verschwommene Gestalt von Rafa. Er stand da in einem hellen T-Shirt, bleich, in dem schwachen Licht fast eins mit der grauen Wohnungstür. Er hatte die Klinke in der Hand. Ich legte meine Arme um ihn.
"Rafa, komm' mal, komm' mal", sagte ich und schob ihn ins kleine Zimmer.
Er hatte aufgelöste, zerzauste Haare, und sein Gesicht war so geschwollen, daß ich mir zuerst nicht sicher war, ob ich wirklich Rafa vor mir hatte. Er blickte mich aus trüben Augen an, und es waren die mir vertrauten hellgrauen Augen.
"Warum ist dein Gesicht so geschwollen?" fragte ich Rafa.
"Weiß ich doch nicht", antwortete er.
Kaum hatte er das gesagt, ging die Schwellung zurück, und sein Gesicht sah wieder so aus wie sonst. Ich strich Rafa übers Haar. Da hörte ich es an der Tür läuten. Das war aber kein gewöhnlicher Klingelton, sondern ein leiser, elektronischer Klang, der sich in regelmäßigen Abständen wiederholte. In dem kleinen Zimmer erschien ein Bett ohne Kissen und Decke, nur mit einer frisch bezogenen Matratze. Auf das Bett drückte ich Rafa nieder, und er legte sich hin. An der Flurwand erschien eine Gegensprechanlage, die unserem grauen Telefon ähnelte. Ich entdeckte einen Knopf, auf dem stand "Sprechen", und daneben sah ich einen Knopf, auf dem stand "Hören". Das war alles, was ich brauchte. Nach dem vierten Läuten nahm ich den Hörer ab, ohne Rafa außer Reichweite zu lassen.
"Ja, bitte?" fragte ich.
"Ja, das Taxi ist da", sagte eine Männerstimme. "Auf welchen Namen war das denn?"
"Dawyne", antwortete ich. "Moment. Einen kleinen Moment bitte. Einen Moment."
"Ja. Moment."
Ich beugte mich über Rafa, der ruhig auf dem Bett lag.
"Rafa", sagte ich zu ihm, "du bleibst noch einen Moment, ja? Einen Moment bleibst du noch, ja?"
Rafa schwieg. Er schien innerlich abwesend zu sein.
"Herr Dawyne bleibt noch ein Momentchen da", sagte ich durch die Gegensprechanlage. "Ich werde mich wieder melden, wenn ein Taxi gebraucht wird."
"In Ordnung."
Ich verabschiedete mich und hängte den Hörer ein. Ich wandte mich wieder Rafa zu. Und ich erwachte.

Kurz danach rief Constri an. Sie hatte schon im "Elizium" Ärger mit Derek gehabt, und das hatte sich nun fortgesetzt; er ging ihr aus dem Weg und trieb sich irgendwo herum. Constri zerfloß wieder einmal in Tränen. Ich reichte den Hörer an Carl weiter. Constris Unselbständigkeit und ihr klammerndes Verhalten erzeugen in mir Widerwillen und Gereiztheit. Ich glaube nicht, daß ich Constri helfe, indem ich ihr zuhöre, zuhöre und zuhöre. Ich glaube, ich muß sie ein bißchen alleine lassen. Sonst besinnt sie sich nicht auf ihre eigenen Fähigkeiten und macht am Ende noch mich für ihre Schwierigkeiten verantwortlich, weil ich ihr angeblich nicht richtig geholfen habe.
Sator ist inzwischen von Janine getrennt. Ich habe gemeint, daß eine Beziehung für ihn nur dann eine Zukunft hat, wenn er in das Mädchen mehr verliebt ist als in Diandra. Sonst würde er immer nur an Diandra denken und wäre nie zufrieden.
Bei U.W. habe ich CD's gekauft und bekam seinen sagenhaften Cappuccino serviert. U.W. erzählte, daß Ivo Fechtner am Samstag auch im "Nachtlicht" war, eher als wir. Ivo soll Rafa und Kappa auf einmal wieder "ganz toll" finden.
Laut U.W. soll Rafa gesagt haben, daß ihm das Geld, das er fürs Auflegen bekommt, zusammen mit dem Arbeitslosengeld zum Leben reicht. U.W. denkt nun selbst darüber nach, arbeitslos zu werden und nur noch von Ämtern und Nebentätigkeiten zu leben.
"Solange Rafa Arbeitslosengeld zusteht, mag ihm das reichen", meinte ich. "Doch wenn er nur noch Arbeitslosenhilfe beanspruchen kann, wird er schwerlich vor den Behörden kriechen. Eher sucht er sich eine neue Beschäftigung oder eine andere Geldquelle."
Mein Tapedeck geht kaputt. Derek meinte dazu:
"Klar, bei dem dauernden Gebrauche kommt schon die weiße Fahne 'raus!"
Constri übt sich neuerdings darin, auf Dereks Frechheiten herauszugeben. Wenn er zu ihr sagt:
"Mann, bist du doof!"
antwortet sie:
"Ja, weil du blöd bist, das färbt nämlich ab."
Derek entschuldigt sich für seine Frechheiten, indem er Constris Diddlmaus mit Süßigkeiten und Briefchen schmückt.
Mitte August war Laura im "Zone" in HF. Dort hat sie Fedor getroffen. Sie ließ sich mit kühler Miene von ihm umwerben und schmuggelte ihm ihre Visitenkarte in die Brieftasche.
Die Sängerin Tessa war auch im "Zone". Sie soll neuerdings viel mit Luc zu tun haben; allerdings soll das "rein platonisch" sein.
Zum Wochenende fuhr ich mit Laura nachmittags nach HB. und zeigte ihr eine legendäre Boutique für modische Avantgarde, wo auch selbst geschneidert wird. Laura gefiel der Laden; freilich waren die Sachen für sie zu teuer.
Ein kleines Wunder war geschehen. Der Inhaber hatte noch etwas von jenem leichten anthrazitfarbenen Wollstoff gefunden, aus dem er vor Jahren eine ganze Kollektion genäht hat. Ich stürzte mich damals regelrecht auf die Sachen. Der Stoff steht mir, und er ist schön und bleibt schön. Ein Hemd aus dieser Sommerwolle ist mir vor drei Jahren aus einer Umkleide im Krankenhaus gestohlen worden, während ich Nachtdienst hatte. Ich habe den Verlust nie überwunden. Nun kann ich mir dieses Hemd nachnähen lassen. Ich kaufte außerdem ein kurzes plissiertes Röckchen aus diesem Stoff.
Es gab in der Boutique auch eine weiße Bluse aus feiner Crush-Seidenmischung. Ich verliebte mich in die zarten Spitzenmanschetten, die zum Ärmel hin mit einem braunen Samtband abgesetzt sind. Ich muß immer an Rafa denken, wenn ich Spitzenmanschetten sehe. Ich hatte das Hemd lange an und hängte mir auch noch ein schwarzes samtbezogenes Kreuz um. Laura sagte mir, ich solle die Bluse kaufen, doch ich zögerte, weil die Bluse nicht tailliert ist. Unbemerkt von mir flog eine Wespe zwischen die Spitzen. Als sie wieder herauskam, stach sie mich. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah und fing an, zu klagen und zu schimpfen. Da wähnte ich mich sicher vor dem Spiegel in meiner Lieblingsboutique, und das Grauen fand den Weg doch zu mir. Für mich sind alle Wespen Sängerinnen und haben es auf mich abgesehen.
Ich wollte nicht länger nachdenken und kaufte das Hemd und die Kette.
Gegen sieben Uhr kamen Laura und ich zu Folter. Dort waren schon Constri und Derek, und auch Talis und Ellen kamen noch. Wir feierten Folters Geburtstag nach. Folter hatte reichlich Cola, Bier und Mezzomix gekauft, und der Tisch lag voller Süßigkeiten. Es gab Döner für jeden.
Folter wußte eine neue Ekelgeschichte von seiner Arbeit im Altenpflegeheim. Er hatte eine alte Dame ihr großes Geschäft verrichten lassen, ohne sie lückenlos zu beaufsichtigen. Als er nach ihr sah, wühlte sie mit beiden Händen im Klobecken herum. Sie merkte, daß Folter dazukam und zeigte sich anhänglich, indem sie Folter ihre Hände durchs Gesicht zog.
Folter bat auch darum, daß wir anderen etwas erzählten.
"Du darfst echt über alles reden", sagte er zu mir, "über alles - nur nicht über Rafa!"
"Rafa ist nämlich meine große Liebe", klärte ich Laura auf.
"Welcher Rafa?" fragte sie. "Von W.E?"
"Ja, sicher."
"Ach, nein, den findest du doch nicht gut! Das erzählst du nur!"
"Doch, doch. Guck', die hier können das schon alle nicht mehr hören."
"Hetty ist imstande, stundenlang ununterbrochen über Rafa zu reden", teilte Constri Laura ihre Erfahrungen mit.
Ich erzählte Laura ohne Rücksicht auf den stöhnenden Folter ein bißchen von Rafa und von meinen seltsamen Träumen. Am Ende meinte Laura, ich sei schon in einem fortgeschrittenen Stadium. Sie war so neugierig wie Daria und wollte allerlei wissen.
"Mensch, das wird ja ein Hauen und Stechen", sagte Constri, als sie sich das Zusammenleben von Rafa und mir ausmalte.
"Du kannst ja für Rafa eine Folterkammer einrichten", empfahl Laura.
"Da gib ihn lieber mir", bot Talis an.
Er hat immer noch Lust, dem Rafa ein Gewicht um den Hals zu hängen und ihn in einen Brunnen zu werfen. Gegen halb zwölf kamen wir ins "Crucifiction". Ich mußte gleich tanzen, denn es lief viel ausgesuchter Industrial. Ich hatte kaum Zeit, Mal und Alanna zu begrüßen.
Als ich mit Laura kurz nach draußen ging, um mich abzukühlen, rief mich jemand, ein Industrial-Fan, den ich vom letzten Mal kenne. Laura und ich unterhielten uns mit ihm und den Jungen, die noch bei ihm standen. Das Gespräch kam sogleich aufs "Nachtlicht". Einer der Jungen hatte mich auf der Eröffnungsfeier des "Nachtlicht" gesehen. Es gefiel ihm im "Nachtlicht". Er schwärmte von Rafas Darbietung:
"Das ist doch wenigstens noch Musik!"
"Hast du ihm das gesagt?" fragte ich.
"Ja."
"Da hat er dich bestimmt ganz freundlich angelächelt hinter seiner Spiegelbrille."
"Ja."
Immer wieder fiel auf der Veranstaltung das Wort "W.E". Über Kappa wurde auch gesprochen, doch viel weniger als über Rafa.
Als ich im Obergeschoß durchs "Crucifiction"-Bistro ging, hielt mir ein Junge einen Keks in den Weg, wie ein Polizist eine Kelle hält. Der Junge wollte etwas sagen, doch er kaute gerade, und er kicherte und kaute ziemlich lange, ehe er sprechen konnte.
"Erstmal auskauen", sagte ich.
Der Junge kaute aus und fragte:
"Willst du einen Keks?"
Ich nahm mir den Keks und aß ihn. Ich fing an, mich mit dem Jungen zu unterhalten und mit seinen Leuten, die bei ihm am Tisch saßen. Ein Thema war das "Nachtlicht".
"Ich finde den Kappa voll arrogant", meinte ein Mädchen.
"Der ist unsicher", deutete ich. "Der tut nur so arrogant."
Das Mädchen zupfte einen Jungen am Ärmel und sagte:
"He! Hast du gehört? Der Kappa ist ein dufter Typ."
"Das habe ich nicht gesagt", warf ich ein. "Ich habe nur gesagt, daß er nicht arrogant, sondern unsicher ist."
"Was versteht Kappa eigentlich unter Industrial?" fragte mich einer.
"Das ist es ja - er weiß gar nicht, was das ist", erzählte ich. "Er hat die CD's nicht. Er hat nichts von Blackhouse, nichts von Whitehouse und nichts von Dive. Und Rafa weiß nur, was Industrial ist, wenn er es wissen will."
Ein Junge ahmte nach, wie Rafa ins Mikrophon krächzt. Ich fand das sehr treffend.
"Er kann singen", meinte ich, "aber er tut immer so, als könnte er es nicht. Man muß ihm mal auf die Schulter klopfen und sagen:
'Du kannst singen, also sing'.'"
Im "Crucifiction" wurde nicht nur Industrial gespielt. Es liefen auch "War combattery 2" von :wumpscut: und "A Day" von Clan of Xymox. Das bekamen Folter, Constri, Derek, Talis und Ellen aber nicht mehr mit, weil sie - wie meistens - schon gegen zwei Uhr gingen.
Saverio war anwesend, mit seiner Freundin Edna und der gemeinsamen Freundin May. Die drei kamen dicht an mich heran, als ich mit Alanna sprach, weil sie Alanna gut kennen. Saverio setzte sich bisweilen neben mich, wenn ich auf einem Tisch Platz nahm, und er tanzte auch Ärmel an Ärmel mit mir. Wir redeten aber nicht miteinander. Einmal nur warf ich Saverio im Vorübergehen ein "Hallo" zu.
Am frühen Morgen standen Laura und ich wieder draußen und unterhielten uns mit den Jungen, mit denen wir zu Beginn der Veranstaltung gesprochen hatten. Ich kann mir ihre Namen nicht merken.
"Letztes Mal bei der EBM-Nacht war es gut", erzählte ich.
"Ich war vor zwei Wochen in der 'Halle'", sagte ein Junge.
"Ja, da hättest du nicht hingehen dürfen", meinte ich. "Das konnte man vergessen."
"Der Honey hatte sich ja noch nicht einmal richtig rasiert."
"Ich weiß!" rief ich. "Das Miststück ... Der kriegt von mir immer ganz schön was zu hören, wenn der sich nicht rasiert. Der braucht nur auf weniger als fünfzig Zentimeter an mich heranzukommen, und der kriegt eine Strafpredigt. Deshalb er hält dann meistens auch schön Abstand."
Zum Ende hin wurde die Musik im "Crucifiction" ganz besonders industriell. Es lief auch "Shiftwork" von P.A.L, ein Stück mit einem dröhnenden Rhythmus, in dem Ostpropaganda versampelt worden ist:
"Am 13. Oktober 1948 fuhr Adolf Hennecke seine Schicht, die historisch wurde. Am Ende der Schicht hatte Adolf Hennecke statt der Norm von 6,3 Kubikmetern 24,4 Kubikmeter Kohle gefördert. Das war fast das Vierfache der bisherigen Norm. Von diesem Tage an gewannen die Menschen ein neues Verhältnis zu ihrer Arbeit."
Ich konnte mich kaum lösen von dem Totenkeller der Töne, dem Fest der absurden Musik.
Saverio und Edna nahmen den Zug um 4.21, und den nahmen auch Laura und ich.
"Gleis fünf!" rief uns Saverio in der Unterführung zu.
Wir schlossen uns Saverio und Edna aber nicht an, sondern suchten uns ein eigenes Abteil. Ich erzählte Laura wieder von Rafa und davon, was ich mit ihm mache und vorhabe.
"Da müßte Rafa dir aber ganz schön dankbar sein", fand Laura.
"Ach, das ist der schon", seufzte ich. "Ich glaube, der weiß das schon zu schätzen, was ich für ihn tue."
Carl war im "Nachtlicht" und hat Rafa ein wenig beobachtet. Rafa soll sich vorwiegend hinterm DJ-Pult aufgehalten haben. Genoveva trug das Brautkleid, das sie häufig anzieht. Rafa spielte "Ganz in Weiß", und Genoveva und etliche andere tanzten dazu. Rafa sang wieder laut durchs Mikrophon den Text mit. Er trug ein weißes Rüschenhemd; eine Weste hatte er nicht an. Als er für kurze Zeit herunterkam, ging er an Carl vorbei und sagte:
"Hallo."
Carl erwiderte den Gruß.
Lange war Carl nicht im "Nachtlicht", doch in der Zeit, in der er da war, hat er Rafa nicht mit Meta sprechen sehen. Meta hielt sich hinter der Bar auf. Die Sängerin tanzte öfters vorm DJ-Pult und redete auch mit Rafa. Ich vermute, wenn Rafa die Sängerin gebrauchen kann, nimmt er sie auch noch ein neuntes Mal.
Einmal tanzte Rafa. Er wählte ein merkwürdiges, kitschiges Stück. Er tanzte aber nicht allein; das Stück gefiel wohl noch mehr Leuten.
Als Rafa Die Form spielte, sagte er durchs Mikrophon, dies sei eine Ausnahme; schließlich sei Gothic Night. Als wenn Die Form nicht eher auf eine Gothic Night gehört als harmlose "Neue Welle"-Liedchen ...
Daria ließ mich grüßen. Sie erzählte Carl, Saverio sei am letzten Donnerstag im "Nachtlicht" gewesen.
"Ich wollte dich schon anrufen", sagte sie.
Laura kam mit zu "Klangwerk". Sie meinte, sie freue sich schon darauf, Fedor zu ärgern.
"Fedor ist in dich verschossen", sagte ich zu ihr.
"Ach, nein! Du erzählst!" wehrte sie ab.
Zu neunt fuhren wir abends nach HH. - Philipp, Nino, Carl, Laura, Constri, Derek, Talis, Ellen und ich. Constri sah niedlich aus in ihrem neuen Kostüm, das ihr die Schneiderin gemacht hat. Das Oberteil ist ärmellos und tailliert. Es läßt die Schultern unbedeckt und hat einen Stehkragen. Der Reißverschluß vorn in der Mitte reicht vom Kinn bis zu den Beinen. Unter dem Oberteil schaut ein kleines Stück von einer kurzen Hose hervor.
Fedor war ganz in Lack gewandet. Auch Laura trug Lack - eine Corsage, derentwegen Talis sie "Latex-Baby" nennt.
Fedor erzählte, er wolle demnächst im "Nachtlicht" auflegen. Vergangenen Freitag sei da so ein Anfänger hinterm DJ-Pult gewesen, der keine Ahnung habe.
"Der hat eine volle Tanzfläche", sagte Fedor über Rafa, "und nach zwei Minuten blendet der das Stück aus ... so etwas Idiotisches! Und noch nicht einmal bemustert wird der. Er bekommt keine Promos von den Plattenfirmen. Wenn ein DJ nicht bemustert wird, dann kann der nicht besonders sein ..."
Ich empfahl Fedor, erzieherisch auf den "Anfänger" einzuwirken.
Wie das gehen sollte?
"Ja, du mußt dem alles erklären", riet ich. "Der hat keine CD's. Du mußt dem die alle mitbringen und ihm sagen, so, das und das von der und der CD mußt du spielen."
"Meinst du, ich kann das, erzieherisch auf ihn einwirken?"
"Ja, sicher kannst du das!"
"Der haßt mich jetzt schon", glaubte Fedor. "Ich weiß das."
"Das ist doch die beste Voraussetzung! Dann hat er wenigstens Repekt vor dir!"
Bei "Klangwerk" gab es ein ähnliches Programm wie im "Crucifiction". Mal und sein Co-DJ Nova spielten von Anfang an Sachen, die mich verzauberten. Das sind Stücke mit dumpfen, maschinellen Rhythmen und verzerrten, klagenden oder auch nüchtern rezitierenden Stimmen.
Ich versuche, die Industrialstücke aufzulisten, die mich verzaubern. Ich könnte Rafa wohl beibringen, Industrial aufzulegen - wenn er mich läßt.
"Hetty! Ich würde mich beeilen!" rief Mal, als "Shiftwork" begann und ich noch am DJ-Pult mit Nova im Gespräch war.
"Klangwerk" war ungewöhnlich gut besucht, und es wurde viel getanzt. Ich schaffte es fast nicht, mit allen zu reden, die ich traf, weil ich von der Tanzfläche kaum herunterkam.
Fedor und Laura gingen für ungefähr eine Stunde nach draußen, um sich in Ruhe zu streiten und zu unterhalten. Danach waren sie beide in recht aufgeräumter Stimmung.
Gerrit hat noch keine neue Musik gemacht. Ich bin mir auch nicht sicher, ob er es jemals bis zu einem richtigen Album bringt.
Ytong scheint sich nicht von seiner ehemaligen Freundin lösen zu können. Er meint, er beherbergt sie nur deshalb noch, weil sie Sozialhilfeempfängerin ist und keine andere Bleibe findet.
"Wirf' sie einfach 'raus, dann sucht sie sich schon etwas", empfahl ich. "Die rechnet doch damit, daß du sie nie 'rauswirfst, und da braucht sie sich nicht um eine Wohnung zu kümmern."
Ytong hofft, die Frau einem anderen Mann unterschieben zu können, bevor jener ihre wahre Natur erkannt hat. Mal hat sich schon ein neues Zimmer genommen, weil er mit Ytongs ehemaliger Freundin nicht zurechtkommt.
Leon klagte über seinen "Malocherjob" in einer Chemiefirma. Er hat allerdings noch keine neuen Wege beschritten, um seine Lage zu ändern.
Auf der Heimfahrt erzählte mir Laura, sie habe mit Fedor gemeinsam festgestellt, daß ich die Ballerina sei, die immer genau auf der Bahn tanzt. Der Boden im "Klangwerk"-Tanzraum hat weiße Streifen, und durch diese ergeben sich Bahnen für das Vor- und Zurückschreiten.
Laura stellte sich vor, wie es wäre, mit Fedor zusammenzusein.
"Es ist doch eigentlich ziemlich anstrengend, einen Freund zu haben", meinte sie. "Immer ist da jemand, an den man denken muß. Allein hat man es doch viel einfacher."
"Das ist aber doch keine Pflicht, an den zu denken, den man liebt", erwiderte ich. "An den will man doch denken, und man denkt sowieso die ganze Zeit an ihn. Man denkt Tag und Nacht an ihn, in jedem Augenblick."
"Aber dann hat man doch gar keine Zeit mehr für etwas anderes."
"Das ist es ja; das andere fällt einem dann leichter. Ich fühle immer Rafa wie ein zweites Ich in mir, und dadurch fühle ich mich stark. Ich werde mit allem leichter fertig. Und es ist auch die Frage, was man will. Ich habe die große Liebe immer gewollt, und ich habe nie etwas anderes gewollt. Ich habe immer darauf hingelebt. Und ich kämpfe gerne um Rafa. Es macht mir Freude. Es ist als Solches schon ein Gewinn für mich."
Wilco, ein Junge aus dem "Elizium", rief bei Carl an und berichtete Neuigkeiten. Wilco und seine Freundin Eta sind mit Chantal und Violet am frühen Sonntagmorgen vom "Elizium" aus ins "Nachtlicht" gegangen. Sie gingen so spät dorthin, um keinen Eintritt mehr bezahlen zu müssen. Im "Nachtlicht" legte sich die vorlaute Violet alsbald mit Kappa an. Violet hat im Juni in die Hände geklatscht, als Kappa im "Elizium" abtrat, und das hat der empfindliche Kappa ihr nicht verziehen. Er erteilte Violet Hausverbot fürs "Nachtlicht", und weil Wilco, Eta und Chantal sich hinter Violet stellten, wurden sie gleich mit hinausgeworfen. Violet und Kappa lieferten sich nun eine verbale Schlammschlacht. Es muß sich furchtbar angehört haben. Schließlich gingen Violet und ihre Leute ins "Elizium" zurück. Es dauerte nicht lange, da kam Rafa ihnen ins "Elizium" nach. Er berichtete, er sei nun auch von Kappa aus dem "Nachtlicht" geworfen worden. Sein Vergehen: er hatte ein Stück von Alphaville gespielt.
Auf Alphaville steht also die Todesstrafe! Dabei ist an Alphaville nichts Besonderes; es handelt sich um eine gewöhnliche Achtziger-Jahre-Disco-Band.

In einem Traum bin ich in der Mitte einer Reihe von Musikern als Tänzerin aufgetreten. Daß ich nur tanzte und nicht musizierte, wurde mir erst bewußt, als der Vorhang fiel. Dann hob sich der Vorhang für den Applaus. Einer nach dem anderen mußten wir am Bühnenrand entlanggehen. Ich befürchtete, keinen Applaus zu bekommen, weil ich nicht musiziert hatte; ich bekam aber doch welchen.

Carl hat noch mehr Einzelheiten über die Ereignisse im "Nachtlicht" gehört. Als Rafa Alphaville auflegte, sollen viele Leute getanzt haben, und daraufhin soll Kappa ausgerastet sein und Rafa hinausgeworfen haben. Das hat Rafa dem Wilco erzählt, als er nach seinem Rauswurf ins "Elizium" kam. Rafa sagte auch, er ziehe in Betracht, zukünftig im "Elizium" aufzulegen.
Meta soll Rafa nicht gefolgt sein, als er hinausgeworfen wurde. Was zwischen den beiden zur Zeit läuft, ist mir unbekannt.
Wilco und Eta haben Carl und mir bei einem Besuch noch mehr erzählt:
Zu etwa zwölf Leuten, darunter Violet, Wilco, Eta, Foster, Chantal und Bertine, seien sie ins "Nachtlicht" gekommen und hätten sich friedlich in eine Ecke gesetzt. Da sei Kappa des Wegs gekommen. Er habe Violet auf die Schulter geklopft und ihr bedeutet, sie solle gehen. Er habe ihr nicht verziehen, daß sie geklatscht habe, als er seine letzte Nacht im "Elizium" hatte. Auf dem Weg nach Hause seien ihm damals die Tränen heruntergelaufen, so sehr habe ihn das verletzt.
In der vorigen Woche soll Kappa schon ein anderes Mädchen, Terry, aus dem "Nachtlicht" geworfen haben, das ebenfalls geklatscht hatte. Auch eine ganze Clique habe schon gehen müssen, aus irgendeinem Grunde. Nun machte Kappa bei Violet weiter. Er soll gesagt haben, er wolle die Macht nutzen, die er im "Nachtlicht" habe und alle vor die Tür setzen, die ihm nicht paßten. Kappa soll stark angetrunken gewirkt haben, und Wilco vermutet, daß er darüber hinaus auch Kokain zu sich genommen hatte. Kappas Verhalten erschien Wilco enthemmt und ungesteuert.
Draußen vorm "Nachtlicht" gab es dann jene heftige Auseinandersetzung zwischen Violet und Kappa. Wilco redete Kappa ins Gewissen und riet ihm, sich zu besinnen. Kappa sagte schließlich, "die da" – er zeigte auf Violet – sei blöd, die anderen jedoch seien weiterhin eingeladen, ins "Nachtlicht" zu kommen.
"Das wollen wir nicht", entgegnete Wilco. "Ich will mir nicht überlegen müssen, wen von meinen Freunden ich mitnehme."
"Gut, dann habt ihr alle Hausverbot", kam es von Kappa.
Violet und Kappa warfen sich wüste Schimpfwörter an den Kopf. Dann gingen die Hinausgeworfenen zurück ins "Elizium". Das hatte schon geschlossen, und man klopfte. Xentrix machte auf und erfuhr, was geschehen war. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief:
"Waas, euch alle?"
Xentrix bat die Gruppe gleich herein. Nicht lange danach klopfte es noch einmal. Rafa kam, in Begleitung eines Bekannten. Rafa berichtete, daß der Bekannte ihn verteidigt hatte und deshalb ebenfalls Hausverbot bekommen hatte.
So leichtfertig geht Kappa also mit dem Ansehen seiner Neueröffnung um. Und so leichtfertig setzt er seine Freundschaft mit Rafa aufs Spiel. In seiner Haltung sehe ich einen Hang zur Selbstvernichtung, ein "Es hat doch alles sowieso keinen Zweck", ein aggressives, rachedurstiges "Immer bin ich ausgestoßen worden, jetzt stoße ich mal aus!" Kappa zeigt sich hier nicht aufbauend, sondern zerstörend.
Mit Laura verhält es sich in mancher Hinsicht ähnlich. Sie erzählte, daß sie sich von Fedor schnell provozieren läßt und daß sie dann auf ihr Verhältnis zu ihm auch zerstörerisch einwirkt. Sie läßt sich leicht kränken und kann wenig einstecken.
"Ich bin abgrundtief mißtrauisch gegenüber den Menschen", meinte sie. "Ich rechne immer damit, enttäuscht zu werden."
Sie nimmt die Enttäuschung dann gerne vorweg und stößt die anderen vor den Kopf, auch wenn diese eigentlich gar nicht vorhatten, sie zu enttäuschen.
Malda hat Carl erzählt, daß Rafa Ende August mittwochs im "Zone" war. Auch Dolf und die Sängerin sollen dort gewesen sein. Malda hat Rafa nicht mit der Sängerin sprechen oder tanzen sehen. Meta war ebenfalls im "Zone", und das macht die Angelegenheit noch verwirrender.
Wilco hat ein Mädchen getroffen, das vor etwa sieben Jahren mit Rafa zusammengewesen ist, noch vor Luisa. Das Mädchen soll auch viel mit Dolf zu tun gehabt haben.
Wilco staunte, als ich ihm sagte, daß Rafa erst dreiundzwanzig ist. Er hätte ihn auf mindestens sechundzwanzig geschätzt, mich dagegen auf einundzwanzig. Da verdreht sich alles; in Wirklichkeit bin ich fünf Jahre älter als Rafa.

In einem Traum sah ich Daria vor einer Leinwand stehen, und sie malte mit Airbrush-Technik ein Bild von mir. Sie malte mich von hinten und in einer Pose, wohl beim Tanzen.
Daria und ich verabredeten uns, um gemeinsam eine große Kunstausstellung zu besuchen. Ich kam zu spät. Und ich wäre noch später gekommen, wenn mich nicht zwei Jungen an einer Bushaltestelle aufgelesen hätten, wo kein Bus fuhr.
Daria war bei ihrer Mutter. Sie hatte Grippe. Ihre Hochzeit stand bevor, doch der Bräutigam floh immer vor ihr. Daria zog ein Brautkleid an und ließ sich von zwei älteren Brüdern, die Zwillinge waren, in einer weißen Kutsche durch die Stadt fahren. Sie suchte den Bräutigam. Ich begegnete ihr, als sie für einen Augenblick Rast machte und sich an einen Brunnen setzte.
"Ich weiß, das sieht irgendwie voll merkwürdig aus mit dem Brautkleid", sagte sie.
Dann suchte sie weiter.

Gegen ein Uhr nachts geschah etwas Unheimliches. Das Telefon klingelte, und niemand meldete sich, als ich abnahm, obwohl jemand in der Leitung war. Das kommt hin und wieder vor, doch sonst nie zu so später Stunde. Kurz darauf klingelte das Telefon ein zweites Mal. Wieder meldete sich niemand. Ich wartete einen Augenblick, dann fragte ich ungehalten:
"Was is'n los?"
"Hallo, hier ..."
, sagte eine fremde Männerstimme, und es wurde aufgelegt.
Ich zog den Telefonstecker für zwei Stunden heraus. Mich erschauert bei der Vorstellung, daß es der Sockenschuß gewesen sein könnte. Soll es nicht genug damit gewesen sein, daß Rafa ihn verdroschen hat?
Im Stadtmagazin wurde der Eröffnung des "Nachtlicht" eine ganze Fotoseite gewidmet. Zweimal bin ich zu sehen, einmal aus der Nähe, da stehe ich neben Daria, und wir fächeln uns Luft zu. Auf dem anderen Bild bin ich ganz zu sehen, von vorne; ich stehe vor der Bühne. Kappa ließ sich mit seinem DJ-Kollegen Sazar ablichten, Meta mit einem fremden Jungen. Rafa war nirgendwo zu entdecken ... wollte er nicht fotografiert werden?
In einem anderen Stadtmagazin sind ebenfalls Kappa und Meta zu sehen, Rafa wiederum nicht.



Kurz bevor ich das nächste Mal ins "Nachtlicht" fuhr, kam überraschend Cyd mit einem Kumpel. Ich bat die beiden herein und gab ihnen Kaffee. Sie nahmen das dankbar an. Cyd ist seit fünf Jahren nicht mehr in dieser Wohnung gewesen. Es gefällt ihm, wie sie jetzt aussieht. Ich bin froh darüber, daß ich keine weiteren Gäste hatte und daß Constri dem Cyd nicht begegnen mußte. Ich erzählte Cyd nichts von Derek, zeigte ihm aber Fotos von Rafa.
Ins "Nachtlicht" kam ich allein. Meine Leute fuhren alle für sich dorthin. Ich wunderte mich wieder einmal über die höflichen Türsteher im "Nachtlicht". Sie sind immer nett; es ist gerade, als hätte Rafa sie persönlich ausgesucht.
Unten an der Treppe sah ich gleich Daria. Ich stellte mich vor sie, und sie entdeckte mich und begrüßte mich. Sie fiel mir nicht um den Hals wie sonst, sondern sie sagte nur "Hallo". Und sie fragte mich, ob ich schon wisse, daß wir beide im Stadtmagazin seien.
"Sicher!" antwortete ich. "Sicher, das habe ich gesehen! Ich bringe eben meine Sachen weg ..."
Ich brachte die Sachen in die hintere linke Ecke, auf ein niedriges Podest, das die Tanzfläche umläuft und dessen hinterer mittlerer Bereich als Bühne dient. Die Ecke ist bläulich beleuchtet. Auf einer Polsterbank fand ich Talis und Ellen. Ich unterhielt mich kurz mit ihnen und ging dann wieder zu Daria zurück. Sie stand vor der Hauptbar und redete mit einem Mädchen, das ebenfalls klein ist, aber langes Haar trägt und pummelig wirkt. Auch zwei andere Mädchen standen dabei. Daria beachtete mich kaum. Es war kein Gespräch mit ihr zu beginnen. Ich wandte mich also von ihr ab und sah mir meine nähere Umgebung an. Auf der anderen Seite der Bar, im Rondell, stand Rafa am Tresen. Uns trennte kaum ein Meter.
Ich wollte erst kaum glauben, daß die niedliche Gestalt wirklich Rafa war. Er war ganz glatt rasiert, und er hatte dieses Mal nicht das strenge Stirnband um. Eine Haarsträhne hing ihm locker ins Gesicht. Er hatte sich lange Kajalstriche unter die Augen gemalt; das konnte man sehen, obwohl er die Spiegelbrille trug. Wie gewöhnlich hatte Rafa ein Rüschenhemd und seine Lieblingsweste an. Das, was mich so gefangennahm, war das Weiche, Süße, Liebenswerte in seinem Gesichtsausdruck, das durch die schmeichelnde Haartracht und die Kajalstriche noch unterstützt wurde.
Ich sah zu Rafa hinüber, und er sah auch in meine Richtung. Ich glaubte, trotz der Spiegelbrille zu erkennen, daß Rafa meinen Blick erwiderte. Ich mußte lächeln, weil er so niedlich aussah. Ich lächelte ihn an; dann sah ich abseits und lächelte weiter. Und wieder mußte ich ihn ansehen.
Meta bediente. Sie ging zwischen mir und Rafa hin und her. Nur flüchtig wandte sie sich Rafa zu, nicht mehr, als man sich einem fremden Kunden zuwendet.
Mit Kappa scheint sich Rafa wieder zu vertragen; er wäre sonst wohl nicht im "Nachtlicht" gewesen. Kappa mußte in der "Halle" auflegen. Er konnte erst später dazukommen.
Ich drehte mich wieder zu Daria um. Sie wirkte immer noch sehr beschäftigt mit den Mädchen. Ich hatte keine Lust, neben ihr stehenzubleiben und mich ignorieren zu lassen.
"Ich frage dich dann nachher noch nach neuesten News aus", kündigte ich an und wollte gehen.
"Du hast doch schon zwei Freunde gehabt", sagte sie da.
"Nein", erwiderte ich. "Ich hatte noch nie einen Freund."
"Doch."
"Wer soll denn das gewesen sein?"
Es stellte sich heraus, daß Ivo Fechtner Daria gegenüber behauptet hat, ich sei erstens mit dem Sockenschuß und zweitens mit ihm selbst zusammengewesen. Ich war entsetzt über diese Lüge. Nun erfuhr Ivo Fechtners Ränkespiel gegen mich also noch eine Fortsetzung ...
"Daß ich mit denen zusammen war, ist heller Unsinn", sagte ich zu Daria. "Mit Ivo Fechtner bin ich nur für ein paar Monate durch die Gegend gefahren, zu allen möglichen Konzerten. Und der Sockenschuß hat sich nur mal bei mir eingenistet, ohne je bei mir landen zu können."
Doch Daria schien Ivo zu glauben. Er muß sehr gegen mich gehetzt haben; er hat Daria wohl auch gegen mich eingenommen.
Daria erzählte mir, sie sei in der vorherigen Nacht, am Donnerstag, auch im "Nachtlicht" gewesen. Sie kam dazu, als Ivo mit Rafa über mich sprach.
"Die soll mich endlich in Ruhe lassen", soll Rafa gesagt haben, gerade als würde ich ihn belästigen. "Ich will überhaupt nichts von der."
Es verletzt mich, daß Rafa so schlecht über mich redet. Ich wurde sehr wütend.
Inzwischen war Rafa hinters DJ-Pult gegangen, und ich sah ihn da oben stehen, so süß, daß ich von ihm abbeißen wollte, und ich mußte ihn doch strafen und wußte nicht, wie.
"Hast du inzwischen herausgefunden, woran es liegen könnte, daß Rafa sich überhaupt nicht um Meta kümmert?" wandte ich mich ein letztes Mal an Daria.
"Nein", sagte sie kühl. "Ehrlich gesagt, ist es mir auch sch...egal."
Als gleich darauf ein Stück kam, zu dem ich tanzen wollte - die Mittelalter-Version von "Lord of Ages" - tanzte ich und ging danach nie mehr zu Daria.
Ein Mädchen sprach mich an, blond und eher brav. Es hatte dabei zugesehen, wie ein fremder Junge mich auf der Tanzfläche wüst anrempelte.
"Ich glaube, der sucht Streß", sagte das Mädchen. "Der macht das auch bei anderen. Ich finde, der sollte mehr aufpassen, sonst fliegt der 'raus."
