Netvel: "Im Netz" - 15. Kapitel































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Merle rief an und erzählte, daß sie gerade ihre Tochter Elaine aus dem Krankenhaus geholt hat. Zwei Tage vor Heiligabend ist Elaine mit Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Weil sie blutarm war, brauchte sie eine Transfusion und mußte ins Kinderkrankenhaus. Für Merle war das Weihnachtsfest sehr traurig, weil sie von ihrer Tochter getrennt war.
Am Dreikönigstag haben Constri und ich Merle und Elaine besucht. Elaine ist winzig und süß. Wir haben ihr eine NUK-Kautschukgiraffe geschenkt, ein Quietschtier. Es freut uns, daß Elaine so sehr nach Merle geht, in ihrem Aussehen und in ihrem ruhigen Wesen. Schließlich ist es vor allem Merles Kind; der Vater kümmert sich nicht darum. Constri und ich haben Elaine beide schon die Flasche gegeben. Und wir haben Fotos gemacht fürs Album. Constri war so entzückt, daß sie sich von dem Würmlein kaum trennen konnte. Wir wollen unbedingt bald wieder hingehen.
Als Carl am Dreikönigstag ins "Nachtlicht" kam, stand am Eingang ein höflicher Türsteher mit Zottelhaaren, der von Carl nicht verlangte, eine Clubkarte zu kaufen, obwohl der Freitag laut Programm neuerdings den Clubkartenbesitzern vorbehalten sein soll.
Im "Nachtlicht" gab es einen Tannenbaum. Er stand auf dem Bühnenpodest und war mit lila Lametta behängt. Kerzen fehlten.
Als Carl sich in der Nähe des DJ-Pults aufhielt, kam Rafa ans Türchen und reichte ihm die Hand.
"Ein frohes neues Jahr", sagte Rafa, wie er es vor zwei Jahren zu mir gesagt hat.
"Auch", entgegnete Carl.
Die Sängerin leistete Rafa diesmal keine Gesellschaft hinterm DJ-Pult. Rafa stellte sich einige Male neben ihren Barhocker und redete mit ihr.
"Für seine Tessa spielt er ja alles", sagte Toro über Rafa. "Die braucht nur zu kommen."
Gegen Mitternacht kam ein zweiter DJ, Luca, und legte mit Rafa gemeinsam auf. Luca ist jener Co-DJ von Rafa, der sich häufig im "Elizium" zeigt mit seiner Freundin Julienne.
Dolf wünschte Laura ein frohes neues Jahr. Dann wurde über Musik geredet - über die Neue Deutsche Welle und auch über W.E. Laut Dolf sollen auf dem neuen W.E-Album "nur gute Stücke" sein.
Als Luca ein Stück von W.E spielte, kam fast niemand auf die Tanzfläche. Laura wollte von Dolf wissen, wie das denn für ihn sei - da liefe "seine" Musik, und nur drei Leute tanzten. Dolf meinte, das sei ja nicht überall so; wo man Rafa und ihn nicht kenne, sei die Tanzfläche zum Brechen voll.
Laura und Dolf sprachen schließlich auch über das "Zone". Dolf schlug Laura vor, mit ihm zum "Zone" zu fahren. Sie wollte wissen, mit wem er dorthin fährt.
"Meistens mit Rafa und Tessa", war die Antwort.
Mit denen mochte Laura nicht fahren. Dolf fragte sie, weshalb nicht. Laura konnte es ihm nicht mehr sagen, denn es begann ein Stück, zu dem sie tanzen mußte.
Gegen halb drei wollte Carl fort. Er hatte eben seinen Mantel angezogen und ging zur Treppe, da lief Rafa ihm über den Weg.
"Was - du willst schon gehen?" fragte Rafa.
"Ja."
"Oh, jetzt wollte ich gerade Musik für Carl spielen", sagte Rafa bedauernd.
"Tja - jetzt ist es zu spät", meinte Carl. "Ich gehe jetzt."
"Bist du morgen auch hier?"
"Ich weiß nicht. Ich glaube, eher nicht."
"Ja - dann geh'!" rief Rafa mit beleidigter Stimme, lächelte aber gleich wieder.
Laura blieb bis halb fünf. Dann ging sie nach oben und wollte ihre Sachen holen, die sie an der Garderobe gelassen hatte. Da war aber kein Garderobenwärter mehr, und alle Sachen waren fort. Erschrocken lief Laura zum DJ-Pult. Rafa stand ganz rechts, weit weg vom Türchen, und unterhielt sich mit Luca.
"Rafa!" rief Laura. "Rafa!"
Er hörte sie nicht - oder er tat so, als würde er sie nicht hören.
"Rafa!" rief Laura immer lauter. "Rafa! Rafa!"
Endlich drehte er sich um und kam zu ihr.
"Mein Mantel ist weg!" rief Laura. "Meine ganzen Sachen sind weg!"
Sie erzählte Rafa von der leeren Garderobe.
"Komm'!" sagte er da. "Und folge mir unauffällig!"
Er ging mit ihr zu den Flipperkästen. Dort stand der Garderobenwärter und war schon sehr betrunken. Er mußte nun den Raum aufschließen, in den er Lauras Sachen gelegt hatte, und sie ihr wiedergeben.
Heute habe ich meinen Schreibtisch in Ordnung gebracht und bin dabei auf die Oktoberausgabe eines Szenefanzines gestoßen. Ich habe es mir angeguckt und ein Interview mit Rafa und Dolf gefunden. Es hieß, die Sängerin sei "inzwischen ausgestiegen". Als Rafa darauf angesprochen wurde, sagte er nur:
"Die Trennung ging von ihr aus."
Nach einer Neubesetzung gefragt, meinte Rafa, dies sei "auf jeden Fall" geplant; eine weibliche Stimme sei ihm und Dolf "sehr wichtig". Nur müßte noch "die richtige Frau" gefunden werden.
Dolf soll laut Interview angeblich für "Musik und Effekte" zuständig sein. Er wird nicht mehr als "Manager" vorgestellt wie noch vor zwei Jahren.
Die neue CD soll "Die Gefahrenshymne" heißen. Um welche Gefahren geht es da wohl? Um Gefahren durch Computer? Vielleicht auch um Gefahren durch Menschen, die "alles durchdenken"?
Ein Stück auf der CD ist "Die deutsche Jugend". Dolf sagte im Interview, das Stück würde "Neue Jugend" heißen - "auch wenn Rafa immer 'Deutsche Jugend' singt!"
Über Fred vom Jupiter sagte Rafa - angeblich todernst -, dieser würde noch leben und irgendwas zusammen mit A.L.F. von Melmac planen, doch das sei "noch geheim - Top Secret!"
Am Samstag ging ich mit Carl ins "Elizium". Ich hatte mir eine silberne Glitzerstrumpfhose besorgt und sonst auch lauter glitzernde und teilweise durchsichtige Sachen an.
Als wir am "Nachtlicht" vorbeikamen, sah ich den roten BMW der Sängerin in der Haarnadelkurve parken. Auf der Ablage sah ich einen Zylinder und daneben etwas Weißes, wie ein Hemd. Auf der Rückbank lag etwas, das eine schwarze Jacke von Rafa sein konnte.
Im "Elizium" traf ich Sasa. Sie war hingegangen, um sich von dem Krach mit ihrem Freund zu erholen. Der Freund schreit Sasa neuerdings immer an, wenn er sich über sich selbst ärgert, und das tut er oft. Gegen Morgen sah ich Sasa im Tête à Tête mit einem Kahlgeschorenen. Das war aber kein Skinhead, sondern eine Art Techno-Gothic; er trug ein weißes Hemd und eine Weste.
Dolf hatte schon längere Zeit mit Laura geredet, bevor ich kam. Er sagte zu ihr, gelegentlich würde er auch mit seinem eigenen Wagen ins "Zone" fahren. Er deutete an, daß er sogar mal zu "Klangwerk" fahren möchte. Laura warnte Dolf und sagte ihm, daß bei "Klangwerk" fast nur Industrial läuft. Dolf meinte, er wolle trotzdem hin. Er wollte Laura seine Telefonnummer geben; dann könne sie ihn ja mal anrufen.
Daß Dolf in sie verschossen ist, glaubt Laura nicht. Sie erzählte mir, daß es nichts Ungewöhnliches ist, wenn Dolf auf sie zugeht und mit ihr redet. Vor etwa einem Jahr hatte Dolf ein recht bizarres Anliegen: Er fragte Laura, ob sie Lust hätte, bei einem W.E-Video mitzumachen. Da müßten lauter Mädchen durch einen Wald laufen, und es würden Mädchen gesucht, die "nach etwas aussehen".
"Da ist aber ein Haken an der Sache", warnte Dolf.
"Soll ich denn etwa nackt durch den Wald laufen?" fragte Laura.
"Ja", gestand Dolf.
"Also, dann kannst du dein Video allein machen", erwiderte Laura.
Rafa kam dazu.
"Na, wie bist du mit Dolf verblieben?" wollte er von Laura wissen.
"Wir sind überhaupt nicht verblieben", antwortete die.
"Ja, das - war auch nicht abgesprochen", entschuldigte sich Rafa.
Mädchen, die nackt durch den Wald laufen ... was sind das eigentlich für Phantasien in Rafas Kopf?
Damon, der Verehrer, war nach längerer Zeit wieder im "Elizium". Er sagte zu mir, er habe sich vor einem Jahr recht blöd benommen und wolle sich dafür entschuldigen.
Das musikalische Projekt von Damon und seinem Freund Henning gibt es nicht mehr. Die beiden weichen in ihren Vorlieben zu sehr auseinander.
Mit Xentrix, Luca und Dorgath alberte ich am DJ-Pult herum. Das Ergebnis war, daß Xentrix viele Musikwünsche erfüllte, "Metamorphosis" von Mental Destruction und noch mehr aus der Elektro-Industrie-Ecke. Er spielte auch "Is it safe?" von De Fabriek, das sich auf dem Sampler "Somewhere in the Skeleton" des Labels Antler befindet. Es ist strenger, puritanischer Industrial mit einem Maschinenrhythmus. Bei dem Sampler soll es sich um eine vergriffene Rarität handeln.
Ein ebenso rares, ebenso abstraktes Stück ist "Blaster" von Genocide Organ von dem Sampler "Motop 2", das Xentrix auch im "Elizium" spielt. Die meisten Fans von Genocide Organ trennen die Musik, die ihnen gefällt, von der zwielichtigen Einstellung der Band ab, die ihnen nicht gefällt.
Marilene stand bei Xentrix, als ich wieder einmal ankam und Xentrix etwas vorpredigte, drohte und kicherte. Xentrix stöhnte und lächelte. Gerade wollte ich wieder gehen, da hörte ich die schneidende, giftige Stimme von Marilene:
"Kannste vielleicht mal ... hörste vielleicht mal ..."
Ich erstickte diese Attacke in einem letzten mahnenden Spruch, den ich Xentrix herüberwarf, und lief so rasch fort, daß ich Marilenes Keifen nicht mehr hörte.
Sie scheint sich wohl in ihren Besitzansprüchen gestört zu fühlen. Und mehr noch, sie ist vielleicht auch neidisch, weil sie nicht genügend Humor besitzt, um mit uns herumzualbern.
Etwa um fünf Uhr sah ich Dolf noch einmal mit Laura sprechen. Über diese Unterhaltung erzählte mir Laura Folgendes:
Dolf kam an und sagte zu ihr, alle kleinen Kinder müßten jetzt ins Bett, und deshalb müßte er nach Hause. Seine Telefonnummer wolle er ihr aber noch aufschreiben. Er schrieb die Nummer auf einen Zettel. Dann kam Veronique und sagte:
"Die warten!"
Derek trinkt mittlerweile weniger und verträgt auch weniger. Auf dem Weg zum CITICEN erzählte er Constri und mir:
"Die Toilette sieht aus wie Sau! Volles Programm! Da sieht man, was ich alles gegessen habe: Cheeseburger ... Fischmäc ... Echt, die Toilette sieht zum Kotzen aus!"
Als wir am "Nachtlicht" vorbeikamen, stand der rote BMW immer noch in der Haarnadelkurve. Die anderen Autos, die dort geparkt hatten, waren weg.
Derek fluchte über die Kälte. Er war von uns dreien am dünnsten angezogen. Seit einer Woche ist es sehr kalt; nachts sind es ungefähr zehn Grad unter null.

Morgens begegnete mir im Traum andauernd die Sängerin. Sie war einfach überall. Es war ein richtiger Alptraum.

En weiterer Traum handelte vom "Elizium". Dort war ein junges, ganz gewöhnlich aussehendes Mädchen. Es war recht groß gewachsen und hatte blonde Haare, zu einem Pagenkopf geschnitten. Es trug einen beigefarbenen Pullover und eine helle Jeans. Die Stimme des Mädchens klang kindlich-harmlos und ein wenig nach Reibeisen. Das Mädchen schwärmte mir von Rafa vor. Ich sagte, man müßte erreichen, daß Rafa ohne Sängerin in die U-Bahn-Station unterm Hauptbahnhof kommt. Das Mädchen befolgte den Rat und schaffte es, sich mit Rafa in der Station zu verabreden. Ich wartete dort mit dem Mädchen, und Rafa kam. Er hatte die Sängerin nicht bei sich, dafür aber einige Begleiter. Rafa stieg in einen der Tunnel. Diese Tunnel waren rund. Neben den Geleisen ging es hinauf, erst sanft, dann steiler. Am Eingang des Tunnels, auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite, kletterte Rafa ein Stück an der Tunnelwand hoch und setzte sich auf den Beton. Ich entdeckte auf der gegenüberliegenden Seite einen Bekannten, der obdachlos war. Ich stieg auch in den Tunnel und schenkte dem Bekannten nacheinander drei CD's. Er war hocherfreut über meine Zuwendung. Rafa konnte das alles sehr wohl sehen, und es wird ihn recht wütend und eifersüchtig gemacht haben. Schließlich verabschiedete ich mich von dem Bekannten und sah nach Rafa. Den hatte sich inzwischen das blonde Mädchen gegriffen. Sie konnte zu ihm gehen, was mir unmöglich war. Ich gehe nicht auf Rafa zu, schon gar nicht, wenn ich weiß, daß er eine Freundin hat. Das Mädchen jedoch störte sich nicht an der Freundin; es versuchte ganz dreist, Rafa der Sängerin auszuspannen. Rafa schien sich das gerne gefallen zu lassen. Das Mädchen turtelte munter mit ihm herum, und dann gingen die beiden Hand in Hand über den Bahnsteig. Als sie an mir vorbeikamen, sah das Mädchen mich an mit einem Lächeln, das sagte:
"Jetzt habe ich ihn; ist das nicht schön?"
Anscheinend wußte das Mädchen nichts von dem, was sich zwischen Rafa und mir abspielt.
Ich stieg in eine wartende Bahn und fuhr nach Hause.