Rikka, Seth, Lenni, Lena, Constri und Derek waren gekommen. Ich begrüßte alle und erzählte ihnen von Ivo Fechtners Lüge und davon, daß Rafa mich verleugnete.
"Dabei sieht Rafa heute so niedlich aus, daß ich ihm am liebsten den Kopf abbeißen würde", sagte ich zu Lena. "Eigentlich gehört es verboten, so süß auszusehen."
"Aber du siehst auch gut aus - auf dem Foto im Stadtmagazin", sagte Lena da.
Ich besprach mich kurz mit Constri. Constri nahm an, daß Rafa seine Gefühle für mich nach wie vor nicht wahrhaben will und mich deshalb verleugnet.
"Rafa hofft wohl, daß ich mir einen anderen suche", vermutete ich.
"Da brauchst du dir ja keine Sorgen zu machen", sagte Constri. "Das passiert bei dir sowieso nicht."
"Tut es auch nicht. Rafa will sich in dem Glauben bestätigt sehen, daß ich ihn nicht liebe, aber da hofft er vergebens. Ich denke, bei Rafa ist es vor allem wichtig, daß man viel Geduld mit ihm hat. Ich habe gehört und gelernt, daß es nur Unglück bringt, wenn man mit dem Falschen zusammen ist. Man muß unbedingt den nehmen, den man liebt."
"Warum?" erwiderte Constri. "Rikka und Talis hat es doch auch nicht nur Unglück gebracht, daß sie zusammen waren."
"Talis war für Rikka ja auch nicht nur der Falsche. Damals war er für sie ja der Richtige."
Constri stimmte mir zu.
"Irgendwie sind diese schwierigen Typen ja alle ähnlich", sagte sie.
Sie erzählte davon, wie der schwierige Derek Rikka Ratschläge gab für den Umgang mit dem schwierigen Seth. Er sagte, so, wie Seth heute sei, sei er selbst einmal gewesen. Vor allem solle Rikka dem Seth Grenzen setzen.
"Da hat Derek mich indirekt darum gebeten, ihm Grenzen zu setzen", folgerte Constri.
Derek soll Constri gefragt haben, ob sie mit ihm glücklich sei.
"Im Ganzen ja", antwortete sie, eingedenk der vielen Steine, die Derek ihr in den Weg wirft.
Derek fragte, ob sie auch noch mit ihm glücklich wäre, wenn Cyd neben ihm stünde.
"Natürlich", erwiderte Constri.
Derek hat immer Angst, Constri zu verlieren. Constri wertet das als Hinweis auf seine tiefe Bindung an sie. So werte ich auch Rafas Angst, mich zu verlieren.
Constri wollte auch wissen, ob Derek mit ihr glücklich sei.
"Ja!" antwortete er sogleich.
Carl kam auch noch ins "Nachtlicht". Ihm begegnete Rafa vorm Eingang; er wollte sich wohl kurz abkühlen. Carl trug eine Cola, die ihm bei "McGlutamat" ausgegeben worden war. Rafa hatte ein Bierglas in der Hand. Er stieß mit Carl an und sagte zu ihm:
"Geh' doch mal tanzen."
"Ja, später", erwiderte Carl.
Wir alle - bis auf Rikka und Seth - hielten uns in der linken hinteren Ecke auf. Dort stehen Tische und Hocker, und es gab reichlich Platz. Ich stellte mich an den linken Seitenrand der Tanzfläche und fächelte mir Luft zu. Es ist im "Nachtlicht" immer sehr heiß.
Ich beobachtete Rafa vorsichtig. Ich wollte nicht, daß er sich von mir belästigt fühlte. Ansehen mußte ich ihn aber.
Talis hatte den Eindruck, daß ich ganz aufgelöst darüber sei, daß Ivo Fechtner Lügen über mich erzählte. Ich sagte zu Talis und Ellen:
"Ja, es macht mich entsetzlich wütend, wenn ein Mensch über mich verbreitet, ich hätte mit jemandem etwas gehabt, mit dem ich nichts hatte. Es soll nie der Schatten eines Verdachts auf mich fallen, daß ich Rafa jemals untreu gewesen sei. Das macht mir zu schaffen, daß Rafa denken könnte, ich sei ihm untreu."
Talis wunderte Darias abweisendes Verhalten ebenso wie mich. Er ging zu ihr und fragte:
"Na? Diesmal gar nicht mit Hetty am 'rumlabern?"
"Das erzähl' ich dir später mal", entgegnete Daria.
Sie wird wohl auf Ivo Fechtners Haßtiraden gegen mich hereingefallen sein.
Dolf hielt sich während der Nacht oft in Rafas Nähe auf. Er schien wieder in seine alte Rolle als "Anhängsel" gefallen zu sein. Es ist auch möglich, daß Rafa den Dolf gerade brauchen konnte und ihn deshalb wieder als Diener verwendete. Mit Daria sah ich Dolf nicht reden.
Rafa trank mit zwei anderen Jungen hinterm DJ-Pult einen Kurzen. Ich hatte den Eindruck, daß das nicht sein erster Kurzer war und daß es auch nicht sein letzter bleiben würde. Es schien mir, als wenn Rafa sich Mut antrinken wollte.
Schließlich kam Rafa herunter und stellte sich vors DJ-Pult. Er stand dort nicht lange. Als ein Stück von Calva y Nada begann, tanzte er, in meiner Nähe. Er war mit dem Gesicht zum DJ-Pult gewandt. Ich sah ihm zu. Ich wollte zu dem Lied selbst gern tanzen, und der Platz gegenüber von Rafa war frei. Wenn ich aber dort tanzte, konnte Rafa denken, daß ich mich ihm aufdrängen wollte. Unschlüssig blieb ich stehen, wo ich war. Talis schlug mir vor, zu Rafa zu gehen.
"Ich kann ihn doch nicht ärgern", erwiderte ich. "Rafa meint, ich würde ihn belästigen, aber ich tu's doch gar nicht. Er sagt, ich würde ihm hinterherlaufen. Aber ich halte doch Abstand ... Was soll ich da tun?"
"Das Gegenteil machen."
"Also gut", sagte ich, gab Talis meinen Fächer und ging auf die Tanzfläche.
Ich tanzte neben Rafa. Im Laufe des Stücks nahm ein Junge den Platz gegenüber von Rafa ein, und ein anderer tanzte hinter mir. Also drehte ich mich um und wandte mich Rafa zu. Ich stellte mir vor, mit Rafa zu tanzen. Aber das hatte ich mir verboten, damit er sich nicht von mir bedrängt fühlte.
Das Lied war kaum zuende, da eilte Rafa wieder fort. Ich tanzte weiter, auf meinem Platz, mit dem Rücken zum DJ-Pult. Es dauerte nicht lange, da strich Rafa hinter mir vorbei, so dicht, daß er mich fast streifte. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und streckte ein wenig die Hand nach ihm aus. Ich erreichte ihn aber nicht.
Rafa nahm in der Nähe unserer Ecke an einer runden Bar Platz. Ich sah Rafa wieder einen Kurzen trinken. Bier hatte er auch. Er redete mit verschiedenen Leuten.
Ich freute mich darüber, Rafa noch besser beobachten zu können. Auch dachte ich mir, daß es einen Grund haben müßte, wenn Rafa sich eine Bar aussuchte, die sich so dicht bei unserer Ecke befand.
"Rafa sieht so fürchterlich süß aus, daß ich ihn am liebsten totbeißen würde", sagte ich zu Constri. "Echt, eigentlich gehört es verboten, daß jemand so süß aussieht und frei herumläuft."
"Besonders schlimm ist daran ja wohl, daß du ihn nicht erreichen kannst", meinte Constri.
"Ja, aber ihm geht es doch nicht besser", erwiderte ich. "Ich mache mich doch auch hübsch zurecht, und er kann mich nicht erreichen."
Meta trug ein langes schwarzes Kleid, das schon mehr nach Gothic-Garderobe aussieht als ihre anderen Kleider. Auch sie scheint Rafa gefallen zu wollen. Als sie aber zu ihm ging und etwas zu ihm sagte, da ließ er sich auf kein Gespräch mit ihr ein. Er hatte es ganz plötzlich furchtbar eilig. Er schob sie fort und ging zum DJ-Pult, sein Bierglas in der Hand. Meta wollte ihm folgen. Da dreht er sich um und bedeutete ihr mit Gesten, sie solle bleiben, wo sie sei. Meta kam ihm erst nach, als er schon ein Stück Wegs gegangen war.
Rafa blieb nur kurz hinterm DJ-Pult. Er übergab an Sazar und nahm seinen Platz an der runden Bar wieder ein, dieses Mal ungestört von Meta.
Es gibt zwischen dem DJ-Pult und der runden Bar einen längeren, etwas gewundenen Gang, der in bläuliches Licht getaucht ist. In diesen Gang sah ich Meta oft gehen. Ich weiß nicht, wohin dieser Gang führt.
Constri erzählte mir, daß Velvet wieder im "Nachtlicht" gewesen sei. Als sie Constri erblickte, verschwand sie jedoch und blieb verschwunden.
Während Constri mit mir sprach, sah ich, wie Rafa in einem großen Bogen die Tanzfläche umrundete und sich über die Bühne unserer Ecke näherte.
"Guck' mal links!" rief ich Constri leise zu.
Ich drehte mich langsam und vorsichtig um, so daß ich Rafa von vorne sehen konnte, wenn er unsere Ecke erreichte. Ich trat auch ein wenig beiseite, damit meine Leute Rafa nicht den Weg zu mir versperrten. Einen Schritt von mir entfernt blieb Rafa stehen und wandte sich mir zu. Ich stand ruhig auf meinem Platz und fächelte fleißig. Rafa hatte seine Augen noch immer hinter der Brille verborgen. Ich konnte aber seinen Gesichtsausdruck erkennen. Er strahlte mich an, und ich strahlte zurück und lachte.
Rafa schwankte leicht, und seine Haltung wirkte lose und verwaschen. Er war wohl schon sehr betrunken.
Als wir uns eine Zeitlang angelächelt hatten, hob Rafa seine Rechte und winkte mit den Fingern. Auch ich hob meine Rechte und winkte mit den Fingern.
Rafa zeigte ein wechselndes Mienenspiel. Mal guckte er streng, mal verlangend, mal geheimnisvoll. Ich hob die Augenbrauen und legte dem Kopf etwas schief.
"Komm' her, und du erlebst etwas", sollte das heißen. "Du kannst sowieso noch etwas erleben: eine Strafe für deine Untaten."
Dann strahlten wir uns weiter an. Schließlich ging Rafa fort, schräg an mir vorbei.
"Was war das denn eben?" fragte mich Talis.
"Rafa hat mich lächelnd begrüßt", erzählte ich. "Es ist eben nicht so, daß ich ihn in Ruhe lassen soll. Er kommt ja selber zu mir."
"Warum bist du ihm denn nicht hinterhergegangen?"
"Das ist es ja - er muß kommen!"
Neugierig auf Einzelheiten und auf den Fortgang des Geschehens, stellten sich Talis und Ellen dicht zu mir. Ich stand mit dem Rücken zur Tanzfläche. Da huschte schräg von hinten ein ebenso schweres wie gewandtes und bewegliches Wesen durch den engen Spalt zwischen mir und dem Pärchen. Daß das Wesen dabei meinen Fuß streifte, schien beabsichtigt. Ich erkannte Rafa erst, als er schon außerhalb meiner Reichweite war. Er ging so schnell, daß ich ihn nicht erwischen konnte.
"Was war das denn?" fragte Talis.
"Das nennt man auch 'Überraschungsangriff von hinten'", antwortete ich.
"Warum trägt er denn eine Sonnenbrille?" wollte Ellen wissen.
"Das ist ein Schutz vor mir", erklärte ich. "Das ist, damit ich die liebevollen Blicke aus seinen Augen nicht sehen kann."
Gegen zwei Uhr hatte Rafa wohl genügend getrunken. Er lief ohne Spiegelbrille durchs "Nachtlicht". Ich sah, wie er einmal mehr die Tanzfläche umrundete und über die Bühne zu unserer Ecke ging. Als er dort angekommen war, begann er, mit einigen dicken Jungen zu sprechen. Ich blieb auf meinem Platz am Rand der Tanzfläche stehen. Ich drehte nur meinen Kopf und beobachtete Rafa aus zwei Schritten Entfernung. Dabei fächelte ich vor mich hin.
Es dauerte nicht lange, da löste sich Rafa von den Jungen und stellte sich abseits. Er wandte mir sein Gesicht zu. Ich war entzückt. Endlich zeigte mir Rafa seine Augen. Die Spiegelbrille hielt er in der Hand; er wollte sie wohl immer griffbereit haben.
Ich versuche immer, das niedliche Bild in mir zu bewahren, doch ich kann es nie so lebendig in meinem Gedächtnis halten, wie es in Wirklichkeit aussieht. Es überrascht mich stets aufs Neue, daß ich einen Menschen so süß, so anziehend finden kann. Rafa sendet etwas aus, eine Wärme, die mir das Gefühl gibt, ihm endlos vertrauen zu dürfen.
Er blickte mich lächelnd an, und ich erwiderte sein Lächeln. Ich rührte mich jedoch nicht von der Stelle. Schließlich machte Rafa mit seinen Fingern eine Lockbewegung. Ich ging sogleich zu ihm. Meinen Fächer lege ich auf einen Hocker.
"Na?" sagt Rafa und greift nach meinem Arm.
Da er mich berührt, berühre ich ihn auch. Ich lehne mich an ihm und umarme ihn vorsichtig.
"He! Nicht gleich in'n Arm nehmen!" bremst Rafa.
Ich löse mich ein wenig von ihm, lege jedoch beim Sprechen immer meine Wange an seine. Ich fasse ihn auch fortwährend an, doch so flüchtig, daß er es kaum merkt. Meist liegen meine Hände auf seinen Schultern.
"Was darf ich denn?" frage ich.
"Hm?" macht er.
"Was darf ich denn?"
"Alles mögliche", gibt Rafa zur Antwort.
"Darf ich dich küssen?"
"Nicht hier", sagt Rafa.
"Wo denn?"
"Wo man sich zurückziehen kann."
"Bei mir zu Hause kann man sich zurückziehen."
"Mh - mh", wehrt Rafa ab und schüttelt den Kopf.
Seine Angst davor, mit mir zu kommen, scheint immer noch beträchtlich.
"Dann mach' einen Gegenvorschlag", fordere ich ihn auf.
"Hm?"
"Mach' einen Gegenvorschlag."
"In der Damentoilette."
"Aber dann nicht in den Kabinen", bestimme ich. "Das ist zu eng in den Kabinen."
"Echt, ich hab' heute schon ziemlich viel getrunken", gesteht Rafa und neigt sich über meine Schulter.
"Ich weiß", erwidere ich. "Du hättest es sonst wahrscheinlich nie gewagt, zu mir zu kommen."
"Kann sein."
"Ich weiß es. Ich kenne dich. Ich kenne dich sehr gut. Das ist so bei dir."
Ich küsse ihn zart auf die Wange und lecke eine wenig daran. Ich möchte Rafa einen Vorgeschmack darauf geben, wie es sich anfühlt, von mir gegessen zu werden.
Weil Rafa stillhält, mache ich den Versuch, ihm über die Arme zu streichen. Er entwindet sich mir sofort.
"Darf ich dich streicheln?" frage ich.
"Nicht hier", ist die Antwort.
"Wo denn?"
"Wo uns keiner sehen und hören kann."
"Bei mir zu Hause kann uns keiner sehen und hören."
"Ich muß aber noch hierbleiben", sagt Rafa.
"Also, wo kann man sich hier zurückziehen?" gehe ich die Sache technisch an.
"In der Damentoilette", sagt Rafa.
"Also doch die Damentoilette. In der Damentoilette sind aber dauernd Leute. Da kann uns schon jemand sehen und hören."
"Warum? Wenn man in die Kabine geht und den Schlüssel 'rumdreht?"
"In den Kabinen ist das aber zu eng, wenn da zwei Leute drinstehen, denn da ist ja auch noch das Klo. Und ich ekle mich vor Toiletten."
"Ich auch", meint Rafa.
In SHG. hatte er noch behauptet, sich nicht davor zu ekeln.
"Wo kann man sich denn sonst hier zurückziehen?" frage ich.
"Weiß ich nicht", kommt es von Rafa.
"Gut, dann gehen wir jetzt eben zur Damentoilette."
"Nein."
"Mach' einen Vorschlag."
"Nein", sagt Rafa mit einem leichten Lächeln.
"Wir können ja ... in den Gang da vorne gehen", sage ich und zeige auf den gewundenen, blau erleuchteten Flur, in dem ich Meta oft gesehen habe.
"Mh - mh", macht Rafa.
Geheimnisvoll blickend schüttelt er den Kopf.
"Warum nicht?" frage ich lauernd. "Warum nicht, hm?"
"Ach - - ist egal", will er ablenken. "Echt, ich hab' echt ganz schön viel getrunken, echt ..."
Rafa scheint meine Nähe zu überfordern.
"Wart' mal - ich komm' nachher nochmal 'runter, und dann trinken wir einen Sekt zusammen, ist das o. k.?" bietet er an.
"Dann trinken wir den doch jetzt gleich", schlage ich vor.
Ich glaube nicht daran, daß es Rafa gelingt, sich mir in dieser Nacht noch einmal auszusetzen.
"Nein, nicht jetzt", sagt Rafa eilig. "Ich komme nachher nochmal. Ist das o.k.?"
Ich taste schweigend nach seinen Schultern.
"Ist das o.k.?" fragt er unruhig.
Er weicht zurück zur Bühne. Drei eher brav aussehende Mädchen kommen und wollen mit ihm sprechen.
"Wenn du es auch schaffst", sage ich zweifelnd.
"Ja - o.k.?" versichert sich Rafa.
"Wenn du es auch schaffst", wiederhole ich.
Ich drücke seine Hand mit beiden Händen, in dem Gefühl, daß ich diese Hand nun für lange Zeit nicht mehr werde halten können.
"O.k."
, sagt Rafa.
Er drückt meine Hände kurz und reißt sich los.
Etwas später entdecke ich Rafa in der runden Bar. Er beugt sich über den Tresen, als Meta kommt. Er wechselt wenige Worte mit ihr. Dann verläßt er die Bar und läuft davon. Wieder hat er Meta stehenlassen.
Rafa bleibt für längere Zeit hinterm DJ-Pult. Wenn, dann kommt er nur kurz herunter. Gelegentlich macht er Durchsagen; einmal kündigt er an, daß es wieder Sauren zu trinken gibt, frei, "solange der Vorrat reicht". So komme auch ich zu meinem Gläschen. In einer anderen Durchsage heißt es, nun komme auf vielfachen Wunsch "Gothic Erotic" von Umbra et Imago. Dieses Stück kenne ich. Es hat einen tanzfreundlichen, einnehmenden Rhythmus, eine schmeichelnde Melodieführung und einen entsetzlichen Text. Der Text ist so schmutzig und wird auch so schmutzig gesungen, daß man meinen könnte, der Sänger mache sich über sich selbst lustig. Wenn ich ihn krächzen höre, muß ich oft kichern. Das sollte Rafa nicht sehen, gerade Rafa nicht, der schon so oft bei mir nach Anzeichen für Sinnlichkeit gesucht hat. Also wandte ich mich beim Tanzen vom DJ-Pult ab. Es gelang mir dieses Mal recht gut, meine Mimik zu beherrschen; man übt sich mit der Zeit. Mitten im Stück wurde ich gewahr, daß hinterm DJ-Pult gar nicht mehr Rafa stand, sondern Dolf. Rafa saß mir gegenüber auf der Polsterbank an der Hinterwand der Bühne. Er hatte neben dem blonden Mädchen Platz genommen, das mit mir über den wüsten Tanzflächen-Rempler gesprochen hatte.
Als das Stück ausklang, lief Rafa wieder zum DJ-Pult.
Daria saß eine Zeitlang allein. Ich überlegte, ob ich noch einmal zu ihr gehen sollte. Vorher ging ich aber zur Toilette. Dort hörte ich die Mädchen reden, mit denen Daria sich umgeben hatte. Ein Mädchen stand vor einer Kabine und fragte ein anderes, das darinnen war:
"Geht's dir einigermaßen? Daria vermißt dich schon."
Dieses Mädchen vermißte Daria also; mich vermißte sie nicht. Vielleicht vermißte Daria das Mädchen auch deshalb, weil sie sich davor fürchtete, allein zu sitzen und von mir angesprochen zu werden.
"Sie kann sich beruhigen", dachte ich. "Jetzt spreche ich sie bestimmt nicht mehr an."
Gegen halb vier war es recht leer geworden im "Nachtlicht". Von meinen Leuten war nur noch Carl da; Daria konnte man ja nun nicht mehr als zu meinen Leuten gehörig bezeichnen. Sie hatte inzwischen wieder ihre Mädchen um sich und war beschäftigt. Carl fragte mich, ob wir die Bahn um viertel vor vier nehmen könnten. Ich entgegnete, daß ich Rafa gern noch bis vier Uhr die Möglichkeit geben wollte, sein Versprechen einzulösen. Carl war es zufrieden, unter anderem, weil ich anbot, für uns das Taxi zu bezahlen.
Als ich wieder zum DJ-Pult hinübersah, stellte ich fest, daß Rafa eine merkwürdige Gesellschaft bekommen hatte. Diese Gesellschaft war recht klein und hatte möhrenfarbige Haare, die ihr lang und zerwuselt über die Schultern hingen. Sie trug ein hautenges Oberteil mit breiten Längsstreifen in Silber und Schwarz.
"Wer ist das da oben?" fragte ich Carl voller Argwohn.
"Wer soll das sein?" meinte er achselzuckend.
Aber ich wußte schon bescheid: es war die Sängerin, die sich schon wieder neu aufgeputzt hatte. Sie mußte die Nacht über in der "Halle" gewesen sein und war eben erst im "Nachtlicht" angelangt.
Rafa legte den Arm um die Sängerin und lehnte sich an sie. Er hatte seine Schutzbrille abgesetzt und bohrte sein süßes Gesicht in ihre Halsbeuge. Er lächelte ihr zu, nahm ihre Hand und drückte sie. Dann klopfte er ihr auf die Schulter. Die Sängerin schien nicht zu wissen, wie sie auf diese Zärtlichkeiten antworten sollte, doch sie schien zu wissen, was es bedeutete, wenn Rafa sich so verhielt: er warb um sie. Die Sängerin bekam einen Siegerblick und lachte ein Siegerlachen.
Rafa trieb es noch weiter. Er schüttelte der Sängerin heftig und ausdauernd die Hand, so daß ihre Armreifen laut klimperten. Die Sängerin strebte fort, doch Rafa hielt sie zurück und legte wieder einen Arm um sie und schüttelte ihr mit strahlendem Lächeln die Hand, als sei er ihr bester Freund und ihr innig verbunden. Die Sängerin strebte wiederum fort, doch Rafa hielt sie noch einmal zurück und konnte ihr nicht genug die Hand schütteln. Die Sängerin lief zum Türchen des DJ-Pults und war fast unten, da kam Rafa ihr nach und ließ sie gar nicht recht weg.
Es war eine durchaus eindrucksvolle und mit viel Mühe inszenierte Vorstellung, die Rafa mir da gab. Er spielte, so gut er konnte und dehnte das Schauspiel so lange aus, bis er sicher war, daß ich es mitbekommen hatte.
Meta wurde von Rafa fortgescheucht, die Sängerin wurde herangeholt - wie er es gerade brauchen konnte. Die Mädchen behandelt er fürwahr wie Spielfiguren. Entweder merken Meta und die Sängerin das nicht, oder sie vermögen sich dem Zauber seines Spiels nicht zu entziehen.
Siegesgewiß stolzierte die Sängerin über die Tanzfläche, und kurz vor der Bühne - also schon auf "meiner" Seite - tanzte sie, mir zugewandt. Ich sah, daß sie auch zu dem eher damenhaften Oberteil eine Leggins trug, und ich fand das unpassend.
"Schicker als ich wird sie nie", dachte ich beruhigt. "Dazu sieht sie zu gewöhnlich aus."
Die Sängerin lächelte beim Tanzen immer noch. Sie mußte ihrer Sache sehr sicher sein.
Ich fragte Carl nach der Uhrzeit. Wir konnten die Bahn um viertel vor vier noch schaffen.
"Rafa kann ich für heute vergessen", erklärte ich. "Wir geben ihm keine Chance mehr bis vier. Wir nehmen die Bahn."
Die Sängerin tanzte noch keine Minute lang, da griffen wir unsere Sachen, und ich warf meinen Mantel um. Wir gingen schnell, doch nicht hastig. Ich ging dicht an der Sängerin vorbei, weil das den Weg abkürzte. Ohne innezuhalten, warf ich Daria einen kurzen Blick zu und hob die Hand; ich drehte mich aber gleich wieder weg. Daria war nach wie vor von den Mädchen umringt. Sie machte große Augen, als sie mich das "Nachtlicht" verlassen sah.
Constri hat etwas Seltsames erzählt. In dieser Nacht im "Nachtlicht" hat Rafa sie zweimal angesehen. Einmal geschah es etwa zwanzig Minuten, bevor er sich an mich heranwagte. Ein weiteres Mal geschah es, unmittelbar bevor Rafa mit mir sprach.
"Sein Blick war mir nicht unsympathisch", sagte Constri. "Es war ein offener Blick."

Am Morgen habe ich geträumt, mich würden äußere Umstände zwingen, auf einem Zeltplatz zu übernachten. Die Sängerin war auch dort - allein. Ihr Zelt stand unmittelbar neben meinem. Ich sah die Sängerin durch die Dunkelheit zu einem Waschtrog laufen. Sie redete mit fremden Leuten wenige Sätze, in ihrer flachen, formelhaften Sprache. Schließlich ging sie schlafen. Mitten in der Nacht wollten meine Leute kommen und mir helfen, nach Hause zu gelangen. Ich hatte einen Kleinbus zur Verfügung, doch niemand von meinen Leuten konnte fahren. Ich mußte ohne Führerschein den Kleinbus steuern; das konnte schwierig werden.

In einem weiteren Traum gab ich dem Film "Sommer in Lesmona" einen anderen Schluß.
Der Film endet damit, daß ein Mädchen nicht den Mann heiratet, den sie liebt, sondern einen, den sie nicht liebt. Ihr sind gesellschaftliche Regeln wichtiger als das große Geschenk der Liebe.
In der Fassung, die ich träumte, endete der Film damit, daß das Mädchen am Tag nach der Hochzeit starb. So kam es, daß sie in ihrem Leben viel mehr Zeit mit dem geliebten Mann verbracht hatte als mit dem ungeliebten. Und das war es, was das Schicksal forderte.

Im "Elizium" erzählte Violet, sie habe Kappa angezeigt. Ihr sei alles recht, womit sie Kappa in Verruf bringen könne.
Ein Junge berichtete, im "Nachtlicht" sei es voll, aber heiß.
Brinkus hat Daria kürzlich besucht. Es gelang ihm nicht, ihr klarzumachen, daß Ivo Fechtner nicht mit mir zusammen war.
Laura erzählte am Telefon, Fedor habe sich bei ihr gemeldet. Sie habe mit ihm ein schönes, dabei auch noch lehrreiches Gespräch geführt. Fedor hat ihr etwas über romanische und gotische Kirchen erzählt und über Kirchen mit Pentagramm. Laura empfahl ihm, sich die Kirche mit Pentagramm anzusehen, die wir in H. in der Altstadt haben. Das Pentagramm befindet sich außen am Turm.
Fedor soll mit seinen zwanzig Jahren schon viele Beziehungen hinter sich haben. Ich vermutete, daß er in den vielen Frauengeschichten Selbstbestätigung sucht.
Am nächsten Donnerstag möchte Fedor zu Rafa ins "Nachtlicht" kommen und ihm dabei helfen, Industrial aufzulegen.
Talis rief an und klagte, Ellen mache ihm Ärger. Ellen soll früher unter der Gefühlsarmut ihrer Mutter zu leiden gehabt haben und soll jetzt Talis mit Liebesentzug kränken. Danach soll sie jedesmal voller Reue und Schuldgefühle sein. Ich empfahl Talis, immer dann, wenn sie mit dem "Terror des grausamen Schweigens" anfängt, ruhig zu ihr zu sagen:
"Ich glaube, heute ist es für uns beide besser, wenn ich heimfahre. Morgen melde ich mich wieder, und dann sehen wir weiter."
Wenn er das gesagt hat, soll er auch gleich fahren. So kann Ellen in Ruhe zur Besinnung kommen, ohne noch mehr Schaden anzurichten.
Talis war schon am Verzweifeln und hat sich wieder einmal die Hände mit Zigaretten verbrannt.
"Talis", sagte ich streng, "das will ich überhaupt nicht haben. Wenn Rafa das machen würde, würde er von mir furchtbar welche gescheuert kriegen."
"Aber ich bin nicht Rafa! Und bevor ich aus dem Fenster springe, mache ich eben sowas."
"Das ist aber nie eine Lösung, sich zu zerstören."
"Das weiß ich ja."
Am nächsten Tag kam Rikka zum Frühstück und schluchzte. Sie war von der Arbeit weggegangen, weil Seth, der dort ebenfalls beschäftigt ist, sie links liegen ließ. Seth soll immer Wermut in den Wein gießen, gerade als wenn er verhindern möchte, daß die Beziehung zu schön wird. Ich empfahl Rikka, Seths Verhalten mit Humor zu betrachten und dementsprechend auch mit ihm umzugehen.
"Warum mit Humor?" fragte Rikka.
"Humor verbindet und lockert", meinte ich.
Wenn man über etwas lachen kann, kann man auch darüber reden; man gewinnt Abstand, und aus der Entfernung wirken die Ereignisse harmloser.
"Oh, Seth – kannst du aber böse gucken", könnte Rikka zu ihm sagen. "Du gibst dir aber wirklich Mühe."
Am Telefon lästerte Laura, Fedor habe ihr einen "unmöglichen" Brief geschrieben:
"Die Schrift ist so unleserlich; ich dachte, ich krieg' einen EEG-Befund."
Beim Essen im "Labyrinth" mit Constri und Folter erzählte ich die "Silberkastengeschichte":
Meine Urgroßmutter hinterließ meiner Großmutter einen wertvollen Jugendstil-Kasten aus schwerem Holz, worin sich das Tafelsilber befand. Es war auf mehrere übereinandergestapelte Gestelle gebettet, die mit weichem grauem Leder bezogen waren. Vor acht Jahren versprach meine Großmutter mir den Kasten. Ich sollte ihn bekommen, wenn ich heiratete. Ein Jahr später nahm meine Mutter meine Großmutter zu sich und pflegte sie. Den Silberkasten nahm meine Mutter auch mit. Bald darauf heiratete meine Mutter zum zweiten Mal. Ein weiteres Jahr später starb meine Großmutter. Ich erzählte meiner Mutter, daß der Silberkasten mir zugedacht sei.
"Das stimmt nicht", entgegnete sie. "Da hat sie dich wohl mit mir verwechselt. Den Silberkasten sollte ich bekommen."
Also behielt meine Mutter den Silberkasten. Ich konnte ihn ihr auch schlecht wegnehmen.
Einige Jahre später saßen meine Mutter und ihr jetziger Mann abends beim Tee. Da stiegen welche oben durch die Balkontür ins Schlafzimmer ein und nahmen das mit, was am nächsten stand – den Silberkasten. Viel mehr nahmen sie nicht.
Es sollte wohl nicht sein, daß meine Mutter den Silberkasten bekam.
Folter erzählte uns seine eigene "Silberkastengeschichte":
Seine Tante hatte einen Silberkasten hinterlassen. Folters Mutter erhob Anspruch darauf und stellte ihn in ihre Wohnung. Folter holte sich den Kasten heimlich wieder. Vollständig ist das Tafelsilber heute nicht mehr. Folter hat für einen Teil des Silbers Vinylplatten gekauft, von der Punk-Band Misfits. Nun ist statt des Tafelsilbers Folters Misfits-Sammlung vollständig.
Ich kenne die Misfits so gut wie gar nicht und fragte Folter, was ihn dazu treibe, ausgerechnet diese Gruppe zu sammeln.
"Die Platten sind alle Raris", erklärte er. "Von denen kriegst du heute keine mehr."
Laura hat Gastritis und ist deshalb nicht, wie eigentlich geplant, nachts unterwegs gewesen, so daß sie noch nicht alles über Ivos neueste Unternehmungen wußte. Am Telefon tauschten wir uns aus.
Daria hat Laura kürzlich gebeten, unbedingt im "Nachtlicht" zu erscheinen; Ivo habe mit ihr zu sprechen.
"Wenn das Ivo Fechtner ist, dann ist das einer der gefährlichsten Leute in der Szene überhaupt", sagte ich. Ich beschrieb ihr Ivo Fechtner. Laura konnte sich daran erinnern, einen kleinen Skinhead in der "Halle" gesehen zu haben, der in einem auffälligen Wiegeschritt tanzte. Mehr wußte sie von Ivo nicht. Ich erzählte ihr davon, wie Ivo im vergangenen Jahr versucht hat, meine neueren Freunde und Bekannten gegen mich einzunehmen, aus Ärger darüber, daß ich Rafa will und nicht ihn. Ich erzählte auch von den Lügen, die Ivo Fechtner neuerdings über mich verbreitet.
"Er versucht, mich und meine Freunde auseinanderzubringen", sagte ich. "Er versucht es immer bei den Leuten, die mich noch nicht so lange kennen. Bei meinen alten Freunden schafft er es nämlich nicht, und das weiß er. Jetzt hat er es bei Daria geschafft, und als Nächstes versucht er es bei dir."
"Der hat schon meine Nummer", erzählte Laura. "Ich weiß gar nicht, wo der die her hat. Daria hat auch gesagt, daß Ivo mich anrufen will."
"Dann ist der tatsächlich schon dabei! Ein Glück, daß du mich angerufen hast, bevor er dich angerufen hat! Das ist ganz klar; der versucht, uns auseinanderzubringen. Der wird dir erzählen, ich würde über dich lästern und dich nur ausnutzen und sowas. Das macht der nämlich immer so. Also, ich bin wirklich neugierig darauf, ob der dich überzeugen kann."
Ich erzählte von Rafas Äußerung, er wolle nichts von mir - und von seinem anschließenden Verhalten: wie er auf mich zukam und mit mir in die Damentoilette wollte.
Als ich berichtete, daß Rafa mit der Sängerin "gut Freund" spielte, erzählte mir Laura ihrerseits etwas Eigenartiges von der Sängerin:
Als Laura vor elf Tagen im "Zone" war, war auch die Sängerin da, in Begleitung von Luc. Sie soll regelmäßig mit Luc im "Zone" sein. Laura stand die meiste Zeit bei Fedor. Einmal drehte sich die Sängerin zu ihr um und warf ihr einen giftigen Blick zu. Laura bemerkte das, und die Sängerin drehte sich schnell wieder weg. Außerdem geschah noch etwas Seltsames: Die Sängerin folgte Laura mehrmals zur Toilette. Wenn Laura aus der Kabine kam, stand die Sängerin vor dem Spiegel. Ich erzählte von der Angewohnheit der Sängerin, mir auf die Toilette zu folgen. Sie tut das nach wie vor; ich kenne kaum jemandem, dem ich so häufig auf der Toilette begegne wie der Sängerin. Es ist auch merkwürdig, daß die Sängerin seit einigen Monaten eine Tasche mit in die Toilette nimmt, wie ich es immer tue. Früher hat die Sängerin nichts mitgenommen und sich auch nicht nachgeschminkt. Aufs Händewaschen verzichtet sie freilich auch weiterhin.
Laura erzählte, daß Dolf Daria schon ebenso verleugnet hat, wie Rafa mich verleugnet. Laura sah Dolf einmal in der "Halle" im "Crystal Palace" sitzen, und sie fragte ihn, ob er denn nicht zu seiner Freundin hinübergehen wolle.
"Freundin?" kam da von Dolf. "Welche Freundin ?"
"Na, die Daria."
"Daria ist nicht meine Freundin."
Laura ist sehr beunruhigt wegen Fedor. Sie mag noch immer nicht glauben, daß er in sie verliebt ist.
"Wahrscheinlich geht es Fedor nicht besser", vermutete ich. "Wahrscheinlich fürchtet er sich auch davor, daß du nicht in ihn verliebt sein könntest."
"Ach, ich bin so mißtrauisch ..."
"Fedor ist auch mißtrauisch", sagte ich. "Einer muß dem anderen einen Vertrauensvorschuß geben, sonst wird es nichts. Gib Fedor einen Kredit, gib ihm einen Rahmen. Gib ihm eine Chance."
Ich erzählte, daß ich aus Gesprächen mit anderen Menschen, aus Filmen und aus Büchern gelernt habe, daß viele Beziehungen nur scheiterten, weil einer oder beide Liebenden die Hoffnung aufgaben. Sie verbanden sich mit dem Falschen oder zogen sich zurück. Ich empfahl Laura, weder die Hoffnung aufzugeben noch sich mit dem Falschen zu verbinden.

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Am Donnerstagabend trafen Laura und ich uns um zehn Uhr am CITICEN. Ich hatte mein Spitzenkleid angezogen, weil es mein bequemstes ist. Meine Erkältung wurde stärker, und ich fühlte mich schwach. Da wollte ich mir nicht die Taille schnüren. Laura ließ sich von mir die Strumpfnaht geraderücken. Sie hatte sich feingemacht für Fedor. Der war auch da und hatte - wie versprochen - dem Rafa etwas mitgebracht: sieben CD's mit Industrialmusik.
Im "Nachtlicht" war nur wenig Betrieb, jedoch nicht so wenig, daß der Laden leer wirkte. Das ist für einen Donnerstag nicht übel.