In dem Traum turtelte Rafa mit dem blonden Mädchen herum, obwohl er eine Freundin hatte. Anscheinend war es seine Absicht, der Sängerin untreu zu werden.
Vielleicht verwendete Rafa das blonde Mädchen auch dazu, sich in seiner Rolle als "Mann, der jede haben kann" bestätigen zu lassen.
Und schließlich könnte das Herumturteln auch Rafas Rache dafür gewesen sein, daß ich den Obdachlosen beschenkt habe. Dieser Obdachlose könnte für all die Jungen stehen, die meine Gesellschaft genießen. Letzte Nacht im "Elizium" waren das unter anderem Steini, Rocco, Damon und Xentrix. Freilich hat Rafa nicht gesehen, daß ich mich mit den Jungen unterhalten habe. Aber sein "Zuträger" Dolf hat es gesehen.
Wie eifersüchtig ist Rafa auf die Sängerin? Sie soll sich im "Nachtlicht" viel mit dem schönen Vince unterhalten haben. Dieser scheint ein schlimmer Frauenheld zu sein. Er fragte viele Mädchen, ob er bei ihnen übernachten könne. Darunter waren auch Laura und die Sängerin. Weil Vince nur abschlägige Antworten bekam, mußte er zu seiner Noch-Freundin Veronique.
Was empfindet Rafa, wenn er die Sängerin mit anderen Jungen im Gespräch sieht? Ist er überhaupt eifersüchtig?
Carl kennt mehrere Leute, von denen er den Eindruck hat, daß sie "falsch" sind. "Falsch" heißt für Carl, daß jemand nicht vertrauenswürdig ist. Begründen kann er es oft nicht, wenn ihm jemand "falsch" erscheint. Zu jenen Leuten gehören Daria, Dolf, Ellen und Laura. Ich hoffe nun, daß Laura vielleicht doch nicht ganz so "falsch" ist und daß ich sie nicht eines Tages aufgrund eines Vertrauensbruchs fortschicken muß.
Bei Rafa hat Carl übrigens ein "gutes Gefühl", ein besseres sogar als bei mir. Ich sei zwar nicht falsch, meint Carl, doch dafür sei ich ziemlich durchtrieben.
"Du bist so durchdacht", sagte Carl. "Du überrumpelst die Leute. Bevor man sich entscheiden kann, hat man sich schon entschieden. Wenn du von jemandem etwas willst, setzt du deine psychologischen Tricks ein."
Berechnend bin ich also ... taktisch ... Das ist es wohl, was Rafa Angst macht. Ich bringe ihn dazu, etwas von sich preiszugeben, das er nicht preisgeben will. Und je mehr er sich mir aussetzt, desto mehr gibt er preis.
Aber ich brauche eine Waffe, mit der ich Rafa entgegentreten kann. Er hat auch eine: die Bereitschaft, Gefühle zu verdrängen.
Carl hält Rafa für aufrichtig und Dolf für falsch und verlogen. Wenn dies der Wahrheit entspricht, wie können Rafa und Dolf einander über so lange Jahre verbunden sein? Es könnte auch wieder mit einem Verdrängungsmechanismus bei Rafa zu tun haben. Nun - vielleicht bekomme ich demnächst Gelegenheit, mir Dolf genauer anzusehen.
Dieses Jahr kann ich Rafa schon wieder nicht zu seinem Geburtstag gratulieren. Ich kann ihn nicht besuchen, ihm nichts schenken, ihn nicht einmal anrufen. Ich müßte ihn sogar wegschicken, wenn er mit mir reden wollte.
Wird Rafa in diesem Jahr seinen Geburtstag feiern? Am Wochenende ist das nicht so einfach für ihn, denn da hat er "Dienst". Vielleicht gibt es Sekt im "Nachtlicht". Oder Rafa feiert heute mit der Sängerin, die sonst nichts zu tun hat. Oder er fährt ins "Zone" ...
Zum ersten Mal sah ich in einem größeren Musikgeschäft Rafas Album, das er letztes Jahr herausgebracht hat. Meine Neugierde siegte, und ich kaufte die CD, obwohl ich den Bandnamen und den Titel der CD unerträglich peinlich finde. Das CD-Booklet zieren einige posierte Schwarzweißaufnahmen der Band, die auf dem Fabrikgelände um die "Halle" gemacht worden sind. Rafa hat diese Fotos so gestalten lassen, daß es so aussieht, als wären alle drei Mitglieder gleichwertig und gleichberechtigt. Außerdem wirken die Bilder so, als herrsche unter den Bandmitgliedern Zusammengehörigkeitsgefühl und bestes Einvernehmen. Ich empfinde diese Fotos als Lüge. Sie zeigen nicht, daß die Sängerin nur zeitweilig dazugehört, eben dann, wenn sie mit Rafa zusammen ist. Sie zeigen nicht, daß die Sängerin sich in die Band "gekauft" hat und daß sie nichts für die Band tut, als teure Geräte zu bezahlen, sich auf Bandfotos abbilden zu lassen, die Bühne zu füllen und gelegentlich einige Töne zu singen oder ein Wort zu sagen. Die Fotos zeigen auch nicht, daß Dolf für Rafa eine Art Untergebener ist und nicht künstlerisch mitwirkt. Rafa baut mit den Bildern eine Scheinwelt auf, die ich zertrümmern möchte. Ich wurde zittrig vor Wut, als ich die Bilder sah. Ich ahne, daß das nächste Album von Rafa wieder so wird - und wieder so verpackt wird.
Wo soll ich hin mit der Wut, dieser unfaßbaren Wut? Ich verabscheue die Sängerin, doch nicht sie ist es, gegen die sich meine Wut richtet. Rafa ist der Schuldige, Rafa ist verantwortlich für das, was mich wütend macht, und ihn liebe ich. Was soll ich tun mit diesem Menschen? Wie kann ich ihn so bestrafen, daß Gerechtigkeit geschaffen wird? Welche Strafe wird Rafas Untaten gerecht? Wie werde ich gerächt? Und wie kann Rafa sühnen und sich reinigen von der Schuld?
Rafa hält es vielleicht auch deshalb bei der Sängerin, weil sie ihn nicht enttäuschen kann. Er liebt sie nicht, und wenn sie ihn verläßt, tut ihm das nicht weh. Sie gibt ihm nichts, also kann er nichts verlieren. Es wird "Drama" gespielt, aber nicht wirklich erlebt. Die Gefühle bleiben an der Oberfläche.
Rafa geht es schlecht, wenn ich mich um ihn kümmere. Bei der Sängerin geht es ihm gut, weil sie sich nicht um ihn kümmert. Sie macht sich keine Sorgen um ihn. Sie will nichts von ihm wissen. Sie achtet nicht auf ihn. Sie paßt nicht auf ihn auf. An ihrer Seite kann sich Rafa ungestört mit Zigaretten, Alkohol und Drogen selbst vernichten. Er hat mit der Sängerin die Beziehung, die er mit mir nicht haben will - lieblos, ohne Weiterentwicklung, eine "tote" Beziehung. Und er behauptet, in dieser Beziehung glücklich zu sein.
Ich denke, daß meine Zuwendung Rafa verunsichert, weil er sich nicht vorstellen kann, daß ihn wirklich jemand liebt. Sein Weltbild gerät ins Wanken, und diese Verunsicherung erträgt er nicht, deshalb stößt er mich weg.
Rafa, der so sehr darüber klagt, daß sich zwischen ihm und mir nichts von der Stelle bewegt ... bewegt sich vor lauter Angst selbst nicht von der Stelle.
Auf Rafas Album befindet sich das Stück "Der strahlende Held", in dem es um das Warten auf einen Helden geht, "nach tausenden Jahren voll Kummer und Leid":
"Wir warten, wann kommst du zurück?"
Am Ende des Textes heißt es:
"Mein Vater, wann ist es soweit?
Mein Sohn, ja wann ist es soweit?"
Auch "mein Bruder" und "mein Freund" werden erwähnt, vor allem jedoch scheint Rafa sich in dem Stück mit dem Tod seines Vaters auseinanderzusetzen, seines "Helden", und mit der Sehnsucht nach einem Sohn, für den Rafa selbst die Rolle des "Helden" übernehmen kann.
In dem Stück "Alle Helden sterben früh" geht es ebenfalls um Idole:
"Meinen Idolen lauf ich hinterher,
ich selber sein bringt mir lang nichts mehr."
Rafa scheint sich selbst nicht annehmen zu können und mit einem Idol verschmelzen zu wollen.
Laura hat mir eine wichtige Erfahrung mitgeteilt. Sie hat festgestellt, daß sie nur dann wahrnimmt, daß ein Junge in sie verliebt ist, wenn sie selbst nicht in ihn verliebt ist. Ist sie selbst in den Jungen verliebt, nimmt sie dessen Verliebtheit nicht mehr wahr. Ihre Angst, daß er nicht in sie verliebt sein könnte, lähmt ihr Wahrnehmungsvermögen. Wenn nun Rafa an mir nichts Gutes finden kann und nichts merkt von meiner Liebe zu ihm - nichts - nichts ...
Am Tag nach Rafas Geburtstag habe ich endlich mit dem Zahlenquadrat weitergemacht, das Rafa mir bei seinem Besuch Anfang September aufgegeben hat. Ich brauchte etwa eine Viertelstunde für die Lösung. Sie lautet:
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8 1 6
3 5 7
4 9 2

Quer, längs und in beide Richtungen diagonal ergibt die Summe der Zahlen immer fünfzehn.
Constri hat mit Derek ein Spiel, das sie zur Zeit dauernd spielen. Sie kleben sich gegenseitig Disney-Aufkleber überall hin, unter den Zahnbecher, an den Türrahmen, vielleicht auch an die Kleiderbügel. Wenn der "Beklebte" einen Aufkleber an seinen Sachen findet, darf er dem, der ihn geklebt hat, eine kleben.
Ich würde mit Rafa auch gerne so herumalbern. Aber wir sind immer noch Feinde.
In einem Traum sagte jemand:

"Bitte, bitte, kannst du mich heilen."
Mehr sah oder hörte ich nicht.