Laura und ich suchten uns einen Tisch mit Barhockern, der am Ende des rechten Gangs, des Hauptgangs, steht und von dem aus man Tanzfläche und DJ-Pult gut überblicken kann. Rafa spielte gerade etwas Elektronisches. Ich sah nicht sofort zu ihm hinüber, und ich betrachtete ihn auch nur zögernd. Er war ganz in Schwarz gekleidet, und er hatte sich seit etwa zwei Tagen nicht rasiert. Er trug einen Pferdeschwanz mit Schleife. Ein Stirnband hatte er nicht um. Geschminkt war er auch nicht. Ich sah ihn aus einer Flasche Mineralwasser trinken. Vor ihm auf dem Pult brannte eine Kerze.
Daria stand bei Ivo Fechtner. Als sie Laura erblickte, ging sie zu ihr und umarmte sie. Währenddessen reichte mir Daria kurz die Hand, und es sah so aus, als wollte sie das den Ivo nicht merken lassen. Sie redete mit mir nicht. Es könnte sein, daß Ivo ihr verboten hat, mit mir zu sprechen.
"Die versteht sich aber gut mit dem Ivo", sagte Laura über Daria.
"Der wird dann später über sie in Umlauf bringen, er sei mit ihr zusammengewesen", meinte ich. "Aber da muß sie selber durch. Diese Erfahrung muß sie selbst machen. Die kann ihr keiner abnehmen."
Die Sängerin war nicht im "Nachtlicht", und auch Dolf war nicht da. Meta war im "Nachtlicht", doch hielt sie sich nicht in Rafas Nähe auf.
Als "A heart that breaks" von SPK begann, gingen Fedor, Laura und ich alle drei tanzen. Rafa spielte viel Industrial, getreu dem angekündigten Programm. Er hat sich wohl noch allerlei besorgt, auch noch anderes aus dem Bereich der elektronischen Avantgarde.
"Hope like a Candle", "Mercy seat" und "Totally gone" von Blackhouse liefen, "Mercy" von Dive, "Fiebertranz" und "Carcinome" von Force Dimension, "Heimat" von Weltklang, "Cold as Ice" von Klinik und ein Stück von Call. Call ahmen Die Form nach. Ihre Musik ist Electro mit spitzen Höhen, abgründigen Bässen und schwingenden, sehr tanzbaren Rhythmen, wie sie von Philippe Fichot bei Die Form bekannt sind. In dem Stück, das Rafa spielte, gibt es eine Sopranlinie, einen Bogen. Laura meint, daß die Frauenstimme an einen Konfettiregen erinnert.
Ich tanzte öfters allein, und ich tanzte am häufigsten von allen. So hatte ich nicht viel Zeit, mich um die Leute im "Nachtlicht" zu kümmern. Talis war kurz da und berichtete, daß zwischen ihm und Ellen wieder Friede eingekehrt sei. Toro redete viel mit Ivo Fechtner, doch ebenso sprach er mit Fedor und mit mir. Toro schien es nicht zu stören, daß Ivo Fechtner etwas gegen mich hat.
Gegen elf Uhr schminkte ich mich nach und trödelte lange vor dem Spiegel herum. Als ich hinaus in den kleinen dunklen Flur kam, der zu den Toiletten führt, ging Rafa mit forschem Schritt an mir vorbei und sagte:
"Hallo."
Ich griff schweigend nach seiner Schulter und kraulte sie.
Rafa ließ sich bald darauf für etwa eine Stunde von Kappa ablösen. Er stellte sich neben die Tanzfläche, gegenüber von Laura, Fedor und mir. Rafa unterhielt sich mit eher durchschnittlich aussehenden Menschen, der nicht so recht ins "Nachtlicht" paßte.
"Sag' mal - du studierst doch Medizin", wandte sich Fedor an mich.
Er wollte wissen, ob es empfehlenswert sei, zu rauchen, wenn man Asthma und eine Lungenembolie habe. Ich antwortete, das sei nicht empfehlenswert.
"Ich hab' das nämlich", verkündete Fedor und zog an seiner Zigarette.
Etwas später entdeckte ich Rafa beim Treppchen zum DJ-Pult. Er stand da und wirkte unschlüssig. Dann ging er ein Stück in meine Richtung, und das sah recht zielsicher aus. Er hielt aber mitten im Gehen inne und wählte die entgegengesetzte Richtung. In einem Gewölbe stellte sich Rafa an einen Flipperkasten und flipperte vor sich hin. Dabei kaute er Kaugummi. Das Gewölbe war von meinem Barhocker aus zu überblicken. Es befindet sich in der Nähe der Toiletten und der Treppe nach draußen. Ich konnte Rafa in der Ferne beobachten, wenn ich nicht gerade tanzte. Kappa spielte keine schlechte Musik, wenn auch nicht sehr viel Industrial dabei war. Dive allerdings war dabei, mit "There's no hope".
Rafa wechselte nach einiger Zeit den Flipperkasten. Er sah nie auf. Er wirkte ganz verbissen, ganz in sich versunken.
"Hingehen", schlug mir Talis vor, und Laura meinte:
"Der wartet bestimmt auf dich."
"Ich darf nicht zu ihm gehen", erwiderte ich. "Er muß kommen. Er darf nie das Gefühl haben, daß ich ihn bedränge und ihm nachlaufe."
Ivo Fechtner zog Fedor hinter die große Treppe an die Bar bei den Flipperkästen. Diese Bar konnten Laura und ich von unserem Platz aus nicht sehen. Laura wurde unruhig. Sie befürchtete, daß Ivo Fechtner dem Fedor etwas tat. Sie ging mit mir zur Toilette, damit wir auf dem Weg einen Blick auf Fedor und Ivo werfen konnten. Ich warf bei dieser Gelegenheit auch einen vorsichtigen Blick auf den emsig flippernden Rafa. Er schien sich an den Kasten zu klammern.
Ivo schwatzte eine ganze Weile mit Fedor. Danach wurde Fedor von Laura nach oben vor die Tür geschleppt und bearbeitet. Laura wollte wissen, was Ivo alles gesagt hatte. Ivo scheint sich regelrecht überschlagen zu haben bei der Beschreibung seines angeblichen Verhältnisses mit mir. Fedor war böse.
"Ich will nicht in eure Intrigenküche 'reingezogen werden!" beschwerte er sich und wollte gar nichts mehr hören.
Während Laura oben mit Fedor beschäftigt war, verabschiedete sich Talis. Nun saß ich allein in unserer Ecke. An diese Ecke grenzt das Rondell, und an das Rondell grenzt die Hauptbar. An der Hauptbar standen Ivo, Daria und Toro. Ich fächelte mit meinem schwarzen Sandelholzfächer, doch sehr lange konnte ich nicht so unnahbar-gelassen vor mich hinfächeln. Erkältet, wie ich war, vertrug ich den Lufthauch nicht. Dabei ist es im "Nachtlicht" immer sehr heiß, was dem Laden schon den Namen "Untergrundsauna" eingetragen hat.
Rafa nahm seinen Platz hinterm DJ-Pult wieder ein, und ich saß ihm in großem Abstand schräg gegenüber. Ich blickte ihn nur selten und vorsichtig an. Es kamen wieder Industrial-Stücke. Ich bedauerte, daß Fedor noch oben war, als Rafa das Stück von Call spielte; so konnte er nicht mittanzen. Am schönsten hätte ich es freilich gefunden, wenn Rafa mit mir getanzt hätte. Doch sinnliche Stücke wie die von Call scheinen Rafa besondere Schwierigkeiten zu machen. Wenn er tanzt - was er seit anderthalb Jahren nur noch in Ausnahmefällen tut -, dann wählt er fast immer deutsch gesungene Kuschelliedchen. Das steht in einem seltsamen Gegensatz zu seiner sinnlichen Ausstrahlung.
"Na? Hat dich der Ivo Fechtner vollgelabert?" fragte ich Fedor, als er und Laura wieder unten waren.
"Hör' bloß auf mit dem Ivo!" rief Fedor verärgert. "Ich will nicht 'reingezogen werden in eure Intrigen!"
Als ich einmal von der Tanzfläche kam, sah ich Laura allein dasitzen.
"Das ist das blonde Wunder", sagte sie traurig. "Ich hab's gewußt - Fedor will gar nichts von mir. Der tut nur so, und dann ... Der war schon den ganzen Abend so merkwürdig."
Sie zeigte mir das "blonde Wunder". Das ist ein langbeiniges Geschöpf in Lack, dessen Pferdeschwanz fast bis zum Hintern reicht. Fedor saß mit diesem und einigen anderen Leuten auf einer Bank und unterhielt sich angeregt.
"Was soll ich jetzt machen?" fragte mich Laura. "Männer herholen und auch mit denen flirten? Hetty, hol' mal ein paar Männer ... hol' mal Kappa und Cyrus ..."
"Das mit den Männern wirkt nur, wenn die Männer von selbst kommen", erklärte ich. "Mach' etwas anderes. Warte, bis Fedor wieder zu dir kommt und empfange ihn mit ein paar zynischen Sprüchen."
"Oh, Hetty! Mir fallen keine ein!"
"Sag':
'Blond ist doch eine schöne Haarfarbe, nicht?'
oder:
'Na, hat man sich gut amüsiert?'"
Das fand Laura nicht schlecht. Sie dachte aber noch etwas aus.
"Ich weiß, was ich mache", sagte sie und hielt einen Liebesbrief hoch, den sie in mit Giger-Motiven bedrucktes Papier gewickelt hatte. "Das tue ich ihm jetzt in den Rucksack 'rein."
Laura erinnerte sich daran, daß Fedor seinen Rucksack hinters DJ-Pult gelegt hatte.
"Ah, Mensch, dann muß ich ja zu Rafa gehen und ihn fragen, ob es sein Rucksack ist!" stöhnte sie.
"Ja, das mußt du", sagte ich. "Da hilft alles nichts."
"Also, gut - ich mach's!"
Laura ging zum DJ-Pult. Rafa sah sie wohl kommen, und statt ans Türchen zu treten, stellte er sich in die äußerste Ecke. Laura zeigte auf einen Rucksack und fragte, ob das der von Fedor sei. Rafa sah kurz hin, drehte sich aber gleich wieder weg und nickte wild mit dem Kopf. Ich beobachtete die Szene von meinem Hocker aus. Es schien mir, als wollte Rafa mit seinem Verhalten sagen:
"Ja, es ist Fedors Rucksack - aber laß' mich jetzt bloß wieder in Ruhe und frage nichts weiter und rede auch nicht mit mir!"
Rafa kam sonst immer ans Türchen, wenn jemand mit ihm sprechen wollte. Nur Laura wich er aus. Mir wäre er vielleicht auch ausgewichen, doch ich ging ohnehin nicht zum DJ-Pult.
Fedor zog es bald wieder zu Laura. Das "blonde Wunder" war abgemeldet. Als Fedor und Laura neu vereint auf ihrem Barhockern saßen, legte sie die Arme um ihn und streichelte sein Gesicht.
Laura und Fedor dachten sich allerlei Merkwürdigkeiten aus. Dreimal brachte er ihr ein Glas Leitungswasser. Und als sie ihn küßte, riß sie ihn fast mitsamt seinem Barhocker um.
Ich sah Rafa vor dem Regal mit den CD's stehen. Er schien gar nichts zu suchen, sondern nur seinen Gedanken nachzuhängen. Seine Lippen bewegten sich. Ich werde wohl nie erfahren, was er da vor sich hinredete.
Die Grabsteine in dem großen "Nachtlicht"-Schriftzug an der linken Wand trugen keine Inschriften mehr. "Kappa" und "Honey" waren verschwunden. Auch nach der Signatur "Honey 1994" suchte ich vergebens. Toro tanzte mit mir zu "Euthanasie" vom Kombinat. Mir fiel auf, daß er sein Konfirmationskreuz umhatte. Solch ein Bronzekreuz habe auch ich bei meiner Konfirmation bekommen. Hinten steht ein Bibelwort, das man sich aussuchen durfte. Meines heißt: "Ergreife das ewige Leben, dazu du berufen bist."
Das habe ich ausgesucht, weil ich nie sterben will. Rafa will auch nie sterben ...
Es gab eine Runde Sauren Apfel; Rafa kündigte das durchs Mikrophon an. Ich konnte mir den Drink aber nicht holen, weil "Zoophilic Lolita" von Die Form kam. Seit über vier Jahren hatte ich mir gewünscht, zu diesem Stück zu tanzen.
Daria hatte dieses Mal kein Kleid an, sondern eine Lackhose. Sie tanzte zu einem Gitarrenstück, zu dem auch die Sängerin zu tanzen pflegt, und es kam mir vor, als wenn Daria den Tanzstil der Sängerin nachahmte. Laura beschreibt diesen Tanzstil folgendermaßen:
"Tessa tanzt so, als würde sie spazierengehen. Und dabei hat sie die Arme immer so hoch ..."
Als ich Hunger bekam, fragte ich an der Bar nach Lebensmitteln. Eigentlich gab es keine. Doch der Barmann hatte noch eine Tüte Chips. Er öffnete sie und legte sie mir hin. Ich durfte mir nehmen, soviel ich wollte, und ich sagte Laura bescheid, damit auch sie zugreifen konnte. Der Barmann nahm dankbar meinen Vorschlag entgegen, künftig auch Schokoladenriegel und Ähnliches anzubieten. Er wollte wissen, ob ich noch mehr Verbesserungsvorschläge hätte. Ich erzählte ihm, daß in der Damentoilette zwei Türen nicht abschließbar sind und daß in der einzigen abschließbaren Kabine die Kloschüssel keine Brille hat.
Beim Essen sah ich mir die Getränkeliste an. Auch Dracula's Blood ist im "Nachtlicht" zu bekommen. Das wird Rafa eingeführt haben. Ich kenne sonst keinen Laden, in dem es dieses Getränk gibt.
Gegen drei Uhr verließ Ivo Fechtner das "Nachtlicht". Daria hielt es auch nicht viel länger. Etwa um halb vier sah ich Meta zu Rafa hinters DJ-Pult kommen. Sie trug eine Schultertasche; sie wollte offenbar fort. Meta redete auf Rafa ein und machte bittende Gesten. Er hielt sich dem Pult zugewandt und sprach kaum mit ihr. Ihre Nähe war ihm wohl unangenehm. Er schien sie nur abzuwimmeln. Schließlich gab Meta auf. Sie stieg das Treppchen wieder hinunter und verließ das "Nachtlicht" zusammen mit einem Mädchen, das schon auf sie wartete.
Ich wühlte in meinen Manteltaschen herum. Das mußte ich öfter tun, weil ich viele Taschentücher brauchte. Eben hatte ich den Mantel wieder ordentlich hingelegt, da langte eine kräftige Hand nach meiner Taille. Als ich mich umdrehte, fiel ich fast über die schwere Gestalt, die mir mitten im Weg stand und sich seltsam mit der meinigen verknotet hatte.
"Na? Wie hat's dir gefallen musikalisch?" fragte Rafa eilig und erwartungsvoll.
"Hervorragend", antwortete ich wahrheitsgemäß und legte gleich meine Arme um seine Schultern.
Rafa packte sie und zog sie weg.
"He, nicht schon wieder umarmen!" wehrt er ab. "Nicht schon wieder umarmen!"
"Warum darf ich dich denn nicht umarmen?"
"Ich will das nicht!"
"Was darf ich denn?"
Statt einer Antwort weicht Rafa mehr und mehr gegen die Hauptbar zurück.
"Na, wie geht's?" frage ich ihn.
"Gut."
"Oh, das ist ja schön."
"Nicht?"
Ich greife aufs Neue zart nach Rafas Schultern.
"Mensch!" ruft er aufgeregt. "Mach' doch nicht immer so! Faß' doch nicht mich immer dauernd an! Laß' doch mal! Laß' doch mal! Laß' das doch mal! Faß' mich doch nicht dauernd an immer!"
"Aber ich muß dich doch anfassen."
"Warum mußt du mich anfassen?"
"Ich kann dich doch nur so selten anfassen", erkläre ich. "Ich muß dich anfassen."
"An was denkst du gerade?"
"An was denkst du?"
"An nichts."
Ich lehne mich an Rafa.
"Was 's' los?" fragt er unruhig.
"Ja, was - was immer los ist."
"Was 's' los?"
"Darf ich dich beißen?" frage ich.
So hat mich Rafa einst gefragt, im Februar letzten Jahres. Damals wollte ich mich nicht beißen lassen. Jetzt ist es Rafa, der entschieden sagt:
"Nein."
"Ich esse dich wohl am besten roh und am Stück", erzähle ich in sachlichem Ton von meinen Absichten. "Ich hatte erst überlegt, ob ich dich vielleicht kleinschneide vorher, aber ich habe gedacht, also, am Stück schmeckst du besser."
Weil Rafa jetzt hinterm DJ-Pult hervorgekommen ist, kann ich seine Garderobe genauer betrachten. Er trägt ein Priesterhemd, das auf der Schulter geknöpft ist, und das sieht an ihm ganz besonders niedlich aus. Zu dem Hemd trägt er die schmal geschnittene Hose, in der er bei der "Nachtlicht"-Eröffnung aufgetreten ist. Und er hat seine Schnallenstiefel an, wie meistens.
Rafa stört es, daß ich ihn anstrahle.
"Ich liebe nur ernste Frauen", behauptet er.
"Ich muß aber immer lächeln, wenn ich dich sehe", entgegne ich und höre nicht auf zu strahlen. "Ich liebe dich."
"Na, wer weiß ...!"
"Da ist wieder einer eifersüchtig!" tadele ich Rafa und schaue ihn schräg an. "Wer ist das? Wer soll das sein, den ich angeblich ...? Ich liebe dich und nur dich!"
Ich greife vorsichtig nach seiner Hosennaht.
"Du gehst überhaupt nicht auf mich ein!" wirft Rafa mir vor.
"Oh, ich gehe sehr wohl auf dich ein", widerspreche ich.
"Du gehst in keiner Weise auf mich ein!" beharrt Rafa.
"Wie hättest du's denn gern?"
"Sei doch mal normal", bittet er.
"Wie geht denn das?"
"Sei doch mal ... normaler."
"Auf welche Art denn normaler?"
"Humaner."
"Wie sieht das denn aus?" erkundige ich mich nach der Bedeutung, die das Wort "human" für Rafa hat.
"Ach, ist jetzt auch egal", meint er und geht zurück zum DJ-Pult.
"Das ist es wohl gewesen", denke ich.
Doch Rafa kommt wieder, nachdem die CD gewechselt ist. Er ist nüchterner und beherrschter als gewöhnlich. Ich glaube, er hat deutlich weniger getrunken als sonst. Ich nutze die Gunst der Stunde und stelle ihm die wichtigsten Fragen:
"Du hast einmal gesagt, du meinst, daß ich mich durch dich zerstöre. Warum meinst du das?"
"Hm?"
"Du hast einmal gesagt, daß du meinst, daß ich mich durch dich zerstöre. Warum meinst du, ich zerstöre mich durch dich?"
"Tust du doch."
"Warum? Ich baue mich durch dich doch gerade auf."
"Möchte ich jetzt auch nicht drüber sprechen", sagt Rafa nach kurzem Zögern.
Ich lasse das Thema ruhen und stelle eine andere Frage:
"Was bedeutet denn das Titelbild auf dem Cover von deiner Kassette?"
"Welche Kassette?"
"Ja, du hast doch mal so eine rosa Kassette gemacht."
"Ah ja, ich weiß, welche du meinst. Die hast du?"
"Ja, die hat mir doch der Ivco aus SHG. verscherbelt", erzähle ich. "Und dann habe ich gedacht, wenn er sie mir unter die Nase hält, dann muß ich sie ja wohl nehmen. Und ich habe sie genommen."
"Das muß aber schon eine Weile her sein, daß du die gekauft hast."
"Nein, das war erst Ende Juni dieses Jahres."
"Ah, ja."
"Was bedeutet denn das Coverbild?"
"Das ist aus einem Film, 'Die Passage'. Der handelt von so einer Wiederkehr von so einem Toten aus dem Totenreich. Das handelt eben auch von jemandem, der stirbt."
"Was ist denn nun genau auf dem Bild zu sehen?"
"Links im Bild liegt ein Mann, das kann man aber kaum erkennen; der sieht mehr aus wie eine Mumie."
"Ja, das habe ich mir schon so gedacht."
"Und rechts steht der Sensenmann."
"Ja, da steht aber doch noch jemand am Fußende."
"Ja, das ist der Sensenmann. Und dahinter sieht man noch so den Schatten von dem."
"Also, das ist nur der Sensenmann. Sonst steht da keiner."
"Nein. - Wie findest du denn unsere Kassette?"
"Na, zum Teil ... finde ich sie ganz nett. Und zum Teil finde ich sie ganz schön scheußlich."
"Oh - warum?"
"Na ja ... die Stimme deiner Sängerin, die ist ja wirklich zum Fürchten", äußere ich schonungslos meine Meinung. "Warum heißt eigentlich das Lied, das du mir gewidmet hast, 'Schneemann'?"
"Habe ich das dir gewidmet?"
"Ja."
"Ach, das weiß ich jetzt auch nicht mehr ... Das ist auf dem Tape auch gar nicht ganz drauf. Die lange Version spiele ich jetzt."
Rafa rennt zum DJ-Pult und macht "Schneemann" an. Als er da oben beschäftigt ist, mag ich nicht glauben, daß er noch einmal herunterkommt, doch er ist gleich wieder bei mir.
"So", sagt Rafa. "Das ist 'Schneemann'."
Ich höre zu. 'Schneemann' ist ein Instrumental mit Rhythmus und Melodiefragmenten.
"Oh, das ist gar nicht schlecht", lobe ich. "Das ist echt gut. Das gefällt mir."
"Hm?"
"Ja, es ist echt ... gut. Schade; warum ist das nicht auf der Kassette ganz drauf?"
"Hat nicht mehr draufgepaßt."
Rafa ist weiter damit beschäftigt, sich gegen meine Umarmungen zu wehren. Er fragt wieder:
"Was 's' los?"
"Ich möchte dich anfassen."
"Hm."
Rafa denkt für einen Augenblick nach; dann fragt er mich:
"Wann mußt du morgen aufstehen?"
"Na ja, um ... neun oder ... zehn ..."
"Das ist zu früh", findet Rafa.
"Na ja ... ich muß dann um elf ins Institut."
"Ich muß mindestens sechs Stunden schlafen. Neun ist zu früh."
"Um elf?"
"Ist immer noch zu früh. Kannst du da nicht anrufen?"
"Na ja ... ich habe ja eigentlich auch Angina, nicht."
"Das ist wohl so eine Art Grippe oder sowas?" argwöhnt Rafa. "Ist das ansteckend?"
"Na, mal so, mal so ... Wenn man sich ansteckt, steckt man sich an; wenn nicht, halt nicht."
"Ach so, es ist also ansteckend."
"Jetzt will er sich wieder nicht anstecken", seufze ich, in dem Gedanken, daß Rafa nach Gründen sucht, nicht mit mir heimgehen zu können.
Rafa zieht erst einmal wieder davon, um die CD auszuwechseln, doch bald kommt er zurück, sein Bierglas in der Hand. Er bleibt dieses Mal mitten im Hauptgang stehen.
"Also gut - ich schlaf' heute bei dir", verkündet Rafa.
"Das freut mich aber, daß du bei mir schläfst, weil ich will, daß du für immer bei mir schläfst."
"Mal abwarten", gibt sich Rafa geheimnisvoll.
Ich beiße ihn in die Schulter. Ich erwische ihn aber nicht richtig, weil mir die Knopfleiste seines Hemdes im Weg ist.
"Schläft denn sonst noch jemand bei dir?" fragt Rafa.
"Nein, niemand."
"Ach, ich also auch nicht", schließt Rafa.
"Doch, du schläfst bei mir!" "Und dein Mitbewohner?"
"Der schläft nebenan in seinem Zimmer. Und der schläft tief und fest."
Ich hoffe, Rafa beruhigt zu haben. Er wechselt wieder kurz die CD und kommt zurück zu mir in den Hauptgang.
"Wollen wir uns besaufen?" schlägt er vor.
"Möchtst dich gern mit mir besaufen, hm? Womit denn gern?"
"Bier? Ach - Bier magst du ja nicht, ne?" erinnert sich Rafa.
"Ja", bestätige ich. "Aber ich habe zu Hause, glaube ich, auch irgendwie noch eine Flasche Sekt, aber ... na ja, je nachdem, ob du das willst."
Ich versuche zart, aber beharrlich, Rafa zu umarmen und zu streicheln.
"Mensch, sei doch mal flauschig, Fräulein!" bittet Rafa, der sich nach wie vor heftig wehrt.
"Was heißt denn 'flauschig'?" möchte ich wissen.
"Sei doch mal normal, Fräulein!"
"Normal?" frage ich. "Wie ist man denn normal?"
"Schmeiße alle sechs Milliarden Menschen auf dieser Welt in einen Topf, rühr' einmal um und gieß' dir davon was ab. Das ist dann normal."
"Ja aber, was heißt denn nun 'flauschig'?"
"Ja - kann man denn nicht mal normal mit dir reden, einfach so, ohne daß du einen dauernd anfaßt?"
stöhnt Rafa. "Daß man sich mit dir mal irgendwie hinsetzen kann ... und Sekt trinken und so weiter."
"Ich muß dich doch anfassen."
"Warum mußt du mich anfassen?"
"Ich muß dich eben anfassen."
Rafa schiebt seine Brille nach unten und schaut über den Rand.
"Oh! Eben hast du richtig flauschig geguckt!" stellt er fest.
Ich muß gleich wieder lächeln.
"Oh, jetzt nicht mehr!" bedauert Rafa. "Guck' doch mal wieder flauschig!"
Es gelingt mir aber nicht, mit dem Lächeln aufzuhören. Ich finde es zu niedlich, wie Rafa über den Brillenrand guckt.
"Oh, nee!" seufzt er. "Nee, nee! Nee, nee, nein, nein, nein!"
Da muß ich lachen.
"Warum lachst du?" fragt Rafa.
"Du siehst so süß aus", antworte ich ehrlich.
"Hm-hm ...", macht Rafa.
"Warum darf ich dich denn nicht streicheln?" frage ich. "Warum darf ich dich denn nicht umarmen und anfassen? Laura darf Fedor doch auch umarmen und anfassen und streicheln."
"Sind die zusammen?"
"Die sind genauso wie wir. Die haben genau das Gleiche wie wir, nur geht das bei denen noch nicht so lange."
"So, jetzt werde ich noch mal was Flauschiges 'reinschmeissen", kündigt Rafa an, bevor er wieder zum DJ-Pult geht.
Und er legt etwas Flauschiges ein, etwas Kuschliges. Ich erzähle Laura, daß Rafa mit mir kommen möchte. "Siehst du, es wird doch unser Glückstag", meint sie.
"Na ja - wenn Rafa sagt, er kommt mit, dann heißt das noch lange nicht, daß er auch wirklich mitkommt", gebe ich zu bedenken.
"Ach, der kommt mit!" istLaura sicher.
Rafa spielt mehrere "flauschige" Stücke, auch "Heartland" von den Sisters of Mercy, eines meiner Lieblingslieder. Während ich tanze, sehe ich Rafa vors Treppchen kommen und nach mir ausschauen. Er sieht mich tanzen und geht gleich wieder zurück hinters DJ-Pult. Nach dem Lied unterhalte ich mich an unserem kleinen runden Tisch weiter mit Laura. Rafa gesellt sich zu uns. Ich meine zu fühlen, wie er seine Furcht bezwingt. Er gibt sich locker und nett. Er sieht Zigarettenschachteln auf dem Tisch liegen und fragt Laura, ob da noch Zigaretten seien. Dann möchte er von mir wissen:
"Gefällt dir das, wenn ich bei dir schlafe?"
"Ja."
"Warum?"
"Ich will doch mein ganzes Leben mit dir verbringen."
"Ah, ja."
Rafa spielt auch "Neonlicht" von Kraftwerk. Ich tanze zu dem Stück nicht, weil ich mich um Rafa kümmern möchte.
"Rafa hat große Angst, und wenn er geht, dann kann es sein, daß wir sehr schnell gehen", sage ich zu Laura.
"Ach, dann verabschieden wir uns besser schon jetzt, nicht?" schlägt sie vor.
Wir umarmen uns.
Rafa und Kappa stehen hinter der Hauptbar und legen einander die Hände auf die Schultern. Dies könnte ebenfalls ein Abschiedsritual sein.
Rafa zieht sich eine Jacke über, die ich noch nicht an ihm gesehen habe. Es ist eine Jacke in dem von Rafa bevorzugten Uniformstil. Sie ist schwarz, der Figur nachgeschnitten und hat Schulterklappen und sehr viel Silbernes - Knöpfe, Schnallen und Clips. Sie sitzt sehr gut und ist aus einem schweren, festen Stoff gemacht. Sie kann recht teuer gewesen sein.
"Hast du die Jacke neu?" erkundige ich mich, als Rafa wieder zu mir kommt.
"'türlich."
Ich nicke anerkennend.
"So - Zigaretten habe ich", sagt Rafa. "Ja ... wollen wir dann fahren?"
"Ja."
"Fahren wir mit dem Taxi zu dir?"
"Klar. Das ist nicht weit von hier; da gehen wir eben 'rüber."
"Nein. Nein, nein. Ich bestell' uns eins hierher."
"Na, gut."
Rafa geht, um das Taxi zu bestellen. Es herrscht Aufbruchstimmung. Fedor zieht Lauras Liebesbrief aus seinem Rucksack. Er macht große Augen und fragt sie:
"Wie hast du denn das wieder geschafft?"
Rafa versetzt mich in Erstaunen. Er begleitet mich zum Ausgang, ohne sich zu wehren.
"Vielleicht ist es ihm peinlich, wenn er vor Kappa und Fedor so widerspenstig ist", sage ich mir in Gedanken. "Dennoch ... es kann nicht mit rechten Dingen zugehen. An der Sache gibt es einen Haken."
Als wir die Treppe hinaufsteigen, spreche ich Rafa auf den veränderten "Nachtlicht"-Schriftzug an:
"Mensch, da sind ja gar nicht mehr die Namen auf den Grabsteinen zu lesen bei deiner Wandmalerei."
"Ja, ich bin nicht so ein Typ, der sich selbst jetzt unbedingt so zur Schau stellen muß."
"Weshalb hast du denn die Namen erst draufgemalt?"
"Das war nur so ein Spaß, als wir da beim ... wir haben da halt gerade renoviert, na ja, und das war halt nur so ein Spaß von uns."
"Das fand ich aber niedlich."
"Nein, ich bin nicht so der Typ, der sich so zur Schau stellen will."
Wir kommen nach oben. Fedor fragt Rafa:
"Du hast doch eine Uhr um, nicht?"
"Rafa hat immer eine Uhr um", sage ich zu Fedor.
"Es ist genau vier Uhr zehn", gibt Rafa Auskunft und möchte dann von Fedor wissen:
"Bist du Samstag auch da?"
"Ja. Ziemlich sicher."
"Hier im 'Nachtlicht'?"
"Im 'Elizium'. Da ist doch DJ Z."
"Ja ... Sch... ..."
Laura und Fedor wollen noch ein wenig durch die Stadt gehen. Fedor möchte mit dem ersten Zug nach Hause fahren.
"Die können sich ein Taxi leisten", bemerkt Laura mit einem Blick auf Rafa und mich.
"Na - man kann ja auch so tun, als könnte man es sich leisten", entgegne ich.
Das Taxi hält. Rafa guckt erst zur Vordertür. Dann beschließt er:
"Beide nach hinten. Wie sich das gehört."
"Genau", stimmte ich ihm zu. "Wie sich das gehört."
Sowie sich Rafa zu mir auf die Rückbank gesetzt hat, winkelt er das linke Bein an und legt es über sein rechtes. Ich sitze links von ihm. Also kann ich mich nicht an ihn lehnen. Ich glaube, daß Rafa eben das beabsichtigt. Er verwendet das Bein als Sperre gegen mich. Ich sage aber nichts dazu. Ich weiß, wie schwer es Rafa fällt, mit mir zu kommen, und ich will es ihm so leicht wie möglich machen.
Ich ahne, welcher Haken an der Sache ist: Rafa übernachtet zwar bei mir, doch er gibt sich stachelig und spröde. Vielleicht hat er sich beim Trinken zurückgehalten, damit sein Verlangen nach mir nicht übermächtig wird. Ich sehe ihn prüfend an und frage vorsichtig:
"Heute hast du aber weniger getrunken, nicht?"
"Genug."
"Oh, du hast ja eine rosa Brille auf", stelle ich fest.
"Ja, eine rosa Brille."
"Wann hast du denn die rosa Brille auf und wann die Spiegelbrille?"
"Mal so, mal so."
Als wir uns dem Stadtviertel Bc. nähern, wo ich wohne, fragt Rafa:
"Wo in H. ist das hier?"
"Das ist im Osten."
"Das ist schlecht", meint Rafa. "Ich muß nachher nämlich noch zu Kappa."
"Warum? Das ist doch ... der wohnt doch da bei mir ganz in der Nähe. Das sind gerade mal drei U-Bahnstationen von mir."
"Ach ja, Mensch, stimmt, da ... ja ..."
"Ja, das ist überhaupt nicht weit. Das ist gerade um die Ecke. Das ist ein Katzensprung von mir. Das ist ja auch das Gute daran. Der hat mich ja nach Hause gefahren, als wir morgens in 'Halle 1' gewesen sind."
"Wie lange fährt man mit dem Taxi?"
"Drei bis fünf Minuten fährt man da."
Wir schweigen. Das Taxi fährt ziemlich schnell.
"So - was möchtest du?" frage ich Rafa schließlich. "Möchtest du etwas essen? Möchtest du was trinken? Wir können uns bei der Tanke auch was holen."
"Nochmal überlegen."
Als wir uns der Tankstelle nähern, frage ich nach:
"Und, wie ist es? Möchtest du bei der Tankstelle vorbeigehen oder nicht?"
"Ja, ja, wir gehen da nochmal hin."
"Da gibt's fast alles. Auch wenn ich nicht weiß, ob es da nun Pfirsichlollis gibt ..."
"Ja, ja."
"Da gibt es auch Pizza ..."
"Ja, das wär' was", findet Rafa."
"Toll, das ist auch genau, was ich immer esse. Frühlingsrollen kann man da auch ..."
"Ah, nee, die mag ich nicht. - Wie weit ist das? Von der Tankstelle bis zu dir?"
"Da geht man ungefähr eine Minute."
"Ja, ist o.k."
Das Taxi hält auf der Tankstelle. Rafa fragt mich:
"Ich geb' die Hälfte dazu; ist das o.k.?"
"Ja, das ist o.k. Klar. Sicher."
Das Taxi kostet sechzehn Mark und ein paar Groschen. Ich bezahle acht Mark. Als ich nach Kleingeld krame, bremst mich Rafa. Er gibt dem Taxifahrer einen Zehnmarkschein und sagt:
"Stimmt so."
"Rafa ist so großzügig, wie er kann", denke ich bei mir. "Er will immer großzügig sein, und wenn er nur das halbe Taxi bezahlen kann, gibt er wenigstens Trinkgeld."
Im Tankstellenmarkt geht Rafa zielstrebig zum Tiefkühlschrank und nimmt eine Pizza heraus.
"Die ist gut", urteilt er. "Nehmen wir."
Dann greift er sich aus dem Getränkekühlschrank schnell zwei kleine Flaschen mit Gatorade und Hohes C Multivitamin. Er guckt noch ein bißchen herum. Ich frage:
"Und was zu knabbern?"
"Nein."
Rafa geht mit den Lebensmitteln zur Kasse und nimmt sich dort eine blaue Packung Wrigley's Extra. Ich renne zum Getränkeregal, hole eine Flasche Süßstoff-Grapefruitsaft und stelle sie zu den anderen Sachen auf den Kassiertisch.
"Wie machen wir's?" frage ich Rafa. "Wer bezahlt was und wie? Teilen wir uns das?"
"Nein, ich bezahl's schon."
Auf dem Weg zu mir fragt Rafa unvermittelt:
"Hast du eigentlich eine autistische Veranlagung?"
"Warum?"
"Ja, weil du das mit den Pfirsichlollis noch weißt."
"Ach ... ich habe keine autistische Veranlagung. Ich habe einfach nur ein gutes Gedächtnis. Außerdem war das so süß ... das fand ich so süß mit den Pfirsichlollis, das mußte ich mir einfach merken."
Wir gehen an den Garagenhöfen vorbei.
"Hm - schlaf' ich also mal wieder bei Hetty", sagt Rafa.
"Ja. Das finde ich auch gut, daß du bei mir schläfst."
"Ist das bei dir noch alles so?"
"Ja, das ist noch so, wie es das letzte Mal war bei mir. Da hat sich kaum was verändert - natürlich, bis auf die Fotos; ich habe ja jetzt die Fotos von dir noch, wo du im Stadtmagazin warst."
Da sah man ihn mit Kappa in einem Barockgarten, einige Wochen vor der Eröffnung des "Nachtlicht".
"Du bist zweimal im Stadtmagazin", erzählt Rafa. "Einmal von der Seite, einmal von vorne."
"Ja, ich weiß schon. Habe ich schon gefunden. Du bist ja nirgendwo zu sehen."
"Warum sollte ich?"
"Ja, Mensch, weil du das 'Nachtlicht' ja mit eröffnet hast."
"Ja, warum sollte ich dann fotografiert werden?"
"Ja, Kappa ist doch auch fotografiert worden."
"Ja, ich bin eben nicht so einer, der sich immer so ... profilieren will", meint Rafa.
"Ich glaube eher, du hast denen gesagt, die sollen dich nicht fotografieren", entgegne ich. "Das sieht mir eher so aus. Da hätte ich ja noch ein Bild mehr von dir gehabt ... Es ist ja so schade, daß ich dich immer nicht fotografieren kann."
"Nein", sagt Rafa - wie gewohnt.
"Ich hätte dich am letzten Freitag so gerne fotografiert", seufze ich.
"Am letzten Freitag?"
"Ja, im 'Nachtlicht'. Ich hätte dich so dermaßen gerne fotografiert, und ich konnte es nicht. Das hat mich so geärgert."
"Warum wolltest du mich da unbedingt fotografieren?"
"Ja, weil du da halt so ganz besonders süß ausgesehen hast."
Sicherer und forscher als ehedem geht Rafa in mein Zimmer. Seine Jacke legt er in die linke Sofaecke. Er macht eine Bestandsaufnahme.
"Hat sich gar nichts verändert hier", stellt er fest. "Nein, fast nichts, bis auf ... eben die Bilder und diese drei Müllschlackensteine, die ich jetzt als Couchtisch verwende."
Auf dem "Couchtisch" türmen sich noch CD's, die Derek mir geliehen hat. Ich lege sie auf einen anderen Stapel vor einem CD-Regal.
"Der Tisch ist auch noch da ..."
, fährt Rafa fort, mit einem Blick auf meinen Hocker.
" ... und die Zoids sind auch noch da", ergänze ich. "Die kannst du ja immer gar nicht leiden."
Rafa nimmt sich den Hocker und verwendet ihn als Ablage für die Lebensmittel von der Tankstelle.
"Wie oft räumst du eigentlich auf?" fragt Rafa; das hat er schon bei seinem letzten Besuch gefragt.
"Einiges mache ich fast jeden Tag", antworte ich. "Hier und da und da, da staube ich fast jeden Tag ab. Und da vorne und da, das schaffe ich nur alle ein bis zwei Wochen etwa."
Ich lege meine Handschuhe auf den Schreibtisch. Ein Haufen beschriebener Zettel fällt mir ins Auge, die nicht für Rafa bestimmt sind. Ich verstecke sie in meinem Tagebuch.
Rafa nimmt Platz.
"So - 'n Ascher", sagt er. "Und 'n T-Shirt brauch' ich, möglichst groß, weit und lang."
"Der Ascher steht da, guck'. Und ein T-Shirt gebe ich dir."
Ich suche für ihn ein T-Shirt im Wäscheschrank. Das Adobe-T-Shirt muß gewaschen werden. Es eignet sich also nicht.
"Lang, vor allem lang muß es sein; das ist wichtig", betont Rafa.
"Dann nimm' doch einfach das, das du das letzte Mal hattest", sage ich und reiche ihm das T-Shirt von Test Dept. "Da hattest du doch gesagt, das hätte so einen peinlichen Aufdruck, und hast es dann linksrum gedreht."
Rafa betrachtet das T-Shirt genau und meint:
"Peinlicher Aufdruck? Ist doch gar nicht. Ist doch ganz ..."
"Siehst du, Test Dept. ist nämlich geil."
Rafa legt das T-Shirt zu seiner Jacke.
"Ist voll interessant, daß der Ascher genau in den Ständer paßt", bemerkt er.
"Ja, das ist ja auch ein Standaschenbecher", erkläre ich. "Das gehört zusammen, der Ascher und der Ständer. Das war ein Geburtstagsgeschenk von Carl."
Rafa beobachtet Bisat.
"Ich will kein Tier haben", sagt er.
"Ja, ich hatte immer die Katze", erzähle ich. "Hattest du denn nie ein Tier?"
"Na ja, eigentlich nicht richtig."
"Was war es denn?"
"Es waren Schildkröten, aber die mochte ich gar nicht so, das war gar nicht so ..."
"Ich habe Katzen immer gemocht."
"Ja, ich mag Katzen auch, aber ich hätte gar keine Zeit dafür."
"Ja, wie kannst du, wenn du für die Katze keine Zeit hast, Zeit für ein Kind haben?"
"Ja, das ist ja auch was ganz anderes", meint Rafa. "Da würde ich dann schon Zeit für haben."
"Ja, aber du mußt doch dann eben auch Geld verdienen, irgendwie. Wie willst du das denn machen?"
"Jetzt wird erstmal gearbeitet, gearbeitet, und später habe ich dann mal Luft", beschreibt Rafa seine Pläne.
"So, du meinst also, daß du dann, wenn du mal Kinder hast, auch so Geld verdienen kannst, ohne andauernd zu arbeiten."
"Ja, das geht dann schon. Wenn man mit Musik Geld verdient, geht das."
"Du meinst, wenn du mit Musik Geld verdienst, dann hast du genug Zeit."
"Ja, ja. Ich fange jetzt schon so an jetzt, mal mit DJ und dann eben mit Musik halt so ... Geld zu verdienen. Das ist ja nicht nur Musik selber; das ist ja auch DJ und Konzerte und diese Sachen."
Rafa trinkt seine Getränke aus der Flasche. Ich gehe in die Küche, um mir ein Glas für den Grapefruitsaft zu holen. Rafa redet laut weiter. Als ich zurückkomme, mahne ich:
"Du mußt etwas leiser reden. Der Carl wacht sonst auf."
Rafa gibt sich Mühe. Ich frage ihn ein wenig aus:
"Wieviel verdienst du denn so?"
"So ganz gut was."
"Ja, da ist ja dann auch noch das Arbeitslosengeld."
"Arbeitslosengeld kriege ich ja nicht, weil ich ja nicht arbeitslos bin."
"Hast du denn einen Festvertrag im 'Nachtlicht'?"
"Nein, das jetzt so noch nicht, weil, wir haben das jetzt erstmal so gemacht, daß ich da die meisten Vorteile von habe."
"Also noch nicht mit Sozialabgaben und so."
"Aber das kommt jetzt demnächst."
"Wieviel verdienst du denn nun im 'Nachtlicht'?"
"Ja, ich verdiene jetzt so eigentlich ganz gut", druckst Rafa herum.
"Ja, wieviel ist es denn?"
"Das sage ich dir jetzt nicht. Aber es ist so ... ganz gut."
Rafa schweigt gerne über Sachen, derentwegen er glaubt, sich schämen zu müssen. Er redet auch gerne an ihnen vorbei und verbiegt und verdreht sie. Sein geringes Alter verriet er mir nicht, und ich denke, daß er sich auch seines geringen Verdienstes schämt. Er muß wirklich sehr wenig verdienen, wenn er so redet. Wahrscheinlich reicht es ihm nur zum Leben, solange er keine Sozialabgaben zahlt.
"Ach - wie fandest du übrigens unser Konzert?" möchte Rafa wissen.
"Das fand ich ganz niedlich", ist meine Antwort.
Solche wohlwollend-herablassenden Äußerungen über seine Auftritte kennt Rafa schon von mir; dennoch zeigt er sich betroffen:
"Nur niedlich?"
"Na, ja. Was ich vor allem an dem Konzert gut fand, das war, daß die Sängerin nicht dabei war. Das hätte mir ja noch gefehlt, wenn die gesungen hätte. Das war eine schöne Einlage, die du gegeben hast:
'Tessa, bitte, noch einmal!'
'Vergiß' es!'
Das wäre es ja noch gewesen, wenn die da gesungen hätte, die Alte, da wäre ich aber weggerannt. Das muß ja nun nicht sein.
Letzten Freitag hast du mit der Sängerin ja auch wieder gut was gebracht."
"Was?" fragt Rafa.
"Da hast du der Sängerin ja auch mal wieder ganz schön lange die Hand geschüttelt."
"Habe ich das?" gibt Rafa sich ahnungslos.
"Ach, ist ja auch egal", winke ich ab. "Ja ... du hast bei dem Konzert ja auch eine Spielzeugpistole dagehabt. Du bist doch immer so gegen Kriegsspielzeug."
"Ja, das war eine Vera...ung", rechtfertigt sich Rafa. "Und ... außerdem ... ist das ja eine Klangwaffe. Das ist wie Musik. Das ist eine Klangwaffe; das ist ja keine Waffe. Die macht ja Geräusche nur."
"Ach, so. Das würdest du also einem Kind auch geben."
"Nein, nicht einem Kind!" wehrt Rafa ab.
"Dann ist das also Spielzeug für Erwachsene, hm?" folgere ich.
"Na ja, wenn mein Sohn sowas haben wollte, dann könnte er es vielleicht kriegen", meint Rafa jetzt. "Aber da müßte er was für tun."
"Ach, da muß er was für tun."
"Ja, da muß er mich überreden."
"Ah, da muß er verhandeln."
"Außerdem ist das ja gar keine richtige Waffe. Das ist eine Klangwaffe."
"Also ist das doch kein Kriegsspielzeug."
"Na ja ... ich würde es meinem Kind ja nicht unbedingt geben."
"Die Zoids gefallen dir ja gar nicht."
"Nee, nee", wehrt Rafa ab. "Also, das würde ich meinem Kind nicht ... also, das wäre nicht drin. - Wie findest du eigentlich meine andere Band, Screech?"
"Na ja, so ganz nett."
"Nur 'ganz nett'?" fragt Rafa enttäuscht.
"Na ja, deine Sängerin, die kann aber auch singen", lobe ich Zinnia. "Das ist ja das, was mir daran gefällt: daß die Sängerin singen kann."
"Na ja, das ist ja auch eine Sängerin."
"Ja, die hat eine gut sitzende, ausgebildete Stimme. Das merkt man. Die Zinnia, die kann eben singen. Das finde ich an der Band gut. Warum heißt die eigentlich 'Screech'?"
"Das heißt 'Kreischen', wie 'Kreischendes Miauen'."
"Wie seid ihr eigentlich auf den Namen gekommen?"
"Ja, weil wir viele Lieder über Tiere haben."
"Über Tiere."
"Über Tiere und Tierversuche."
"Also Lieder gegen Tierversuche."
"Ja, wir haben viele Texte über Tierversuche. Und 'Screech', das ist eine Katze, die kreischend miaut, bevor eben endgültig ..."
Rafa beugt sich vor und stützt sein Kinn auf die linke Sofalehne. Er blickt zu Bisat hinüber, der in der Eßecke sitzt und murmelt etwas.
"Was machst du da?" frage ich. "Hm?"
"Ich rede mit deiner Katze."
Ich beobachte ihn ein Weilchen bei dem Gespräch. Dann fällt mein Blick auf das Stadtmagazin, das ich auf einen schwarzen Stahlschrank neben dem Sofa gelegt habe.
"Da, das ist es ja", sage ich und zeige dorthin. Rafa greift nach dem Stadtmagazin und sieht sich die Bilder von der "Nachtlicht"-Eröffnung noch einmal an.
"Wie findest du die Bilder eigentlich?" frage ich.
"Ja, ganz normal", meint Rafa.
"Ah ja, ganz normal."
"Ja, ja, wie immer."
"Und du bist nirgends drauf", wiederhole ich. "Du hast mich ja auch mal fotografiert. Aber das Bild, das magst du ja nicht. Warum eigentlich nicht?"
Rafa zögert mit einer Antwort.
"Also, jetzt will ich's wissen", drängele ich. "Warum magst du das nicht?"
"Du guckst blöd."
"Ja, das ist eben das, wenn man nur eine Aufnahme macht. Das kann dann mal nichts werden."
Neben dem Bildbericht über die Eröffnungsfeier ist das "Nachtlicht"-Programm abgedruckt. Rafa zeigt darauf und sagt:
"Schick, der Schriftzug, nicht?"
"Ja, ich weiß; du hast den entworfen, ne?"
"Ja. Sicher. Klar."
Ich fahre die waagerechte Linie in der Mitte des Schriftzugs nach und stelle fest:
"Im 'Nachtlicht' ist ja nur der obere Teil von dem Schriftzug an die Wand gemalt."
"Geenau."
"Wie hast du das eigentlich geschafft, den auf die Wand zu übertragen, so daß es genau identisch ist?"
"Der ist nicht identisch", sagt Rafa. "Das ist nur so ungefähr. Ich hab' da halt so das so in der Hand gehabt und das ungefähr halt so nachgemalt, ne. Ich habe im 'Nachtlicht' alles gemalt, bis auf die Stühle."
"Bis auf die Stühle."
"Ja, bis auf die Stühle habe ich alles gemalt."
"Ja, auch die Fledermaus auf dem Boden."
"Die habe ich jetzt schon zum vierten Mal gemalt."
"Ja, ich habe gemerkt, daß die nachgemalt worden ist."
"Ja, die tanzt sich ja immer ab, ne."
"Ja, ja. Ich habe das schon gemerkt, daß die nachgemalt worden ist."
Rafa blättert das Veranstaltungsprogramm im Stadtmagazin durch.
"Mann, bin ich da oft drin", stellt er beeindruckt fest.
Es ist freilich nur sein Künstlername "Honey" zu lesen. "Honey" ist angegeben als DJ.
"Na, ist ja auch klar", sage ich. "Du gehörst ja eben zu den Leuten vom "Nachtlicht", und die werden ja da immer aufgeführt. Kappa steht ja auch oft drin."
Rafa macht ein Geräusch, das wie ein Miauen klingt.
"Miaust du?" frage ich.
"Ja."
Da hat er mit Bisat wieder ein tiefsinniges Gespräch begonnen.
"Übrigens, hier - das ist eingescannt und ausgedruckt mit einem 300 dpi-Tintenstrahldrucker", erkläre ich zu dem Coverbild von Rafas Kassette, das als Computerausdruck bei mir an der Wand hängt.
"Ach", staunt Rafa, "das habe ich jetzt erst gesehen."
"Ja, und wie ist das jetzt mit dem Sensenmann?" frage ich noch einmal nach. "Da ist der Sensenmann?"
"Nein, Mensch, das ist doch nur der Schatten von dem Sensenmann", erwidert Rafa ungeduldig. "Guck' doch mal hier ganz nach vorne. Du siehst doch, da ist die Sense. Und das ist so der Schatten."
"Ach so, jetzt erkenne ich das überhaupt erst. Ach, so ist das. Da liegt jemand, und da steht am Fußende der Sensenmann."
Rafa zeigt auf die Pizza und fragt:
"So, wollen wir die Pizza noch essen?"
"Ja, sicher; wir haben sie ja gekauft."
"Wieviel ißt du davon?"
"Die Hälfte."
"Gut. Dann - mach' sie mal."
"Das mach' ich."
"Aber - mach' sie nur warm", bittet Rafa. "Die Pizza muß nur warm sein, schön schlabberig, nicht dröge. Bäh, das finde ich irgendwie ... das mag ich nicht, wenn die so dröge ist."
"Na ja gut, dann versuch' ich das mal", kündige ich an. "Ich garantiere aber für nichts. Mal sehen, ob ich es hinkriege."
Ich habe viel zu ordnen und zu räumen und laufe dauernd hin und her. Schließlich wird es Rafa zu bunt. Er klopft auf das Sofa und sagt:
"Mensch, jetzt setz' dich doch einfach neben mich, und gut."
"Ja, das mach' ich."
Ich kuschle mich an ihn.
"Darf ich mich auf dich draufsetzen?" frage ich.
"Nö."
"Warum denn nicht?"
"Weil ich es nicht will."
"Oh, ich würde mich so gerne auf dich draufsetzen."
"Bist mir zu schwer", meint Rafa. "Kann ich nicht atmen."
"Aber ich bin doch gar nicht schwer", erwidere ich. "Ich bin doch ganz leicht. Hast doch selber gesagt, ich wäre so leicht."
"Ah, ich hab' ja noch eine Aufgabe", fällt Rafa ein. "Da kannst du mir bei helfen."
Er zeigt mir einen fotokopierten Zettel mit DJ-Charts und erzählt mir, er sei nun auch gebeten worden, Charts zusammenzustellen.
"Ich muß fünfundzwanzig Titel aufschreiben. Das ist egal, was; nur sich selbst darf man nicht nennen."
Rafa zeigt mir die Hitliste, die andere DJ's zusammengestellt haben.
"Guck', W.E ist auch dabei", sagt er stolz. "Mit dem Titelstück."
Ich finde dieses Stück ganz besonders scheußlich. Das sage ich Rafa aber nicht. Ich habe ihm noch nie gesagt, daß ich auch einige von den Stücken grausig finde, in denen die Sängerin nicht singt.
Ich gebe Rafa ein Blatt von meinem Druckerpapier. Außerdem bekommt er einen Stift und das Stadtmagazin als Unterlage. Rafa beginnt, Titel aufzulisten. Ich entdecke, daß er mit links schreibt:
"Oh, Mann! Du bist auch Linkshänder!"
"Ja."
"Genau wie ich! Oh Mann, das ist toll!"
"Metal Field" von S.P.K. setzt Rafa auch auf die Liste. Ich nenne einige meiner Lieblingstitel. Als ich "Hope like a Candle" von Blackhouse vorschlage, wehrt Rafa ab:
"Nicht so viel Industrial."
Dann schlage ich Dive vor, und Rafa sagt wieder:
"NIcht so viel Industrial."
"Aber Dive gehört doch zum Wichtigsten, was es überhaupt gibt", entgegne ich. "Daran kommt man doch gar nicht mehr vorbei."
Ich schlage das Stück "Bloodmoney" vor. Rafa meint:
"Na, das beste ist doch 'There's no hope'."
"Ich sehe mal nach, was ich so habe", sage ich und gehe ans CD-Regal. "Ach, was gibt es alles ... Mentallo & the Fixer - 'Battered States of Euphoria' ... SA 42 - 'Programme not informatif' ... Leæther Strip ..."
"Leæther Strip mag ich nicht", meint Rafa. "Das ist mir zu simpel."
"Das ist überhaupt nicht simpel."
Rafa schreibt Andreas Dorau auf die Liste; den findet er anscheinend nicht simpel.
"Aach, das mußte ja kommen", stöhne ich.
Wenigstens sucht Rafa nicht "Fred vom Jupiter" aus. Aber er wählt noch einige deutsche Liedchen, etwa das vom Augenblick ("Ich liebe das Mädchen Augenblick").
"Ja, was hör' ich denn noch?" überlegt er dann. "Was hör' ich denn noch?"
"Project Pitchfork - 'Song of the Winds'."
"Halt. Das beste ist doch - oh, wie heißt das ... von der ersten ..."
"Von der 'Dhyani'."
"Hast du die?"
"Auf Kassette habe ich sie irgendwo."
"Ja, dann ... such' mal 'raus", verlangt Rafa. "Gib mal her."
"Ja, wenn ich die mal finde! Ich habe nämlich ungefähr siebenhundert, achthundert Kassetten."
Ich gehe an die Schubladenschränke und suche, finde die "Dhyani" aber nicht. Ich gebe mir beim Suchen auch nicht die größte Mühe. Stattdessen verteidige ich meine Empfehlung:
"Das beste ist aber 'Song of the Winds'."
"Das ist aber ... jetzt ... nee, das von der 'Dhyani'."
"Auf der Dhyani finde ich das erste und das letzte am besten."
"Nein, das ist eins dazwischen. Wie heißt dieses Lied? Ich weiß das ... wie heißt das noch? Wie heißt das Lied noch?"
"Das heißt 'Song of the Winds'", sage ich, als wüßte ich nicht, daß Rafa ein ganz anderes Stück meint.
"Das hieß doch ... das hieß doch ..."
, gräbt er in seinem Gedächtnis nach.
"'Song of the Winds'", sage ich unbeirrt.
Dann empfehle ich "Louise" von Clan of Xymox. Rafa bevorzugt auch von Clan of Xymox ein anderes Stück als ich, obwohl er im "Nachtlicht" "Louise" spielt.
"Alien Sex Fiend - 'Dead and buried'", kommt mir in den Sinn.
"Ja, das beste ist doch 'Stuff the Turkey'", meint Rafa.
"'Dead and buried'."
"'Stuff the Turkey'."
"Ja, ja, so ist das immer: wenn ich einen Titel vorschlage, nimmst du immer genau einen anderen als den, den ich vorschlage", beschreibe ich Rafas Verhalten. "Die Gruppe nimmst du dann, aber du nimmst dann einen anderen Titel."
Rafa nennt einen weiteren Titel von Alien Sex Fiend und meint, der sei noch besser.
Als ich "Love like Blood" von Killing Joke vorschlage, macht Rafa eine Ausnahme und nimmt diesen Titel ohne Reden und Handeln in die Liste auf. Und als ich die Kassette mit der "Dhyani" einfach nicht finden kann, läßt sich Rafa auch in diesem Fall umstimmen:
"Na ja, gut - nehmen wir 'Song of the Winds'! Aber dafür auf Platz 25!"
Ich setze mich auf die rechte Sofalehne, lege leicht den Arm um Rafas Schultern und schaue ihm beim Schreiben zu. Rafas Schrift ist der meinen nicht allzu unähnlich. Sie hat ebenfalls etwas Kühles, Nüchternes und Künstlerisches an sich, und das Schriftbild ist sehr regelmäßig. Allerdings drückt Rafa beim Schreiben mehr auf als ich.
"Na, was nehmen wir noch? Wieviele haben wir jetzt?" fragt Rafa schließlich und zählt die Titel durch. "Was nehmen wir noch?"
"Letztes Jahr standest du unheimlich auf ein Stück von Grauzone."
"Ja! Ja, gut daß du mir das sagst! Natürlich, klar! Das ist doch - muß doch ... Und zwar gleich zweimal! Einmal 'Ich lieb sie' und einmal 'Träume mit mir'."
Er schreibt die Titel dazu.
Immer wieder betrachtet Rafa stolz seine Hitliste und kann sich nicht genug daran freuen:
"Das ist echt eine gute Zusammenstellung! Das ist echt gut!"
Dann geht es ans Durchnumerieren. Rafa sorgt insgesamt dafür, daß das, was ich angeregt habe, auf die hinteren Plätze kommt. Er scheint sich sehr vor dem Einfluß anderer Menschen auf seine Entscheidungen und seinen Geschmack zu fürchten.
Inzwischen ist die Pizza fertiggeworden.
"Nun, wo willst du essen?" frage ich Rafa. "Hier oder in der Eßecke?"
"Ach, jetzt sitz' ich hier schon mal. Dann - hier."
Rafa will unbedingt vor dem Essen die Nummern seiner Chartliste fertig verteilen. Ich gebe zu bedenken, daß die Pizza nur lauwarm ist und inzwischen ganz abkühlen könnte. Das stört Rafa aber nicht.
Alles, was in irgendeiner Form mit Neuer Deutscher Welle zu tun hat, setzt er weit nach vorn. Platz eins belegt ein Stück, das ich gar nicht kenne, "Dreiklangdimensionen" von Rheingold. Ich denke mir, daß Rafas Charts schön untergehen werden. Ein Titel, den man auf die Chartliste setzt, kann nur in die allgemeinen DJ-Charts kommen, wenn die Wahrscheinlichkeit besteht, daß viele andere den Titel ebenfals auswählen. Wenn man also seine Wunschtitel in der allgemeinen Chartliste wiederfinden will, hat man keine wirklich freie Wahl, sondern nur die Wahl zwischen mehreren sehr bekannten und beliebten Stücken.
Rafa hat feine Tischsitten. Allerdings habe ich bei ihm das Gefühl, daß er auf sein Essen wütend ist. Das kann daran liegen, daß er vor dem Essen aus irgendeinem Grund Angst hat. Er nimmt es "in Angriff" und "bezwingt" es wie einen Feind im Felde.
Als wir fertig sind, bringe ich das Geschirr hinaus und setze mich wieder neben ihn.
"Warum hast du eigentlich damals, als du mir deine Adresse aufgeschrieben hast - warum hast du damals eigentlich deinen Namen falsch geschrieben?" möchte ich wissen.
"Habe ich das?"
"Ja, du hast 'Rafa Devin' geschrieben. 'D-e-v-i-n'."
"Oh! Muß ich aber sehr besoffen gewesen sein!"
"Da warst du auch besoffen."
"Zeig' mir das mal", bittet Rafa.
"Gut. Das zeige ich dir gern."
Ich öffne die oberste Schublade des grauen Stahlschrankes und suche in einem Kistchen den Zettel. "Hast du Kinderfotos von dir?" fragt Rafa.
"Ja, die zeige ich dir gleich", antworte ich. "Die kriegst du gleich zu sehen. Aber zuerst suche ich den Zettel. Guck' - da."
Ich gebe Rafa das Stück Papier, der es gleich aufmerksam von beiden Seiten betrachtet.
"Das war's; da haben wir diesen einen Zettel entzweigerissen, und auf den einen hast du deine Adresse geschrieben und auf den anderen ich meine", erinnere ich ihn, "und den hast du verloren, und den anderen habe ich noch."
"Gib mir mal einen Stift", bittet Rafa.
Der Zettel ist mit einem Kugelschreiber beschrieben. Ich gebe Rafa einen weichen Bleistift, weil ich auseinanderhalten können will, was er damals geschrieben hat und was er jetzt schreibt. Rafa verbessert "Devin" in "Dawyne". "Und warum hast du deinen Nachnamen falsch geschrieben?" frage ich.
"Ach, das - damit du ... em, damit sich das bei dir besser einprägt", meint Rafa. "Weil, so wird es nämlich ausgesprochen."
"Das weiß ich. Deinen Nachnamen kann man falsch aussprechen, wenn man nicht weiß, wie man das normalerweise aussprechen muß."
Ich bringe den Zettel zurück und suche in den mittleren Schubladen des Stahlschranks nach den Kinderfotos. Ich reiche Rafa einen Stapel Tonkartons im DIN A3-Format, auf die meine Mutter vor über zwanzig Jahren Fotos geklebt hat.
"Hast du kein Fotoalbum?" erkundigt sich Rafa.
"Doch, das habe ich schon. Aber es ist eben auch hier was."
Rafa legt sich die Tonkartons auf die Knie und betrachtet die Fotos. Es sind Bilder aus der Zeit zwischen 1966 und 1970; damals war Rafa noch nicht auf der Welt. Er fragt mich, wer auf den Bildern wer ist. Mich erkennt er rasch. Zu einem Bild von 1970 sage ich:
"Da waren wir im Urlaub, in Belgien, in Coxyde."
Man sieht meine Mutter am Strand liegen. Constri krabbelt auf ihr herum.
"Und wie alt war deine Mutter da?" fragt Rafa.
"Na ja, so ein bißchen älter als ich jetzt."
"Und? Wie alt?"
"Na ja, sie ist '39 geboren", rechne ich nach. "Das war '70. Dann war die da ... einunddreißig."
Es folgen Bilder von einer Freizeit des Kirchenchors.
"Das war auf Burg Rieneck", erzähle ich.
Dann zeige ich auf ein anders Chorbild.
"Das da ist meine Mutter. Die dirigiert."
"Totentanz" ist daruntergeschrieben.
"Warum steht da 'Totentanz'?" möchte Rafa wissen.
"Na ja, der Totentanz gehörte halt auch zu dem Programm vom Kirchenchor", erkläre ich. "Danse macabre. Totentanz."
Schließlich bittet Rafa darum, neuere Fotos sehen zu dürfen:
"So, das ist jetzt ... zu jung. Hast du noch welche, wo du älter bist ... sagen wir mal, von ... acht bis dreizehn?"
"Ja, da habe ich auch ein Album. Dann hole ich dir das mal."
Ich gebe Rafa das Album.
"Da geht's erstmal gleich mit den Klassenfotos los", sage ich, als Rafa das Album aufschlägt. "Auf dem war ich zwölf. Da sahen aber alle häßlich aus; von daher gesehen ist das nichts besonderes gewesen, häßlich auszusehen."
"Und wer ist deine Freundin?" möchte Rafa wissen.
"Ich hatte damals keine Freunde, die ganzen Jahre nicht."
"Freunde ist wichtig!" sagt Rafa ernst.
"Glaubst du, ich weiß das nicht?" entgegne ich rasch. "Ich weiß das sehr zu schätzen, Freunde zu haben. Ich habe immer nach Freunden gesucht. Heute habe ich ja auch jede Menge. Aber damals hatte ich halt überhaupt keine."
Ich zeige auf das Bild von meiner Grundschulklasse. Rafa soll raten, wer ich bin.
"Zwei Möglichkeiten", sagt Rafa nach kurzem Überlegen. "Die und die."
Er hat mich und ein anderes Mädchen ausgewählt.
"Das war ich", zeige ich ihm die Richtige.
"Hattest du da auch keine Freundin?" möchte er wissen.
"Nein, da hatte ich keine."
Auf der nächsten Seite des Albums sieht man mich im bunten Poncho. Da bin ich elf Jahre alt und habe ein Kätzchen auf dem Arm.
"Mein Ein und Alles Minzi" steht in meiner Kinderschrift unter dem Bild.
"Wann ist Minzi gestorben?" fragt Rafa, wohl ahnend, daß mit Minzi eine Tragödie verbunden ist.
"Minzi ist weggelaufen", erzähle ich, "ein Dreivierteljahr, nachdem ich ihn bekommen hatte, und nie wiedergekommen."
Es gibt auch ein Foto aus derselben Zeit, neben dem steht "Ich als Braut".
"Das war auf der Hochzeit von meinem Onkel. Und da habe ich mir den Brauthut aufgesetzt."
"Wo bist du als Braut?" fragt Rafa, der wohl erwartet, mich in einem weißen Kleid zu sehen.
"Das ist das", antworte ich. "Da habe ich mir nur diesen Brauthut aufgesetzt."
"So, und wo bist du noch älter?"
"Hier, dieses Bild finde ich besonders gut, das hat meine Schwester damals von mir gemacht."
Ich zeige Rafa ein Bild, auf dem ich dreizehn bin. In einem weichen Baumwollhemd und einer zartgrünen Hose stehe ich unter einer Blutpflaume und halte mir einen der rosa blühenden Zweige unters Kinn. Das Bild gehört zu den wenigen aus der damaligen Zeit, die ich hübsch finde.
Rafa dreht das nächste Spinnwebblatt um.
"Und da sehe ich wieder völlig ätzend aus, mit Brille und so weiter", sage ich zu einem Bild auf der kommenden Seite. "Ich habe diese Brille gehaßt."
Rafa kann es fast nicht glauben:
"Das bist du?"
"Ja, ja, so ätzend sah ich mal aus."
Es folgt eine Serie von Schwarzweißbildern, die mein Klassenkamerad Zino gemacht hat.
"Das war so ein Klassenausflug in Celle. Und das sind zwei, die waren auch nochmal völlig ätzend. Und das war ich ..."
Nun folgen Bilder aus der Zeit, als ich fünfzehn war.
"Da habe ich mich schon grundsätzlich nicht mehr mit Brille fotografieren lassen, weil ich diese Brille so widerlich fand", sage ich zu einem Bild, auf dem ich einen Zweig mit Kirschblüten in der Hand halte. "Und das war im Barockgarten; das sind mehrere Steinfiguren."
Mir geht durch den Sinn, daß Rafa und Kappa im Barockgarten erst vor Kurzem vor denselben Steinfiguren eine Fotoserie gemacht haben.
"Und das da ist eins meiner Totenbetten", sage ich zu einem Bild von meiner Fensterbank, auf dem man mein selbstgebautes Barbie-Totenbett sieht. "Ich hatte immer mein Totenbett. Und die mußte auch immer wieder auferstehen."
Es kommen noch mehr Bilder aus meinem Zimmer.
"Das ist mein Schreibtisch, als ich fünfzehn war."
"Mit Barbiepuppe", bemerkt Rafa.
"Ja. Mit Barbiepuppe mit selbstgenähtem Tanzkleidchen."
"Geht's nicht weiter?" fragt Rafa schließlich. "Das ist alles noch zu jung. Ich brauche ... sagen wir mal ... dreizehn bis siebzehn."
"Dreizehn bis siebzehn. Oh, da gibt es kaum Bilder ..."
"Nein?" fragt Rafa lauernd. "Nein?"
Er scheint in seinem Kopf wieder ein Puzzleteilchen ans andere zu setzen.
"Ja, die meisten sind nicht in Alben", erkläre ich. "Die sind irgendwo vergraben."
"Ach, so."
"Das ist schwierig, da war zu finden. Aber ich glaube, da hab' ich was. Ich glaub', da hab' ich noch was."
Es ist ein Bild, auf dem ich sechzehn bin. Ich sitze neben Constri in der gleißenden Sommersonne und habe mir zum Schutz ein Tuch um den Kopf gelegt. Auf einem anderen Bild sieht man Constri und mich kurz vor einer Reise nach England.
"Guck', auf dem Bild bin ich siebzehn."
Rafa faßt es nicht:
"Da bist du siebzehn?"
"Ja. Da habe ich mir gerade zum ersten Mal die Haare abschneiden lassen. Ich wirke fast immer jünger. Mit sechzehn wurde ich auf vierzehn geschätzt."
Ich hole einen großen Ordner mit Fotos. Sie sind auf Passepartouts aus schwarzem Tonkarton geklebt.
"Das ist neu", erkläre ich. "Da sind neue Bilder drin. Aber vorne habe ich hübsche Bilder aus früheren Zeiten eingeklebt."
Kurz bevor wir in die Independent-Szene kamen, haben Constri und ich schon "geprobt". Wir haben uns schwarze Kleider angezogen und uns fotografieren lassen. Ich habe mir einen pinkfarbenen Tüllstreifen um den Hals gebunden. Wir waren beide geschminkt und trugen rosa Glitzergel. Die Fotos wirken künstlerisch, auch wegen der Posen, der Bildausschnitte und der Lichtverhältnisse.
"Hier, auf dem Bild bin ich gerade achtzehn geworden", fahre ich fort und zeige auf ein anderes Foto auf der Doppelseite.
Man sieht mich an meinem Schreibtisch sitzen. Ich habe eine weite tiefrote Seidenbluse an, verspielt, mit Rüschen. Ich finde mein Gesicht auf dem Foto sehr kindlich.
Es folgen noch einige Bilder aus der Mitte der Achtziger, auf denen Constri Herrenkleidung trägt. Das mochten Constri und ich damals beide. Mit den Sachen wollten wir unsere Traummänner "anziehen".
Danach kommen nur noch Bilder aus den Neunzigern - aus "heutiger" Zeit.
"Ja, ja, so kenne ich dich ja schon", sagt Rafa rasch. "So kenne ich dich ja schon."
Vielleicht will Rafa Jugendfotos von mir sehen, um zu erfahren, was für ein Gesicht ich ohne Schminke habe. Im Gegensatz zu Rafa zeige ich mich in der Öffentlichkeit nie ungeschminkt.
Auf einem Bild stehe ich am Fenster. Ich sehe sehr blaß, kühl und ebenmäßig aus.
"Gefällt dir dieses Bild von dir?" fragt Rafa prüfend.
"Ja, doch, ganz gut", antworte ich.
Rafa sagt dazu nichts. Er wird sich aber seinen Teil denken. Ich glaube, er hat Angst vor zu schönen und zu kühlen Mädchen. Ich glaube, er hat Angst davor, daß ihn diese Mädchen erst verführen und dann enttäuschen.
Es gibt in dem Album viele hübsche Aufnahmen von Constri und auch einige von Sadia.
"Wer ist das?" fragt Rafa.
"Das ist die Sadia", erzähle ich. "Mit der fahren wir jetzt am Sonntag in den Urlaub für eine Woche, auf eine Nordseeinsel. Constri und ich und Sadia fahren."
Es folgen Bilder von einem Spaziergang. Ich wohnte damals mit Constri für einige Wochen in Sadias Wohnung im GÖ. Wir arbeiteten fast rund um die Uhr in der ambulanten Krankenpflege.
"Da sind jetzt lauter so schöne Naturaufnahmen", kündige ich an. "Die habe ich in GÖ. gemacht im Herbst '92. Das war da so schön draußen."
Besonders aufmerksam scheint Rafa das Foto von den beiden Pilzen zu betrachten, die sich aneinanderschmiegen. Unter dieses Foto habe ich geschrieben:
"Pilze zerfallen nach kurzer Zeit."
Eine Reihe von Bildern beschreibt die Vergänglichkeit anhand von Holunderbeeren, die erst am Strauch hängen und dann zertreten auf einem Betonweg liegen.
"Der Weg der Holunderbeeren" ist der Titel.
"Fotografieren kannst du schon mal", meint Rafa, als er die Nahaufnahmen von den Beeren sieht. "Das ist gut."
Dieses Wissen könnte es Rafa leichter machen, sich von mir fotografieren zu lassen.
"So, und jetzt Beton im Abendlicht", leite ich über zu meinen letzten Fotos aus GÖ. "Das ist so das Schönste für mich."
Ich hatte einen Straßenablauf fotografiert, der mit Mosaikpflastersteinen aus Beton umrahmt ist. Dann hatte ich noch ein Bild gemacht von einem Betontreppchen, das zu dem Einwurf von Müllcontainern hinaufführt. Und es kommt ein Bild von einem Keller mit kahlen weißen Wänden und grauen Türen.
"Was soll das?" fragt Rafa entgeistert. "Warum hast du das fotografiert?"
"Das fand ich einfach so schön, dieses Grau und dieses Weiß. Das finde ich einfach nur schön. Das mußte ich unbedingt festhalten. Doch hier - das ist die Abenddämmerung."
Die dünnen weißen Stores in Sadias Wohnung leuchten fremdartig im rosigen Licht.
Nun kommen die Bilder von unserer Silvesterparty 1992 / 1993. Zwei Tage nach diesem Silvester lernte ich Rafa kennen.
"Das war auf einer von unseren Parties", erzähle ich.
"Von euren Parties?" fragt Rafa verwundert.
"Ja, wir geben halt öfter mal Parties."
"Was für Parties?"
"Wir feiern jeden Geburtstag, und dann gibt es eben noch die ganz normalen Treffen, wo wir uns sehen und was trinken und dann halt weggehen."
Für Rafa könnten Parties ein Reizthema sein. Schließlich hat er seinen letzten Geburtstag nicht mehr gefeiert.
Unter anderem ist auf den Bildern zu sehen, wie Constri und Sadia die Brille von Sadias Freund Arved mit Luftschlangen umwickeln. Arved setzte sich die verzierte Brille sogar wieder auf.
Ich glaube, Rafas Parties waren nicht so albern und verspielt wie die unsrigen.