Diese kurzen Träume finde ich immer sehr schwer zu deuten.
Mal schrieb mir, daß er Kontakt zu Rafa aufgenommen hat, weil es im "Nachtlicht" vielleicht einen Auftritt von Notstandskomitee geben soll und Rafa wohl auch für die Konzertorganisation zuständig ist.
Rafa scheint von Kappa mit nicht unerheblicher Verantwortung betraut zu werden.
Als Carl und ich Mitte Januar am "Nachtlicht" vorbeikamen, sahen wir den BMW der Sängerin in einer Parklücke stehen.
"Wenn der da ist, braucht man erst gar nicht 'reinzugehen", sagte ich.
Im "Elizium" traf ich Henriette, die lange nicht mehr dort war. Sie hat einen neuen Freund, und das hat ihr wohl geholfen, eine alte, belastende "Elizium"-Geschichte zu vergessen.
Sasa hat sich inzwischen von ihrem Freund getrennt. Dieser Freund scheint ein vermindertes Selbstwertgefühl zu haben. Er glaubt, er sei nur etwas wert, wenn er keine Schwächen zeigt und einen Menschen spielt, der er nicht ist. Er sagte zu Sasa, da sie mit ihm auf engstem Raum lebe und auch noch seine Freundin sei, sei es unvermeidbar, daß sie auch von seinen Schwächen erfährt. Dies empfinde er als Bedrohung. So lasse sich sein abweisendes, unleidliches Verhalten erklären. Sasa meinte, dieser Mensch sei zu anstrengend für sie. Sie werde mit ihm nicht fertig.
"Ich habe das Gefühl, da ist auch gar nicht mehr so die Verliebtheit", meinte Sasa.
Dolf erzählte Laura, daß man vorhin in La. aufgetreten sei, eine Stadt unmittelbar südlich von H. Das Konzert sei gut gelaufen; es seien auch Zugaben verlangt worden.
Laura stellte mir einen gelockten Jungen namens Bidda vor, der nach mehreren "Nachtlicht"-Monaten wieder das "Elizium" besuchte. Er erzählte, die Samstage im "Nachtlicht" seien "steif, konservativ, kommerziell und rechtsradikal". Er gibt dem "Nachtlicht" noch ein halbes Jahr, höchstens ein ganzes. Ich meinte, die DJ's würden sich auch nichts sagen oder raten lassen:
"Wenn man denen sagt, spielt nicht immer dasselbe, kommen Sprüche wie:
'Ich spiele doch pro Nacht ein neues Stück.'
Und wenn man denen sagt, die Musik ist nicht besonders, kommt:
'Die Musik ist absolut nur gut!'"
Bidda bestätigte das und hob das Kinn in die Höhe, um den Hochmut, die Selbstüberschätzung und die Ignoranz der DJ's anzudeuten. Er fragte mich, ob ich zu dem Konzert in La. gegangen wäre, wenn ich eher davon gewußt hätte.
"Auf keinen Fall", antwortete ich. "Unter keinen Umständen."
"Na, siehste."
"Das muß ich mir nicht antun."
Bidda war auch nicht dagewesen. Ich erfuhr von ihm, daß W.E vor vierzehn Tagen in MD. gespielt haben. Sie ließen sich auf einem Festival dazwischenschieben. Eigentlich waren sie im Programm gar nicht vorgesehen.
"Erzähl'", bat ich. "Ich will was zu lachen haben."
"Ach, das war steif", sagte Bidda. "Das war langweilig."
"Hat die Sängerin wieder gekeift und gekrächzt?" wollte ich wissen.
"Ein bißchen", antwortete Bidda kichernd.
"Kam da dieses fürchterliche 'Cyberspace'?" fragte ich weiter, und Bidda lachte. "Oder dieses abscheuliche 'Rosa Zeiten'?"
"Ja, 'Rosa Zeiten' kam auch."
Vermutlich geht es Rafa blendend. Er gibt ein Konzert nach dem anderen, immer vor denselben Fans, die ihn anhimmeln und die Dolf cool und die Sängerin toll finden. Und Dolf und die Sängerin finden Rafa cool und toll. Was bleibt Rafa da noch zu wünschen übrig? Er kann ganz in seiner Kinderwelt aufgehen, in seiner seichten Musik und in seiner oberflächlichen Beziehung. Er kann spielen - auch mit seinem Leben; er kann rauchen und trinken, soviel er mag, weil niemand da ist, der etwas dagegen hat. Ich bin nur noch ein dunkler Schatten in der Ferne, eine unangenehme Erinnerung. Und ich will Rafa auch nicht stören in seinem Spielzimmer. Der Krug geht so lange zum Munde, bis er bricht. Die Kinder spielen so lange miteinander, bis sie sich streiten.
Xentrix und ich trugen unsere gewohnten Wortgefechte aus. Ich sah "Hongkong Garden" von Siouxsie & the Banshees auf dem Plattenteller und bemerkte:
"Das ist eine ganz schwache Nummer."
Da drohte Xentrix:
"Es könnte sein, daß ich dich gleich an deiner Schleife ziehe!"
Er hatte ein Einsehen und spielte noch "Power of Passion" von Dive, "Is it safe?" von De Fabriek, "Metamorphosis" von Mental Destruction und das lang vermißte "Desolation" von X marks the Pedwalk.
Laura machte mich mit Rick bekannt, von dem sie mir kürzlich schon erzählt hat.
"Das ist ein 'Nachtlicht'-Fan", sagte sie.
"So, du bist also ein 'Nachtlicht'-Fan?" fragte ich Rick.
Er bestätigte, ins "Nachtlicht" zu gehen, doch er wollte sich nicht zu sehr in die "Nachtlicht"-Ecke drängen lassen. Er war frühmorgens ins "Elizium" herübergekommen, weil er die Musik im "Nachtlicht" nicht länger hören mochte. Ich wollte wissen, wer denn auflegte.
"Gemischt", antwortete Rick. "Kappa ... Rafa ... Detlev ..."
"Ach, jeder mal."
"Ja."
"Und diese widerliche rothaarige Zicke, die da manchmal hinterm DJ-Pult 'rumhängt, wo war die heute?"
"Also, zu 'rothaarig' fällt mir jetzt nur eine ein, nämlich Tessa."
"Ja, die ist das."
"Also, mit Tessa komm' ich ziemlich gut klar."
"Ja, wo war die denn?" fragte ich weiter, ohne Rücksicht auf Ricks Äußerung. "War die an dieser runden Bar da in der Ecke? Da gibt es nämlich so eine Bar, da sitzt die meistens. Oder war die wieder hinterm DJ-Pult?"
"Warum magst du Tessa nicht? Wegen Rafa?"
"Ich kann da nichts zu sagen. Ich kenne sie nicht."
"Du weißt aber, wer jetzt gemeint ist, wenn ich 'Tessa' sage."
"Ja. Ich weiß, wie sie heißt, aber kennen tue ich sie nicht."
"Aber dann kannst du sie ja nicht verurteilen, wenn du sie gar nicht kennst."
"Stimmt."
"Hast sie aber verurteilt."
"Ja."
"Also, diesmal war sie nicht hinterm DJ-Pult", gab Rick endlich Auskunft.
"Ah, ja."
Rick behauptete, die Samstage im "Nachtlicht" seien deshalb so kommerziell und konservativ gestaltet, weil "die Leute, die hingehen, nichts anderes hören wollen". Man müsse schließlich daran denken, den Laden zu halten. Ich meinte, erstens sei das dann kein Independent-Laden mehr, und zweitens könne man, wenn man schon samstags Abstriche mache, doch wenigstens die Qualität des Freitagsprogramms verbessern. Dann hätten nämlich die "Elizium"-Leute auch einen Freitagsladen, der mit dem "Elizium" mithalten könnte. Rick meinte, ins "Nachtlicht" käme der Nachwuchs der Szene, und die würden nur immer dasselbe hören wollen. Ich entgegnete, man könne die Leute auch an anspruchsvollere Musik gewöhnen; das hätte man am "Elizium" gesehen. Außerdem müßte es in H. wieder mehr Konzerte geben. Rick meinte, in H. würde das Publikum nichts taugen. Ich widersprach:
"Beim Apoptygma Berzerk-Konzert in BS. waren viele von außerhalb da. Wenn das Konzert in H. stattgefunden hätte, wären mehr Leute gekommen, nämlich auch noch die, denen BS. zu weit weg ist - wie ich!"
Ich meinte, die DJ's und Organisatoren des "Nachtlicht" würden vor allem gebremst durch ihren Pessimismus, ihr Festhalten am Überkommenen und ihre Furcht vor Veränderungen.
Rick freute sich:
"Da ist endlich mal einer, der nicht über Kappa lästert, wie die anderen lästern."
Rick fand, eigentlich sei es ungerecht - ich wüßte von ihm nur den Vornamen, und er wüßte über mich schon so viel mehr. Da fragte ich ihn gleich, was er denn alles über mich wüßte und von wem. Rick erzählte nach einigem Zögern, daß er den "IndiRec"-Laden hat und daß Sator ihm meine Adresse gegeben hat; deshalb bekomme ich auch Kataloge von "IndiRec". Einiges über mich hörte Rick auch von Ivo Fechtner, mit vermutlich zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. Gerrit erzählte Rick ebenfalls von mir. Von wem Rick sonst noch etwas über mich hörte, damit wollte er nicht heraus. Er deutete nur an, daß noch mehr Leute mit ihm über mich sprechen.
Rick fiel ein, daß er sich mit mir schon vor langer Zeit unterhalten hat. Das war 1987 bei der Zehnjahresfeier von dem Musikgeschäft "Stars", im "Read Only Memory". Damals saßen Constri, ich, Rick und ein Junge namens Steven an einem Tisch. Wir führten ein angeregtes Gespräch.
Ich fragte Rick nach Steven, und er winkte ab. Mit Steven habe er nichts mehr zu tun. Der sei mies. Übrigens soll er in Wirklichkeit Stefan heißen und sich nur "Steven" nennen. Inzwischen ist Steven Türsteher im "Nirvana".
Rick erinnert sich auch an Ortfried Brinkus, der ebenfalls auf der Zehnjahresfeier gewesen ist.
"Das ist doch der, der beim Tanzen immer sein Gebiß verschluckt", sagte Rick. "Ortfried ist nett. Den kannst du von mir grüßen."
Als Laura und ich morgens um zwanzig vor sechs aus dem "Elizium" kamen, begegnete uns Kappa. Vielleicht wollte er zum "Elizium", um Cyrus abzuholen. Kappa hatte ein Mädchen im Arm, ein großes, brav wirkendes, jedoch schwarzgekleidetes Mädchen mit langen dunklen Locken. Es schien, als wenn er die Freundin gewechselt hatte ... oder fremdgehen wollte?
"Hallo!" grüßte ich ihn im Vorbeigehen.
"Hi!" grüßte er zurück.

Mitte Januar habe ich geträumt, Dolf würde zu Rafa kommen und ihm sagen, da wären Künstler, die würden ihn gerne künstlerisch fotografieren, ihn, Rafa, als Teil eines Kunstwerks. Rafa fühlte sich geschmeichelt. Er war gleich bereit, obwohl er sich für das Foto zu einem Schwein in den Koben legen sollte.
"Da gibt es noch einen Haken an der Sache", warnte Dolf. "Du mußt an der Sau saugen wie ein Schwein."
Rafa fand nichts dabei. Er machte willig alles mit. Wenig später bekam ich heraus, daß Dolf von einem großen Nachrichtenmagazin fünf Millionen Mark für das Foto erhielt. Das Foto sollte in dem Nachrichtenmagazin abgedruckt werden, aber nicht als Kunst, sondern als öffentliche Demütigung für Rafa. Man wollte Rafa einen bösen Streich spielen und die Leserschaft belustigen. Dolf hatte Rafa verraten und verkauft.

Es ist möglich, daß Rafa es gar nicht als Demütigung betrachtete, im Schweinekoben fotografiert zu werden. Am Ende wäre es viel schlimmer, viel bloßstellender für ihn gewesen, wenn ich sein Lächeln fotografiert hätte. Ich hätte dann ja ihn fotografiert, ihn, wie er wirklich ist. Und wenn er sich selbst ablehnt, empfindet er ein wahres, ehrliches Bild seiner selbst als die größte Schande. Er schämt sich seiner; er schämt sich, weil er er ist.
In dem Traum hat es Rafa nichts ausgemacht, sich zu einem Schwein in den schmutzigen Koben zu legen und sogar an den Zitzen zu saugen. In der Wirklichkeit macht es Rafa nichts aus, sich zu einer Frau, die mich ekelt, ins Bett zu legen und sogar mit ihr zu schlafen. Rafa ließ sich eher mit einem Schwein fotografieren als mit seinem Lächeln. Rafa läßt sich lieber mit der Sängerin ein als mit mir.
Im Krankenhaus gibt es einen Zivi, Revil, ein kleiner Blonder, der mich aus der "Halle" kennt. In der Kantine essen wir häufig gemeinsam zu Mittag, und das macht die "Straflagerzeit" erträglicher. Da gibt es dann Sprüche zu hören wie:
"Was saugt Blut, hat Flügel und ist auch nachts aktiv? - 'Always ultra'!"
Revil war am letzten Samstag im "Nachtlicht". Rafa soll irgendwann zum Auflegen keine Lust mehr gehabt haben. Er zog sich zurück und ließ einfach das ganze Programm der vergangenen Stunden noch einmal vom Band laufen.
Revil kennt kaum Musik. Ich empfahl ihm, bei den DJ's nach den Titeln der Stücke zu fragen, die ihm gefallen.
"Ach, ich nerv' Honey schon die ganze Zeit, weil ich immer ankomme und frage, wie heißt das, wie heißt das", erzählte Revil.
"Ach, den kannst du ruhig nerven", meinte ich. "Der kann sowas vertragen."
Revil kennt das "Elizium" noch nicht. Er traut sich auch nicht so richtig, hinzugehen.
Carl hat im "Nachtlicht" von mehreren Leuten gehört, daß sie sich nicht trauen, ins "Elizium" zu gehen. Sie scheinen zu glauben, im "Elizium" gebe es eine Art "Szene-Elite", die keine "Neulinge" duldet. Das wirkt seltsam auf mich, kenne ich doch noch viele Läden, die älter sind als das "Elizium" und die es zum Teil längst nicht mehr gibt. Kit, dem das "Elizium" anteilig gehört, ist früher DJ gewesen. Er hat noch Polsterbänke aus dem "Flash", einem Laden, in dem er aufgelegt hat und der 1987 geschlossen wurde, weil in den schönen, weitläufigen Kellerräumen ein Lager eingerichtet werden sollte.
Bevor ich in HB. wieder zu "Crucifiction" ging, habe ich nachmittags Folter besucht. Dorthin kam auch Dag; jetzt haben sich die beiden Industrial-Sammler endlich kennengelernt. Wie immer hatte Folter ordentlich aufgetischt. Es gab Kaffee, Weingummis, Schokolade, Chips ... Ich kam gar nicht dazu, Crystal-Pepsi zu trinken, ungefärbte, durchsichtige Cola, die ich besonders mag. Das muß ich beim nächsten Mal nachholen.
Folter lebt in einer Wohnung, die seine Tante ihm hinterlassen hat. Die Einrichtung - verstaubter beigegrünbrauner Siebziger-Jahre-Plüsch - hat Folter nicht verändert, er hat nur einige alte Möbelstücke hinausgeworfen und seine Regale mit Tonträgern, Horrorvideos, Comics, Science-Fiction und Horrorfiguren und der Barbiesammlung aufgestellt und schrille Bandposter und finstere Filmplakate über die alten Tapeten geklebt. Die Wohnung bekommt dadurch einen eigenwilligen Charme.
Dag ging später noch zu einer Geburtstagsfeier. Folter kam nicht mit, weil er sich nicht traute, und ich kam nicht mit, weil auch Dara eingeladen war. Zum Abschied strich mir Dag über die Wange.
"Ist ja nett", dachte ich. "Nur - verflucht, daß es der Falsche ist!"
Es macht mir so sehr zu schaffen, daß Rafa das so selten tut.
"Der ist genauso krank wie du", sagte Folter über Rafa. "Ihr seid beide voll extrem, voll krank. Ihr habt schon was gemeinsam."
Weil ich zu "Crucifiction" früh dran war, setzte ich mich noch im Obergeschoß ins "Crucifiction"-Bistro. Neben mir unterhielt sich ein Pärchen. Die beiden waren blond und kurzhaarig und sahen bieder aus.
"Da ist mir aufgefallen, daß du voll faszinierend bist", sagte das Mädchen zu dem Jungen. "Und ich wollte dir sagen, daß ich dich liebe."
Nicht lange danach fragte sie ihren Schwarm:
"Was hast du eigentlich für Vorstellungen von so einer Beziehung?"
Sie kam gleich aufs Technische zu sprechen. Ich nehme an, daß viele Menschen das so machen. Sie unterhalten sich, verlieben sich und fangen an zu planen. Ich finde, daß die Gefühle dabei ins Hintertreffen geraten. Es ist nicht mehr die Begeisterung für den anderen, die im Vordergrund steht. Es fehlt das entrückte Strahlen, das schweigende Versinken in der Umarmung.
Rafa wirft mir vor, alles durchzuplanen und durchzurechnen. Gleichzeitig macht er mir schwere Vorwürfe, wenn ich ihn anstrahle und mich der Freude über unser Wiedersehen hingebe. Er wehrt mich ab, wenn ich ihm schweigend um den Hals falle. Es ist ihm unheimlich, wenn ich mit entzücktem Lächeln sein Gesicht streichle.
Einerseits behauptet Rafa, bei mir die Spontaneität zu vermissen. Andererseits bekomme ich seinen heftigsten Widerstand zu spüren, wenn ich Spontaneität zeige. Wie paßt denn das?
Bei "Crucifiction" lief viel rhythmischer Krach. Das waren wilde, hetzende Rhythmen, unterlegt mit fremdweltlichen Geräuschfiguren. "Sinaya" ist eine Art Beschwörermusik, Tempelmusik.
Ivo Fechtner rempelte Laura mehrmals an, beim Tanzen und auch, als er in einer Engstelle an ihr vorbeimußte. Sie rempelte dann zurück.
Ein Bekannter von Sareth - Degras - erzählte mir, daß ich in der Szene von HB. "Lord Helmchen" genannt werde. Weshalb, das wußte keiner. Dag findet aber, daß der Name zu mir paßt. Er sei "völlig süß", und das würde eben zu mir passen.
Derek hat auch einen Rufnamen für mich - "Gustl". Als ich ihn fragte, wie er auf "Gustl" gekommen sei, antwortete er:
"Weil du so alt bist - und außerdem paßt es zu dir."
Es war etwa halb zwei, als Dag im Schlachthof erschien. Er hatte allerlei getrunken. Entsprechend anhänglich war er.
Dag erzählte, daß er Dara in nur siebeneinhalb Minuten von der Feier seines Freundes vergrault hatte, doch er konnte nicht verhindern, daß sie zum Schlachthof kam. Sie ließ mich freilich dieses Mal in Ruhe.
Laura und ich fuhren mit Viktoria und ihrem Freund Wegner zurück nach H. Viktoria ist ein großes, schlankes Mädchen mit langen, schwarz gefärbten Haaren, die sie meistens zu einem "Domina-Zopf" bindet. Sie ist häufig im "Elizium" und im "Nachtlicht".
Im Auto redete Laura wie ein Wasserfall. Erst als mir schlecht zu werden drohte und ich mit geschlossenen Augen den Kopf zurücksinken ließ, schloß sich auch ihr Mund. Er öffnete sich erst wieder, als ich meine Augen öffnete - kurz vor der Haustür -, und er blieb offen, so daß ich Wegner kaum erklären konnte, wie er fahren mußte.
U.W. feierte seinen Geburtstag mit einem abendlichen Treffen. Abgesehen von mir waren nur Herren zu Gast. Die sahen zum Teil so aus, daß ich ihnen lieber nicht im Dunkeln begegnen würde - unrasiert, schlampig und alkoholgewöhnt. Auf der Feier waren sie aber ganz zahm, abgesehen von den unvermeidlichen Sprüchen unter der Gürtellinie.
In der Samstagnacht hatte Thorlev im "Elizium" etwas für mich: die Einladung zur "Trauerfeier" anläßlich seines Geburtstags Anfang Februar. Ich will auf jeden Fall hinfahren und mich nicht dadurch stören lassen, daß Ivo Fechtner und Daria auch kommen wollen.
Henriettes ehemaliger Freund Armin berichtete aus BS., daß das "Puzzle" geschlossen werden soll. Früher habe ich sehr am "Puzzle" gehangen, doch es hat schon vor drei Jahren seinen Kultstatus eingebüßt.
Revil wagte sich ins "Elizium", weil es ihm heute im "Nachtlicht" nicht so sehr gefiel. Sarolyn berichtete, daß sie tags zuvor im "Nachtlicht" war. Hinterm DJ-Pult hampelten Rafa und Kappa herum und wohl auch Dolf. Sie waren furchtbar betrunken. Sie spielten Musik aus der Fernsehwerbung und amüsierten sich darüber, daß einige Mädchen dazu tanzten. Sie feuerten die Mädchen an. Die Sängerin saß in einer Ecke und schien schlechte Laune zu haben.
Carl machte sich Gedanken über Rafas Verführungsverhalten:
Im "Elizium" trieb Rafa als Frauenheld sein Unwesen und suchte sich gezielt Mädchen aus, die von ihm beeindruckt waren. Inzwischen verlagert Rafa seinen Wirkungskreis mehr und mehr hinters DJ-Pult und auf die Bühne. Die Massen sollen verführt werden, ohne daß unmittelbare Nähe entsteht. Vielleicht ersetzt Rafa seine Bettgeschichten eines Tages weitgehend durch eine ergebene Fangemeinde. Vielleicht läßt sich eine solche Gemeinde besser und längerfristig kontrollieren.
In der Nähe des "Nachtlicht" sah ich wieder den roten BMW der Sängerin. Dieses Mal fiel mir ein W.E-Aufkleber ins Auge, der mitten auf der Heckscheibe klebte.
Am Morgen habe ich Folgendes geträumt:

Ich fuhr mit Laura in einer S-Bahn. Als wir durch den Wagen gingen, sahen wir einen Mann von etwa Mitte dreißig im Gang stehen, dem hatte jemand einen Fuß abgehackt. Er klagte sehr. Der Täter saß einige Bänke weiter. Man hatte ihm seine siebenjährige Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Laura und ich fanden ihm gegenüber noch eine freie Bank. Der Täter war ein Zyklop, und er war sehr dick und unglaublich häßlich. Er hielt in einer Hand die abgehackten Hände eines kleinen Kindes. Mit ostpreußischem Akzent trug er seine irren Gedanken vor. Unter anderem erzählte er, wie er dem Kind die Hände abgehackt hatte und weshalb er sie ihm hätte abhacken müssen. Dabei packte er das Kind am Genick und nahm es hoch wie ein Kaninchen. Das Kind wußte gar nicht, wie ihm geschah. Ich fragte die anderen Fahrgäste, ob der Transport zum Irrenhaus schon bestellt sei. Ja, der sei schon bestellt, hieß es; eine Viertelstunde könne es noch dauern, dann würde der Zyklop abgeholt. So lange mußte man noch auskommen mit ihm - und mit der Gefahr, die er für die Allgemeinheit darstellte.
"Helfen Sie mir", bat mich der Zyklop eindringlich. "Bitte, bitte, helfen Sie mir."
Ich beruhigte ihn und versicherte, ihm werde bald geholfen. Der Zyklop war sehr anhänglich; er schien großes Vertrauen zu mir zu haben. Als ich nach vorn zum Fahrer ging, um den Transport zu empfangen, folgte er mir. Dann kamen die Irrenwärter. Sie ergriffen den Zyklopen, und der wehrte sich nicht einmal.
"Helfen Sie mir doch bitte", flehte das einäugige Monster mich wieder an. "Bitte, helfen Sie mir."
"Jetzt wird Ihnen geholfen", sagte ich. "Sie kommen ins Krankenhaus; da wird Ihnen geholfen."
Der Zyklop wurde fortgebracht.

Wer nur kann dieses Monster gewesen sein, das so nach meiner Hilfe verlangte? Wen kenne ich, der in seinem Wahn so grausam ist und gleichzeitig so hilflos? Es fällt mir nicht ein.