Es folgen Bilder von einer Winterlandschaft. Ich habe sie Anfang Januar 1993 aufgenommen, als ich mit Steini auf zugefrorenen Wiesen Schlittschuh gelaufen bin. Man sieht rauhreifbedecktes Land in der blassen Nachmittagssonne. Ich klebte die Bilder im Frühjahr '93 ins Album. Sie sollten mich daran erinnern, daß es in meinem Leben auch schöne Augenblicke gab, als ich Rafa noch nicht kannte. Allerdings will ich nicht vergessen, daß mich die Schönheit eines Augenblicks damals nie im Innersten ergreifen konnte. Ich mußte erst den Menschen finden, der mich im Innersten ergreift, um dies zu erfahren.
Als Nächstes kommen die Bilder, die Constri Ende Januar 1993 auf einem Bahnsteig gemacht hat. Sie fotografierte mich in meiner grauen Strickjacke. Zwei der Fotos sind Portraits. Der Hintergrund ist eine Waschbetonwand. Ich trage eine meiner ersten Haarschleifen nach vielen Jahren ohne Schleife. Mein Gesicht sieht porzellanähnlich blaß und kühl aus.
"Gefallen dir diese Bilder von dir?" fragt Rafa, wie er schon einmal gefragt hat.
"Gefallen sie dir denn?" frage ich zurück.
Rafa antwortet voller Skepsis:
"Ich weiß es nicht."
"So, du weißt es nicht. Also, ich finde sie ganz gut."
Ich drehe die Seite um, und man sieht noch mehr Bilder vom Bahnsteig. Ich habe mir zwei auffällige Gürtel umgebunden, einen im Stil des ersten Weltkriegs und einen sehr alten, mit Münzen, Ketten, Rost und Patina.
"Das war in der Zeit, kurz bevor ich nach SHG. gefahren bin. Da mußte mich Constri fotografieren. Sinnigerweise haben wir das auch noch auf dem Bahnhof gemacht."
Rafa staunt:
"Mensch, dann muß das in SHG. ja eine ganz schöne Bedeutung für dich haben."
"Klar, wenn man auf einmal erfährt, wer der Mann seines Lebens ist, dann ist das natürlich ein einschneidendes Erlebnis."
Ich lege meine Arme vorsichtig um Rafa und schmiege mich an ihn.
"Die Strickjacke, die hatte ich da gerade neu", erzähle ich weiter. "Die hatte ich ja dann ... in SHG. hatte ich die ja auch an."
Rafa blättert um. Es folgen ganz in Rot getauchte Bilder. Constri und Carl sitzen bei Kerzenschimmer am Eßtisch, der schön geschmückt ist.
"Das, das war mein 27. Geburtstag", erzähle ich. "Das war unsere Mitternachtsfeier. Da feiern wir immer 'rein."
Ohne es mir bewußt zu machen, zeige ich Rafa, wieviel bei uns die Geburtstage gelten. Was hat Rafa empfunden, als er seinen nicht feierte? Was mag er empfinden, als er sieht, wie wir sie feiern?
"Willst du noch mehr Fotos sehen?" frage ich.
"Ja!"
"Ja, ich habe auch noch mehr Alben. Am besten zeige ich dir mal meinen Fotokalender. Da sammle ich immer die besten Fotos drin."
Ich gebe Rafa den Kalender. Sogleich fällt ihm auf, daß ich das Blatt für August noch nicht umgeklappt habe. Tadelnd sagt er:
"Oh, da ist ja der August vorne."
"Ich weiß, wir haben schon September, aber ich dreh' das ja auch noch um."
Nun sieht Rafa endlich mein Bild vom "Fall", das ich an dem Abend gemacht habe, als ich ihn dort traf. Rafa sieht auch das Bild von den schneebedeckten rosa Blüten, das ich etwas eher gemacht habe, Ende März 1993.
Ein Schwarzweißbild in dem Kalender gefällt Rafa gleich beim ersten Hinsehen ganz besonders.
"Da habe ich eine Baustelle fotografiert", erzähle ich. "Alles Beton, Beton. Beton bei Nacht."
Durch die lange Blendenöffnungszeit verwischen die Umrisse der großen Betonplatten. Das läßt sie besonders wuchtig erscheinen. Auch das harte Licht der Strahler, das von der Seite kommt, tut seinen Teil.
"Oh, das ist schick", sagt Rafa beeindruckt. "Da möchte ich einen Abzug haben."
Ein Foto befremdet Rafa:
"Und was ist das?"
"Ja, das ist die Skulptur für Rikka. Da hatte ich die schon verpackt."
Als Rafa den Kalender durchgesehen hat, sage ich:
"In der Eßecke, da habe ich auch noch mehr gute. Möchtest du mal mit in die Eßecke kommen und sie dir ansehen?"
Rafa folgt mir. Als Erstes schaut er sich die Fensterwand an.
"Das bist auch du", stellt er fest.
Ich zeige ihm ein Bild, das vor über zwei Jahren im Stadtwald gemacht wurde. Ich sitze in einer kurzen weißen Bluse auf einem Mäuerchen an einem Tümpel, der mit hohen Pflanzen umwachsen ist. Es ist Sommer, und alles um mich herum ist grün.
"Das bin ich mit Carl - an seinem letzten Geburtstag", erkläre ich das Bild darüber. "Das war vor ungefähr einem Jahr."
Carl hat sich damals in Eisfarben gekleidet und geschminkt. Rafa hat ihn in der "Halle" deswegen geneckt. Es war die Nacht, in der Rafa mich nach sechs Wochen zum ersten Mal wiedersah und sich vor mir versteckt hielt.
"Und das ist auf Helgoland gemacht", sage ich zu dem obersten Bild.
Ich liege auf den roten Felsen, ganz in Schwarz gekleidet. Außer den Felsen und mir sieht man nichts. Ich gucke verträumt ins letzte Abendlicht. Rafa betont mehrmals, wie schön er dieses Bild findet. Die hübschen Aufnahmen, die ich von Constri gemacht habe, streift Rafa nur mit flüchtigen Blicken.
Ich zeige auf die linke Seitenwand; dort hängt ein großer Bildhalter mit Aufnahmen von der Skulptur "Der orientalische Verurteilte". Rafa betrachtet sie aufmerksam, äußert sich aber nicht dazu. Ich glaube, er erkennt sich selbst in dieser Darstellung - mag ihm das bewußt sein oder nicht. Der "Verurteilte" ähnelt Rafa sehr in seinen Körperformen und auch in seinen Zügen. Außerdem stellt Rafa sich auf seinen eigenen Bildern ebenfalls als haarloses, schlicht gekleidetes Männchen dar.
"Das ist die Skulptur, die ich für Rikka gemacht habe. Die wollte unbedingt eine Skulptur haben, und da habe ich ihr halt eine gemacht. - Schau', da vorne sind noch mehr Bilder. Das war ich 1987 ..."
"Gefällt dir das Bild von dir?" möchte Rafa wieder einmal wissen.
"Ja, das gefällt mir ganz gut. - Das bin ich '88", sage ich zum nächsten Bild. "Das hat ein Fotograf gemacht. Er hat es genannt 'Ein Herz in Stein'. Das ist in einem Raum aus Beton aufgenommen worden, in einem Museum in DO. Der Raum war nur mit Möbeln aus Beton eingerichtet. Das hat mich damals schon so fasziniert, da wollte ich unbedingt in dem Raum fotografiert werden und habe ihm gesagt, er soll mich da unbedingt drin fotografieren."
Die Möbel sind gegossen und nur eingeschränkt als solche verwendbar. Ein seltsamer Wandschmuck ist das Betonbild.
Rafa gefällt die Fotografie sehr. Vielleicht mag er es, wie ich verträumt in das Licht einer nackten Glühbirne gucke. Marek hatte die Glühbirne nicht mit aufs Bild genommen. Ihr Schein läßt den Raum besonders kahl und gleichzeitig fremdartig wirken.
Insgesamt bevorzugt Rafa die Aufnahmen, die hauptsächlich Stein zeigen, Betonstein oder Fels.
"Da ist aber jetzt keins so weiter bei von den Bildern, das dir jetzt von mir besonders gefallen hat", vermute ich, als wir wieder auf dem Sofa sitzen.
"Wieso?" entgegnet Rafa. "Mir haben doch zwei besonders gefallen."
"Welche denn nochmal?"
"Das eine da ... Helgoland, und das andere da, dieses ... Steine-Herz."
Ich habe Rafa so dicht neben mir, und er sieht so niedlich aus, daß ich ihn noch einmal fragen muß:
"Darf ich mich auf dich draufsetzen?"
"Nein."
"Warum darf ich mich nicht auf dich draufsetzen?"
"Wir sind nicht zusammen."
"Das ist einfach so - Zusammensein, das fängt im Grunde da an, wo man mit jemandem zusammensein will, wo man wirklich den Entschluß faßt, mit jemandem zusammenzusein, wo man sich für jemanden entscheidet."
"Ja, dazu gehören immer zwei."
"Du hast dich eben nicht für mich entschieden."
"Ich entscheide mich für keine Frau", behauptet Rafa.
Er gestattet mir nicht, auf ihm zu sitzen, doch wenigstens kann ich seine Beine streicheln. Sie fassen sich so gut an, wie ich es mir besser nicht denken könnte. Rafas schmal geschnittene schwarze Hose kann ich endlich aus der Nähe bewundern. Sie paßt ihm wie angegossen. Der feste, frotteeähnliche Stoff wirkt sehr edel.
"Die Hose ist so niedlich", sage ich.
"Ich habe drei davon", erzählt Rafa.
"Oh, sogar drei Stück davon! Weil sie so hübsch sind, hm?"
"Nein, das ist so gewesen: Luisas Mutter ist doch Werbedesignerin. Und dann hat sie mir so eine Hose gegeben und dann noch eine zweite, und Luisa hat selbst noch eine gehabt und die bei mir gelassen. Und so waren es nun drei."
Ich lehne mich an Rafa und sage:
"Ich habe es lieber, wenn du dich richtig rasierst. Dann kann ich besser dein Gesicht streicheln."
"Ja, das ist immer so anstrengend. Und das dauert immer so lange."
"Außerdem will ich dich ja fotografieren. Ich darf dich wohl immer noch nicht fotografieren."
"Nein."
"Ich will aber auf dir draufsitzen."
"Ja, ich will's aber nicht."
"Warum soll's immer nur danach gehen, was du willst?" frage ich.
"Ja, warum soll's nur nach dem gehen, was du willst?" fragt er zurück. "Kann man sich denn nicht einfach mal normal miteinander unterhalten? Einfach nur ... so dasitzen, Sekt trinken und so weiter. Muß das immer gleich ...?"
Es muß immer gleich.
"Was 's' los?" fragt Rafa.
"Ich gucke dich so gerne an", erwidere ich. "Es macht mir Freude, dich anzugucken."
Ich habe das Gefühl, ihn gar nicht lange genug angucken zu können.
"So", seufzt Rafa. "Duschen - und - Bett."
Er steht auf, setzt sich aber noch einmal hin und sagt:
"Handtuch brauch' ich noch."
"T-Shirt hast du aber schon."
"Ja, ich weiß, daß ich schon ein T-Shirt habe", entgegnet Rafa, und es klingt streitsüchtig. "Ich hab' ja auch nur gesagt, Handtuch brauch' ich noch. Ich hab' nichts von einem T-Shirt gesagt."
Ich gebe ihm schweigend das Handtuch, ein graues von Esprit.
Rafa scheint geübt zu sein im unergiebigen Herumstreiten. Ich ahne, daß man sich mit ihm beliebig lange und beliebig oft zanken kann - vorausgesetzt, man macht mit. Die Sängerin hat sich auf diese häßlichen, sinnlosen Streitereien eingelassen. Ich lasse mich nicht darauf ein und darf erleben, wie rasch Rafas Streitlust wieder verfliegt. Er gehört nicht zu denen, die sich zanken müssen. Er gehört nur zu denen, die sich zanken können. Wo hat er das Herumzanken gelernt? In seiner Familie ...?
Rafa möchte doch noch nicht zu Bett gehen.
"Oder wollen wir noch ein Gesellschaftsspiel spielen?" schlägt er vor. "Ich hätte jetzt Lust auf ein Gesellschaftsspiel."
"Hm, Gesellschaftsspiel", sage ich zustimmend. " Und was für eins?"
"Kennst du 'Superhirn'?"
"'Superhirn' ..."
"'Mastermind'."
"Ja ... wenn du das meinst, dieses eine mit diesen Knöpfchen ..."
"Ja!"
"Ja, das kenne ich."
"Hast du das?"
"Oh ... ich glaube nicht", überlege ich. "Das könnte sein, daß das bei meiner Mutter noch irgendwo verbuddelt ist. Aber ich glaube, ich habe das nicht hier. Aber 'Memory' habe ich. Und 'Elfer raus!'."
"Hast du 'Vier gewinnt'?"
"Ich habe 'Elfer raus!'."
"Und was ist das?"
"Ach, das ist so ein Legespiel, da braucht man ziemlich viel Platz; das ist jetzt hier wohl für nicht so geeignet", winke ich ab. "Und ich habe 'Memory'."
"Ach, das ist nicht genug mit Denken."
"Ja, das ist mehr mit Merken als mit Denken."
"Und du hast kein 'Mastermind'?" fragt Rafa noch einmal.
"Ich glaube nicht."
"Ja, wir können's auch mit Papier und Stiften spielen."
"Ach, das geht auch?" wundere ich mich.
"Ja. Brauchen wir nur Buntstifte."
"Ja, Buntstifte habe ich", sage ich erleichtert. "Buntstifte ist kein Problem. Buntstifte, das ist überhaupt kein Problem."
"Und Kugelschreiber."
"Ja, klar, Kugelschreiber, haben wir alles."
Ich gebe Rafa einen Kugelschreiber und die große Blechschachtel mit den Aquarellstiften.
"Jetzt muß ich noch sechs Farben 'raussuchen", sagt er. "Da nehmen wir am besten die Originalfarben."
Er nimmt Stifte in den Farben Rot, Gelb, Grün, Blau, Orange und Braun aus der Schachtel.
"Und jetzt noch einen Schwarzen", sagt er dann.
Den findet er in der Schachtel auch.
"Und jetzt noch Papier."
"Große Blätter, nicht?"
"Ja, zwei große Blätter."
Ich gebe ihm zwei Blätter Inkjet-Papier. Dabei fällt mir der schwarze Stift ins Auge, den Rafa ausgesucht hat.
"Oh, ich sehe gerade, du hast den Reißkohlestift genommen."
"Sollte ich das nicht?" fragt er unsicher.
"Du, nimm den ruhig", sage ich. "Das macht nichts. So komme ich jetzt auch wieder auf die Idee, mit dem zu arbeiten ... weil man damit so schöne Schattierungen hinbekommt."
Rafa malt und wischt ein bißchen und urteilt:
"Ja."
Dann erklärt er das Spiel:
"So, jetzt muß ich vier Felder ausmalen, und du darfst nicht zugucken."
"Oh, Mensch, dann kann ich bei dem Spiel ja gar nicht neben dir sitzen!" klage ich.
"Genau!" sagt Rafa zufrieden.
Er behält seinen Platz auf dem Sofa, und ich setze mich vor ihm auf den Boden. Der Hocker steht zwischen uns; es ist der Spieltisch. Dann und wann taste ich verstohlen nach Rafas Beinen oder seiner Hand und streiche mit einem Finger darüber. Manch einer mag es lächerlich finden, daß ich soviel Rücksicht nehme auf Rafas Berührungsängste und soviel Geduld mit ihm habe. Doch ich verlange von Rafa keinen Deut weniger als das, was ich ihm gebe. Und ich denke, was man fordert, soll man auch zu geben bereit sein.
Rafa erläutert, wie man "Mastermind" mit Buntstiften spielt. Die Farbkombination, die erraten werden muß, wird aufgemalt und mit der Hand zugedeckt.
Rafa ist mitten im Reden, da entdecke ich, daß er seine Füße auf die Leiste gestellt hat, die den Hocker umläuft.
"Nicht die Füße auf den Stuhl setzen", bitte ich. "Du weißt, das ist so ein Lack, der geht immer gleich ab."
Rafa nimmt die Füße sogleich von der Leiste. Er malt eine Kombination auf und läßt mich raten.
"Ich teste nämlich gerade deine Intelligenz", sagt er.
Ich male sogleich die unwahrscheinlichsten Farben auf den Zettel, orange und braun.
"Nicht schlecht", meint Rafa.
Allerdings finde ich die Kombination erst beim sechsten Mal heraus.
"Das habe ich mit Dolf eine lange Zeit gespielt", erzählt Rafa. "Wir haben irgendwann gemerkt, daß man immer spätestens beim vierten Mal draufkommt, wenn man keine Fehler macht."
Er kennzeichnet seine Kombination mit "Honey I".
"Honey der Erste", sage ich lachend.
Rafa ist sehr neugierig darauf, was für eine Farbkombination ich ihn raten lasse.
"Kein Rot?" staunt er schließlich. "Du als Frau?"
Ich habe wieder eine "unwahrscheinliche" Kombination gewählt; sie besteht nur aus Orange und Gelb.
"Ach, jetzt habe ich schon wieder meine Füße auf den Stuhl gesetzt", tadelt sich Rafa.
"Es ist gut", beruhige ich ihn. "Vergiß', es ist gut."
Rafa hat wie ich den Ehrgeiz, zu anderen höflich zu sein, und ebenso wie ich macht er sich schnell Vorwürfe, wenn er seiner Meinung nach nicht höflich genug ist.
Als Rafa etwas später entdeckt, daß er wieder seine Füße auf die Holzleiste gesetzt hat, ermahnt er sich:
"Rafa!"
"Ach, ist doch nicht so schlimm", sage ich und streichle sein Bein.
Ich bekomme von ihm den Hinweis, daß man am Anfang des Spiels alle Farben durchprobieren sollte, um danach dem Ausschlußprinzip folgen zu können. Wenn einem dabei keine Fehler unterlaufen, ist man in aller Regel nach dem vierten Versuch am Ziel. Rafa macht Fehler und errät meine Kombination erst beim fünften Mal; auch dies trifft seinen Ehrgeiz empfindlich. Ich halte mich beim nächsten Durchgang an die Regel, zunächst alle Farben zu testen. So habe ich Rafas Farbkombination nach vier Versuchen heraus. Ganz ohne Raten geht es freilich nicht. Ich schwanke am Schluß beim letzten Feld zwischen zwei Farben. Nach langem Zögern entscheide ich mich für eine, und Rafa sagt:
"Ja. Ist richtig."
Wir haben nun ungefähr einen Patt. Dabei lassen wir es bewenden.
"Wo ist eigentlich dein Tic Tac Toe geblieben?" erkundigt sich Rafa.
"Das steht doch immer noch da vorne."
Rafa macht noch andere "Intelligenztests" mit mir. Er zeichnet ein Oktagramm, auf dessen Eckpunkte ich Münzen legen muß. Die Münzen werden von einem freien Punkt aus zu dem Punkt geschoben, an dem sie bleiben sollen. Es kommt darauf an, die freien Punkte so lange nicht zu belegen, wie sie noch gebraucht werden. Ich schaffe es beim ersten Versuch, die Aufgabe zu lösen. Der nächste Test ist ein Zahlenquadrat. Es besteht aus neun Feldern, in die die Ziffern von eins bis neun eingetragen werden müssen. Jede Zahlenreihe - senkrecht, waagerecht und diagonal - muß in der Summe fünfzehn ergeben. Dafür brauche ich einige Zeit. Rafa will duschen, während ich mit dem Quadrat beschäftigt bin. Er steht auf. Bevor er ins Bad geht, sieht er sich noch ein wenig die Wand hinter meinem Sofa an.
"Wo hast du das Bild eigentlich her?" fragt er.
"Das ist ein Scherenschnitt. Das hab' ich ausgeschnitten."
"Nein, ich meine das da."
"Ach, das war doch im Stadtmagazin im Mai '93", erinnere ich ihn.
"Ja, stimmt. Da waren wir zusammen ..."
"Ja, ich auf der einen Seite, du auf der anderen."
"Genau."
Rafa betrachtet die übrigen Bilder, die ich von ihm an der Wand hängen habe. Zu einem fragt er:
"Mann, wo hast du denn das Foto her?"
"Aus dem anderen Stadtmagazin."
"Oh, das wußte ich gar nicht, daß da eins war."
"Doch. Auf Seite 84, glaube ich."
"Weißt du, wo diese Bilder entstanden sind?" fragt Rafa.
"Ja, das habe ich gesehen, an diesen Figuren da, aus dem Barockgarten. Das ist da; das habe ich gesehen."
"Das war nicht schlecht da ", erinnert sich Rafa. "Das war nicht schlecht."
Wahrscheinlich hat der Fototermin Rafa sehr viel Spaß gemacht hat. Er untertreibt oft, wenn es um Gefühle geht.
Rafa ist mit dem, was er an meiner Wand findet, insgesamt recht zufrieden.
"Ah, ich seh' schon, du hast fast nur Brillenbilder von mir", stellt er fest. "Und das ist gut so."
"Nein, das ist nicht gut so", widerspreche ich. "Ich möchte so gern Bilder von deinen Augen haben."
"Nein, das gibt's nicht."
Als Rafa aus der Dusche kommt, setzt er sich wieder aufs Sofa. Die Badtür hat er sperrangelweit offengelassen. Ich bin noch nicht fertig mit dem Zahlenquadrat.
"Ich höre jetzt erstmal auf", entscheide ich. "Ich mache später weiter."
"Spielst du häufig?" möchte Rafa wissen.
"Ja ... es kommt jetzt darauf an, was man unter 'Spielen' versteht."
"Na ja - alles: von Computer ... bis zu Gesellschaftspielen."
"Eigentlich - kaum", gebe ich Auskunft. "Dafür bin ich extrem kreativ und sehr ehrgeizig."
"Wenn du ehrgeizig wärst, dann hättest du das hier -" Rafa weist auf das Zahlenquadrat - "nicht aufgegeben, sondern immer weiter und weiter versucht, bis du die Lösung gefunden hättest."
"Ja, das alles ist aber auch eine Frage der Zeit, die ich dafür investieren kann. Guck', wir wollen jetzt ins Bett gehen. Wenn ich jetzt noch weitermache, dauert es noch länger, und es wird noch später. Für mich ist es auch sowieso klar, daß ich es irgendwann heraushabe. Es ist eben nur eine Frage der Zeit. Daß ich es irgendwann heraushabe, ist für mich klar. Bloß ist die Frage nur, wann. Und jetzt verschiebe ich das lieber noch."
Rafa trägt das T-Shirt auf rechts, mit dem Druck nach außen. Ich entdecke, daß er sich sein nasses, schmutziges Handtuch umgehängt hat. Ich ziehe es ihm vom Hals, bringe es in die Küche und werfe es in den Wäschekorb. Dann gehe ich wieder zu Rafa und sage:
"So, dann dusch' ich jetzt auch noch schnell."
Ich öffne den Wäscheschrank.
"So, was brauch' ich: das ... und das ..."
, denke ich laut nach und greife mir mein frisch gebügeltes Seidennachthemd und einen Tanga.
Im Bad sieht es nicht nach Überschwemmung aus wie beim letzten Mal. Rafa scheint sich an meine Dusche zu gewöhnen.
Im seidenen Flatterhemd komme ich wieder ins Zimmer.
"Ja - und - hm?" sage ich.
Rafa steht auf und folgt mir zum Bett.
"Das ist so furchtbar hell hier", klagt er, weil längst die Sonne scheint und das weiße Rollo kaum Licht wegnimmt. "Geht das nicht, daß man die Vorhänge hier vorzieht?"
"Ja, sicher - dazu sind sie ja da! Ich mach' es eben."
Ich gehe ans Fenster und greife nach den schweren dunkelgrauen Vorhängen. Da fällt Rafas Blick auf das Foto von Laura und Daria, das ich neben meinem Schreibtisch liegen habe.
"Sag' ich ja - Daria sieht in Wirklichkeit immer besser aus als auf Fotos", meint er.
"Nein", erwidere ich. "Ich habe ein Foto von ihr, da sieht sie völlig süß aus; das ist aber im Moment gerade beim Fotogeschäft. Das wollte ich verdoppeln lassen ... Daria redet ja auch kein Wort mehr mit mir, seit der Ivo Fechtner sie sich untergeklemmt hat."
"Nein?" staunt Rafa.
"Nee. Von einem Tag auf den anderen redet die kein Wort mehr mit mir, ohne daß irgendwas gewesen wäre. Das ist wieder eine neue Intrige von dem Ivo."
"Also, der Ivo wird mir in letzter Zeit wieder immer sympathischer", erzählt Rafa.
"Ah, ja", sage ich und ziehe die Vorhänge zu. "Der ist ja jetzt auch wieder neue Intrigen am spinnen."
"Was denn für welche?"
"Ja, der hat was verbreitet. Der hat eine freche, unverschämte Lüge über mich verbreitet in der letzten Zeit. Er erzählt herum, ich sei mit ihm zusammengewesen. Das ist so eine Unverschämtheit, also, mir ist übel geworden, als ich davon gehört habe. Ich war nie, also auch nicht in Ansätzen, mit ihm zusammen. Er hat mir auch nie im Entferntesten zu verstehen gegeben, daß er sich für mich interessiert hat."
"Kannst du mir das noch genauer erzählen?"
"Das kann ich dir gleich ganz genau erzählen. Das kann ich dir sogar ganz genau erzählen, weil ich das alles noch weiß."
"So - auf was stellen wir den Wecker?" fragt Rafa.
"Auf elf."
"Das ist zu früh", bestimmt Rafa.
Ich mache einen Kompromiß:
"Ich lasse mich um elf Uhr wecken, aber ich stelle den kleinen, den hörst du fast nicht."
"Hast du eigentlich einen Fernseher?" fragt Rafa und blickt sich suchend im Zimmer um.
"Ja, hier, in der Eßecke steht einer", gebe ich Antwort.
"Du hast aber im Zimmer keinen."
"Nein. Da habe ich keinen."
"Ja, weil, ich hab' nämlich immer den Fernseher laufen, wenn ich einschlafe."
"Nee, also, das gibt's bei mir nicht", sage ich streng und gehe zum Bett. "Daß da der Fernseher läuft beim Einschlafen, das gibt's hier nicht. So, ich nehm' gleich erstmal ein paar Decken 'runter; die brauchen wir nachher sowieso nicht."
Ich lege die rote Strickdecke und die graue Flauschdecke auf eine Sofalehne.
Mein Bett ist dieses Mal mit Damast und Batist bezogen. Das Laken ist ein blaues Spannlaken aus Frottee. Ich zeige auf die leichte Steppdecke und sage zu Rafa:
"Das ist doch deine Lieblingsdecke, nicht? Die ist so leicht und dünn und groß."
"Ja, die ist nicht schlecht."
"Ja, dann können wir die andere ja auch gleich 'rausnehmen."
"Ja, ich ... brauch' aber eine eigene Decke", erklärt Rafa.
Er möchte mir wohl auch im Bett nicht zu nahe kommen.
"Ah, gut, dann kriegst du eine eigene", sage ich. "Nehme ich die andere. Du möchtest aber immer außen liegen, ne?"
"Ja."
Als ich mich schon hingelegt habe, fragt mich Rafa:
"Hast du ein Kissen?"
"Na ja, wenn dir dies nicht reicht ... ich habe sonst nur noch ein kleines."
"Ja ... besser wär' ein großes ... Ah ja, die Decken."
Rafa nimmt die Decken wieder von der Sofalehne. Er faltet und knüllt sie zusammen, so daß sie sich in ein Kopfpolster verwandeln. Dann legt er sich zu mir. Ich greife nach ihm und bin dabei etwas ungeschickt. Rafa stöhnt leise und faßt sich ans Auge.
"Was ist!" rufe ich erschrocken. "Was habe ich gemacht?"
"Du hast mir mit dem Finger in die Augen gefaßt."
"Oh, nein! Oh, nein!"
Ich beuge mich über ihn und streichle sein Gesicht.
"Schon gut, schon gut", beruhigt mich Rafa.
Doch ich kann nicht aufhören, mich selbst zu tadeln:
"Oh, nein! Oh, nein! Oh, ich mache die Schleife auch gleich 'raus, damit ich dich nicht nochmal steche."
Ich lege die Schleife auf den Stahlschrank. Dann möchte ich Rafa durch die Haare streicheln.
"Deine Haare sind ja ganz naß!" muß ich feststellen.
"Jo!" sagt er trotzig. "Warum nicht?"
"Na, du hättest sie auch föhnen können."
"Ja!" "Ich wühle so gerne in deinen Haaren", sage ich leise und schwärmerisch.
"Warum?" tut er verständnislos.
"Weil sie sich einfach so gut anfassen."
Nun muß ich eben in nassen Haaren wühlen.
Rafa wickelt sich in die Steppdecke von oben bis unten ein, so daß er einer Mumie ähnelt. Nur die Augen sind noch zu sehen.
"Dieses Mal nicht", scheint er sich vorgenommen zu haben.
Er schiebt seinen Arm nie unter meinen Kopf; der Arm bleibt angewinkelt. Ich kuschle mich an Rafa und taste nach seinem Körper. Er nimmt meine Hand fort, wenn es ihm zuviel wird. Auf seinem nackten Bein, das hin und wieder aus dem Mumienverband schaut, darf die Hand liegenbleiben, auf seiner Flanke nicht.
Ich beginne, Rafa die Geschichte mit Ivo Fechtner zu erzählen:
"Damals, Anfang '93, da haben wir uns ja kennengelernt. Und da hat mich auch der Ivo Fechtner kennengelernt. Und das war nämlich so: da lief ein Stück im 'Elizium', und da wollte ich wissen, von wem das ist, und da war das von dem. Und dann kamen wir auf Musik und Industrial zu sprechen, und dann hatte der viel und ich eben auch, und dann haben wir uns halt ausgetauscht. Und dann kam halt ... dann hat der mir halt immer wieder angeboten, mit zu verschiedenen Konzerten zu kommen, und dann sind wir halt auch zu den ganzen Konzerten dann immer hingefahren - und dabei blieb's. Und mehr war nicht. Daß er sich für mich interessiert hat, hat er mir nie gezeigt. Er hatte auch nie die geringste Chance bei mir, weil ich immer nur dich geliebt habe.
Und dann hat er irgendwann, im März, irgendwann hat Ivo Fechtner damit angefangen, die ganze Zeit über dich zu lästern."
"Was hat er über mich erzählt?" will Rafa wissen.
"Ja, immer so ... 'Rafa und Dolf - ich kann diese Visagen nicht mehr sehen, ich kann diese Gesichter nicht mehr sehen.' Und ... 'Rafa und die Mädchen. Der schiebt die doch hin und her wie Schachfiguren. Der spielt mit denen nur 'rum.' Und ... 'Constanze, das heulende Elend. 06.03.'92. Ich werd's nie vergessen.' Und solche Sachen halt. Und ... Ende März hast du mich in die Arme genommen, und ich dich auch."
"Wann war das?"
"Ja, das war Ende März '93."
"Ach ..."
"Ja, und da kam ich ins 'Elizium', und da hast du mich gleich in die Arme genommen und ich dich auch, und das blieb die ganze Nacht, unterbrochen nur durch die Angriffe des Sockenschuß. Und dann hat der Ivo Fechtner das gesehen. Und dann kam dieser 09. April, an dem du kommen wolltest, aber nicht gekommen bist, und da meinte dann Ivo Fechtner:
'Tja, dann hat sich das Thema 'Rafa' wohl erledigt.'
Und eine Woche später sind wir dann nach BO. gefahren. Da war im 'Fall' diese PNE-Video-Vorstellung."
"Ach!" ruft Rafa verwundert.
"Ja, und da warst du auch", erinnere ich ihn.
"Ach!" staunt Rafa. "War ich da?"
"Ja. Da warst du. Und da kamen wir nämlich hin, und dann warst du da, und dann habe ich dich begrüßt und dich so ein bißchen am Kragen gezogen und mit dir geredet, und das war dann dem Ivo Fechtner schon zuviel. Da war der böse, eifersüchtig, so rasend, weil er gesehen hat, daß er keine Chance bei mir hat. und hat dann gleich am Sonntag danach ... Das war die Fahrt, wo wir nach Amsterdam gefahren sind über BO. Ja, und dann, gleich am Sonntag darauf, hat er nämlich gegen mich eine Intrige gestartet."
"Und was für eine Intrige?"
"Er hat dreien von meinen Freunden erzählt, ich würde schlecht über die reden. Und das waren neue Freunde, die mich noch nicht so gut kannten. Die alten, da ging das eh nicht.
Das war das gewesen mit dem Elektrofestival in HI., daß er mich da nicht hinfahren wollte; er hat gesagt, er läßt sein Auto zuhause stehen und fährt mit anderen Leuten mit, und da wäre im Auto kein Platz mehr frei. Ich wußte erst nicht recht, warum er mich da nicht hinfahren wollte, aber ich habe dann schnell Klarheit bekommen, denn die Freunde kamen alle zu mir und sagten:
'Ah, wir haben Schlimmes gehört über dich. Du hast schlecht über uns geredet.'
Und solche Sachen. Und da mußte ich erstmal Ordnung machen, und ... verloren, ja ... also, der eine war Adi, der ist sowieso nie richtig in der Szene gewesen; der ist da auch nicht mehr. Du kennst den, aber eigentlich kennst du den auch wieder nicht. Du hast ihm nur mal die Hand gegeben; das ist alles. Das andere war Valeria. Die ist dann zu Ivo Fechtner übergelaufen. Aber der Till, der ist dann doch eher auf unserer Seite geblieben. Der hat sich ihm nicht angeschlossen. Und da hat sich die Arbeit gelohnt."
Ich stocke im Erzählen, weil Rafa so ruhig neben mir liegt.
"Bist du eigentlich noch wach?" frage ich.
"Ja, sicher bin ich wach!" antwortet Rafa prompt und fast ärgerlich.
Er hat es wohl nicht gern, daß ich an seiner Aufmerksamkeit zweifle.
Ich fahre fort:
"Ich hatte nämlich damals einen Traum, das war eine Vorausdeutung, die mir darauf Hinweise gegeben hat, daß es wirklich Ivo Fechtner gewesen sein muß. Das war an dem Sonntag, an dem er gegen mich intrigiert hat. Da habe ich geträumt von zwei kleinen weißen Hunden, und der eine davon war besonders bösartig, und der schnappte nach meiner Kehle, und das war der Ivo Fechtner. Und der andere, der sich mehr im Hintergrund hielt, der nicht so bösartig war, war der Timo, sein Freund. Und das waren nämlich diese beiden. Und da habe ich das schon erfahren. Ich habe Ivo Fechtner dann natürlich sofort aus meinem Freundeskreis geworfen und von da an kein Wort mehr mit ihm geredet. Und jetzt, nach über einem Jahr, macht Ivo Fechtner weiter. Jetzt hat er wieder eine Intrige gegen mich gestartet. Jetzt hat er sich die Daria untergeklemmt, und von einem Tag auf den anderen hat die kein Wort mehr mit mir geredet. Und da ist nichts zwischendrin passiert."
"Nein?" wundert sich Rafa. "Kein Wort mehr mit dir geredet?"
"Ja, sie gibt mir nur noch die Hand, aber sonst - sie redet kein Wort mehr mit mir."
"Hat Ivo denn nicht auch Vorzüge gehabt?" fragt Rafa.
"Ja - ich habe echt allen meinen Freunden gegenüber freundschaftliche Gefühle; auch Daria gegenüber habe ich freundschaftliche Gefühle", erwidere ich. "Aber Ivo Fechtner, das war so der einzige, wo ich wirklich keine hatte. Dem habe ich nie nachgetrauert. Er ist nicht wichtig gewesen für mich. Er hat mir nie irgendwas bedeutet.
Vorzüge hat er höchstens insofern gehabt, als ich durch ihn die Möglichkeit hatte, an bestimmte Musik und zu bestimmten Konzerten zu kommen. Aber das war halt wirklich alles.
Es war aber auch schlimm, was der Ivo Fechtner über dich erzählt hat. Das war völlig ... also ... teilweise so widerlich."
"Ja, was denn?" fragt Rafa. "Was hat er denn über mich erzählt?"
"Ja, weißt du, was der zu mir über dich gesagt hat?
'Der soll bloß wegbleiben, die dreckige Sau.'
Und da habe ich dann auch gesagt:
'Also, Ivo, das muß ja nun nicht sein, ne?'
Aber was hätte ich da noch sagen sollen, habe ich mir gesagt - was soll ich da noch sagen? Das war also echt so, als ich den dann nicht mehr gesehen habe, da habe ich auch erst gemerkt, wie sehr der Typ genervt hat. Und da war ich auch froh, daß ich das nicht mehr hören mußte, dieses Gerede. Und der wußte, daß ich für dich was empfinde und hat nie berücksichtigt, daß er mich mit dem, was er über dich erzählt und lästert, vielleicht verletzen könnte. Und der hat mich auch teilweise fünfmal in der Woche abgeholt; das war einfach zu oft."
Meine Stimme hat fast nach Tränen geklungen, als ich von Ivo Fechtners mangelnder Rücksicht gesprochen habe. Vergangenes wurde in mir wieder lebendig.
Rafa schweigt.
"Aah ... ja", sagt er schließlich, betont gelassen, als hätte er Betroffenheit zu verbergen.
"Und, glaubst du mir nun jetzt?" frage ich ihn.
"Na ja, der eine erzählt dem einen das, und der andere erzählt dem andern das", antwortet Rafa.
Er scheint mir noch immer nicht glauben zu können.
"Na, es ist aber so", versichere ich. "Es ist wahr, es ist die Wahrheit; so, wie ich es sage, ist es gewesen."
Bisat ist recht aufgedreht. Er maunzt vor der Tür. Ich steige vorsichtig über Rafa und lasse Bisat ins Zimmer. Der Kater muß sich von mir strenge Ermahnungen und Warnungen anhören.
"So, wenn er jetzt nochmal Ärger macht, fliegt er endgültig 'raus", sage ich schließlich und steige wieder ins Bett.
Rafa sieht zu meinem Wäscheschrank hinüber und macht eine Entdeckung:
"Der Schrank da vorne - ich habe echt fast genau den gleichen früher gehabt!"
"Ja?"
"Das mir das erst jetzt auffällt ... Das ist fast genau mein Schrank. Nur meiner war mit Kassetten."
"Also, ich habe das Wäsche drin."
"Nein, das meine ich doch nicht!" belehrt mich Rafa. "Ich meine, die Türen waren so ... mit Kassetten ... verstehst du?"
"Ja, jetzt weiß ich, was du meinst. Jetzt verstehe ich. Da, wo bei mir Glas ist ..."
"Genau ... da war das aus Holz und so ..."
"Und du hast so einen Schrank früher mal gehabt."
"Ja. Das war alles so, mit ... an den Seiten und oben, mit diesen ..."
"Reliefs ..."
"Ja, mit diesen Reliefs."
"Das ist ja interessant."
"Erst habe ich ja gedacht, daß ich nach Hannover ziehe", sagt Rafa nachdenklich. "Das zeichnet sich aber jetzt immer mehr ab, daß ich es doch nicht tue, daß ich in dem Haus bleibe."
"Wie kommt es, daß du jetzt doch lieber in dem Haus wohnen bleiben möchtest?"
"Ja, erstmal ist das ja unser Haus. Da ist mein Vater gestorben und alles. Und da ist auch sonst keiner so, der sich so um das Haus kümmern kann, mein Bruder nicht, und Muttchen hat auch immer keine Zeit, und da muß einer sein, der da nach dem Rechten sieht und sich mal drum kümmert und Muttchen hilft dabei.
Und dann ... ist ja auch mit laut Musik machen, das geht ja auch, daß man so Musik macht und dann auch voll aufdreht, das geht ja auch nur dann, wenn man im eigenen Haus ist."
"Ja, stimmt, in einer Mietwohnung geht das nicht so in der Form."
"Ich fühle mich echt wohl in SHG."
"Und möchtest du denn dann auch nicht mal in was Eigenes umziehen oder ... ausziehen?"
"Ja, ja, das Haus ist ja auch ... zu einem Drittel ist das ja eh auch meins. Wir wohnten ja vorher noch woanders, und seit '79 wohnen wir da."
"Und deine Kinder, sollen die auch mit in dem Haus wohnen?"
"Na ja, das ist noch nicht 'raus", meint Rafa. "Ich weiß ja nicht, was das Schicksal noch bringt."
Rafa betrachtet vom Bett aus meine Barbies auf dem Stahlschrank.
"Hast du eigentlich mal darüber nachgedacht, was du für ein Verhältnis zu Barbies hast?" möchte er wissen. "Ach, das mit den Barbies ist schon so lange her", antworte ich. "Dazu habe ich gar nicht mehr so den Bezug. Ich mache das auch heute gar nicht mehr."
"Ja, woher weiß dann der Jochen das mit den Barbies?"
"Mein Gott, ich hatte dann halt auch immer welche hängen in der Wohnung damals, und der hat das halt gesehen, und das hat wohl sich übertragen."
"Der kennt deine Wohnung?" zeigt Rafa Erstaunen.
"Ja, ja, der hat sich damals bei mir eingenistet", wiederhole ich etwas, das ich Rafa schon mehrmals erzählt habe.
Rafa hat es sich in seinem Kokon bequem gemacht, doch er findet keine Ruhe.
"Hetty! Ich kann nicht einschlafen!" klagt er.
"Sollst auch gar nicht schlafen können."
"Ich muß aber schlafen. Hetty, ich kann nicht einschlafen! Was mach' ich bloß? Hast du nicht was, damit ich einschlafen kann?"
"Ja, sowas habe ich nicht. Das gebe ich dir nicht."
"Um Tabletten geht es mir ja gar nicht. Ich brauch' irgendwas, das läuft."
"Das läuft?"
"Ja, hast du nicht Fernseher ... oder Radio oder so ..."
"Das ist hier nicht mit Berieselung, Einschlafen", sage ich fest.
"Ich mach' das zuhause", erzählt Rafa. "Seit Jahren schlafe ich nur mit Licht. Und dann habe ich auch immer beim Einschlafen den Fernseher an."
"Das ist aber überhaupt nicht gut!" belehre ich ihn. "Das ist ganz, ganz schlecht! Berieselung ist absolut schlecht!"
"Berieselung ist korrekt!" behauptet Rafa, weit jenseits der anerkannten Erziehungskonzepte. "Berieselung ist völlig korrekt!"
"Damit man nur nicht über sich selber nachdenken muß, he?"
"Ja, aber dabei kann man doch einschlafen."
"Das muß aber ohne gehen", bestimme ich. "Das gibt's nicht. Also, Fernseher und irgendwelche Sachen zur Berieselung gibt's nicht."
Mein Kater kann ebenfalls keine Ruhe finden. Mit einem Sprung erobert er das Fußende.
"Oh, jetzt kommt dein Miez auch noch aufs Bett, was?" sagt Rafa skeptisch.
"Ja, ja, der fühlt sich da auch zuhause", erkläre ich. "Der kommt auch immer an."
Bisat rollt sich hinter mir auf dem Kopfkissen zusammen.
Rafa ist ein rechtes Pflänzchen Rührmichnichtan. Meinen Arm schiebt er beharrlich fort, wenn ich seine Taille oder Schulter berühre.
"Faß' mich doch nicht immer an!" wehrt er sich.
Als ich ihm meine Hand auf die Hüfte lege, zieht er sie auch dort weg. Sie liegt nun auf seinem Bein.
"Warum behandelst du mich eigentlich immer wie ein kleines Kind?" fragt Rafa nach längerem Schweigen.
"Ja, weil du dich wie ein kleines Kind verhältst", entgegne ich ohne Zögern.
"Ich verhalte mich nicht wie ein kleines Kind", behauptet Rafa.
"Doch, oh, doch", widerspreche ich. "Das ist dieses ganze Trotzige, dieses Weglaufen und so weiter. Das sind alles Verhaltensmuster, die kindlich sind."
"Echt, du behandelst mich immer wie ein kleines Kind, so - eiteitei, und lachst mich immer so an."
"Normalerweise würde ich dich umarmen, so, wie das eine Frau mit einem Mann auch macht, den sie liebt", erkläre ich. "Normalerweise würde ich dich die ganze Zeit umarmen. Aber du erlaubst es ja immer nicht. Du läßt es ja immer nicht zu. Und mehr kann ich dann nicht als das."
"Echt - immer kommst du so an, echt. Jetzt unterhalten wir uns endlich mal einigermaßen normal."
"Ja, guck' mal - Laura darf den Fedor auch umarmen."
"Und, wie findest du Fedor?" fragt Rafa.
Seine Stimme klingt lauernd. Er scheint zu befürchten, daß ich Fedor anziehender finde als ihn.
"Ja - ist ein niedlicher Kerl", antworte ich. "Ich meine - es heißt, Fedor soll die Frauen wie die Hemden wechseln. Aber das ist ein Gerücht. Außerdem gibt es noch mehr Leute, über die man sagt, daß sie die Frauen wie die Hemden wechseln. Jedenfalls finde ich es toll, daß Laura und Fedor sich gefunden haben. Das ist noch nicht lange. Die kennen sich erst seit ein paar Wochen. Aber ich finde das einfach toll, auch wenn es vielleicht nur für eine Weile ist."
"Ah - nur für eine Weile?" fragt Rafa argwöhnisch.
Er scheint zu befürchten, daß ich auch für ihn und mich eine zeitlich begrenzte Beziehung erwäge.
"Ich rede da jetzt nicht von mir", sage ich rasch, um ihn zu beruhigen. "Was ich will, das ist immer für immer."
"Aber wenn du immer den gleichen Menschen hast, immer nur einen Menschen hast - da bewegt sich doch nichts mehr", meint Rafa. "Da entwickelt sich doch nichts mehr."
"Warum? In einem Menschen ist doch so viel. Man kann in ihm soviel finden. Und es bewegt sich immer etwas. Und da gibt es immer wieder Neues in jemandem. Ein Mensch ist so viel. Das ist immer, was ich auch gesucht habe: einen Menschen. Ich habe immer einen Menschen gesucht - und den gefunden."
"Kennst du Revco?" fragt Rafa.
"Ja, den kenne ich."
"Gut ... Kennst du den näher?"
"Na ja, ich kenn' den halt so. Ich habe halt mit ihm mal ... geredet, aber kurz."
"Und was hast du für einen Eindruck von ihm?" fragt Rafa weiter. "Was denkst du über ihn?"
"Ja, also ich ... habe also ... nicht lange mit ihm geredet", suche ich in meinem Gedächtnis nach Erinnerungen. "Ich kann so viel über ihn nicht sagen. Ich hatte also nur das Gefühl, daß er öfters auch eher nachahmt, als selbst was zu erfinden, und daß er ab und zu doch immer so ein bißchen ganz gerne lästert. Aber ich möchte jetzt auch nicht zuviel über ihn sagen, weil ich ihn nicht gut genug kenne. Dann hatte ich auch noch das Gefühl, daß er ziemliche Minderwertigkeitskomplexe hat."
"Meinst du, ich habe auch Minderwertigkeitskomplexe?"
"Auf gewisse Weise schon. Du hast auch irgendwo das Gefühl, daß du es nicht wert bist, geliebt zu werden. Sonst würde es dich nicht so verwirren, daß ich dich so liebe."
"Wer weiß, ob du mich liebst ... wer weiß ..."
, zweifelt Rafa.
"Ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich."
"Wie du das immer so oft sagen kannst!" staunt Rafa. "'Ich liebe dich.' Wie du das nur immer so oft sagen kannst!"
"Ja - ich liebe dich", wiederhole ich und lache ein wenig.
"Was soll das Lachen?" fragt Rafa, nun erst recht voller Argwohn. "Was hat das zu bedeuten, daß du so lachst?"
"Das ist nichts."
"Ja, was? Ja, was?"
"Nichts."
"Das ist doch eigentlich auch völlig unwahrscheinlich, daß man den Richtigen auf Anhieb findet, schon nach so kurzer Zeit", sagt Rafa nachdenklich und mißtrauisch. "Das ist doch eigentlich absolut unwahrscheinlich."
"Aber ich habe dich doch gefunden", entgegne ich. "Ich habe dich doch schon gefunden."
"Das sagst du jetzt. Aber das gilt jetzt nicht für mich."
"Ja, meinst du denn, daß Menschen nie den Partner fürs Leben schon in jungen Jahren finden?"
"Doch, das schon", stimmt Rafa mir zu.
"Das könnte doch schon sein", sage ich bestätigend.
Rafa beruhigt sich vorübergehend und unternimmt einen weiteren Versuch, einzuschlafen. Er wechselt häufig seine Lage. Dabei legt er auch öfters einen seiner Arme oder eins seiner Beine auf mich. Es sieht nach einem Versehen aus, doch ich vermute Absicht.
Immer wieder dreht Rafa sich zu mir. Nur seine Augen läßt er aus dem Mumienverband hervorschauen, und er sieht mich mit einem fragenden Blick an.
"Was 's' los?" fragt er.
"Ach, was soll schon los sein?"
"Ja, was 's' los?"
Dann kommt von ihm wieder:
"Hetty! Ich kann nicht einschlafen!"
Er will unbedingt schlafen. Schlafen, das heißt für ihn wohl Fliehen - in den Schlaf - vor mir.
"Du nietest jedes Mädchen um, nur ich darf dich noch nicht mal umarmen", bemerke ich.
"Was mache ich?" kommt es von Rafa.
"Na, du machst jedes Mädchen platt. Nur bei mir ..."
Ich wiederhole den Reim, den Rafa mir vor über einem Jahr in der Hall gesagt hat:
"'Heute hier und morgen dort, heute da und morgen fort.' So war es doch, nicht?"
Ich spreche von Rafas Untreue. Dabei stoße ich auf Widerstand.
"Das ist keine Untreue", weist er den Vorwurf von sich. "Das ist eine Suche."
"So, das ist eine Suche."
"Was ist denn Untreue?" fragt mich Rafa.
"Ja, das ist die Frage, wie man es definiert", antworte ich. "Für mich heißt das, daß man mit der einen was macht, dann die sitzen läßt, dann mit der nächsten was macht, dann die wieder sitzen läßt. Das ist für mich Untreue."
"Dieses Leben ist eine Suche."
"Dieses Leben."
"Ja, das Leben, das ich führe. Ich habe eben die Frau noch nicht gefunden."
Das soll wohl heißen, daß ich "die Frau" auf keinen Fall bin.
Bisat unternimmt Klettertouren. Er steigt auf die Bettlehne am Kopfende. Dann setzt er sich auffordernd in die Nähe der Tür und bearbeitet mit seinen Krallen abwechselnd den Teppich und einen Fußabtreter aus schwarzem Gummi.
"Bisat!" ahmt Rafa meinen Mahnruf nach - und nicht einmal schlecht.
"Ja, so heißt meine Katze", sage ich und ernte ein ärgerliches
"Das weiß ich! Ich kann mir sowas doch merken!"
Rafa denkt wohl, daß ich seinen Mahnruf nicht als solchen erkannt habe. Ganz unrecht hat er nicht; ich habe ihm anfänglich nicht zugetraut, an meiner Katze erzieherisch tätig zu werden.
Als Bisat es zu heftig treibt, wird er wieder aus dem Zimmer befördert.
"Erzähl' doch mal was von Jochen", bittet Rafa, der wohl eine Art Gutenachtgeschichte braucht.
Ich erzähle, wie ich dem Sockenschuß wieder und wieder zu verstehen gegeben habe, daß ich nichts von ihm will.
"Aber warum ist der dann so um uns 'rumgetanzt?" fragt Rafa.
Da erwidere ich, der Sockenschuß sei halt ein Fanatiker, ein Geisteskranker. Rafa möchte wissen, weshalb ich mit so einem überhaupt zu tun hatte. Ich erzähle von der Dreistigkeit und Aufdringlichkeit des Sockenschuß:
"Ich war damals eben so drauf, da hatte ich noch keinen Widerstand dagegen. Ich bin froh darüber, daß ich jetzt nicht mehr soviel an ihn denken muß, weil ich dieses Gesicht nicht mehr sehen muß. Für mich ist es immer noch so faszinierend ... du hast den vermöbelt ... das finde ich so toll; das hätte ich gerne gesehen. Du hast den bestimmt nicht nur vermöbelt. Du hast da bestimmt auch noch was gesagt zu dem. Was war das nur? Was hast du zu dem gesagt? Wie war das genau?"
"Vermöbelt habe ich den eigentlich nicht", erzählt Rafa. "Das war eigentlich so:
Der Jochen sagte zu mir:
'Die popelt genauso, wie ich pople, und das provoziert mich.'
Und - da habe ich zu Jochen gesagt:
'Was ist mit dir los? Was denkst du dir denn da?'
Und da habe ich den also genommen und so ... fünfmal gegen die Säule, so zweimal links und dreimal rechts. Und danach ist der nicht mehr wiedergekommen in die Szene."
Ich lache hell auf vor Vergnügen, als ich das höre.
"Was lachst du so künstlich?" fragt Rafa mißbilligend.
"Ich lache nicht künstlich", erwidere ich. "Ich finde es einfach nur so ... geil, so geil. Der hat gekriegt, was er verdient hat. Der hat wirklich gekriegt, was er verdient hat."
"Das war so komisch - als ich den Jochen so gegen die Säule gehauen habe, da sind die Rausschmeißer gekommen, und da haben sie nicht mich 'rausgeschmissen, da haben sie den Jochen 'rausgeschmissen, das war überhaupt das Irre", erzählt Rafa lachend.
"Echt, der hat genau bekommen, was er verdient hat", freue ich mich.
"Das, was der Jochen da erzählt hat, das war aber auch so ein Schwach-sinn", rechtfertigt sich Rafa für die ihm grundsätzlich verhaßte Anwendung körperlicher Gewalt. "Das war einfach so ein - so ein Schwach-sinn ..."
Wahrscheinlich möchte Rafa nicht, daß ich ihm zu schadenfroh werde. Ich glaube, er mag Schadenfreude ebensowenig wie Gewalt. Doch als er fassungslos dieses "Schwach-sinn" hervorstößt, muß ich nur noch mehr lachen.
"So ein Schwach-sinn", sagt Rafa eins ums andere Mal. "Echt, ich versuche immer, mich in einen Menschen hineinzuversetzen."
"Ich weiß", sage ich ernst.
"Ja, ich versuche es echt, ihn zu analysieren und so."
"Ich weiß."
"Aber das, was der da gesagt hat, das war so'n Schwachsinn, echt, das war so'n Schwachsinn. Ich verstehe gar nicht, wie man so einen Unsinn reden kann."
Rafa ist noch nach über einem Jahr schwer beeindruckt von dem Erlebnis.
"Da ist vorher nochmal was gewesen", erzählt er weiter. "Das war irgendwann im Frühjahr. Da habe ich mit einem in der 'Halle' gesessen, der ist ziemlich schwergewichtig, und der heißt nicht nur Hulk, das ist auch ein Hulk. Und die Lederjacke von dem Jochen hing über dem seiner Stuhllehne. Wir wußten aber nicht, daß das die Jacke von dem Jochen war. Und der Hulk, der hat sich so drangelehnt gegen die Jacke. Und dann ist der Jochen irgendwann gekommen und wollte die Jacke mitnehmen. Er aber gleich so:
'Gib' mir meine Lederjacke! Du sitzt auf meiner Lederjacke! Gib' mir sofort meine Lederjacke!'
Ich hab' gleich so gesagt:
'Sicher, bitte.'
Aber der Hulk, der ist ja nun ein bißchen so ... bißchen gröber, so ein bißchen draufgängerischer, und der hat dann so gesagt:
'Nee.'
Und da ist der Jochen voll hochgegangen. Und da habe ich dann zu den Türstehern gesagt:
'Schmeißt 'n 'raus, dann ist Ruhe.'"
Ich muß wieder lachen vor Begeisterung. Rafa fällt noch mehr ein:
"Der ist mit Marilene lange zusammengewesen, aber richtig zusammen; das konnte man verfolgen. Echt, im Nachhinein ist das kaum zu fassen - die war mit dem zusammen. Ich war ja mit Sanna zusammen, und Marilene ist die beste Freundin von Sanna, und da haben wir uns immer gesehen auf unseren Fernsehabenden, und da habe ich das so mitverfolgen können. Da haben wir zusammen ferngeguckt, alle vier, Sanna und ich und Marilene und Jochen.
Eigentlich fand ich den Jochen immer voll in Ordnung."
"Was fandest du an dem gut?" frage ich entgeistert.
"Na, der sah doch eigentlich immer schick aus."
"Also, ich finde, der sieht vergammelt aus. Völlig verkommen."
"Das finde ich nicht. Ich finde den schon schick."
"Ja, das sind aber Äußerlichkeiten. Ich denke mehr an den Charakter. Der Sockenschuß ist auf jeden Fall geisteskrank. Ich habe einen Traum von dem gehabt, das war 1988. Ich träume seit Jahren nicht mehr von dem, aber damals habe ich ganz selten mal von dem geträumt. Und zwar habe ich geträumt, ich würde dem Sockenschuß ein Lineal in den Hals bohren, und er würde sagen:
'Mach' weiter! Das tut gut!'"
"Du hast dem ein Lineal in den Hals gebohrt?"
"Na - ich habe ihm das nicht richtig 'reingebohrt, nur 'reingedrückt, weil der mich belästigt hat.
'Mach' weiter! Das tut gut!' hat der da gesagt.
Das ist ein Sadomasochist."
"Der liebt dich doch", meint Rafa.
"Das ist kein Zeichen von Liebe, wenn man jemanden belästigt", erwidere ich.
"Aber warum schleicht er sonst um sechs um die Häuser?"
"Das ist aber kein Zeichen von Liebe, wenn man jemanden belästigt", wiederhole ich. "Liebe ist, wenn man jemanden in Ruhe läßt. Oder schleiche ich bei dir um die Häuser? Mache ich das? Oder gehe ich bei dir um sechs Uhr vor der Haustür hin und her und lauere dir auf?"
"Ich durfte noch dem seine Wäsche wegschmeißen", erinnert sich Rafa mit leisem Schaudern. "Der hatte doch in der Redaktion vom 'Autodafé' geschlafen. Als wir die ausgeräumt haben, haben wir da noch, hinter den Schränken und so haben wir da noch so Zeug gefunden, so Hosen und Bettwäsche und solche Sachen, und das haben wir dann alles in den Müll geschmissen, seinen Fernseher und den ganzen anderen Kram, das haben wir alles in den Müll geschmissen. Und das war eklig!"
"Fünf Jahre lang hat der mir vor der Haustür aufgelauert, hat mir irgendwelche Briefe geschrieben, versucht, mich anzurufen ..."
, erzähle ich. "Es war einfach widerwärtig; ich konnte abends nicht mehr allein auf die Straße und nichts. Und immer mußte ich an den denken, weil ich immer dieses Gesicht gesehen habe. Und jetzt muß ich endlich dieses Gesicht nicht mehr sehen. Jetzt muß ich nicht mehr an ihn denken. Und dafür sehe ich jetzt ewig das Gesicht von dieser Sängerin. Eigentlich ist mir die Sängerin ja völlig egal. Wenn die nicht mit dir in Verbindung stünde, dann würde ich die überhaupt nicht sehen. Dann würde mir die überhaupt nicht auffallen. So wie die sind hundert andere."
"Nein."
"Das gibt Hunderte, die so sind wie die", sage ich unbeirrt. "Sie ist mir widerlich, weil sie mich angegriffen hat."
"Tessa ist in Ordnung", redet Rafa mir dazwischen. "Tessa ist in Ordnung."
"Die ist voller Aggressionen gegen mich", spreche ich weiter.
"Versetz' dich doch mal in sie hinein", kommt es von Rafa.
"Sie hat mich angegriffen", wiederhole ich. "Sie hat mich verletzt."
"Versetz' dich doch mal in sie hinein."
"Trotzdem; das gibt keine Rechtfertigung dafür, jemanden die Treppe 'runterzuschmeißen", erwidere ich mit Nachdruck. "Für so ein Verhalten gibt es keine Entschuldigung. Das macht man einfach nicht."
"Ich stell' mir nur gerade vor, wie das wär', wenn jemand meine Freundin anmachen würde."
"Ich war jedesmal völlig ahnungslos, wenn die angekommen ist", verteidige ich mich. "Ich hätte nie dich angesprochen, wenn ich gewußt hätte, daß du eine Freundin hast. Es war jedesmal so, daß ich es nicht wußte, ob du eine Freundin hast. Das ist schon damals so gewesen. Da hattest du die gerade, und du hattest es mir nicht gesagt. Und dann habe ich dich angesprochen, und da kam sie an. Und dann, auch im Herbst dann, letztes Jahr, da hatte ich nicht gewußt, daß sie wieder mit dir zusammen ist. Du hast es mir nicht gesagt. Und ich war völlig ahnungslos. Einen Tag davor hattest du sie nämlich noch nicht wieder. Und danach, da bin ich halt davon ausgegangen, daß du die eben auch noch nicht wieder hast. Und da bin ich einfach hochgegangen zu dir und habe mit dir geredet. Und da ist sie dann gekommen und hat versucht, mich die Treppe 'runterzuschmeißen."
"Ja, das ist natürlich ...", lenkt Rafa vorsichtig ein.
"Ja, sie ist völlig roh und grob und aggressiv", fahre ich fort. "In meinen Träumen war sie immer die Wespe."
"Tessa ist nett", verteidigt Rafa die Sängerin.
"Ja, sicher - zu dir ist sie nett", gebe ich zurück. "Zu dir ist sie immer nett, weil sie dich haben will. Natürlich ist sie da nett. Aber ich bin nicht so nett. Ich bin nicht so pflegeleicht. Mit mir kannst du nicht machen, was du willst. Ich laufe dir nicht hinterher. Deshalb mußt immer du kommen. Ich komme nie. Du mußt immer kommen, denn du kannst dir in jeder Minute plötzlich eine Freundin besorgt haben."
"Genau."
"Und ich habe es nicht nötig, mich verletzen und demütigen zu lassen."
"Demütigen? Wann habe ich dich denn gedemütigt?"
"Das ... ist schon vorgekommen. Da fällt mir jetzt auch nichts Genaues zu ein. Da möchte ich jetzt auch nicht ... weiter drüber reden."
"Ja, nein - wann? Nenn' mal ein Beispiel."
"Ja, zum Beispiel ... wenn man mit einem Menschen nach draußen geht und Küsse austauscht mit dem, und einen Tag später ist man mit jemand anderem zusammen - das ist Demütigung!"
"Das ist ja auch das Blöde, daß unsere Beziehung immer nur so in Discos stattfindet", sagt Rafa beschämt und nach Entschuldigungen suchend.
"Ja, das ist es ja; es ist mir immer darum gegangen, unsere Beziehung auf eine private Ebene zu bringen", erinnere ich Rafa an meine vielen vergeblichen Versuche, mich außerhalb von Discotheken mit ihm zu treffen. "Ich möchte immer mit dir leben."
Rafa strahlt etwas aus wie Erleichterung und Freude. Ich fahre fort:
"Ich möchte, daß du bei mir lebst. Wenn du bei mir lebst - dann werd' ich mit dir fertig."
"Ha, im wahrsten Sinne des Wortes!"
"Ja, dann werd' ich wirklich mit dir fertig."
"Ja, dann wirst du mit mir fertig", sagt Rafa voll trüber Ironie. "Dann wirst du nämlich enttäuscht sein."
"Nein, das werde ich nicht."
"Ja, weil ich dann nicht dem Bild entspreche, das du dir von mir gemacht hast", bleibt Rafa bei seiner Voraussage.
"Aber du bist doch der, nach dem ich gesucht habe", erwidere ich.v "Vielleicht wirst du mich hassen."
"Nein, ich werde dich niemals hassen. Ich liebe dich."
"Du bist dir aber deiner Sache sicher!" wundert sich Rafa.
"Ja, ich bin mir meiner Gefühle sicher", erkläre ich ihm.
"Dazu gehören aber immer zwei, zu so einer Beziehung", sagt Rafa - wie so oft.
"Ja, es kann sich so eine richtig intensive, echte, tiefe Beziehung ja auch nur zwischen zwei Menschen entwickeln", führe ich seine Gedanken fort. "Das kann man nicht alleine aufbauen."
"Ach so, du meinst, wenn man jemanden liebt, liebt einen der andere automatisch auch."
"Ja, so ungefähr ist das."
"Was ist das für ein Schwachsinn ...", seufzt Rafa wieder.
Ich erzähle, daß ich in einer Beziehung vor allem Dauerhaftigkeit und Weiterentwicklung finden muß - und daß ich dies beides in der Beziehung von Rafa und mir auch immer gefunden habe.
"Du kennst mich überhaupt nicht", meint Rafa, und aus seiner Stimme sprechen Unruhe und Aufbegehren. "Du weißt überhaupt nicht, wer ich bin und was ich bin!"
"Doch, ich kenne dich schon sehr gut."
"Aber du hattest doch nie die Praxis, um mich kennenzulernen! Du hast doch nie Praxis gehabt!"
"Warum? Ich habe doch schon Praxis gehabt", entgegne ich. "Du hast aber eben immer auch versucht, zu verhindern, daß ich Praxis gewinne. Du bist ja immer vor mir weggelaufen. Aber im Grunde ist das ja auch schon wieder Praxis, das zu erfahren."
"Das ist doch ein Widerspruch", findet Rafa. "Du kannst doch nicht sagen, wenn ich verhindere, daß du Praxis bekommst, daß du dadurch auch Praxis bekommst."
"Doch, das geht schon."
"Du bist dir deiner Sache sicher!" staunt Rafa eins ums andere Mal. "Oh-ooh!"
"Ich bin mir meiner Gefühle sicher", ist meine gleichbleibende Antwort.
"Warum bin ich es? Warum bist du dir so sicher?"
"Ich finde in dir nicht nur meine Gegenwart und meine Zukunft, sondern auch meine Vergangenheit, weil eben so Vieles von uns beiden übereinstimmt."
"Und das weißt du alles so?" fragt Rafa voller Zweifel. "Du kennst mich doch gar nicht."
"Ich empfinde es. Ich erlebe es. Außerdem ... seit dem Beginn meiner Persönlichkeitsentwicklung habe ich eine Beziehung entworfen mit einer bestimmten Struktur, die dieser hier entspricht."
"Was für eine Struktur?" möchte Rafa wissen. "Wie sieht die aus?"
"Das ist so, daß es eben jemanden gibt, der auch immer wieder vor mir wegläuft, der sich vor Nähe fürchtet, und ich muß eben versuchen, Nähe aufzubauen."
"Ich fürchte mich aber nicht vor Nähe", behauptet Rafa. "Dadurch, daß ich weglaufe, will ich nur eine Enttäuschung verhindern bei dir."
"So, du rennst also nur vor mir weg, um mir Enttäuschungen zu ersparen", folgere ich.
"Ja, weil ich eh nicht dem Bild entspreche, das du in deinem Kopf hast und in das du mich pressen willst", sagt Rafa, und seine Stimme klingt vorwurfsvoll.
"Du gibst dem ja keine Chance", wende ich ein. "Du sagtest selber, du hast noch nie richtig Gelegenheit gehabt, mich kennenzulernen. Du hast dich mir noch nicht ausgesetzt. Immer kein Risiko eingehen, hm?"
Rafa sagt nichts dazu, und ich fahre fort:
"Ja, es ist einfach ... du hast auch die große Angst davor, dich mir auszusetzen und dich dem Risiko auszusetzen."
"Das ist keine Angst", beharrt Rafa. "Das ist nur das Vermeiden von Enttäuschungen."
"Du bist es aber, den ich suche. Und das ist kein Bild, in das ich dich presse. Das bist du wirklich."
"Woher willst du das wissen?"
"Da gibt es eben viele Zeichen dafür. Ich hatte da zum Beispiel auch viele Träume, die mir das gesagt haben."
"Ich geb' nicht viel auf Träume", meint Rafa.
"Ich finde Träume sehr aussagekräftig."
"Du träumst richtig von mir?" staunt Rafa.
"Ja, sicher."
"Und - wie sehe ich da aus?"
"Das erzähle ich dir ja gleich", mahne ich zur Geduld. "In einem Traum, da war das so: Ich war nicht im 'Nachtlicht' gewesen, und du hast mich vermißt. Und deshalb bist du zu mir gekommen, in meine Wohnung, mit einer Eskorte von sieben oder acht Jungen - vielleicht auch fünf oder sechs; jedenfalls eine ganze Menge. Und ich habe im Bett gelegen und geschlafen, und dann hast du dich dazugelegt. Und dann bin ich aufgewacht und habe dich gefunden, und das wurde dann gleich recht leidenschaftlich zwischen uns. Und dann habe ich mich auf dich draufgelegt und bin da aber eingeschlafen auf dir, und nicht lange. Und dann, als ich wieder aufgewacht bin, warst du weg und hattest da irgendjemand anders in mein Bett 'reingelegt. Und dann hat der in deinem Auftrag gesagt - dann hattest du dem aufgetragen, zu sagen:
'Du bist unheilbar. Dir kann man nicht helfen. Dir kann man überhaupt nicht helfen.'
Und dann habe ich gesagt:
'Na, wer weiß, ob man mir nicht vielleicht doch helfen kann.'
Und dann habe ich gefragt:
'Wo ist eigentlich Rafa?'
Und er:
'Weiß ich nicht.'
Und da bin ich sofort aufgesprungen und habe geguckt, und dann habe ich Xentrix gesehen und habe ihn gefragt:
'Wo ist Rafa?'
Und Xentrix:
'Der geht gerade.'
Und ich:
'Nein. Nein.'
Und dann bin ich da barfuß durch den Flur gerannt und habe dich dann gesehen, so vor der Wohnungstür und im grauen T-Shirt, so grau wie die Tür. Das war wohl das, was du jetzt gerade anhast; ich glaube, das war das wohl. Und du hattest so völlig zerzauste Haare; so konntest du wirklich nicht auf die Straße gehen. Du hattest dir aber schon ein Taxi bestellt. Und da habe ich dich erstmal von der Tür so ein bißchen weg - so 'Komm' mal. Komm' mal mit.' - und habe dich so ins kleine Zimmer gezogen, und da stand dann auf einmal ein Bett, wie aus dem Boden gewachsen; das war vorher nie da. Und da habe ich dich dann so draufgesetzt so, und dann klingelte auf einmal eine Türöffner-Gegensprechanlage; so eine habe ich überhaupt nicht, aber die war da auf einmal. Und dann habe ich den Hörer abgenommen, und dann hieß es:
'Ja, das Taxi ist da.'
Und da habe ich gesagt:
'Moment. Moment.'
Und dann habe ich zu dir gesagt:
'Einen Moment bleibst du noch. Hm?'
Und dann hast du nichts gesagt. Und dann habe ich gesagt:
'Ich werde mich melden, wenn ich ein Taxi brauche.'
Und da hatte ich deine Flucht erst einmal beendet.
Und in dem anderen Traum waren wir beide allein in einem Raum, und du wolltest da immer weglaufen. Und du hast mich angeklagt und mir Vorwürfe gemacht. Du hast gesagt, ich würde dich verletzen und angreifen. Du wolltest immer weglaufen, bist aber nicht weggelaufen. Ich konnte dich immer noch zurückhalten.
Und dann habe ich dir gesagt:
'Das sind Mißverständnisse. Das ist ganz klar; wir sind viel zu vielschichtig, als daß das zwischen uns ohne Reibung gehen könnte.'
Und dann war das schließlich so: du hast friedlich auf mir draufgelegen und mir zugehört, und ich habe geredet. Und wie ich eben gesagt habe:
'Ich kämpfe gern für unsere Beziehung. Ich bin bereit, zu kämpfen. Ich tue es gern.'
- da kommt auf einmal ein Amokläufer herein und hält seine Waffe auf dich. Und ich bin dann aufgesprungen und ... weiß nicht mehr, ob ich es geschafft habe, den davon abzuhalten, dich zu erschießen; das wußte ich dann nicht."
"Was war das für ein Amokläufer?" fragt Rafa.
"Ja, der sah aus wie so ein entfernter Bekannter von mir, der Freund von einer meiner Freundinnen", erzähle ich. "Aber das war wohl mehr so ein symbolischer Amokläufer, so ein Amokläufer in dir, weil der gerade kam, als ich gesagt habe:
'Ich bin bereit, zu kämpfen. Ich tue es gern.'
Da ist der gekommen und wollte dich erschießen."
"Was ist ein Amokläufer?"
"Ja, das ist eben einer, der so mit der Waffe durch die Gegend rennt und Leute einfach abknallt."
"Das weiß ich auch. Aber woher weißt du, daß das einer war?"
"Das sah man einfach. Der kam einfach und zückte die Waffe da - Ich glaube sowieso, daß es eher einer war in dir, der Amokläufer in dir, der das irgendwie verhindert, daß man sich zu nahe kommt. Das ist wohl auch diese Haltung:
'Lieber ich sterbe ich, als daß ich meine Gefühle zugebe.'
Du hast eben diese starke Bindungsangst, diese Angst vor Nähe. Und Nähe zuzulassen, das bringe ich dir gerade bei. Wir haben beide Defekte, und die müssen wir gegenseitig kurieren. Es gibt für jeden von uns etwas, das er alleine nicht schafft."
"Was du immer für einen Schwachsinn redest ..."
"Ah, ich rede also nur Unsinn", spiele ich die Entlarvte. "Sag' mal, wie ist das denn richtig, Mensch? Jetzt rede ich ja nur Unsinn!"
Rafa scheint zu überlegen, welche Art von Beziehung für ihn und mich die passende ist - wo er doch eisern abstreitet, mich zu lieben.
"Ich kann mir dich gut als Freund vorstellen", sagt er.
"So, du hast also nie körperliches Begehren nach mir gefühlt", schließe ich.
"Das fühle ich für viele Frauen."
"Du fühlst also für mich nicht mehr oder nicht anders als für hundertdreiunddreißigtausend andere."
"Das habe ich nicht gesagt."
"Du wolltest wohl damit sagen, du empfindest für mich nicht anders als für x andere auch, und es ist für dich nichts Besonderes. Du gibst uns aber überhaupt keine Chance, wenn du dich mir nicht aussetzt und die Möglichkeit nutzt, mich kennenzulernen."
"Ich bin hier!" sagt Rafa ärgerlich. "Is' o.k.?"
"Ja, du bist hier. Gott sei Dank bist du hier."
Mir kommt wieder in den Sinn, wie verschieden unser beider Liebesleben ist.
"Ich kann es überhaupt auch gar nicht richtig verstehen, wie jemand mit so vielen fremden Frauen ..."
, sage ich in Gedanken. "Das kann ich überhaupt nicht verstehen, aber ... Ich kann es eben nicht verstehen."
Wahrscheinlich wird Rafa ebensowenig verstehen können, wie ich mit so gar keinem Mann ...
"Vielleicht werde ich ja sowieso schwul", meint Rafa.
"Das glaube ich nicht", entgegne ich.
Einen schwulen Mann werden Frauen wohl nimmermehr so anziehen können, wie sie Rafa anziehen. Ich betrachte Rafa ruhig und nüchtern und sage:
"Es gibt einfach nichts an dir, was mir nicht gefällt."
"So, daß ich vor dir weglaufe, gefällt dir also auch!" kommt es lauernd von Rafa.
"Nun - es ist in gewisser Weise so, daß es mir jetzt nicht in dem Sinne 'gefällt', aber daß es eben für mich ganz wichtig ist, daß du ein bestimmtes Problem hast", erläutere ich. "Also, jeder von uns hat einen Schaden, einen Defekt, und es geht für uns darum, daß wir einander diese Defekte kurieren. Und ... es ist so, daß ein Mensch, der 'normaler' ist - ich meine, problemfrei kann sowieso keiner sein, aber daß er in dieser gewissen Hinsicht relativ problemarm ist - der würde gar nicht zu mir passen können. Denn ich brauche jemanden, der ebenfalls ein Problem hat, der eine Herausforderung für mich ist, für den ich etwas tun kann - und der auch für mich etwas tun kann."