Ende Januar ging ich mit Laura in die "Halle", in silbrig glitzernder Abendgarderobe. Die Türsteher sagten keinen Ton. Drinnen war es angenehm dunkel und für die Verhältnisse in der "Halle" recht warm. Und es waren viele schön geschmückte Leute da. Sie schienen sich alle danach gesehnt zu haben, endlich wieder in die "Halle" zu kommen.
"Guck' mal, da ist Rafa", sagte Laura.
Wir sahen ihn in geringem Abstand an uns vorbeigehen und zum DJ-Pult hinaufsteigen. Er trug eine schwarze Blousonjacke aus glänzendem Kunstfasergewebe. Auf dem Rücken stand in weiß der gebogene Schriftzug "Underground". Darunter war ein Totenschädel ohne Unterkiefer auf gekreuzten Knochen zu sehen. Rafas weißes Rüschenhemd paßte nicht so ganz zu dem Stil der Jacke.
Eigentlich hätte Rafa nicht in der "Halle" sein dürfen, weil er im "Nachtlicht" Dienst hatte. Laura brachte in Erfahrung, daß Lee ihn vertrat.
Kappa hatte wieder das Mädchen mit den dunklen Locken bei sich. Vielleicht hat er mit Genna wirklich Schluß gemacht.
Als Laura und ich zur Toilette gingen, entdeckten wir die Sängerin. Sie saß an einer Bar, in ihrer zerrissenen Jeansjacke und einer "Gymnastikhose". Die zerfransten, künstlich roten Haare hingen wie üblich toupiert herunter.
Wir waren noch nicht lange in der "Halle", da ging die Sängerin in dem schwarzen Schlauchkleid mit den vielen Federn am Ausschnitt zum DJ-Pult.
"Igitt!" rief ich. "Die hat das Kleid an! Die treten auf! Igitt!"
Schwanger sah die Sängerin übrigens nicht aus, doch das könnte noch kommen ...
Ich beobachtete, wie sie mit Rafa redete.
"Ich weiß nicht, wohin mit meinen Aggressionen", sagte ich zu Laura. "Wenn ich die Sängerin umbringe, nützt mir das überhaupt nichts. Wenn ich Rafa umbringe, vernichte ich das, wofür ich lebe. Ich muß meine Aggressionen aber an Rafa auslassen. Wie kann ich das nur machen bei einem Menschen, den ich liebe? Ich habe solche Aggressionen; ich könnte damit zehn Hochöfen heizen."
Ich sah keinen anderen Weg aus meiner unerträglichen Wut, als mir Luft zu machen und in wüsten Worten über die Sängerin herzuziehen.
Kappa sagte schließlich durchs Mikrophon, nun gebe es ein Konzert von der "Überraschungs-Live-Band":
"Hier sind W.E!"
Einige klatschten, andere schrien:
"Nein! Ruhe!"
Unter die Zuschauer ging ich nicht. Sonst habe ich das immer getan, aber ich ekelte mich zu sehr vor der Sängerin.
"Ich gehe nie hin, wenn die auftreten, nie", sagte ich zu Rick. "Und trotzdem muß ich die immer wieder sehen."
Die Bühne war dieses Mal vorm DJ-Pult auf hohen Stufen aufgebaut. Das Pult befand sich ausnahmsweise nicht auf dem Balkon, sondern gut erreichbar auf dem höchsten Podest in der "Halle".
Als Einziger in der Band hatte Rafa eine Schutzbrille aufgesetzt. Die Sängerin stellte er rechts neben sich, auf die mir abgewandte Seite. Links von ihm mußte Darryl stehen, in Vertretung für Dolf, der nicht in der "Halle" war.
Als Rafa seinen Clubhit gegen Videospiele ankündigte, ging ich mich nachschminken.
"Ich überlege noch, ob ich mir das angucken soll", sagte ich zu Rick, als ich zurück war. "Es hängt immer davon ab, ob ich lachen will. Wenn ich lachen will, gucke ich zu. Aber diese rotgefärbte Schlampe ist ja wieder dabei, und ich will nicht, daß mir schlecht wird."
"Mann, was die Frauen immer lästern!" bemerkte Rick.
"Wenn ich lästere, hat das immer einen Grund", erklärte ich. "Ohne Grund lästere ich nicht."
Ich entschied mich dafür, das Schauspiel von meinem Hocker aus zu verfolgen.
Das dritte Stück wurde von der Sängerin gesungen, wobei man nicht im eigentlichen Sinne von Gesang reden konnte. Nicht einmal als Sprechgesang oder Schreien könnte ich die Geräusche bezeichnen, die sie von sich gab. Ich hörte etwas, das klang wie ein leises, hauchendes Krächzen, ein Röcheln, ein Gemurmel; vielleicht war hier und da noch die Vorstufe eines gesungenen Tons dazwischen. Diese Lautäußerungen wurden ummalt von Rafas gewohnten leichten, seichten Melodiekonstruktionen.
Das vierte Stück sollte wohl "hart" wirken. Ich fand, daß es stattdessen nur verklemmt wirkte, weil Rafa so viel Weichspüler hineingegossen hatte. Rafa wirkte auf mich beim Tanzen hilflos und unsicher.
Das schulterfreie Schlauchkleid der Sängerin rutschte immer tiefer. Ich sah es kommen, daß sich die Jungen bald am Anblick ihrer Oberweite freuen durften. Das Konzert war aber vorher zuende.
Kappa sagte durchs Mikrophon, die neue CD der Band werde Ende Februar erscheinen.
"Ich freue mich schon auf die Verrisse", sagte ich zu Rick. "Da gibt es dann immer so herrliche Verrisse."
Die Sängerin zog sich um und ging zum DJ-Pult.
Hinter dem leerstehenden Balkon wärmten Laura und ich uns im Luftstrom der Heizung. Diesen Winkel konnte man vom DJ-Pult aus nicht einsehen. Ich hielt mich noch nicht lange dort auf, als ich Rafa entdeckte; er stand beim ehemaligen Bühnenpodest. Vorsichtig pirschte er sich an mich heran. Er redete mit diesem, er redete mit jenem, und wie durch Zufall kam er mir immer näher.
"Oh, oh, oh", sagte ich und stemmte die Hände in die Hüften.
Revil merkte, daß meine Aufmerksamkeit umgelenkt war, und sprach mit Laura weiter. Rafa wurde von dem Jungen, mit dem er sich gerade unterhielt, gepackt und in die Höhe gehoben. Der Junge wollte wohl ausprobieren, ob er neunzig Kilo stemmen konnte. Rafa fand das anscheinend sehr lustig. Vielleicht erinnerte er sich daran, daß er vor einem Jahr auch von mir kurz angehoben wurde.
Während Rafa sich angeregt unterhielt, warf er mir über die Schulter seines Gegenübers vorsichtige Blicke zu, so kurz wie Stroboskopblitze. Ich schaute starr in sein Gesicht und versuchte, ihm meine ganze Wut entgegenzuschicken. Die Luft sollte zersplittern von der Wut.
"Was mache ich jetzt mit dir?" fragte ich in den Lärm der Musik hinein. "Was mache ich jetzt mit dir?"
Endlich löste sich Rafa von seinem Bekannten, und nach einigen suchenden Blicken rechts und links überwand er sich und ging auf mich zu. Mit einem netten Lächeln gab er mir die Hand.
"Na?" grüßte er.
Ich behielt seine Hand in der meinen. Ich sah Rafa streng an, straffte die Schultern und hob das Kinn. Er straffte ebenfalls die Schultern und hob das Kinn. Mein Schweigen schien ihn zu stören. Er beugte sich zu mir und fragte:
"Und? Was 's' los?"
"Ist der Herr immer noch nicht solo?"
"Nein!"
"Dann kann der Herr gleich wieder gehen", sagte ich freundlich.
Ich leckte an seiner Wange und küßte sie. Dann faßte ich Rafa mit Daumen und Zeigefinger am Halsansatz.
"Ist das der Spock-Griff?" fragte er belustigt.
Ich antwortete nicht. Rafa hob meinen Arm ein wenig an. Prüfend betrachtete er diesen schwarz behandschuhten Arm, der so viel dünner war als seiner, und am Ende des Arms gab es auch noch eine Hand, die bereit war zum Zufassen. Als Rafa den Arm losließ, schlossen sich die Finger wieder um seinen Halsansatz. Rafa fragte noch einmal, nun schon ungeduldig:
"He! Ist das der Spock-Griff? Von Mr. Spock?"
"Das ist mein Griff", erklärte ich. "Für Herren, die eine Tracht Prügel verdient haben."
"Warum eine Tracht Prügel?"
"Weil du immer noch mit dieser rotgefärbten Schlampe 'rumziehst!"
"He, ich wollte dich fragen, ob du morgen im 'Nachtlicht' bist."
"Morgen im 'Nachtlicht'?"
"Weil, ich wollte dir dann nämlich die Kassette wieder mitbringen."
Ich kam nicht mehr dazu, Rafa zu sagen, daß ich nicht ins "Nachtlicht" gehen möchte, solange er sich nicht von der Sängerin getrennt hat. Denn Hoffi sprach Rafa von der Seite an, und Rafa ließ sich willig von ihm entführen. Vielleicht hat sich Rafa schon gedacht, daß ich "Nein" sagen würde, und er wollte mein "Nein" nicht hören.
"Jetzt will er auch noch, daß ich morgen ins 'Nachtlicht' komme", sagte ich zu Revil. "Er will mir eine Videokassette zurückgeben, die er sich von mir ausgeliehen hat."
"Hoffi?"
"Nein. Rafa."
Ein Stück kam, in dem es heißt:
"Ich will dich ganz allein für mich. Was tust du? Du bist da für jedermann."
Ich tanzte zum ersten Mal in dieser Nacht. Etwas später lief noch etwas für mich, "Alle gegen alle" von Laibach.
Rick schlug mir vor, zu Kappa zu gehen und mir etwas zu wünschen. Von Kappa wünsche ich mir ungern etwas, weil er so empfindlich ist. Es waren aber weder Rafa noch die Sängerin hinterm DJ-Pult, und so wagte ich es.
"Na? Wie sieht's aus mit Leæther Strip?" fragte ich.
Kappa nickte.
Laura und ich wollten uns nachschminken. Auf dem Weg zu den Toiletten fing ich an zu rennen.
"Was rennst'n du so?" fragte Laura.
"Weil es so kalt ist!"
Rafa kam aus der Herrentoilette. Er sah mir ins Gesicht. Im Vorbeirennen griff ich nach seiner Schulter.
"Chchp!" machte ich gierig.
Ich hielt nicht inne und schaute mich auch nicht mehr um.
In einer Toilettenkabine sah ich schwarze Federn auf dem Boden liegen. Ich hatte den Schlüssel schon herumgedreht und betrachtete die schwarzen Schnipsel, da fiel mir ein, daß sich die Sängerin in dieser Kabine umgezogen haben mußte. May war nämlich nicht da.
Was ist das nur für ein Kleid, das beim Anziehen so viele Federn läßt? Zieht die Sängerin es deswegen nur für so kurze Zeit an, weil es sonst auseinanderfällt?
Rafa löste Kappa am DJ-Pult ab. Er wollte "Adrenalin Rush" von Leæther Strip spielen, meinen Wunsch. Bei den ersten Tönen verhakte sich die CD, und es dauerte ein Weilchen, ehe Rafa das begriff und die CD neu anlaufen ließ.
"Kannst du denn nicht mal mit einem CD-Player umgehen?" rief ich.
In SHG. hat Rafa CD's, die sein Player längst nicht mehr nimmt. Zwei Jahre ist es her, seit ich erlebt habe, wie Rafa mit den "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi kämpfte.
Nach "Adrenalin Rush" entschuldigte sich Rafa durchs Mikrophon für das nächste Stück, "Fred vom Jupiter". Er meinte, wenn ein NDW-Fan auflege, müsse man ihm das gönnen. Es kam auch noch "Eine neue Zeit" vom Liederkranz. Das Stück habe ich mir damals in SHG. aufgenommen.
Gegen drei Uhr, als es schon etwas leerer wurde, sah ich die Sängerin mit ihrer Tasche zu Rafa gehen. Sie schien mit ihm zu verhandeln. Vielleicht wollte sie fort, und Rafa wollte noch bleiben. Das Ende des Gesprächs war, daß die Sängerin sich unterhalb des DJ-Pults auf einen Hocker setzte, wenige Meter vor mir. Sie stützte die Arme auf ein Geländer. Sie saß allein, wie jemand, der schmollt.
Rafa kaute Kaugummi und rauchte gleichzeitig. Einmal warf er seine Zigarette ganz besonders weit weg. Sie flog auf eine der untersten Treppenstufen. Es war nicht sicher zu sagen, ob Rafa sie in meine Richtung oder in die Richtung der Sängerin schleudern wollte. Jedenfalls wirkte Rafa verstimmt.
Die Sängerin stieg bald schon wieder hinauf zu Rafa. Sie redete mit ihm, und es war nicht sicher festzustellen, ob die beiden stritten oder turtelten. Schließlich griff die Sängerin Rafa an der Stirn und stieß seinen Kopf zurück - halb spielerisch, halb wütend. Rafa nickte, im Sinne einer Gegenbewegung. Er warf auch noch einmal von selbst den Kopf zurück. Dann wandte er sich wieder dem DJ-Pult zu. Die Sängerin ging zu einem Korbsofa. Dort saß Kappa. Die Sängerin setzte sich auf ihn und schmuste mit ihm. Sie lächelte dabei, als wenn sie Rafa eifersüchtig machen wollte. Der kümmerte sich jedoch nicht darum.
Kappa ließ sich die Schmuserei gerne gefallen.
"Ih! Der faßt die an!" sagte ich zu Laura.
Auch als Kappa nicht mehr bei ihr war, blieb die Sängerin auf dem Sofa sitzen. Sie legte ein Bein über die Armlehne - eine reichlich aufreizende Pose. Es war gerade, als wenn sie Rafa damit anlocken wollte. Er kümmerte sich jedoch nicht darum.
Manchmal ging die Sängerin auf die Tanzfläche. Sie balancierte die Treppenstufen hinunter. Ihre Stöckelstiefel hatten ganz besonders hohe Absätze.
Gegen halb vier waren nur noch wenige Leute in der "Halle". Rafa kletterte einen Lichtmast hinauf und drehte an einem sehr hellen rosaroten Scheinwerfer. Für einen Augenblick leuchtete er mir mitten ins Gesicht.
Etwa um vier Uhr trugen Rafa und die Sängerin die Geräte für das Konzert nach draußen. Rafa ging voran. Er hielt am Ausgang die Zeltplane hoch, damit die Sängerin bequem zwischen den Bahnen hindurchgehen konnte.
Als alles fortgebracht war, verließen Rafa und die Sängerin die "Halle". Er hatte einen Arm um sie geschlungen und wühlte sein Gesicht in ihre Halsbeuge.
Wenn es regnet, verschlammt der Boden auf dem ehemaligen Fabrikgelände. Die Gossenwürfel, mit denen die Zufahrt zur "Halle" gepflastert ist, haben abgeschlagene Ecken und sind halb im Sand versunken.
Laura und ich kamen eben hinaus und stöhnten über das Wetter, da fragte uns ein Mädchen auf englisch nach dem Weg zur Bahnstation. Wir sagten ihm, es müßte nur mit uns gehen.
Der rote BMW rauschte an uns vorbei.
"Guck' mal, da fährt er wieder mit diesem Drecksweib", machte ich mir Luft. "Nein, ich komme auf gar keinen Fall morgen ins 'Nachtlicht'."
Das fremde Mädchen konnte das nicht verstehen, und das war mir recht.
Am Samstag erzählte mir Luie im "Elizium", daß er an die LP "Look inside" von De Fabriek herangekommen ist, auf der sich "Launch my Olive" befindet. Ich durfte wieder erleben, wie es ist, wenn man sich nicht selber bewegt, sondern wenn die Musik einen bewegt. Sie zerrt an einem und schleudert einen über die Tanzfläche.
Sator kam mit Ortfried Brinkus aus dem "Nachtlicht" ins "Elizium" herüber und berichtete, daß er schon wieder von Janine getrennt ist. Er brachte ein Mädchen namens Jane mit, das aus L. stammt. Er ist mit Jane aber nicht zusammen.
Von Sator erfuhr ich, daß Rafa gerade im "Nachtlicht" auflegte. Die Sängerin hatte Sator nicht gesehen.
Thorlev, Luie und Brinkus haben zur Zeit alle ihre Haare abrasiert, ohne daß einer von ihnen Skinhead ist oder wie ein Skinhead wirkt. Thorlev betitele ich als "versponnen", Luie als "Zen-Mönch", Brinkus als "Sträfling".
"So siehst du aus, wie du wirklich bist", sagte ich zu Brinkus, "jenseitig, abgefahren, durchgeknallt. Ortfried ist der Mensch von morgen. Wenn es einen Atomschlag gibt, sehen nachher alle Menschen so aus wie Ortfried."
Gegen vier Uhr erinnerte ich Luie an "Sinaya" von Esplendor Geometrico. Xentrix stand bei Luie hinterm DJ-Pult.
"Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks", quakte Xentrix vor sich hin.
"Xentrix, ich will schöne Musik spielen, wenn du nur einmal hier verschwinden würdest", beschwerte sich Luie und sagte zu mir gewandt:
"Der Kerl, der nervt mich hier immer, die ganze Zeit."
Gleich ging es wieder los:
"Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks ..."
Luie stöhnte und wand sich. Xentrix hielt ihm eine CD von den Sparks vors Gesicht und sagte:
"Hier, das sollst du spielen!"
"So geht das jetzt schon eine halbe Stunde lang", sagte Luie zu mir.
"Oh, ich will noch mehr lachen!" rief ich. "Weiter! Weiter!"
"Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks ...", kam es von Xentrix.
Luie schubste ihn vom DJ-Pult weg. Währenddessen schnatterte Xentrix ununterbrochen:
"Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks ..."
Dann machte er eine Pause, beugte sich mit einem netten Lächeln zu Luie hinüber und fragte unschuldig:
"Ey, hast du Sparks da?"
Er bekam von Luie einen Stoß vor die Brust und machte sich mit eingezogenem Kopf davon. Zwei Meter weiter drehte er sich wieder um und quakte aus sicherer Entfernung:
"Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks Sparks ..."
Dann ging er noch ein Stückchen und rief Luie zu:
"Sparks! Denk' an Sparks! Spiel' Sparks!"
Luie spielte schließlich das Stück von den Sparks, ein Disco-Liedchen im Stil der frühen Achtziger. Ich schlug ihm vor, als Kontrast "Sinaya" von Esplendor Geometrico nachzuschieben, und das machte Luie. Ich hatte eben fertiggetanzt, da entdeckte ich die Sängerin, die mit Luc an der Bar saß.
"Das kann nur eines heißen", dachte ich, "nämlich daß es zwischen Rafa und der Sängerin einen furchtbaren Krach gegeben hat!"
Die Sängerin hatte ihre Haare fast gar nicht toupiert; es waren nur abgekaut wirkende Fransen. Sie trug ihre einfallsloseste Kluft, ein Hemdchen und die Gymnastikhose. Sie tanzte vorwiegend zu Gitarrenstücken. Ihre Armreifen klirrten durchdringend.
Ein Junge sprach mich an, der sich klassisch gruftig zurechtgemacht hatte. Seine Haare waren schwarz gefärbt und toupiert, und er trug Rüschenhemd und Frack. Er ist untersetzt und nicht sehr groß, und er hat ein offenes, glattes Gesicht. Er heißt Darva und ist befreundet mit Sasa und Keith. Keith lief dieses Mal so blond und geschminkt herum, daß ich ihn für ein Mädchen hielt.
Darva ist erst seit einem halben Jahr in der Szene, mag die Musik und den Stil aber schon länger. Er ist zweiundzwanzig Jahre alt und hat schon im Rettungswesen gearbeitet. Er meinte, am spannendsten sei für ihn das Bergen von Leichen.
"Manchmal ist es ganz schön schwer, alle Teile zusammenzukriegen", erzählte Darva. "Einmal mußte eine Autobahn für zwei Stunden gesperrt werden, weil wir den linken Arm nicht gefunden haben. Und der mußte gefunden werden. Weil, sonst, wenn ein Autofahrer vorbeikommt und sieht einen Arm an der Leitplanke hängen, kriegt der einen Herzschlag. Da muß immer alles gefunden werden. Zumindest im Groben muß man den Kerl zusammenhaben. Wir haben echt gesucht und gesucht. Schließlich ruft einer:
'He! Da oben klebt er am Brückenpfeiler!'
Und da hing dann der Arm. Der war dagegengeschleudert worden. Und dann haben wir Räuberleiter gemacht, so einer dem anderen auf die Schultern. Der Arm war so richtig festgebacken; die Hälfte war platt. Und beim Abziehen hat das so richtig so ein Geräusch gemacht, so - schschp! Echt, da sucht man dann schon mal drei Meter über dem Erdboden!"
Ich kicherte und kicherte angesichts des makaber-grausigen Szenarios. Darva gestand nicht ohne Stolz:
"Ich bin übrigens beim Rettungsdienst 'rausgeflogen."
"Warum denn?"
"Weil ich einen Schädel habe mitgehen lassen."
Ich gab zu bedenken, daß der Schädel einmal zu einem Menschen gehört hat, und dem wäre es wohl nicht unbedingt recht, daß sein Schädel ausgekocht in Darvas Regal steht. Außerdem seien da noch die Angehörigen ...
Darva erwiderte, das sei ein unbekanntes Opfer gewesen, und da sei es eh egal. Ich konnte die Tat dennoch nicht gutheißen.
Inzwischen ist Darva Rettungstaucher bei der DLRG. Auch die DLRG birgt Leichen, und das ist für Darva fast noch spannender als das Leichenbergen beim RTW-Dienst. Denn es sind auch Moorleichen aus dem zweiten Weltkrieg dabei, die aus dem tintenschwarzen Wasser gezogen werden müssen.
"Solange die Leichen da liegen, ist noch alles dran, aber wenn du so einen Arm anfaßt, löst sich das auf", erzählte Darva. "Da hast du nur so eine glitschige Masse, und die rutscht dann von dem Knochen 'runter. Da kannst du meistens nur die Klamotten, den Helm und den Schädel hochbringen."
Ich fragte Darva, ob man die Leichen wenigstens mit Handschuhen anfaßt.
"Klar, du steckst von Kopf bis Fuß in Neopren", erklärte er. "Das ist nur schwer, den Geruch nachher wieder aus dem Anzug 'rauszukriegen.
In Moorwasser hast du vielleicht einen Meter Sicht, und da kann es schon sein, daß du da 'rumsuchst, und wenn du dich umdrehst, ist hinter dir auf einmal ein Schädel.
Weißt du übrigens, wie man die Leichen transportiert? In solchen blauen Müllsäcken! Da stopfst du nur alles 'rein, und das wird dann dem BKA übergeben. In den Klamotten sind nämlich oft noch Ausweispapiere, und wenn du die so 'rausnehmen würdest, würden die sofort zerfallen. Die beim BKA können das aber so machen, daß man das wirklich noch lesen kann. Und die können dann ermitteln, wer das war."
Die Sängerin verschwand gegen fünf Uhr und mit ihr Luc und Gerrit. Ich verließ das "Elizium" um halb sechs. Ich nahm den Weg am "Nachtlicht" vorbei und sah gegenüber vom Eingang den roten BMW parken. Da war die Sängerin also noch. Vielleicht versöhnte sie sich gerade wieder mit Rafa.

In einem Traum sah ich den Sockenschuß im "Elizium" auf der Tanzfläche.
"Dann hat es der Rafa doch nicht geschafft, ihn zu beseitigen", dachte ich und fühlte mich hilflos.

In einem Traum begegnete mir Rafa.
"Ja, gut - dann komm' ich mit", sagte er nur und folgte mir nach Hause.
Wir führten mehrere kurze Gespräche miteinander und tauschten Zärtlichkeiten aus. In meiner Küche sagte Rafa:
"Es muß etwas geben."
Das konnte heißen:
"Es muß ein Mittel geben."
Es konnte aber auch heißen:
"Es muß etwas geschehen."
Ich versuchte, im Kopf zu behalten, was wir sagten. Doch ich vergaß es, bis auf das Ebengenannte.
Rafa und ich gingen in mein Zimmer. Es war fast dunkel; nur die Schreibtischlampe war angeschaltet. Wir trugen beide etwas Schlichtes, Dunkelgraues. Rafa hatte ein bündchenloses Sweatshirt an und eine schmal geschnittene Hose. Auf meinem Bett lag die graue Flauschdecke. Wir schlugen das Bett nicht auf, und wir zogen uns auch nicht aus. Rafa legte sich auf mich und tat, als würde er mit mir schlafen. Ich konnte ihn gewähren lassen, weil wir unsere Sachen anhatten.
Äußere Gewalten lösten unser Stelldichein auf. Ich kam aus einem Traum in den nächsten. Ich saß mit mehreren Leuten auf einer Matratze und mußte mit ihnen Videofilme gucken.
"Es muß etwas geben", dachte ich. "Es muß etwas geben."
Dann war endlich Feierabend. Unten im Treppenhaus begegnete mir die graue AiP-Maus Jella, von der ich auf jede Frage eine Stichelei als Antwort bekomme und die ich deshalb im Arbeitsalltag nichts mehr frage. Sie hielt mir die Schwingtüren auf und wartete, jedoch nicht lange genug. Sie ließ die Türen jedesmal wieder los, bevor ich sie erreicht hatte, und so schwangen mir die Türen entgegen, und das Hindurchkommen war für mich schwieriger, als wenn Jella sie mir nicht aufgehalten hätte. Ich konnte ihr immer schlechter folgen, und der Abstand zwischen uns vergrößerte sich. Draußen lief Jella durch einen flachen Zierbrunnen, der jetzt - im Winter - trocken war. Mir fiel auf, daß sie einen Rock anhatte, einen groben Baumwollrock, der zu ihrer üblichen Garderobe paßte. Und noch etwas fiel mir auf: sie erwartete ein Kind.
"Ist es denn schon schwer, dein Kind?" erkundigte ich mich.
"Nein", antwortete sie, "ach, das ist noch nicht so weit, das kleine, liebe Kindelein."
Wir mußten an einem steilen Felshang gehen und über große, kantige Steine klettern. Jella machte das nichts aus, trotz ihres Zustandes. Ich dagegen kam nur mühsam hinterher. Schließlich stieg Jella sogar aufs Fahrrad und fuhr über die Felsbrocken. Der steile Hang wurde in der Tiefe umspült von einem Kanalgewässer. Zwei dünne Stege führten aufs sichere Flachland. Einer der Stege war für Radfahrer gedacht, einer für Fußgänger. Jella fuhr flink über den Steg für Radfahrer. Ich war noch wenige Meter von den Stegen entfernt, da löste sich die ganze Felswand und kam auf mich zu. Ich haschte nach dem Fahrradsteg. Meine Hand griff ins Leere. Da war noch der Fußgängersteg, aber den bekam ich auch nicht mehr zu fassen. Ich sah das Wasser unter mir, noch weiter unten, als ich gedacht hatte. Die Wand würde mich in die Tiefe reißen. Ich konnte es überleben, denn die Felsen wurden zu Heuballen. Die waren weich und mußten mich nicht erschlagen. Doch wenn ich unter ihnen begraben im Wasser lag, gab es gleichwohl keine Rettung für mich.
"Nein!" rief ich und wachte auf.

Jella ist eine grobe, holzige Natur. Sie wirkt nicht feminin und nicht verführerisch. Dennoch nimmt sie die Hürden mit Leichtigkeit, die für mich unüberwindbar sind. Wie sie gibt es viele, die zur rechten Zeit auf die "andere Seite" kommen und erreichen, was ich nicht erreiche. Für sie ist es einfach, Beziehungen und Kinder zu haben. Und ich kann es nicht, und immer mehr Steine liegen mir im Weg, ganze Felswände hindern mich am Vorwärtskommen. Wer in meinem Alter noch keine Beziehung hatte, ist ausgestoßen aus der Gesellschaft. Er fällt durchs Gitter. Auch die Schwingtüren stehen wahrscheinlich für die Rückschläge, die ich erfahre auf meinem Weg.
"Es muß etwas geben."
So ähnlich hat Rafa schon öfter gesprochen, auch bei seinem Besuch Anfang September. Etwas rätselhaft klang es:
"Zwischen uns sollte das mal zur Eskalation kommen."
"Was meinst du mit 'Eskalation'?" fragte ich.
"Daß ... es mal zum Ende kommt, zum Ziel."
"Was meinst du mit 'Ende'?"
"Das, wo du wohl sagen würdest, daß wir zusammen sind."
Es ist die Frage, ob Rafa sich jemals darauf einlassen kann.