"Ja, was kann ich denn für dich tun?"
"Mein Problem ist die körperliche Hingabe. Du müßtest die Barriere in mir niederreißen. Du bist nicht nur sehr intelligent; du bist auch extrem einfühlsam. Du hast mich immer verstanden. Ich habe mich von dir immer verstanden gefühlt. Du hast mich wirklich begriffen. Du hast mich wirklich verstanden. Und das ist nicht unbedingt nur so, daß du es dir bewußt machen konntest oder es mit Worten wiedergeben konntest. Du hast mich mit dem Gefühl verstanden."
"Wie hat sich das geäußert?" möchte Rafa wissen.
"Ja, du hast einfach genau gemerkt, was zu tun war und wann und wie", erkläre ich. "Du hast das einfach im Gefühl, wie du mit mir umgehen mußt."
"Dabei bin ich doch extra patzig!" staunt Rafa, und er muß ein wenig lächeln.
Er scheint sich zu freuen über mein Lob.
"Ja, ich weiß; du gibst dir immer unheimlich Mühe, mies zu sein und bist es doch nicht", sage ich. "Ich weiß, daß du das immer versuchst, mies zu sein."
Ich erzähle, daß unsere Beziehung in meinen Augen von Anfang an sehr ungewöhnlich war und sehr in die Tiefe ging:
"Wir haben da voll die maskierten Gespräche geführt."
"Wann denn, zum Beispiel?"
"Wir haben da so über Dracula und Beißen geredet, und in Wirklichkeit war das eine körperliche Annäherung. Das war echt so eine elegante Art der Gesprächsführung; ich hatte gar nicht gewußt, daß sowas möglich ist."
"Wann war das?" fragt Rafa.
"Anfang Februar '93."
"Dazu gehören aber immer zwei, sowas zu entwickeln", versucht Rafa wieder, unsere Beziehung als einseitig darzustellen.
"Es sind ja auch wir beide, die das entwickelt haben", halte ich an meiner Sichtweise fest.
Rafa sagt nach kurzem Schweigen:
"Du hast also noch nie mit jemandem geschlafen."
"Nein."
"Das - das glaube ich nicht."
"Das ist aber so."
"Das glaube ich aber nicht."
"Das ist klar, daß - wenn man so die Fakten hört, mein Alter und die Tatsache, ich habe noch nie mit jemandem geschlafen - dann klingt das natürlich unglaublich. Dann fällt es natürlich schwer, das zu glauben. Aber man muß die Sache mal nicht nur von vorne sehen, von jetzt aus sehen, sondern man muß sie auch mal von der Vergangenheit aus sehen. Von der Entwicklung her muß man sie mal betrachten. Und zwar, es ist folgendermaßen gewesen:
Mit vierzehn, da war meine Konfirmation, da war ich noch sehr kindlich. Ich war auch in keinen verknallt, außer in einen aus meiner Klasse; an den habe ich mich aber auch nicht 'rangetraut. Und dann mit sechzehn war ich immer noch sehr kindlich. Und mit siebzehn, da bin ich zum ersten Mal richtig so in die Discos gekommen und da auch regelmäßig hingegangen, und da hatte ich auch zum ersten Mal Schulfreunde. Vorher hatte ich überhaupt keine Freunde gehabt. Da hatte ich jetzt zum ersten Mal Freunde; das war für mich etwas ganz Neues. Und da hatte ich zum ersten Mal auch Kontakt zu Jungen, überhaupt, das hatte ich vorher gar nie gehabt. In der Disco, da haben wir dann auch mal welche getroffen, mit denen wir ein bißchen gelabert haben und so, natürlich jetzt alles, ohne daß was gelaufen ist, aber es war überhaupt erstmal Kontakt da zu Jungen. Und von da an bin ich auch regelmäßig da hingegangen. Dann habe ich irgendwann auch mal einen auf der Tanzfläche ein bißchen geneckt. Da habe ich dem irgendwie so Streichhölzer gegeben oder sowas. Und dann hat der dann aber auch gleich mit mir schlafen wollen, und als ich das gesagt habe, daß ich das mit ihm nicht wollte, da ist er gleich wieder weg. Und dann in Italien, da haben Constri und mich zwei junge Italiener umgarnt, und der eine auch, als er gemerkt hat, daß ich nicht mit ihm schlafen will, ist er auch gleich wieder weg gewesen."
"Warum wolltest du mit dem nicht schlafen?" fragt Rafa.
"Weil ich einfach gefühlt habe, daß ich den nicht liebe, daß ich von dem eigentlich gar nichts wollte, und ... die Gefühle waren einfach nicht da."
"So, und daß du jemanden liebst, ist also die Voraussetzung dafür, daß du mit ihm schläfst."
"Ja, und daß mich jemand liebt", ergänze ich. "Ja, ich fühlte mich auch nicht von ihm geliebt. Mit neunzehn habe ich mich endlich mal so mehr oder weniger verliebt, in meinen Friseur, der war aber dann schwul, aber der hat viel für mich getan. Der hat mich in die Szene gebracht und mir beigebracht, mich zu schminken und andere Dinge. Das war sehr wichtig für mich, aber er war eben schwul. Und dann kam ein paar Jahre lang nichts. Da waren dann halt immer wieder Jungen, die fand ich so ganz süß, die gefielen mir, aber da war nie dieses Gefühl dafür gewesen, das Gefühl, daß die mich lieben, daß ich sie liebe. Und dann kamst du. Und erst da habe ich das Gefühl gehabt, daß ich jemanden wirklich liebe und daß er mich liebt und daß dieses Gefühl da ist."
"Und das ist also die Voraussetzung dafür, daß du mit jemandem schläfst."
"Das ist eine Voraussetzung", erkläre ich, "eine der Voraussetzungen dafür."
"Du sagst, du liebst mich."
"Ja. Ich liebe dich."
"Ist damit nicht eine Voraussetzung gegeben?"
"Ja, die eine. Die andere ist, daß meine innere Hemmschwelle zerbricht. Einer von den Jungen, die ich so ganz süß fand, aber die ich nicht kennenlernen konnte, warst du. Ich habe immer so gern mit dir getanzt. Und dann habe ich immer gedacht:
'Jetzt müßtest du den einmal umarmen.'
Aber ich konnte dich ja auch gar nicht kennenlernen, weil ich eben auch dachte, es hat keinen Sinn. Ich habe gesehen, du hast eine Freundin, und da ist jede andere Frau für dich besser als ich, weil ich mit dir nicht ins Bett gehen kann. Und da habe ich gedacht, das hat keinen Sinn; was soll ich tun?
Mit dreiundzwanzig - das war, kurz bevor ich dich zum ersten Mal gesehen habe, ohne zu wissen, welche Bedeutung du einmal für mich haben würdest -, da habe ich festgestellt, da ist mir einfach klargeworden, daß ich aus seelischen Gründen mit niemandem Sex haben kann."
"Warum kannst du mit niemandem Sex haben?"
"Auf der einen Seite sind da starke sinnliche Bedürfnisse und Fähigkeiten. Und auf der anderen Seite ist da eine Hemmschwelle in mir."
"Und woher kommt diese Hemmschwelle?"
"Das ist etwas in meiner Vergangenheit", erzähle ich, wie schon so oft. "Irgendwas ist da passiert. Ich bin da gedemütigt worden. Ich weiß aber auch nicht, wann und wo und wie. Irgendjemand hat mir halt weisgemacht, ich sei irgendwie ... ätzend oder ... nicht dafür geschaffen ... oder Sinnlichkeit sei was Schlechtes und was Abstoßendes und ... irgendjemand hat mir das beigebracht, und ich weiß aber nicht, wer und wie es passiert ist. Es ist nun so: Jeder Junge hat von jeder anderen Frau mehr als von mir, weil ich ihm das nicht bieten kann, was jede andere ihm bieten kann. Und ich kann dafür etwas bieten, was die anderen vielleicht nicht bieten können, aber das zählt nicht so viel."
"Warum, was kannst du denn bieten?"
"Etwas, das du mir sowieso nicht glaubst: Liebe. Aber das glaubst du mir sowieso nicht; es hat keinen Sinn. Ich meine, du wirst es mir eines Tages glauben, aber das ist eine Frage der Zeit; das kann noch lange dauern."
"Weißt du eigentlich, daß ich mir überhaupt keine Beziehung ohne Sex vorstellen kann?" fragt Rafa leise. "Ich kann mir auch keine Beziehung ohne Sex vorstellen", sage ich.
Rafa schweigt einen Augenblick. Schließlich sagt er:
"Zwischen uns sollte das mal zur Eskalation kommen."
"Was meinst du mit 'Eskalation'?"
"Daß ... es mal zum Ende kommt, zum Ziel."
"Was meinst du mit 'Ende'?"
"Das, wo du wohl sagen würdest, daß wir zusammen sind."
"Das sehe ich ganz genauso", stimme ich ihm zu. "Aber warum ist das ein Ende? Das geht doch dann weiter für immer. Ich möchte dich doch für immer haben."
"Ich müßte dich nochmal ganz von vorne kennenlernen."
"Du kannst mich aber nur von vorne kennenlernen, wenn da nicht so eine Frau immer zwischen ist."
"Im Moment habe ich keine Freundin."
"Das ist ja klar; sonst hättest du ja auch nicht zu mir kommen können, wenn du eine hättest."
Ich gehe meinen Gedanken und Empfindungen nach wie einer Fährte. Ich sehe die Wand vor mir, den Schutzwall, mit dem Rafa sich umgibt und in dem die Freundin ein wichtiger Baustein ist. Ich versuche, diesen Schutzwall zu überwinden. Ich versuche, mich ins Innere der Mauer zu versetzen.
"Du hast Angst vor Gefühlen", sage ich. "Du glaubst nicht an den Sinn von Gefühlen. Du glaubst nicht daran, daß sie einen Wert haben, daß sie ein Gewicht haben, daß sie eine Substanz haben. Aber sie haben fast genauso eine Substanz wie Gegenstände."
Rafa schluckt das. Er ist ganz still. Ich frage ihn noch etwas, das ich ihn schon lange fragen wollte:
"Gibt es überhaupt jemanden, mit dem du über mich redest?"
"Nee", antwortet Rafa. "Brauch' ich auch nicht, mit jemanden über dich reden, wenn die Leute mich schon immer auf dich ansprechen."
"Wer ist das denn so alles?"
"Ja, das ist erstmal Ivo ..."
"Ja, den kannst du vergessen; der redet ja eh nur Müll."
"Ja, und dieser ... Toro, so ein etwas Dicklicher mit Feuerwehrjacke", beschreibt Rafa. "Der hat auch mit dir getanzt. Der ist Tischler."
"Ach, Toro! Das ist Toro. Der ist bei der Freiwilligen Feuerwehr."
"Ich denke, der ist Tischler."
"Ja, das ist der auch. Aber der ist nebenbei auch bei der Freiwilligen Feuerwehr."
"Ach, so."
"Was hat der Toro denn zu dir gesagt?"
"Der hat mich gefragt, ob ich mit dir zusammengewesen bin."
"Und du hast natürlich 'nein' gesagt."
"Ja."
"Daria hat mir ja erzählt, du hast zu dem Ivo Fechtner gesagt, du willst mit mir nichts zu tun haben, und ich soll dich endlich in Ruhe lassen."
"Das weiß ich nicht", behauptet Rafa. "Da weiß ich nichts von."
"Oh, du vergißt aber schnell."
"Woher weißt du es?"
"Daria hat es erzählt."
"Ah, so ... das ist doch ganz anders gewesen", scheint Rafa sich herausreden zu wollen. "Der Ivo Fechtner hat nur eine CD von Para zu verkaufen gehabt und wollte dich fragen, ob du sie haben willst. Er hat irgendwie gewußt, daß du sie brauchen kannst. Und da hat der mich gebeten, dich darauf anzusprechen. Er hat gemeint, er hat zu dir irgendwo nicht so den Draht. Dann hat der die CD aber irgendwann verkauft gehabt, und da hatte sich das erledigt."
"Ja, aber das war jetzt ja was ganz anderes", lenke ich das Gespräch wieder zurück. "Das war ja so, daß du zu Ivo Fechtner gesagt hast:
'Ich will mit der nichts zu tun haben. Die soll mich endlich in Ruhe lassen.'"
"Woher weißt du das?"
"Das hat Daria mir erzählt. So, so. Du weißt wohl also gar nicht mehr,was du redest. Du wolltest wohl einfach nur abwehren und immer nur verneinen, verneinen, ne? Weil mit mir auch gar nichts ist, ne? Weil mit mir ja nie was ist, nee."
"Ja, wir waren doch auch nie zusammen."
"Dem Ivo Fechtner hast du gesagt, ich würde dich belästigen", komme ich auf den Punkt."
Aber ich belästige dich nicht. Deshalb mußt immer du kommen."
"Ich muß immer kommen? Und warum faßt du mich dann dauernd an?"
"Ja, wenn du mir bis auf einen gewissen Abstand in die Nähe kommst, dann weißt du, was du dir einhandelst: Streicheleinheiten."
"Wieso 'in die Nähe kommen'?"
"Ja, du mußt doch nicht in meine Nähe kommen. Die Sängerin, die kommt ja auch nicht in meine Nähe."
"Ja, ihr seid verfeindet; da ist das ja sowieso ..."
"Ja, aber du brauchst mir ja auch nicht nahezukommen."
Rafa kuschelt sich in seine Decke und macht die Augen zu. Dann macht er sie wieder auf und fragt:
"An was denkst du?"
"Ich möchte dich gerne umarmen."
"Gibt's nicht."
Rafa betrachtet die Zoids.
"Wie heißen die Dinger da nochmal?" möchte er wissen.
"Zoids. Z-O-I-D."
"Ah."
Rafa kommt einfach nicht zur Ruhe.
"Ich habe Hunger", klagt er.
"Wir haben doch erst was gegessen."
"Ich habe trotzdem Hunger."
"Na, was würdest du denn gern jetzt essen?"
"Hast du Toastbrot?"
"Ja, ich habe Toastbrot. Soll ich dir welches machen? Möchtest du welches haben?"
"Ach, laß' - ich will dich nur'n bißchen nerven."
"Ja, dann nerv' mich mal ordentlich", ermuntere ich ihn. "Ja, dann nerv' mal ruhig drauflos."
Ich umarme ihn und lege mich ein Stück auf ihn.
"Ich will ... ganz viel Sex", sagt Rafa.
"Von wem denn?"
"Vielleicht von dir?"
"Ah, ja."
Da hat Rafa seinem Verlangen nach mir doch wieder Ausdruck verliehen. Er läßt es sich jedoch nicht gefallen, daß ich mich ganz auf ihn lege.
"Ich möchte mich gern auf dich drauflegen", sage ich sehnsuchtsvoll.
"Dann drückst du mir die Luft ab", behauptet Rafa.
"Aber ich bin doch so leicht", erwidere ich. "Ich kann dir doch nicht die Luft abdrücken."
"Wieviel wiegst du eigentlich?"
"Einundfünfzig Kilo."
"Das weißt du so genau?"
"Na ja, manchmal sind's halt zweiundfünfzig Kilo, manchmal fünfzig komma fünf, aber es sind dann meistens doch wieder einundfünfzig."
"Wie oft wiegst du dich denn?"
"Alle paar Tage."
"Warum?"
"Weil ich immer wissen will, ob ich noch einundfünfzig Kilo wiege."
"Na ja, ich wiege immer so zwischen achtzig und neunzig, aber so genau weiß ich das auch immer nicht."
Ich muß wirklich sagen, Rafa ist recht schwer. Und ich finde, daß er sich fürchterlich gut anfaßt, auch wegen seines Gewichts.
Und er hat diesen seltsamen Körpergeruch, der auf mich betörend wirkt. In SHG. habe ich mich über den Geruch in seinem Zimmer gewundert, der an Weihrauch und Patchouli erinnerte. Ich bin damals nicht darauf gekommen, daß Rafa selbst so riechen könnte.
"Ich will so gerne auf dir draufliegen und in deinen Haaren wühlen", sage ich.
"Ja, warum willst du das denn?" tut Rafa erstaunt.
"Weil das eben eine meiner absoluten Lieblingsbeschäftigungen ist."
Rafa bleibt aber störrisch und will mich unter keinen Umständen an sich heranlassen. Ich kann nur sanft über seinen Arm, sein Bein oder seinen Rücken streicheln - so lange, bis Rafa mich abwehrt.
Er dreht sich hin und her; mal sucht er Schlaf, mal sieht er mich mit seinen fragenden Augen an.
"Was 's' los?" kommt es von ihm. "Hm?"
"Ach, was immer los ist."
"Ja, was 's' los?" drängt Rafa.
Nach kurzer Stille klagt er erneut:
"Hetty! Ich kann nicht einschlafen! Ich muß aber schlafen!"
"Das ist ja auch kein Wunder, wenn du mit mir im Bett liegst, daß du dann nicht schlafen kannst."
"Ich habe doch schon mal in deinem Bett geschlafen."
"Nein, du hast damals auf den Sofa geschlafen."
"Ach, stimmt ja!" erinnert sich Rafa. "Wie war denn das?"
"Ja, du bist doch irgendwann aus dem Bett gestiegen und aufgestanden und wolltest angeblich unbedingt zu irgendsoeinem Termin hin. Und dann bist du auf dem Sofa zusammengeklappt und hast da fünf Stunden lang geschlafen. Ja, ich war ja auch damals nicht so blöd, ins Bett zu gehen."
"Und du hast da nicht geschlafen."
"Nein, ich habe da nicht geschlafen, so gut wie nicht."
"Hetty!" stöhnt Rafa. "Ich kann nicht schlafen! Ich bin ein Hungernder, der nicht schlafen kann!"
Ich finde das süß und kichere und kuschle mich an ihn. Ich kann selber nicht schlafen, aber ich will das auch gar nicht. Als ich einmal aus dem Bad zurückkomme, liegt Rafa innen, an der Wand.
"Du liegst ja auf meiner Seite", stelle ich fest.
"Ja, jetzt muß ich mal die andere Seite ausprobieren", erwidert Rafa.
Er hat sein Kopfpolster aus Wolldecken mit auf die Innenseite des Bettes genommen und mir das Kissen hingeschoben; allerdings liegt er unter meinem Federbett. Ich frage ihn, ob er die Steppdecke wieder nehmen will, doch er möchte meine Decke behalten:
"Jetzt nehm' ich mal die."
"Aber die ist doch so warm."
"Die andere Seite ist noch schön angenehm kühl."
Er hat das Federbett umgedreht. Eingewickelt in seinen Mumienverband liegt er da und betrachtet mich, die ich ihm gegenüberliege. Mit einem Finger streicht er mir sorgsam die Haare aus dem Gesicht. Er möchte mich wohl besser sehen können.
Noch etwas Zeit vergeht, dann schläft er endlich, und ich kann in Ruhe meine Hand auf seine Hüfte legen. Rafa wühlt sehr im Bettzeug herum. Mit seinem schweren Körper zerknautscht und zerknüllt er alles, was um ihn ist. Ein Arm oder Bein von ihm lastet auf mir wie ein Bleigewicht. Während Rafa neben mir schläft, werde ich immer leichter. Ich bin krank und kann nicht viel essen. Bald wiege ich nur noch knapp fünfzig Kilo. An der Nordsee muß ich mich wieder auffüttern.
Für ein bis zwei Stunden kann ich an Rafas Seite schlafen. Danach liege ich wach. Auf der Bettkante sitzend schneuze ich mich dann und esse Lakritzbonbons.
Ich bin gerade im Bad, da klingelt der Wecker. Rafa läßt ihn klingeln. Ich mache ihn aus und sage:
"Kleiner Intelligenztest für Ratten: Wie macht man einen fremden Wecker aus?"
Rafa rührt sich nicht; entweder ist er nicht aufgewacht, oder er möchte nicht aufgewacht sein.
Es ist elf Uhr. Es muß gehandelt werden. Ich nehme das Telefon mit in Carls Zimmer, weil ich im Institut anrufen möchte und Rafa ruhig weiterschlafen soll.
"Ich bin krank", sage ich zu Carl. "Ich bin wirklich ganz richtig krank und habe Fieber und alles. Und wenn ich absage, tue ich nicht nur Rafa einen Gefallen, sondern auch mir."
"Wem?"
"Na, dem Rafa."
"Hab' ich's mir doch gedacht", meint Carl. "Das ist Instinkt."
Er hat Rafa nicht gesehen und trotzdem geahnt, daß ich ihn zu Besuch habe.
"So, das mit dem Wecker hat sich erledigt", kann ich Rafa mitteilen, als ich wieder in mein Zimmer komme. "Ich brauche keinen mehr zu stellen. So einfach ist das. Im Institut hat man mir aufgetragen, mich zu schonen. Ich muß denen unbedingt noch eine Karte aus dem Urlaub schreiben. Die sind ja immer alle so nett zu mir."
Am frühen Nachmittag entschwindet Carl.
"So. Carl ist weg", sage ich leise zu Rafa. "Jetzt haben wir die Wohnung für uns."
Ich fahre mit meiner Hand sehr zart und sehr langsam über seine Schulter und seinen Rücken. Der T-Shirt-Stoff wird feucht. Ich taste auf Rafas Arm nach Schweiß, und tatsächlich, er "klebt".
"So muß ich es also machen", denke ich.
Rafas Körper ist sehr warm, und von seiner Nähe wird auch mir sehr warm. Ich werfe meine dünne Decke auf den Boden. Es ist mir, als hätte man in meinem Innern ein Höllenfeuer entfacht. Ich kann erst gar nicht glauben, daß die Wärme von Rafa kommt.
"Draußen muß eine furchtbare Hitze herrschen", vermute ich, weil es mir im Sommer ebenso drückend heiß war, wenn ich im Bett lag.
Ich gehe wieder ins Bad, und als ich zurückkomme, hat sich Rafa mir zugedreht. Er liegt wie schlafend. Ich kuschle mich an ihn, tief an seinen Körper, und er umarmt mich fest. Ich umarme auch ihn.
"Wenn du dir die Zähne putzt, hast du einen reinen Atem", sage ich zu ihm. "Dann kann ich dich küssen."
"Zähne putzen mach' ich, wenn ich aufstehe", entgegnet Rafa stachelig. "Das mach' ich nicht, wenn ich schlafe."
"Oh, bist du böse", beschwere ich mich.
Ich nehme ihn bei den Haaren und ziehe ein wenig. Schließlich dreht sich Rafa wieder zur Wand und wickelt sich von oben bis unten ins Federbett.
"Ich will ausschlafen", sagt er.
"Du willst ausschlafen", wiederhole ich.
"Aber das kann ich ja nicht, wenn du mich nervst", klagt Rafa.
"Das heißt, du möchtest ausschlafen, und ich soll dich nicht nerven", folgere ich. "Hm? Ist das richtig?"
"Ja."
Ich lasse ihn schlafen, doch ich tue es ungern. Gelegentlich streichle ich Rafa mit dem Finger. Ich streiche über seine Haare und seinen Rücken. Ich finde es sehr schade, daß mich der T-Shirt-Stoff von seiner Haut trennt.
Rafa hat sich so fest in das Federbett eingewickelt, daß mich die Wärme seines Körpers nicht mehr erreicht. Nachdem wir beide etwas geschlafen haben, muß ich mir die Steppdecke wieder ins Bett holen. Rafa bewegt sich jedoch im Schlaf. Das Federbett verrutscht. Öfters liegen ein Arm oder Bein von ihm auf mir, oder er begräbt meine Schulter unter seiner.
Als mein Hunger zu groß wird, esse ich grüne Götterspeise. Auch Rafa murmelt irgendwann:
"Hunger."
"Hast du etwas gesagt?"
"Ja. Hunger."
"Ja, willst du frühstücken?"
"Ja."
"Es ist noch jede Menge Toastbrot da. Und Margarine und Marmelade ..."
"Rote Marmelade?" fragt Rafa. "Ja, rote Marmelade. Johannisbeer oder Brombeer oder sowas Ähnliches. Soll ich mal machen?"
"Ja."
"Gut. Mach' ich mal Frühstück."
"So, gib her, die Zahnbürste, komm'", bittet Rafa und steht auf.
Ich gebe ihm eine neue Taschenzahnbürste. Er geht ins Bad. Erst viel später fällt mir ein, daß ich Rafa kein frisches Handtuch gegeben habe. Welches er wohl verwendet hat?
Als Rafa beginnt, sich anzuziehen, gehe ich rasch zu ihm. Er hat sich schon seine Hose und seine Schnallenstiefel angezogen.
"Oh, du ziehst dich ja wieder an", seufze ich.
"Ja. Ich ziehe mich an."
"Oh ... jetzt hatte ich dich gar nicht ausgezogen."
"Nein."
"Oh ... oh ..."
Meine Arme liegen um seinen Hals.
"Na ja, nun?" fragt Rafa. "Was ist? Wollen wir frühstücken?"
"Ja, ja. Wo willst du essen? Hier oder in der Eßecke?"
"Ist egal."
"Ja, wo möchtest du denn lieber essen?"
"Ich sag' ja, ist egal."
"Gut, dann ... dann essen wir in der Eßecke."
"Ja, o.k."
Ich fange an zu decken.
"Was willst du denn trinken?" frage ich Rafa.
"Milch."
"Ja, es ist noch genug Milch da", stelle ich mit einem Blick in den Kühlschrank fest.
Ich habe zuerst so gedeckt, daß der Stuhl für Rafa dem Fenster zugekehrt ist. Dann überlege ich mir, daß sich Rafa besser selbst seinen Platz aussuchen sollte.
"Möchtest du da sitzen?" frage ich ihn.
"Ja", antwortet Rafa, obwohl er noch in meinem Zimmer ist und gar nicht sehen kann, auf welchen Platz ich zeige.
"Du guckst doch gar nicht", bemerke ich.
"Mit dem Rücken zum Fenster", wünscht Rafa.
"Gut, dann decke ich für dich mit dem Rücken zum Fenster."
Mir ist seine Wahl recht. Ich habe meinen Platz an einer Seitenwand, und ich möchte, das Rafa über Eck sitzt.
Auf dem Weg zum Tisch fallen Rafa die Videokassetten neben dem Fernseher ins Auge. Er liest aufmerksam die Etiketten. "Also, die 'Golden Girls' gucke ich nicht", sage ich rasch. "Aber das ist auch noch lange nicht alles. Ich habe ja noch insgesamt über siebenhundert, so sechshundert, siebenhundert Videokassetten."
"Was?" staunt Rafa. "Und das sagst du mir jetzt erst?"
Ich gehe mit ihm in das kleine Zimmer, wo ein Regal voller Videokassetten steht. Rafa sieht das Regal und fragt:
"Und das zeigst du mir jetzt erst?"
"Ja, das ist halt so, das ..."
Rafa geht auf das Regal zu und nimmt sogleich aus den oberen Reihen eine Kassette heraus. "Genau das", sagt er. "Genau das ist der Film. Das ist der Film. Den habe ich gesucht. Genau, da habe ich erst gestern noch drüber geredet. Den habe ich gesucht."
"Welcher ist es denn?"
"'Picknick am Valentinstag'."
Die Kassetten bilden eine helle Wand. Die Beschriftungen sind fein und gleichen sich sehr. Daß jemand aus diesen Hunderten von Kassetten auf Anhieb einen lange gesuchten Film findet, ist nicht sehr wahrscheinlich. Man könnte meinen, daß übersinnliche Kräfte im Spiel waren.
"Ich wußte, daß du den Film hast", meint Rafa.
"Ja, warum?"
"Ich wußte, wenn du eine Schwester hast und den Film schon mal gesehen hast, dann hast du den. Wo hast du den her?"
"Ich habe ihn aus dem Fernsehen aufgenommen."
"Ich habe den irgendwann in den siebziger Jahren mal gesehen, und ich kann mich nur daran erinnern, da war irgendwie sowas mit einer Panflöte", erzählt Rafa. "Und von da an hatte ich so tierisch Angst vor Panflöten, immer, wenn ich Panflöten gehört habe."
Rafa lobt "Picknick am Valentinstag" über die Maßen.
"Das ist echt der Film", sagt er. "Das ist echt - so mit der beste Film. Da gibt es ja auch diese Mysterienfilme, wo irgendwas aufgebaut wird, und in dem hier wird einfach nur so erzählt, so ganz arrogant. Da wird auch nichts erklärt."
"Ja, da wird nie erklärt, was es eigentlich ist und so."
"Ja, normalerweise wird es den Zuschauern fast immer abgenommen, das zu erklären."
"Und hier müssen sie selber eine Erklärung finden."
"Ja."
Rafa nimmt Platz. Die Kerze auf dem T-förmigen Pflasterstein zünde ich auch dieses Mal an. Ich mag gar nicht essen, ohne daß sie brennt.
"Wie findet Carl das eigentlich mit dem Beton?" erkundigt sich Rafa. "Er findet das witzig ... und abgedreht ... und auch ästhetisch", antworte ich. "Ich meine, er hat nur einen Gossenwürfel als Ständer für seine Pflanzen. Und dann hat er noch eine Gedenktafel von der Bundeswehr, die habe ich mal geschenkt gekriegt. Und dann hat er noch einen Sexkalit-Randstein, da steht eine Kerze drauf. Und mehr hat der nicht. Aber er findet das ganz witzig. Das neueste sind ja jetzt diese drei Müllschlackensteine, die ich als Couchtisch habe."
Rafa bekommt einen frischen Aschenbecher neben sein Brett. Den großen Aschenbecher, der in den Ständer gehört, bringe ich zur Spüle. Dann gieße ich mir und Rafa Milch ein. Für mich rühre ich Instant-Eiskaffee an. Rafa will die Milch lieber pur trinken. Und ich will mich beim Frühstück lieber auf Rafa setzen als auf meinen Stuhl.
"Darf ich mich auf dich draufsetzen?" frage ich höflich. "Nein!" sagt Rafa entschieden. "Warum willst du dich denn auf mich draufsetzen?"
"Oh, ich sitze so gerne auf dir drauf."
"Dann kann ich ja nicht essen."
Er läßt mich nicht auf seinen Schoß, also streichle ich zum Ausgleich seine Hose. Ich streichle sie oft, aber nur mit den Fingern, weil Rafa sich sonst wehrt.
Ich lasse ihn essen und esse selbst auch ein wenig. Dann bringe ich wieder mein Anliegen vor:
"Ich will mich so gerne auf dich draufsetzen."
"Ich bin nicht mit dir zusammen."
"Du hast mich aber umarmt - hmm", wende ich ein und nicke.
"Ja, du hast mich an den Haaren gezogen", sagt Rafa.
"Wie hast du eigentlich geschlafen?" erkundige ich mich.
"Nicht besonders."
"Und, warum nicht?"
"Weil ich immer wieder wach geworden bin."
Rafa hat ausgetrunken.
"So, möchtest du dann noch was zu trinken haben?" frage ich.
"Was hast du denn noch?"
"Kaffee ..."
"Und was hast du sonst noch?"
"Zum Beispiel das ..."
Ich zeige Rafa meinen Süßstoff-Grapefruitsaft. Da sagt er:
"Gut, dann Kaffee."
"Gut, dann mache ich Kaffee."
"Mußt du den extra machen?" fragt Rafa. "Ja, aber das ist doch schnell gemacht", entgegne ich und stehe auf. "Wieviel Kaffee nimmst du immer?"
"Ja, em - zeig' mal den Löffel her."
Ich zeige ihm einen Teelöffel.
"Ja, ein - eineinhalb Löffel pro Tasse ungefähr", sagt Rafa. "Gut, dann müssen wir das Experiment wagen", seufze ich. "Kaffee ist für mich immer ein Wagnis. Ein Experiment."
Als die Kaffeemaschine läuft, nehme ich wieder Platz.
"Darf ich mich jetzt auf dich draufsetzen?" frage ich.
"Nein", wehrt Rafa ab. "Nein."
"Oh, ich würde mich so gerne auf dich draufsetzen."
"Ich will das aber nicht."
"Warum willst du das nicht?"
"Ja, weil ich das nicht will."
"Und warum willst du das nicht?"
"Wir sind nicht zusammen."
"Ja, ja, wir haben nur zusammen übernachtet", spiele ich auf Rafas widersprüchliches Verhalten an. "Wir haben nur zusammen im selben Bett gelegen."
"Wovon du das immer ableitest!" sagt Rafa mit Wut in der Stimme. "Aber du weißt das ja sowieso alles viel besser, da du mich ja viel besser kennst als ich mich, nicht?"
Er hat es gar nicht gern, wenn ich sein Verhalten deute. Ich weise ihn oft auf seine schwachen Stellen hin. Auch an diesem Tag kann ich es nicht lassen, ihn auf seine Unzuverlässigkeit anzusprechen. Als mir die Kassette ins Auge fällt, die er neben seinen Frühstücksteller gelegt hat, sage ich:
"Die Kassette hier zum Beispiel betrachte ich schon als verloren."
"Was?" fragt Rafa, entsetzt über soviel Mißtrauen.
"Ja, wie willst du mir die denn zurückgeben?" entgegne ich nüchtern.
"Ja, wir werden uns doch wohl demnächst mal wieder sehen, nicht?" sagt Rafa, und aus seiner Stimme spricht Angst.
"Das meine ich auch", beruhige ich ihn. "Aber du hast doch bald schon wieder eine Freundin, und dann ..."
"Ja, wieso?"
"Dann kannst du mich ja nicht ansprechen", erkläre ich. "Dann hast du doch Redeverbot. Dann darfst du doch nicht mit mir sprechen."
"Ja, aber ich kann sie dir doch so wiedergeben", meint Rafa. "Oder ich schick' sie dir zu."
"Ja, dann müßte ich dir nochmal meine Adresse geben."
Ich will aufstehen, um Zettel und Stift zu holen, doch Rafa hält mich zurück:
"Nun, nun iß doch erstmal. Das ist ja schlimm."
"Ich bin echt schlimm da", entschuldige ich mein hektisches Wesen. "Ich springe beim Essen echt dauernd auf; das gibt's gar nicht, daß ich mal echt ruhig sitze. Carl kennt das auch schon von mir. - Na, ob du das machst, mir die Kassette wiederzugeben ..."
"Was, du traust mir das nicht zu, die dir wiederzugeben?"
"Na ja ... es hat da ja auch schon nicht eingehaltene Versprechen gegeben", erinnere ich Rafa. "Dann hast du auch mehrmals meine Adresse verloren, ne?"
"Ja, das - das war auch mit bewußt", gesteht Rafa. "Sowas kann auch bewußt sein."
"Ja, ja, ich dachte mir schon, daß du die Adresse mit Absicht verloren hast."
"Na ja, jetzt habe ich ja ein neues System."
"Ja, ich weiß; jetzt tust du sie in den Computer 'rein."
"Na ja, früher waren das halt so 'ne Zettel. Die habe ich da so 'rumliegen lassen ... So Zettel aus dem 'Elizium', die lagen halt 'rum, und irgendwann ... na ja ..."
"Da hast du die Zigarettenschachtel wohl auch mit weggeschmissen, wo meine Nummer draufstand."
"Ja."
"Hast du denn nun eigentlich meine Telefonnummer im Computer?"
"Weiß ich nicht."
"'Weiß ich nicht' ... Du hast sie dir nämlich im Juni durchs Telefon diktieren lassen, um sie einzugeben."
"Dann habe ich sie wohl."
"Na ..."
"Kaffee", sagt Rafa fordernd.
"Ja, der ist gleich durch", dämpfe ich seine Ungeduld. "Der ist gleich durch."
Mir fällt noch etwas zu dem Konzert bei der "Nachtlicht"-Eröffnung ein: "Was mich wirklich geärgert hat bei deinem Konzert, war: Erstens hattest du einen Fussel auf der Weste, und ich stand davor, und ich konnte dir den nicht 'runternehmen. Und zweitens hattest du Brandlöcher im Hemd. Und drittens waren deine Handschuhe kaputt."
"Ja, die sind kaputt", weiß Rafa.
Er kichert wie ein kleiner Junge, der stolz darauf ist, daß seine Kleider nie heil bleiben.
"Ja, und das fand ich fürchterlich", steuere ich in die Gegenrichtung. "Das fand ich einfach entsetzlich, daß ich da nichts machen konnte ..."
"Und ich hatte Brandlöcher im Hemd?"
"Ja, sicher."
"Was war'n das für ein Hemd?"
"Das war so ein ganz weites Rüschenhemd."
"Ja, das war das, dieses kaputte ... em ... ja, das, das hatte ich ... da hatte ich keine Zeit mehr, da habe ich das angezogen."
"Mein Gott, aber mit Brandlöchern, das geht nicht, das ..."
"Ja, wieso? Das stört mich doch weiter nicht, wenn da so kleine Löcher drin sind."
"Mein Gott, das ist doch fürchterlich. Das geht einfach nicht. Das ist unmöglich."
"Ob da jetzt ein Fussel auf der Weste ist oder irgendwelche Löcher, das ist doch egal", findet Rafa.
"Das geht aber nicht", rege ich mich weiter auf, und ich genieße es, Rafa endlich meinen Ärger über seine Nachlässigkeit mitteilen zu können. "Deine Freundin hat sich ja da auch überhaupt nicht drum gekümmert. Sie hat da ja überhaupt nicht auf deine Garderobe geachtet."
"Das muß sie doch auch nicht."
"Das ist aber doch deren Pflicht", erwidere ich. "Das muß sie doch."
"Das ist doch nicht deren Pflicht."
"Natürlich! Die muß doch darauf achten, daß du vernünftig angezogen bist und deine Garderobe übergucken. Die kann dich doch nicht so auf die Bühne lassen. Das - das geht doch einfach nicht."
"Ja, wieso - haha, wir leben doch hier nicht im Mittelalter oder im Orient oder sonstwo."
"Das hat mit der Zeit nichts zu tun", gebe ich zurück. "Das ist einfach eine Tatsache, daß es ihre Pflicht ist. Sie muß darauf achten, daß du ordentlich gekleidet bist, genug zu essen hast und gesund bist und nicht zuviel rauchst und trinkst."