Anfang Februar ging ich freitags ins "Nachtlicht", weil Ted dort hingehen wollte, und er kommt so selten nach H. Am Telefon deutete ich Ted an, daß mich die Türsteher vielleicht nicht durchlassen würden. Von Vince hatte ich gehört, daß wieder bulldoggenähnliche Türsteher im "Nachtlicht" arbeiten sollen. Ted meinte, wenn sie mich nicht durchließen, sollten Laura und ich bei "McGlutamat" warten, und er würde uns abholen, und mit ihm kämen wir schon hinein. Ich fand das nett, glaubte aber nicht, daß die Türsteher mehr Respekt vor ihm hatten als vor mir.
Laura und ich kamen kurz nach elf Uhr zum "Nachtlicht". Am Eingang saßen tatsächlich wieder Skinheads. Sie wollten unbedingt meine Tasche. Ich sagte ihnen, daß Kappa mir versprochen hätte, daß ich meine Tasche mitnehmen konnte.
"Kappa ist nicht da", sagten sie siegesgewiß. "Rafa brauchst du gar nicht holen. Ende der Diskussion - die Tasche bleibt hier, oder du kannst wieder nach Hause gehen."
Laura ging nach unten. Kaum eine Minute verstrich, da kam sie mit Darryl wieder herauf, und ein Wort von Darryl genügte, um die Türsteher umzustimmen. So kam ich also mit der Tasche hinein.
Laura hatte Darryl gleich gesehen, war aber zuerst zu Rafa gelaufen; sie wollte lieber ihn zur Hilfe holen.
"Rafa!" rief sie. "Hetty ist oben; die hat wieder Probleme mit den Türstehern, wegen der Tasche."
Da soll Rafa sie angefahren haben:
"Oh, Mann, da hab' ich kein Bock mehr drauf! Das ist mir jetzt echt zu blöd! Außerdem habe ich keine Zeit. Seht zu, wie ihr das anders regelt!"
Laura konnte es anders regeln. Sie holte Darryl.
Dennoch habe ich den Eindruck, daß Rafa es bereut, mir damals geholfen zu haben. Er will sich selbst als schlecht und unzuverlässig darstellen. Ich soll den Glauben verlieren an das Gute, das in ihm ist.
Rafa trug die rote Weste und Ohrringe, die im Dunkeln leuchten. Eine Brille hatte er nicht auf.
Die Sängerin saß mit Dolf an der runden Bar. Ich setzte mich mit Laura an einen Tisch im Rondell, zu Toro und Viktoria und einigen anderen Gothics.
"Wie gut, daß Rafa auflegt", meinte Toro. "Dann kann man wenigstens ruhig sitzenbleiben. Und man kann sich in Ruhe nachschminken. Echt, der Kerl hat eine unwahrscheinliche Begabung darin, die Tanzfläche leerzuhalten."
Er erkundigte sich bei mir:
"Ist Rafa wieder mit Tessa zusammen?"
"Zum neunten Mal", antwortete ich. "Das neunte Mal geht von Mitte November bis jetzt."
"Da steig' einer durch!"
Ich ging zu Darryl, der vorn an der Bar stand.
"Dies ist wahrscheinlich das letzte Mal, daß ich im 'Nachtlicht' bin", sagte ich zu ihm. "Jetzt sind da schon wieder diese Skinhead-Schweine oben. Dabei hast du mir gesagt, die kommen nie wieder."
"Ja, wir mußten die holen, denn zwei sind im Krankenhaus."
"Egal, weshalb - das Ergebnis ist, daß die da wieder sitzen, obwohl du mir versprochen hast, daß die für immer 'rausgeflogen sind."
"Ja, das war unser Fehler; wir hatten denen nicht gesagt, daß die dich mit Tasche 'reinlassen sollen. Die wußten das nämlich nicht."
"Die wußten das ganz gut, nur pflegen die das immer ganz gerne zu vergessen."
"Die wußten das nicht."
"Jedenfalls, ich kann mich nicht darauf verlassen, daß ich mit Tasche 'reinkomme. Und es lohnt sich nicht für mich, mich anzuziehen und zu schminken, wenn ich doch gleich wieder umkehren kann. Irgendwann ist das Maß voll. Irgendwann ist die Grenze erreicht. Irgendwann ist es genug. Ich komme nicht mehr ins 'Nachtlicht', so lange, bis die Regelung geändert wird und grundsätzlich jeder mit Tasche 'reinkommt."
Darryl wirkte ein wenig betroffen.
"Ich bin selbst traurig darüber", fuhr ich fort. "Aber ich kann nichts anderes machen. Es geht nicht mehr anders. Weißt du - entweder man macht eine Durchschnittsdisco, in der zufällig ein paar Schwarzgekleidete 'rumlaufen. Dann kann man sich sowas erlauben wie das hier. Oder man macht einen Szene-Laden, dann muß aber auch das Klima entsprechend sein, und man setzt keine Skinheads an die Tür, die die Gothics bewachen."
Darryl empfahl mir, Kappa anzurufen und mit ihm zu sprechen. Ich dachte darüber nach und teilte Darryl schließlich mit, daß ich Kappa nicht anrufen würde.
"Ich habe schon mit ihm geredet, lange genug", erklärte ich meine Entscheidung. "Es ist alles gesagt. Du kannst ihm nur von mir ausrichten, daß ich erst wiederkomme, wenn jeder seine Tasche mit 'reinnehmen darf."
Darryl wußte übrigens schon, daß Sasa für kurze Zeit von ihrem Freund getrennt war. Sie kam zweimal ins "Nachtlicht" und trank beide Male so viel, daß sie mit dem Rettungswagen abgeholt werden mußte. Einmal schlief sie auf dem Klo ein.
Meta und ein blondes Barmädchen konnten verfolgen, wie ich mich über die Skinheads am Eingang aufregte. Während ich mich nachschminkte, müssen sie heftig gelästert haben. Als ich die Toilettentür öffnete, hatten sie die Köpfe zusammengesteckt und murmelten etwas von "dieses Geseihere nicht mehr hören". Dann sah mich das blonde Barmädchen und sagte zu Meta:
"Pscht!"
Beide Mädchen sind sehr durchschnittlich, und dementsprechend stört sie alles, was entgegen der Norm läuft; dazu gehören auch Gefühle und Gefühlsäußerungen. Außerdem ist Meta mit Rafa zusammen gewesen und wird inzwischen gegen mich eine gewisse Eifersucht entwickelt haben. Meta soll übrigens schon länger wieder durchschnittlich gekleidet sein. Sie trägt Hosen und dazu etwas Plumpes, Weites.
Ted und Cyan kamen gegen Mitternacht und wunderten sich darüber, daß es im "Nachtlicht" so leer war. Nach ein Uhr wurde es etwas voller. Dolf wollte Laura zum Tanzen auffordern. Rafa tanzte mit der Sängerin zu einem Wave-Stück. Ich sah jetzt, daß sie sein Jäckchen mit den vielen Schnallen auf den Ärmeln übergezogen hatte. Rafa trug die passende Hose dazu; sie war schmal geschnitten und hatte die vielen Schnallen an den Seitennähten. Dolf tanzte auch noch bei ihnen.
"W.E komplett", sagte Laura.
"Die hat so widerliche Augen", sagte ich über die Sängerin. "Die hat so ein widerliches Gesicht. Wie kann Rafa die nur anfassen? Ich verstehe das einfach nicht."
Ich sah, wie Rafa sich hielt, ich sah, wie er ging, und ich war mir immer noch sicher: er ist es ... natürlich ... wer könnte es sonst sein ...
Die innere Nähe, die ich zu ihm fühle, wurde nicht angetastet durch meinen Ekel vor der Sängerin.
In den "Bremer Stadtmusikanten" heißt es:
"Etwas Besseres als den Tod findest du überall."
Ich gehe den Weg weiter und suche nach einem Hinweis, was ich tun kann, um Rafa zu erreichen.
Vor dem Treppchen zum DJ-Pult unterhielt ich mich mit Rick.
"Hast wieder deine Haß-Phase", vermutete er, als ich mich wegen der Sache mit den Skinheads nicht beruhigen konnte.
Ich erzählte Rick, daß ich nicht mehr ins "Nachtlicht" kommen möchte.
"Ich würde mir doch von denen das nicht verderben lassen", meinte er.
"Ich brauche aber meine Tasche", entgegnete ich. "Und außerdem habe ich es nicht nötig, mich von diesem Pack anpöbeln zu lassen. Das ist unter meiner Würde. Na, zum Glück gibt es noch das 'Elizium'!"
Rick findet es erstaunlich, daß man im "Elizium" Industrial spielen kann und daß es eine ganze Reihe von Leuten gibt, die gerne dazu tanzen.
Die Sängerin ging das Treppchen hinauf und redete mit Rafa. Dann ging sie mit harten, kurzen Schritten an mir vorbei zur großen Treppe. Sie streifte meinen Arm mit den Schnallen. Das schien beabsichtigt.
"Was soll die Drecksau ...", unterbrach ich mich in dem, was ich gerade zu Rick sagte.
Rick verlor selbst den Faden. Er fragte mich, wer die "Drecksau" denn sei?
"Ach, das ist egal", antwortete ich. "Tut nichts zur Sache."
Rick meinte, ich könne die Schuld an dem eintönigen Musikprogramm im "Nachtlicht" nicht allein auf Rafa und Kappa schieben.
"Die nenne ich ja auch nicht so", sagte ich.
Für eine Weile saß ich mit Laura und Thorlev auf einer Bank neben dem gekreuzigten Skelett.
Thorlev erzählte mir etwas, das zu meinem Bild von den Türsteher-Skinheads paßt:
"Ich dachte erst, mit meiner Glatze lassen sie mich nicht 'rein, aber stell' dir vor - die haben mich bevorzugt 'reingelassen!"
Thorlev läßt sich die Haare wieder wachsen.
"Echt, ich bin schon dümmer geworden", meinte er.
Thorlev glaubt, dadurch, daß man ohne Haare am Kopf friert, arbeitet das Gehirn schlechter.
Rafa kämpfte viel mit den CD's. An die fünfmal geschah es, daß eine hakte. Er entschuldigte sich dann mit "Sorry", oder er kündigte an, es noch einmal zu versuchen. Am Ende von "Burning Heretics" von Apoptygma Berzerk herrschte plötzlich Stille; vielleicht war Rafa an irgendeinen Knopf gekommen.
"Fast - aber nicht ganz", bemerkte jemand.
Es kam jedoch auch vor, daß Rafa die Leute ärgerte, indem er Stücke kurz anspielte und sie gleich wieder ausblendete. So spielte er "Whips & Kisses" von Call an und ertränkte es nach einem Takt in Gitarrenklängen. Damit hatte er Laura und mich geärgert. Laura ging zum DJ-Pult und beschwerte sich. Am Türchen hatte Rafa aber jemanden hingestellt, der Beschwerden abwimmelte. Dieser gab Laura eine Scherz-Visitenkarte, auf der bedauernde Worte standen. Er sagte, er könne nichts ausrichten bei Rafa, und die Wünsche auf der Liste würde Rafa nur dann spielen, wenn ihm gerade danach wäre. Es kam aber noch "Love in Chains" von Call - immerhin.
Ted wurde von Velvet belagert. Während ich im Bad war, stellte Rafa sich zwei Schritt neben Laura an eine Säule und lächelte sie an. Als sie ihm in die Augen sah, warf er den Kopf ins Genick. Zu einem Gespräch kam es nicht. Rafa ging wieder ans Pult.
Der Anblick der Sängerin weckt in mir eine furchtbare Wut, und diese Wut strengt an. Ich kann keinen geeigneten Blitzableiter finden. Lästern hilft auf die Dauer auch nichts. Ich saß im "Nachtlicht" auf meinem Hocker und fühlte, wie sich meine Wut gegen mich selbst richtete. Ich bekam Halsweh, und mir fiel das Sprechen schwer. Ich sann auf einen Weg, um die Sängerin für immer aus meinem Blickfeld zu entfernen. Ich kam zu dem Schluß, daß ich sie nicht entfernen kann; Rafa muß es tun.
Gegen drei Uhr wechselte die Sängerin ihren Platz. Sie setzte sich im Rondell an die Hauptbar. Von dort aus konnte sie Rafa besser bewachen. Sie saß ganz allein da, wie ein Schäferhund am Hofeingang.
Es wunderte mich, daß die Sängerin nicht hinters DJ-Pult kam. Da hätte sie Rafa noch besser bewachen können.
Es ging auf vier Uhr zu, da tat Rafa der Sängerin einen Gefallen und spielte ein Gitarrenstück, das ich nicht leiden kann. Die Sängerin tanzte alleine. Ich verließ mit Laura das "Nachtlicht"; wir waren fast die Letzten. Als wir am DJ-Pult vorbeikamen, suchte Rafa wie zufällig in seinen CD's herum. Das tut er jedesmal, wenn ich gehe, jedesmal.
Zu meiner Geburtstagsfeier am Samstag kamen über dreißig Gäste. Ich war froh, einen großen Kleiderständer gekauft zu haben, mit einer Stange, an die man Bügel hängt.
Laura schenkte mir mehrere Fotos von Rafa, die sie aus "geheimen Quellen" hatte. Die Bilder waren vor etwa drei Jahren aufgenommen worden, als ich Rafa noch nicht kannte. Auf einem Bild hat Rafa toupierte, gebleichte Haare und ist sehr akkurat geschminkt. Er wirkt maskiert, puppenhaft, wie er sich gern darstellt.
Auf einem Bild sieht man Rafa im Talar, mit Bierglas und Zigarette, im Gespräch mit Dolf. Man meint Rafa zu hören, wie er unaufhörlich redet, redet, redet, ohne wesentlichen Inhalt, und alle Aufmerksamkeit an sich reißt. Wenn ich Rafa bei solchen "Vorstellungen" beobachte, wirkt er auf mich innerlich angespannt und angestrengt. Ein Mechanismus scheint in ihm abzulaufen, den er nicht bewußt wahrnimmt.
Steini hatte wieder ein ganz besonderes Geschenk für mich: einen verrosteten Gulli, in dem eine Barbie gefangen ist. Das soll "Reichtum und Luxus im Abgrund" darstellen.
Ich überlege, wie ich an einen Steinsarg für Barbies herankomme oder an einen steinernen Katafalk. Wenn man das beim Steinmetz anfertigen läßt, wird es sicher teuer.
Einen Betonsarg für Barbies würde ich auch gerne haben. Ich frage mich, wo man so etwas bestellen kann.
Die Party dauerte von sieben Uhr abends bis halb zwölf Uhr mittags, also über sechzehn Stunden. Zwischendurch - gegen halb sechs - machte Laura Frühstück.
Meine letzten Gäste waren Laura und Brinkus, außerdem Folter, Dag und ihre Fahrer. Die Fahrer schliefen in den Vormittagsstunden, während Laura und ich mit Dag herumquasselten. Folter versicherte, daß Laura noch mehr und noch schneller schwatzen könne als ich, und das sei schon etwas Außergewöhnliches!
Ich erzählte Laura von dem unsichtbaren Strick, den Rafa um den Hals tragen soll und an dem ich ihn führen will.
"Fünfhundert Mark in die Chauvi-Kasse!" rief Dag.
Laura hat von Velvet etwas gehört über Rafas Geburtstag. Velvet hat Rafa mit anderen Mädchen zusammen eine Torte gebracht. Es gab wohl eine Feier, doch in welchem Rahmen, das weiß ich nicht. Vielleicht war es auch nur ein Kaffeetrinken mit den Mädchen.
Ich könnte nicht mit einem Schwarm von Mädchen zu Rafa gehen, um ihm zu huldigen. Ich verehre Rafa nicht, ich liebe ihn. Und meine Liebe ist keine Schwärmerei, die ich mit anderen Mädchen teile. Ich will für Rafa die einzige Frau sein, und er soll keine Frauen haben neben mir. Ich will nicht Teil sein von der Gemeinde, die ihn anbetet.
Laura hat auch über Fedor etwas gehört. Fedor soll Silvester versucht haben, aus dem Fenster zu springen.
Nicht viel besser ist es mit Derek. Er hat für seinen Bruder gebürgt, der bereits straffällig geworden ist und die fragliche Summe - wie zu erwarten - nicht bezahlt hat, so daß Derek sich hohe Schulden eingehandelt hat. Constri und ich vermuten, daß Derek sich insgeheim nach mehr familiärer Zusammengehörigkeit sehnt und es nicht schafft, rechtzeitig eine Grenze zu ziehen und sich selbst ausreichend zu schützen.
Derek führt bizarre Unternehmungen durch, um seinen Selbstmord anzukündigen. So schnitt er am Sonntagmorgen all seinen Plüsch-Schnecken die Köpfe ab und baute aus den hirnlosen Tierchen einen Zug durch den Flur zu seinem Zimmer. Dann ging er schlafen und legte ein langes Messer neben sich aufs Kissen. Carl und Ted kamen Constri zur Hilfe und führten mit Derek lange Gespräche, als er wach und nüchtern war. Derek bekam das offensichtlich sehr gut; während der Gespräche nähte er fleißig alle Köpfe wieder an. Constri ging es dafür umso schlechter; sie litt unter anfallsweisen Gesichtsschmerzen.
Malda erzählte mir bei einem Besuch etwas, das ich ansatzweise auch von Carl gehört habe: Im "Nachtlicht" soll es eine Gruppe von Mädchen geben, die Rafa anhimmeln und sogar einen Fanclub gegründet haben. Unter anderem soll das ein Mädchen namens Daphne sein, das übergewichtig und nicht sehr schön, dafür aber kunstvoll zurechtgemacht sein soll. Außerdem soll ein Mädchen namens Ariadne dabei sein. Einmal sollen die Mädchen versucht haben, Rafas Aufmerksamheit zu erregen, indem sie sich rote Schleifen ins Haar banden. Es half aber nichts. Als sie von Malda wissen wollten, ob Rafa eine Freundin hätte, zeigte diese ihnen ein Foto von mir. Eines der Mädchen rief:
"Diese Puppe? Ich hasse diese Puppe!"
Malda fragt sich, was Rafa an der Sängerin findet.
"Gegen die bist du ein Juwel", meinte sie.
Am Freitag berichtete Laura, daß es das "Nachtlicht" gar nicht mehr gibt. Ein halbes Jahr nach der Eröffnung schlossen sich die Türen für immer, leise und unerwartet. Ivo Fechtner und Daria wollten am Donnerstag hin, da war es schon vorbei damit. Im "Elizium" fanden sie Kappa, der dort mit seiner Belegschaft trauerte. Rafa soll nicht dagewesen sein.
Was auch immer der Grund für die Schließung des "Nachtlicht" gewesen ist - mir kommt es vor, als wenn das Schicksal Rache übt, weil Kappa wieder Skinheads an die Tür gesetzt hat. Ich freue mich, weil dieser Spuk ein Ende hat.
Am Wochenende fuhr ich mit Laura nach SZ. zu der Geburtstagsfeier von Thorlev Rees. "Rosen-Reesli" ist mein heimlicher Rufname für ihn, weil er im "Elizium" Rosen verteilt hat.
Thorlev hatte seinen Sarg hochkant gestellt, damit die Gäste in seiner Wohnung genügend Platz hatten. Ich wollte wissen, ob Thorlev in dem Sarg auch schläft. Er hat einmal darin geschlafen, doch er fand es ziemlich stickig. Dabei hatte er den Deckel mit einem Buch etwas offengehalten.
"Kappa hat sich erschossen", behauptete Thorlev.
Laura hatte mich schon darauf vorbereitet, daß er diese Lüge herumerzählen würde. Reesli fand die Vorstellung lustig, daß Kappa Selbstmord begangen haben könnte, und ebenso lustig fand er die Vorstellung, das Gerücht von Kappas Selbstmord unter die Leute zu bringen.
"Ich finde das nicht lustig", sagte ich mit Nachdruck.
Charlene und Jason waren auch bei Reesli. Einmal beschwerte sich Jason, wir Mädchen würden immer so viel kakeln.
"Ach, du hörst doch sowieso nur mit einem Ohr zu", ärgerte ich Jason, wohl wissend, daß er linksseitig taub ist.
"Bist du gemein", wisperte Charlene.
"Ich bin gemein, nicht?" sagte ich zu Jason.
"Ach, bin ich schon gewöhnt", meinte er.
Ich freue mich, weil Charlene und Jason so glücklich miteinander sind; nur macht es mich traurig, daß ich nicht so glücklich sein darf. Dann denke ich aber auch wieder daran, daß Charlene und Jason beide körperbehindert sind, und sie tun mir sehr leid.
Ivo Fechtner und Daria setzten sich weit weg von uns, allerdings mitten in den Durchgang zum Schlafzimmer. Als ich an meinen Mantel wollte, mußte ich aufpassen, daß ich nicht in Darias Kaffeetasse trat. Jedes dritte Wort, das Daria sagte, war "Rafa". Vielleicht sollte mich das anlocken? Ich hörte nicht weiter zu. Ich wollte nicht wissen, was sie zu erzählen hatte. Angeblich soll sich Ivo Fechtner sehr darüber ärgern, daß ich nicht mehr mit ihm rede.
Laura begann ein angeregtes Gespräch mit dem "Märchenprinzen" Norman. Sie wollte länger auf der Party bleiben und mit Charlene und Jason fahren. Ich nahm die letzte Verbindung nach H.
Um Mitternacht kam ich ins "Elizium". Ich fragte Xentrix, ob er wüßte, weshalb das "Nachtlicht" so von einem Tag auf den anderen geschlossen worden ist. Er antwortete, das Gebäude gehöre einer großen Buchhandlung, und die habe wegen Eigenbedarf gekündigt. Kappa soll vorhaben, gegen die Buchhandlung zu klagen.
"Ich glaube, Kappa kommt gegen die nicht an", meinte die Freundin von Xentrix. "Die sind zu mächtig."
Violet war voller Freude über das Ende des "Nachtlicht". Xentrix hingegen soll voller Mitleid gewesen sein, als Kappa am Donnerstag das "Nachtlicht" verlor, und er soll Kappa freie Getränke gewährt haben. Kappa soll ganz bescheiden eine Cola getrunken haben.
Wenn Kappa so betroffen im "Elizium" auftauchte, ist die Schließung des "Nachtlicht" wahrscheinlich überraschend gekommen. Wenn die Buchhandlung wegen Eigenbedarf gekündigt hat, paßt eine Schließung von einem Tag zum anderen nicht ins Bild. Es wird da wohl noch Hintergründe geben. So ganz mit rechten Dingen wird das nicht zugegangen sein.
Sarolyn hatte noch mehr Neuigkeiten für mich. Sie wußte, daß Kappa mit seinem Trupp in eine kleine Nebenhalle der "Halle" gezogen war - das "RoseHip" - und dort soeben die Eröffnung feierte. Sarolyn war dort nicht geblieben, weil ihr die Musik im "Elizium" besser gefällt. Auch Revil kam ins "Elizium" herüber. Er konnte die Neuigkeiten noch ergänzen.
"Kappa hatte sich zugekifft", erzählte er, "und er hat mit Mühe und Not noch eine Ansage zustandegekriegt. Er hat sich bei Rafa bedankt für seine Dienste, weil der ihm wohl alles da so aufgebaut hat."
Die Nebenhalle soll einen Bretterboden haben und zwei Bars. Das DJ-Pult soll in der Nähe des Eingangs sein. Eine Garderobe soll es nicht geben, und an der Tür sollen nur ein Junge und ein Barmädchen gestanden haben. Das gekreuzigte Skelett soll hoch oben an der Wand hängen, und dort, wo die Wirbelsäule ist, soll eine Leuchtröhre befestigt worden sein.
Im "RoseHip" soll freitags und samstags das gewohnte "Nachtlicht"-Programm weiterlaufen. Es ist die Frage, ob Kappa wieder eine Zwangsgarderobe einrichtet und Skins an die Tür stellt.
Als ich ins "Elizium" kam, rief mich Luc:
"Hetty! Wünsch' dir Krach! Es müssen noch mehr Leute kommen, die sich Krach wünschen!"
Ich wünschte mir "eleganten Krach", und Xentrix erfüllte diese Wünsche, "Power of Passion" von Dive und "Destrozaron sus Ovarios" von Esplendor Geometrico - schwere Industrial-Kost, doch die Leute haben sich daran gewöhnt, und viele tanzten. Ich gab Xentrix den Sampler "The Cave", und er spielte davon das sechste Stück, "Brought before you" von Crawl/ Child. Dies ist ein atonales Stück mit quietschenden Höhen und einem rauhen, holpernden Rhythmus. Es gehört zu den Stücken, die mich bewegen, anstatt daß ich mich zu ihnen bewege. Wenn ich die Leute frage, wie ich tanze, höre ich oft "wie aufgezogen". Das könnte hier in besonderem Maße zutreffen.
Ein großer, pummeliger Junge mit gegelter Tolle und kariertem Hemd wußte über das "Nachtlicht", daß es dort im Sommer eine Party gegeben hatte, weil einer von der Mannschaft Vater geworden war.
"Darryl", vermutete ich.
"Detlev bekommt noch eine Gesichtsoperation von mir", sagte der Junge.
Ich wollte wissen, weshalb er auf Darryl so böse war.
"Der hat zu mir gesagt, er will mich umbringen", erzählte er. "Das ist zwar vier Jahre her, doch sowas vergesse ich nicht!"
"Aber da muß doch was passiert sein vorher", vermutete ich. "Sowas sagt der doch nicht ganz ohne Grund. Mich will Darryl ja auch nicht umbringen."
Was da passiert war - darüber schwieg er sich aus. Stattdessen sagte er, Darryl sei ein Lügner und ziemlich überschießend.
"Ich kann ja Darryl mal fragen, warum er dich umbringen will", schlug ich vor. "Das würde ich wirklich gern mal wissen. Wie heißt du denn?"
"Namen sind Schall und Rauch."
"Aber wie soll ich dich denn nennen? Ich muß dich doch irgendwie nennen."
"Das ist nicht wichtig."
"Aber ich weiß doch bei allen, wie ich sie nennen soll. Das ist der Sator, das ist der Ortfried, das ist die Jane ... die haben alle ihren Namen, nur du nicht."
"Namen sind Schall und Rauch."
"Weißt du, ich kann es gar nicht leiden, wenn jemand nicht zu seinem Namen stehen kann", tadelte ich den Jungen. "Der hat bei mir gleich Minuspunkte. Ich mag es genauso wenig, wenn jemand nicht zu seinem Alter oder zu seinem Beruf stehen will; dabei ist das beides doch keine Schande."
"Also gut - ich sag' dir meinen Rufnamen. Aber nur den."
"Das ist doch wunderbar!" lobte ich ihn. "Und wie ist der?"
"Toni."
"Das reicht doch schon; da weiß ich doch wenigstens, wie ich dich nennen soll."
Am nächsten Samstag bei "Klangwerk" erzählte Leon, Fedor sei unlängst mit dem Messer auf den Freund einer ehemaligen Freundin losgegangen. Auch soll er ein Mädchen geschlagen haben, mit dem er früher zusammen war. Fedor war heute nicht in HH., sondern im "Elizium".
Lee soll aus dem "ZMK" geworfen worden sein, Fedor soll dort noch arbeiten.
Nach allem Industrial hatten Mal und Nova auch ihre technoide Phase. Unter anderem spielten sie etwas von dem Album "Render audible" von Lassigue Bendthaus.
Morgens gab es für Laura und mich Frühstück bei Ytong. Ich lernte eine ungewöhnliche Art Brötchen kennen, mit sehr viel Zimt. Ich habe selten ein so leckeres Brötchen gegessen.
Ytong hat seine Wohnung jetzt endlich für sich allein. Dennoch ist sein Leben nicht weniger aufreibend als meines. Er ist Altenpfleger, macht Musik, ist viel unterwegs und hat nie Zeit.
Ytong findet den Fechtner "schleimig und heuchlerisch". Ivo Fechtner hat Ytong immer wieder um Kassetten gebeten, weil er Artikel darüber schreiben wollte. Die Artikel waren schmeichelhaft, wenn auch voller Tippfehler. Allerdings ... sooft Ytong im Beisein von Ivo Fechtner seine Kassetten anmachte, nahm Ivo die Kassetten heraus und legte tanzbare Musik ein.
Ivo Fechtner soll übrigens die Szenezeitschrift verklagt haben, aus deren Redaktion er geworfen wurde. Er soll sich beschwert haben wegen verunglimpfender Artikel.
Ytong versteht nicht, weshalb sich Mal mit Ivo Fechtner abgibt. Er findet die beiden sehr wesensverschieden. Laut Ytong redet Mal kaum über die Leute, die er kennt, geschweige denn, daß er lästert.
Während Laura und ich bei "Klangwerk" waren, war Revil im "RoseHip". Das gekreuzigte Skelett hing dort nicht mehr. Stattdessen hingen an verschiedenen Orten Aufkleber mit dem Schriftzug "Nachtlicht: Exil". Kappa sagte an, wer handwerklich geschickt sei, könne sich bei ihm melden. Er hat wohl vor, einen neuen Laden aufzubauen.
Rafa soll nicht im "RoseHip" gewesen sein.