"Das war die Aufgabe meiner Mutter, bevor ich achtzehn war."
"Ja, jetzt ist es die Aufgabe deiner Freundin."
"Das ist nicht die Aufgabe meiner Freundin."
"Doch, ganz genau das ist ihre Aufgabe", sage ich bestimmt. "Sie muß sich doch um dich kümmern. Die kann dich nicht in so einem Hemd auf die Bühne lassen."
"Wenn ich das aber anziehen will?" fragt Rafa kampflustig.
"Wenn du eine Freundin hast, die dich richtig unter der Fuchtel hat, dann geht das auch nicht."
"So, wenn sie mich unter der Fuchtel hat."
"Ja, du hast dir auch immer nur Freundinnen gesucht, die dir unterlegen waren. Mit denen konntest du ja auch wirklich machen, was du wolltest."
"Ich suche immer Frauen, die mir ebenbürtig sind."
"Du nimmst dir aber immer nur welche, die dir unterlegen sind", sage ich und stehe auf, um den Kaffee zu holen.
"Und du?" fragt Rafa. "Wie bist du?"
"Ich bin dir ebenbürtig."
"Das kommt mir aber nicht so vor, daß du findest, ich bin dir ebenbürtig."
"Warum denn nicht?"
"So, wie du mich behandelst ..."
"Oh, was meinst du, was ich dir zutraue!" "Na ja, wenn du meinst, daß ich dir noch nicht mal eine Kassette wiedergeben kann ..."
"Das ist es gar nicht", erkläre ich. "Das sind andere Sachen. Was du auf der einen Seite vielleicht nicht kannst, kannst du auf der anderen Seite umso mehr. Ich traue dir zu, mich von allen Gefahren zu befreien, mich zu schützen und zu versorgen."
"Ach, ob ich das kann?"
"Ah, jetzt glaubst du selber nicht an dich, hm?"
"Ja, wie soll ich das können, wenn ich noch nicht mal eine Kassette wieder zurückgeben können soll?"
"Na ja, das sind eben die Sachen - auf der einen Seite Schwächen, auf der anderen Stärken. Ich habe auch Schwächen und Stärken. Ich kann zwar nicht mit dir schlafen. Aber ich kann dich lieben. Und ich liebe dich konsequent."
Ich schenke Rafa zuerst Kaffee ein. Er nimmt ihn mit Zucker. Während ich mir selbst Kaffee zu dem Rest von meinem Mokka-Mixgetränk schütte, sagt Rafa:
"Der Kaffee ist o.k."
"Gott sei Dank."
"Warum?"
"Ich möchte es halt immer allen recht machen. Ich will es halt immer perfekt machen. Nicht, daß man mir nachsagen kann, ich könnte keinen Kaffee kochen. Ich will nie, daß jemand Grund hat, sich über mich zu beklagen."
"Ich beklage mich nie."
"Ja, trotzdem ist es eben auch meine persönliche Eitelkeit", erkläre ich.
Mir fällt der Wunsch ein, den Rafa vorhin im Bett geäußert hat.
"Du hast gesagt, du willst mich kennenlernen", komme ich auf diesen Wunsch zurück. "Das geht aber nicht, wenn da immer eine Frau dazwischen ist."
"Warum? Wieso?"
"Du kannst nicht beides, mich kennenlernen und mit den Frauen 'rummachen."
"Warum?"
"Weil ich es nicht dulde."
"Und warum nicht?"
"Ich dulde keine Untreue", sage ich bestimmt. "Außerdem hast du selbst gesagt, daß deine Traumfrau keine Untreue duldet. Und ich dulde sie nicht. Also."
"Ach, was weiß ich, wann ich meine Traumfrau finde."
"Erstens sitzt sie neben dir - und zweitens kannst du überhaupt erst eine feste Beziehung haben, wenn du nicht mehr dauernd mit irgendwelchen Frauen was hast."
"Ich habe immer mit irgendwelchen Frauen was. Ich kenne halt so viele Frauen."
"Ja, du mußt doch nicht mit denen allen schlafen, bloß weil du die kennst. Du kannst doch auch mal ganz klar und schlicht und einfach 'nein' sagen.
Ich kenne auch viele. Ich habe auch viele Freunde. Aber das heißt deshalb noch lange nicht, daß ich deshalb mit irgendeinem von ihnen ins Bett gehe, nur weil ich mit ihm befreundet bin. Du bist der einzige Typ, der das Recht und die Pflicht hat, in meinem Bett zu schlafen. Constri darf es auch nur, wenn sie in Not ist und nicht nach Hause kommt."
"Ja, echt?" staunt Rafa.
"Ja! Ich ziehe eben sehr strenge Grenzen. - Du mußt dich entscheiden. Du kannst nur eins: Entweder du lernst mich ganz von Anfang an kennen, oder du machst weiter mit den Frauen 'rum. Du mußt wissen, was du lieber willst."
Rafa schweigt. "Und, wie sieht's aus?" frage ich nach. "Wenn du mich kennenlernen willst, mußt du dieses Sexualverhalten ablegen. Du mußt dich entscheiden - entweder du lernst mich kennen, oder du machst weiter mit den Frauen 'rum. Beides geht nicht."
Da holt Rafa tief Luft und sagt: "Ich kann immer, was ich will."
"Auch wenn es sich widersprechende Sachen sind, hm?"
"Dann - dann mach' ich's eben nacheinander!"
"So, du willst also erst mit den Frauen 'rummachen und mich dann kennenlernen oder umgekehrt - ja, wie ist es denn nun? Was möchtest du denn nun?"
Rafa mag mir darauf keine rechte Antwort geben. Was Entscheidungen betrifft, meint er, er habe sich doch schon für eine Frau entschieden.
"Du hast aber auch ziemlich oft immer wieder Schluß gemacht", muß ich ihn erinnern.
"Ja, das mit Tessa, da hat ja sie Schluß gemacht", behauptet Rafa. "Das war ja gar nicht ich."
"Es war aber Schluß. Es war definitiv Schluß. Es war achtmal Schluß, und jetzt wird wahrscheinlich bald ein neuntes Mal Schluß sein und ein zehntes Mal. Das kann noch lange dauern. Das kann noch Jahre dauern. Aber irgendwann wirst du mürbe. Da geht das dann einfach nicht mehr."
"Und darauf wartest du."
"Wieso warten? Ich tue doch was. Ich sitze doch nicht nur 'rum und warte."
"Ich will mich schnell entscheiden können", sagt Rafa nach einigem Nachdenken.
"Für mich entscheidest du dich aber nur sehr langsam", entgegne ich.
"Ja?"
"Ja, das ist ein sehr zäher Prozeß. Das dauert Jahre."
"Glaubst du?"
"Ja. Das habe ich mir schon gedacht, daß ich dich nicht von einem Tag zum anderen einfach haben kann."
"Das ist auch unsinnig", meint Rafa. "Ich kann das auch nicht, mich auf jemanden einzulassen, den ich noch nicht richtig kenne. Ein Freund von mir hat kürzlich geheiratet. Der hat sich vorher nie besonders für Frauen interessiert. Und dann hat der mal eben eine in der Disco kennengelernt und die dann gleich geheiratet. Also, das ist ..."
"Ja, das geht auch nicht. Du mußt dich eben jetzt entscheiden, ob du mich kennenlernen oder weiter mit den Frauen 'rummachen willst. - Du hast im Juni dir vorgenommen, ohne mich zu leben. Wie ist es denn damit? Nun bist du ja hier. Wie ist es damit?"
"Ich stelle mich", sagt Rafa.
"Heißt das, ich habe gewonnen?"
"Das heißt das nicht", erwidert Rafa. "Ich habe nur gesagt, ich stelle mich ... den Dingen."
"Du meinst also, daß du jetzt auch immer noch ohne mich lebst."
"Ich lebe ohne dich."
"Wieso? Du bist hier. Und du hast mich sogar umarmt."
Ich möchte von von Rafa noch etwas erfahren über sein Familienleben - wie es früher war und wie es jetzt ist. "Warum habt ihr eigentlich deinen Vater im Wohnzimmer aufgebahrt und nicht im Beerdigungsinstitut?" frage ich.
"Das hatte zwei Gründe", erzählt Rafa. "Einmal war es eben so: Mein Vater hat immer gesagt, daß er Angst davor hat, mal lebendig begraben zu werden. Da hat der auch mal was drüber gelesen und gehört davon, von Leuten im Krieg, die sich die Finger abgekaut hatten und solche Sachen. Da hat der richtig Angst vor gehabt, sonst eigentlich auch vor nichts. Das war einmal das. Und außerdem wird man mit einem toten Vater nicht fertig, wenn man ihn nicht sehen kann."
"Ja, ihr konntet dann besser Abschied nehmen von ihm."
"Das war ja überhaupt nicht nur ... Das war ja auch noch das ganze Drumrum", fährt Rafa fort. "Die Beerdigung war ja am 24.12. Und das ist ... damals war ich vielleicht - ich weiß nicht - dreizehn, vierzehn -"
"Du warst dreizehn."
"Da ist Weihnachten noch was."
"Ja."
"Da ist Weihnachten wirklich noch was. Ich meine - dann, da ist es noch was. Und dann war es auch kurz vor meiner Konfirmation und kurz vor meinem Geburtstag. Und dann waren das ja auch noch die ganzen Umstände da. Das war ja noch mehr. Da kam ja noch mehr dazu. Ich weiß aber nicht, ob ich dir das jetzt erzählen soll."
Ich sehe zu Boden und warte, damit Rafa sich überlegen kann, was er mir sagt und was nicht.
"Was habe ich dir denn schon erzählt?" fragt er schließlich.
"Du hast erzählt, auf der Beerdigung wäre deine Mutter in der Kirche eingeschlafen", beginne ich, "und zwei Cousinen wäre schlecht geworden ..."
"Warum?"
"Ich weiß nur, du hattest gesagt, denen wäre schlecht geworden. Und einer, der manchmal epileptische Anfälle hat, der hätte da so einen Anfall gekriegt."
"Ach, dann habe ich dir das ja doch schon erzählt."
"Ja, der ist voll auf so eine Bank geknallt."
"Ja, der ist ja da fast draufgegangen bei."
"War es also nicht nur ein Grand mal-Anfall, sondern noch mehr?"
"Ja, das war vor allen Dingen deshalb, weil der eben da ja so draufgeknallt ist. Das war voll die Blutlache. Das war so 'ne Blutlache", erzählt Rafa und breitet die Arme aus. "Da ist es gut gewesen, daß einer von den Freunden von meinem Vater Arzt ist, und der konnte dem ja dann gleich noch helfen. Da kam er dann gleich ins Krankenhaus. Das ist auch neben dem Friedhof gleich, das Krankenhaus."
"Das ist ja auch sinnig."
"Ja."
"Hast du eigentlich Wut auf ihn gefühlt, weil er gegangen ist?"
"Nein, nur Wut auf das Schicksal."
"Das Schicksal, das ihn dir genommen hat."
"Ja."
"Hast du eigentlich geweint, als dein Vater gestorben ist?"
"Das weiß ich nicht", antwortet Rafa nach kurzem Schweigen. "Ich glaub', eher nicht."
"Das ist ja auch seltsam, weil du doch so ein sehr inniges Verhältnis zu ihm hattest."
"Na ja - wenn man was nicht wahrhaben will ..."
"Ja, dann hast du verdrängt, hm?"
"Ja - wir alle haben verdrängt", sagt Rafa. "Wir verdrängen auch jetzt noch."
"Wahrscheinlich war es so, daß ihr damit einfach nicht fertiggeworden seid", vermute ich. "Ihr konntet damit nicht fertigwerden. Es war nicht möglich für euch, damit fertigzuwerden. - Das hat sicher Folgen für euch alle gehabt. Das hat Spuren hinterlassen."
"Mit Sicherheit."
"Was kann das zum Beispiel alles so sein?"
Rafa vermag das nicht im Einzelnen zu beschreiben.
"Das hinterläßt ja auch Spuren, sowas", sagt er verallgemeinernd. "Das ist ja ..."
"Das sind wahrscheinlich auch Sachen, die sich auch heute noch auswirken."
"Das hat uns alle verändert. Meine Mutter hat es auch zu ihrem Vorteil verändert."
"Zu ihrem Vorteil?"
"Ja."
"Aber sie hat doch ihren Partner verloren. Wie kann das zu ihrem Vorteil sein?"
"Ja, jetzt - jetzt habe ich echt Respekt vor ihr."
Hatte Rafa den vorher nicht ...?
"Die ist sechzig, und die ist in diesem Reisebüro auch so zweite Chefin, die schmeißt also praktisch den Laden", erzählt Rafa stolz. "Und das ist also nicht einfach irgendsoein kleines Reisebüro, so eine Klitsche, sondern die machen auch richtig Busfahrten und Umzüge und solche Sachen. Und dann hat die ja noch die kleine Galerie."
"Ja."
"Und dann hat die noch Skatclub und Singleclub und Italienisch ..."
"Ja, und nie Zeit, um nachzudenken."
"Oh, die denkt schon genug nach."
"Ja, aber wenn man einen Partner hat, wenn man in einer glücklichen Partnerschaft lebt, dann braucht man für den ja auch Zeit und kann gar nicht so viel machen. Das kann man ja eigentlich nur, wenn man alleine ist."
"Ja, meine Mutter ist Nachkriegsgeneration", erklärt Rafa. "Das waren echt welche, die haben echt gearbeitet und gearbeitet und gearbeitet."
"Haben deine Eltern früher auch immer nur gearbeitet?"
"Sicher, die haben immer gearbeitet."
"Ja, dann hatten die aber nie Zeit für sich."
"Ja, die hatten schon Zeit für sich. Die haben ja gemeinsam gearbeitet. Die haben ja was geschaffen. Die haben es ja von Nichts zu einem Haus gebracht."
"Aber dann hatten die ja nie Zeit. Ich meine, wenn man zusammen ist, dann müßte man sich auch sehen. Dann braucht man Zeit füreinander."
"Ja, die haben sich ja gesehen. Die haben ja zusammen das Haus renoviert. In der ganzen Zeit war da vielleicht einmal ein Handwerker drin. Mein Vater, der war ja Elektriker, und meine Mutter, die hat halt tapeziert und Fliesen verlegt und Böden verlegt. Das haben die alles alleine gemacht."
"Hast du immer in den Zimmern gewohnt, in denen du jetzt wohnst?"
"Na ja, früher haben wir da noch woanders gewohnt. Wir wohnen da ja erst seit '79. Da habe ich erst das eine Zimmer gehabt, das nach hinten 'rausgeht, das, wo jetzt das Schlafzimmer ist."
"Das ist ja auch nicht gerade sehr groß, ne?"
"Na ja, es geht."
"Wo habt ihr denn vor '79 gewohnt?"
"Da haben wir noch woanders gewohnt, bei der Ziegelei. Mein Vater hat im VW-Werk in H. gearbeitet als Elektriker, und meine Mutter hat bei der Ziegelei gearbeitet als Sekretärin. Da waren da auch so Wohnungen, da haben wir gewohnt. Die Ziegelei, das war überhaupt der Abenteuerspielplatz. Und neben der Tonkuhle ist auch gleich der Friedhof."
"Und neben dem Friedhof das Krankenhaus."
"Ja. Das war wirklich der Abenteuerspielplatz. Da konnte man seltene Tierarten sehen und solche Sachen ... und Fossilien ... voll die Fossilien sammeln und ... Floß fahren ... Da hat es auch Kammolche gegeben ..."
"Habt ihr da denn auch Kaulquappen gesammelt?"
"Damit haben wir uns nicht aufgehalten", sagt Rafa wegwerfend. "Da mußte man nur in so einem Buch nachschlagen und nachlesen, was da für Tierarten waren. Und dann stand da 'Rotbauchunke'. Und dann mußte man nur da hingehen und ein bißchen gucken, und dann hat man so ein Ding dann da auch noch gesehen. Ich bin auch voll traurig gewesen, als wir da weggezogen sind."
"Geht ihr da immer noch hin, Fossilien sammeln?"
"Die Tonkuhle, die ist bis Oberkante Unterlippe voll Wasser."
"Die ist bei uns in Awb. auch voll Wasser."
"Wir waren erst kürzlich wieder in Eb."
"Ach, da gibt es auch eine Tonkuhle?"
"Ja."
"Eb. ist ja nördlich von H."
"Ja. Da kann man voll die Fossilien sammeln. Da sieht man auch schon voll die Furchen. Das ist so komisch. Da hat mein Bruder schon alles weggegraben."
"Dann muß er ja schon ganz schön viele Fossilien haben."
"Ja, klar. Ich meine, der macht das ja schon, seit er sieben ist."
"Und wie bewahrt der die immer auf?" möchte ich wissen. "Hat der da Schränke dafür?"
"Da hat er wohl Regale oder sowas. Aber er hat auch immer wieder was weggeschmissen."
Ich will noch mehr herausfinden über Rafas Verhältnis zu seiner Familie.
"War es eigentlich so, daß deine Eltern beide deine Bezugspersonen waren, oder war mehr einer von den beiden deine Bezugsperson?" frage ich.
"Meine Bezugsperson war eigentlich immer meine Mutter", antwortet Rafa. "Aber mein Vater war mein Vorbild. Und wenn man sein Vorbild verliert, seinen Helden, das ... Eine Bezugsperson kann man noch ersetzen, aber ein Vorbild, einen Helden, den kann man nicht ersetzen. Und das ist besonders schlimm in dem Alter so ... zwischen zwölf und fünfzehn. So mit dreizehn, vierzehn Jahren, das ist am Schlimmsten. Davor, da rafft man das noch nicht richtig. Und danach, da ist man dann schon so ..."
"... stabil ..."
"... so selbstsicher, da ist es auch nicht mehr so ... Aber in dem Alter ist es am Schlimmsten."
"Waren deine Eltern sich eigentlich treu?"
"Weiß ich nicht", entgegnet Rafa. "Nicht daß ich wüßte, daß sie sich untreu gewesen wären."
"Ja, aber ... das ist doch eigentlich seltsam: Deine Eltern haben dir doch schon eine treue Ehe vorgelebt, und trotzdem bist du dazu nicht imstande."
"Ja, es überträgt sich doch nicht alles."
"Aber das ist doch wirklich reichlich merkwürdig, daß du damit solche Schwierigkeiten hast. Wie willst du denn jemals eine Familie haben, wenn du nicht imstande bist, treu zu sein?"
"Wahrscheinlich ist das ... eh erst was für später", sagt Rafa zögernd.
"Wenn du Kinder hast, und du bist deiner Frau nicht treu, dann läuft die dir weg und nimmt die Kinder mit oder läßt sie da, und dann nachher hast du Scheidungswaisen, und das ist für die Kinder bestimmt auch nicht so gut. Und ich weiß, daß du genug Verantwortungsgefühl hast, um zu wissen, daß das nicht gut ist. Und wenn du fremdgehst, und die Kinder kriegen das mit: 'Ah, Papi kommt heute abend wieder nicht nach Hause! Ist bestimmt wieder bei einer anderen!' - das ist bestimmt für die auch nicht gut, und so viel Verantwortungsgefühl hast du allemal, daß du weißt, daß das nicht gut ist."
"Ja, Kinder will ich wahrscheinlich erst dann haben, wenn es eigentlich schon zu spät dafür ist", meint Rafa.
"Eine feste Partnerin willst du aber auch erst dann haben, wenn es zu spät dafür ist", schließe ich.
"Na ja, eine Partnerschaft, dafür ist es ja nie zu spät", findet Rafa. "Für Kinder ist es ja eigentlich auch nie zu spät, aber irgendwann ist es halt nicht mehr so gut, wenn - mein Sohn ist zehn, und ich bin dann schon sechzig."
Rafa schafft zwei Toasts. Als ich ihn frage:
"Na, willst du noch ein Toast haben?"
antwortet er:
"Ach, nein - ich eß' nachher bei Kappa noch was."
Schließlich steht er auf und fragt: "So - bestellst du mir ein Taxi?"
"Aber du bist doch noch gar nicht ganz angezogen."
"Das mache ich noch, jetzt."
"Na ja, dann können wir das Taxi auch danach bestellen."
"Ach, komm', jetzt - bestellst du mir jetzt eins?" bittet Rafa, und aus seiner Stimme sprechen Ungeduld und Angst. "Bestellst du mir ein Taxi?"
"Das hat doch noch Zeit, bis du dir was übergezogen hast."
"Ach ... ruf's mir doch schon, das Taxi. Bestell' mir doch schon das Taxi. Es dauert doch noch, bis es kommt."
"Das kommt sofort. Das kommt nach zwei Minuten. Das hat noch Zeit."
Rafa geht mit raschen Schritten in mein Zimmer.
"So, bestellst du mir ein Taxi?" wiederholt er, nun in einem eher geschäftsmäßigen Ton. "War nett bei dir. Haben uns schön unterhalten. Vielen Dank für Speis und Trank."
Ich lege immer wieder meine Arme um ihn.
"Kannst du mir Musik anmachen?" bittet er.
Ich suche in meinen Kassetten herum.
"Hast du schon mein Album?" fragt Rafa.
"Nein. Du hast es mir ja noch nicht geschenkt."
"Im Februar gibt's das neue."
"Ja, die neue CD. Aber bitte ohne Sängerin."
"'türlich mit Sängerin!"
"Ja, aber nimm' Zinnia. Dann nimm' Zinnia."
"Is' nicht."
"Oh, nicht schon wieder mit dieser Ische!"
"'türlich! Tessa gehört doch dazu! Und sie macht vielleicht auch wieder mit!"
"Oh, nein ..."
"Ja, aber jetzt nimmt sie auch Gesangsunterricht", gibt Rafa zu bedenken. "Da wird das ja dann schon besser."
"Das wird es schon. Aber sie wird nicht in der Band sein, ohne mit dir zusammenzusein."
"Das hat damit nichts zu tun."
"Klar doch. Die ist doch sowieso nur in der Band, wenn sie mit dir zusammen ist."
"Das ist überhaupt nicht wahr."
"Natürlich. Das habe ich doch verfolgt. Die macht das nicht, daß die mit dir in der Band ist und nicht mit dir zusammen ist. Die würde das nie tun, daß die in deiner Band singt und dich mir überläßt. Das würde die nie tun."
"So, machst du ... Musik an?" bittet Rafa wieder.
Ich lege eine Kassette ein, die melancholische Stücke von der "Revelations 23" von Mentallo & The Fixer enthält und noch mehr Melancholisch-Elektronisches. Es läuft "My Animosity" von Mainesthai.
"Hast du eigentlich eine 'Nachtlicht'-Clubkarte?" erkundigt sich Rafa.
"Nein."
"Ah, ja ..."
Rafa streift das T-Shirt ab. Dann nimmt er sich sein Hemd und flüchtet damit in den Flur, weil ich ihm unablässig folge und er keine Ruhe hat zum Anziehen.
"Bestellst du mir ein Taxi?" bittet er von Neuem.
"Komm', auf die kurze Zeit kommt es auch nicht mehr drauf an", meine ich.
"Es kommt drauf an", entgegnet Rafa. "Mensch, ich muß - ich muß zu Kappa. Ich hab' ihm gesagt, ich komme um eins, und jetzt ist es - ist es sonstwann."
"Ich rufe dir auch gleich das Taxi."
Ich versuche immer wieder, Rafa zu umarmen.
"Oh, ich muß dich unbedingt umarmen!" seufze ich. "Umarmen, solange du nichts anhast! Oh, jetzt konnte ich dich gar nicht ... oh, jetzt muß ich dich unbedingt umarmen, solange du nichts anhast."
Rafa wehrt sich zäh, doch nicht weniger unnachgiebig kuschle ich mich an ihn.
"Du kannst mich doch auch umarmen, wenn ich was anhabe", meint Rafa.
"Ja, aber wenn du nichts anhast, ist das doch viel schöner!" entgegne ich.
Ich schließe meine Augen und öffne sie nur noch, wenn Rafa mich allzu weit von sich schiebt.
Mit Mühe gelingt es Rafa, das schwarze Priesterhemd anzuziehen und zuzuknöpfen. Ich umarme ihn immer weiter und sage dauernd:
"Oh, das ist so schön. Das ist so schön. Laß' mich doch noch ein bißchen."
Rafa weicht wieder in mein Zimmer zurück.
"Oh - ruf' mir ein Taxi, bitte", fleht er, als ginge es ihm an die Gurgel. "Ich muß zu Kappa. Ich muß in drei Stunden das 'Nachtlicht' aufmachen. Bitte, bitte. Ruf' mir doch ein Taxi. Bitte, bitte, bitte."
"Ein bißchen noch. Laß' mich noch ein bißchen. Das ist so schön."
Einen Augenblick läßt Rafa mich gewähren, redet aber ununterbrochen.
"Das?" fragt er und zeigt auf die weißgekleidete Barbiepuppe auf meinem Stahlschrank. "Hast du das selbst genäht oder irgendwo gekauft?"
"Das habe ich gekauft. Das ist eine Barbiewäschegarnitur. Nur die Schleife habe ich selber gemacht."
Rafa betrachtet die Grabinschrift vom Barbiegrab und fragt:
"Was steht denn da eigentlich?"
"'Hier ruht Barbie, gestorben 1992'."
"Ist da denn wirklich was drinne?"
"Nein, das ist nur Bausand."
Rafa greift nach seiner Jacke.
"Oh, du ziehst dir ja die Jacke an!" rufe ich traurig.
Ich kann ihn nicht daran hindern und bedaure es sehr, daß mich so viel fester Stoff von Rafas Körper trennt. Trotz der Jacke streichle ich ihn weiter. Mit einem tiefen Seufzen läßt sich Rafa auf mein Sofa fallen.
"Oh, ich muß mich unbedingt auf dich draufsetzen", sage ich und klettere neben ihn.
"Wo ist der Ascher?" fragt Rafa. "Wo ist der Ascher?"
Er holt sich den kleinen Aschenbecher vom Eßtisch und muß feststellen, daß er nicht in den Ständer paßt.
"Der ist in der Küche", sage ich. "Den habe ich dahin gebracht."
Rafa holt den großen Aschenbecher aus der Küche und setzt ihn in den Ständer. Dann zündet er sich eine Zigarette an. Dieser folgen noch etwa vier weitere. Während Rafa raucht, kniee ich auf dem Sofa und habe die Arme um seinen Hals liegen. Ich setze meine Versuche fort, mich auf Rafa zu setzen. Er lobt mich:
"Bis darauf, daß du mich an den Haaren gezogen hast, warst du echt - flauschig."
"Du magst es nicht, wenn ich dich an den Haaren ziehe."
"Nee. Ich hasse es, wenn man mich an den Haaren zieht."
"Mann, da habe ich dich aber schon ganz schön oft geärgert", stelle ich fest.
"Gefällt dir das, wenn ich bei dir schlafe?" fragt Rafa.
"Ja, sicher."
"Warum?"
"Ich will ja mein ganzes Leben mit dir verbringen."
Dazu sagt Rafa nichts. Stattdessen gerät er wieder in Aufbruchstimmung.
"So ..."
, sagt er. "Haben uns nett unterhalten ... komm' vielleicht auch mal wieder ..."
Ich will ihn immer noch nicht gehen lassen. Er entwindet sich meinem Griff.
"Nicht, nicht", warnt er. "Ich asch' sonst nur auf dich drauf."
Bei einem erneuten Versuch, mich auf Rafa zu setzen, packt er mich und legt mich auf seine Knie. Ich greife nach seiner Schulter, lasse den Kopf zurückfallen und schließe die Augen.
"Das ist so schön", sage ich ein ums andere Mal. "Das ist doch so schön."
Rafa zieht ungeduldig an seiner Zigarette und fragt:
"Was ist so schön?"
"Ich liege immer so gerne auf dir drauf."
"Aber du hast mich doch die ganze Nacht gehabt."
"Ja, aber du hast nur neben mir gelegen und geschlafen. Ich konnte dich nicht umarmen und streicheln und anfassen."
Rafa sieht sich das große Bild vom "Nasty Ninja" an, das Rikka gemalt hat.
"Gegen wen?" fragt Rafa zu der Unterzeile "Elektro-Betty versus Black Nasty Ninja".
"'Black Nasty Ninja'."
"Was soll das heißen?"
"'Böser schwarzer Ninja'."
"'This time you will hate me'", liest Rafa vor.
"Ja, das hat Rikka geschrieben", erzähle ich. "Das bedeutet, daß du immer versuchst, mich dazu zu bringen, dich zu hassen. Aber ich hasse dich ja nicht. Ich liebe dich ja."
"Soll ich das da sein?" fragt er zu dem Ninja-Krieger.
"Ja, das soll dich darstellen", antworte ich. "Ich meine, es gibt dich nicht wieder. Ich kann dich ja viel besser malen. Constri hat das ganz gut hingekriegt, als sie diese Spielkarte gemalt hat mit 'Ganz in Weiß', die jetzt im Flur hängt."
"Hast du mich noch öfter gemalt als da?" fragt Rafa, und mit "da" meint er wohl die Zeichnung von 1989. "Ja", antworte ich.
"Wo denn?"
"Ja, guck', da, das bist doch auch du auf dem Bild da unten."
Rafa dreht sich etwas, um die fein gezeichnete Darstellung einer innigen Zweisamkeit betrachten zu können.
"Wenn ich verwese, geht auch mein Schatten dahin", steht neben der Zeichnung eines verschlungenen Paares. Er sitzt auf einem Sofa, und sie beugt sich über ihn.
"Das bist doch auch du, da", wiederhole ich. "Ich kann deine Körperformen viel besser wiedergeben, insgesamt. Ich kenne dich eben viel besser."
Schließlich schiebt Rafa mich zur Seite und steht auf. Er sieht, daß ich mit meinem langen Nachthemd kämpfe und hält mir seinen Arm hin, damit ich mich daran in die Höhe ziehen kann. Ich richte mich auf und greife nach seinem Arm.
"Rufst du ein Taxi?" fragt Rafa wieder. "Bitte, ruf' doch ein Taxi. Bitte, ja? Bitte, ja! Sonst ruf' ich ein Taxi!"
"Nein, ich rufe es. Komm'. Komm'."
"Wo hast du dein Telefon? Wo hast du's? Wo hast du dein Telefon?"
"Im Flur. Aber ich ruf' dir gleich ein Taxi. Ich mach' das gleich. Nur noch ein bißchen umarmen. Noch ein bißchen."
"So, paß' auf, daß ich nicht auf deine Füße trete."
Rafa strebt zur Tür. Ich halte ihn auf, indem ich locker die Arme um seine Schultern lege und ihm in die Augen schaue.
"Ich rufe ..."
, sagt Rafa.
"Ich rufe gleich", bremse ich. "Ich rufe auf jeden Fall gleich ein Taxi. Aber nur noch ein bißchen, ein kleines bißchen umarmen. Ein kleines bißchen umarmen."
"Rufst du ein Taxi? Weißt du eine Nummer?"
"Ja, 3811. Aber erst mußt du dich ja noch anziehen."
Rafa wird immer unruhiger. Er läuft hin und her. Ich lasse nicht ab von ihm.
"So, ich brauche jetzt noch einen Kamm oder eine Bürste", verlangt er schließlich.
Rafa nimmt meinen Taschenkamm. Er läßt sich auch mit Spray aushelfen. Dann geht er ins Bad und bindet sich das Haar ordentlich zum Pferdeschwanz. Ich beobachte durch die offene Tür, wie er sich schön macht. Das gefällt ihm nicht.
"Aus - zu", sagt Rafa und schließt die Tür. Als er aus dem Bad kommt, legt er mir die Zahnbürste auf den Hocker und sagt:
"Da."
"Kannst du ruhig mitnehmen."
"Nein, laß'; ich laß' sie ruhig hier. Vielleicht komm' ich ja nochmal wieder."
Ich entdecke, daß die Schleife in Rafas Pferdeschwanz nicht richtig sitzt. Die Bänder, die wie Schwalbenschwänze geschnitten sind, haben sich überkreuzt. Ich ziehe sie auseinander und bringe die Schleife in Ordnung. Ich bin froh darüber, diesen Handgriff machen zu können. Ich bin froh darüber, daß ich Rafa nicht mit der verhakten Schleife auf der Bühne sehen muß, wo ich sie ihm nicht richten kann.
Rafa hat sich wieder so niedlich zurechtgeputzt, daß ich noch einmal auf ein altes Thema kommen muß:
"Aber fotografieren darf ich dich immer noch nicht, ne?"
"Nein."
"Oh, jetzt würde ich dich so gerne fotografieren."
"Nein."
Rafa steht für einen Augenblick ruhig da, allerdings aufrecht und starr wie ein Grabstein. Ich nehme ihn in die Arme und lehne mich an ihn. Meinen Kopf lege ich auf seine Schulter. Ich schließe die Augen und rühre mich nicht. Diese vertrauensvolle Umarmung scheint Rafa mehr zu ergreifen, als ihm recht ist. Schon bald hat er es wieder sehr eilig:
"Bitte, bestell' mir ein Taxi. Bitte, ja? Mach's."
Ich sehe ihn fest an und sage:
"Ich mach's ja. Ich mache es. Ich mache es sofort. Sofort. Nur noch ein bißchen, ja?"
Und ich schließe wieder die Augen und lehne mich an ihn. Rafa macht einen Vorschlag zur Einigung:
"Jetzt rufst du ein Taxi; dann können wir uns noch ein bißchen unterhalten."
"Gut."
Ich bestelle ihm das Taxi. Rafa folgt mir in den Flur.
"So, das dauert jetzt nicht mehr lange", sage ich zu ihm, als ich den Hörer aufgelegt habe. "Komm', jetzt gehen wir nochmal zu mir und unterhalten uns ein bißchen. Komm'."
Ich lege ihm die Arme um die Schultern. Er widerstrebt.
"Oh, Mensch, ich muß dir ja noch meine Adresse aufschreiben", erinnere ich mich.
"Du kannst sie mir ja auf die Videokassette schreiben", schlägt Rafa vor.
Das geht, denn hinten ist die Kassettenhülle weiß; es sind nur dünne Linien daraufgedruckt.
Rafa folgt mir in mein Zimmer. Ich nehme mir einen Folienstift, setze mich neben ihn aufs Sofa und schreibe meine Adresse auf.
"Du schreibst von oben", bemerkt Rafa. "Das ist nicht gut."
"Und warum ist das nicht gut?"
"Ist halt nicht gut."
Ich finde es seltsam, daß Rafa von unten schreibt. Ich glaube, die meisten Linkshänder schreiben von oben. "Du verwischt ja", sagt Rafa, als die Adresse fertig dasteht.
"Oh Gott, das verwischt!" rufe ich erschrocken. "Jetzt ist es bald weg - oh, nein! Ich muß das nochmal schreiben, mit Kuli."
Ich hole den Kugelschreiber. Der schreibt sehr schlecht. Man sieht kaum Farbe.
"Mußt nicht so aufdrücken", sagt Rafa.
"Das geht aber trotzdem nicht", stelle ich fest. "Der schreibt nicht. Oh, nein. Oh, nein."
"Komm', gib' her, ich versuch' mal", sagt Rafa, als meine Unternehmungen erfolglos bleiben.
Ihm gelingt es leidlich. Ich finde es seltsam, daß Rafa meinen Wohnort und meine Postleitzahl wegläßt. Er wird gesehen haben, daß sich meine Postleitzahl von seiner nur um eine Ziffer unterscheidet, obwohl er in einer anderen Stadt lebt. Er kann sie sich leicht merken.
Ich streiche Rafa durchs Haar. Weil er es schon zurechtgesprüht hat, muß ich vorsichtig sein.
Es hupt draußen. Rafa springt auf.
"Da ist das Taxi!" ruft er. "Ich muß 'raus!"
"Das ist nicht das Taxi. Das klingelt."
"Ich muß jetzt sofort 'raus. Ich muß jetzt zum Taxi. Ich gehe schon 'raus."
"Nein, du bleibst hier", bestimme ich. "Das klingelt. Du gehst gleich 'raus. Aber jetzt noch nicht. Das klingelt. Du wartest so lang."
"Nein, nein, ich muß jetzt weg. Ich muß jetzt gehen."
"Komm', nein", sage ich beruhigend und lege die Arme um ihn. "Nun sei man nicht ..."
Ich versuche wieder, Rafa zu streicheln und zu umarmen, und er versucht, mich abzuwehren. Zwischendurch bleibt er stehen und hört für kurze Zeit auf, sich zu wehren. Er stellt dann Fragen zu den Bildern an der Wand - wohl, um sich zu lockern.
Einmal schaffe ich es, mich mit dem ganzen Körper an Rafa zu lehnen. Da reißt er mich wild von sich und hat es ganz besonders eilig, fortzukommen.
"Ich muß unbedingt weg!" ruft er.
Vielleicht hat die Nähe meines Körpers unbezähmbare Sehnsüchte in ihm wachgerufen. Ich habe noch lange nicht genug; ich will Haut fühlen. Ich greife Rafa von vorn unter die Jacke und taste nach seinem Priesterhemd. Meine Hand wird sogleich entfernt.
Als der Taxifahrer klingelt, stürmt Rafa erleichtert in den Flur. Nun darf er gehen.
"Bist du heute im 'Nachtlicht'?" fragt er.
"Ich bin doch krank", antworte ich. "Ich kann doch nicht hingehen. Möchtest du denn, daß ich komme?"
"Na ja, wenn du Lust hast ..."
"Na ja ... außerdem hast du dann wahrscheinlich sowieso schon wieder deine nächste Freundin."
"Also, dann - bis demnächst. Auf jeden Fall im 'Nachtlicht'."
"O.k. dann."
"Ja - tschüß."
Inzwischen weiß ich wieder, wie ich mit achtzehn in der Disco einen Jungen geneckt habe.
Ich habe ihn gefragt:
"Hast du Feuer?"
und ihm eine Kaugummizigarette hingehalten.
Da hat er mir eine Schachtel Streichhölzer geschenkt.

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