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Mittwoch früh gegen zwei Uhr nachts klingelte das Telefon. Ich war schon vor zweieinhalb Stunden zu Bett gegangen, und ich lief schlafend in den Flur und nahm schlafend den Hörer ab.
"Ja?" meldete ich mich.
"Na?" sagte jemand.
Ich konnte mir nicht vorstellen, wer sich am anderen Ende der Leitung befand.
"Habe ich dich geweckt?" höre ich.
"Nein", gebe ich zögernd Antwort.
Mir ist nicht bewußt, daß ich schon geschlafen habe und noch immer schlafe.
Ich trage das Telefon in mein Zimmer und setze mich auf die Bettkante. Beim Aufstehen habe ich in der Eile das Deckenlicht angemacht, nicht die Schreibtischlampe. Das Licht sieht ziemlich kalt aus.
"Ja, wer bist du denn?" frage ich.
"Ich bin jemand, von dem du ein Bild an der Wand hängen hast", ist die Antwort.
"Von dem ich ein Bild an der Wand hängen habe?" sage ich nachdenklich, denn von Rafa habe ich ja nicht nur ein, sondern zehn Bilder an die Wand gehängt. "Ich müßte von dir schon den Namen wissen."
"Ich glaube, ich heiße Rafa."
"Ja ...", sage ich sehr langsam und schleppend. "Oh ... das kann ich noch gar nicht richtig glauben."
"Jetzt bist du überrascht, wa'?"
"Ja ... das bin ich."
"Jetzt bist du aber aus dem Häuschen."
"Also, wenn einem sowas passiert, dann ist man das ja wohl schon", sage ich stockend. "Wie bist du eigentlich darauf gekommen, mich nachts um zwei anzurufen?"
"Weiß ich nicht."
"Das ist bei mir immer so, wenn nachts das Telefon klingelt, und ich höre das Klingeln, dann renne ich dann da immer hin, bevor ich aufwache ..."
"Und jetzt bist du noch nicht wach."
"Doch, das ist dann immer nur die ersten zehn, zwanzig Sekunden, die ich noch schlafe."
"Ach so, ach so. Habe ich dich also doch geweckt."
"Ja. Also, ich kann das gar nicht richtig glauben, daß du angerufen hast."
"Na ja, vielleicht wachst du morgen früh auf, und das war alles ein Traum."
"Nein, ich kann schon zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden."
"Die perfekte Illusion ist die Realität."
"Aber Realität ist doch keine Illusion."
"Die Realität ist die perfekte Illusion", belehrt mich Rafa. "Wenn du jetzt meinetwegen eine Packung Pommes hast, und du siehst nur das Bild davon, dann merkst du das ja noch, daß das eine Illusion ist. Aber wenn du jetzt noch den Geschmack hast, den Geruch, und dann kommt immer eins zum anderen, und am Schluß glaubst du wirklich, das ist eine Packung Pommes, und kannst das nicht mehr unterscheiden, und schließlich hast du die Realität, und deswegen sage ich, das ist die perfekte Illlusion."
"Die Realität ist aber keine Illusion", erwidere ich.
Rafa bleibt bei der Ansicht, daß die Realität als Illusion zu betrachten sei.
"Mußt du morgen arbeiten?" fragt er schließlich. "Äh, eigentlich - mußt du heute arbeiten?"
"Sicher - ich muß jeden Tag arbeiten."
"Wenn du dir einen Tag freinehmen willst, wie funktioniert das? Was mußt du dann machen?"
"Also, der offizielle Weg ist, daß man sich im Sekretariat abmeldet und dafür Fehltage eingetragen bekommt. Und der inoffizielle Weg ist, daß man sich mit seinen Mitstudenten abspricht und guckt, ob man einen Tag entbehrlich ist, und sich dann inoffiziell freinimmt."
"Willst du mit mir an die Nordsee fahren?"
"Ja, ich würde schon gerne mit dir an die Nordsee fahren."
"Ja, gut, dann pack' deine Sachen, und ... los."
"Also, erst müßte ich dich sehen, ehe ich's dir glaube", verlange ich. "Du müßtest erst mal da sein. Das Sachen packen, das ist dann kein Problem, aber erst müßte ich dich sehen, um das zu glauben. Denn wenn jemand um zwei Uhr nachts anruft und vorschlägt, an die Nordsee zu fahren, dann muß ich mich da erst vergewissern."
"Willst du das denn gerne machen, mit mir an die Nordsee fahren?"
"Ja. An die Nordsee wollte ich mit dir sowieso mal fahren."
"Ist das denn jetzt klar, daß du mit mir an die Nordsee fahren willst? Ich meine, wenn ich jetzt komme?"
"Na ja, also, ich bin für spontane Sachen schon durchaus zu haben ..."
"Ja, und das Spontansein, das lernen wir ja gerade, nicht?"
"Ja, doch, das schon ..."
"Ich will dich vom Hocker hauen."
"Du willst mich vom Hocker hauen?"
"Ja! Ich ruf' nachts um zwei an und schlag' dir vor, an die Nordsee zu fahren. Ist das nicht genug?"
"Ach, doch. Das haut mich schon ... in gewisser Weise, das haut mich schon vom Hocker."
"Also, von deiner Seite klappt das? Ich muß mir da schon sicher sein."
"Das klappt schon, weil, ich habe immer noch in meinem Kopf ein Feld frei für spontane Aktionen."
"Was ist das für ein Feld?"
"Das Feld ist leer."
"Gibt's doch gar nicht."
"Doch, also, bei mir ist das so. Ich bin halt offen. Ich bin eben nicht so wie Leute, die ewig immer alles so zuplanen. Das gibt bei mir immer noch was Offenes. Verabredungen und Termine kann man ja umlegen. Ich habe immer etwas vor, und wenn ich danach ginge, dann könnte ich ja nie sowas machen wie dieses."
Rafa fragt mich, wie er mit dem Auto zu mir finden kann.
"Wo bist du denn gerade?" möchte ich wissen.
"Ich bin in SHG."
Ich versuche, Rafa den Weg zu erklären. Was die Abfahrten angeht, die er nehmen muß, bin ich etwas unsicher.
"Also, erst mußt du auf die A2", beginne ich.
"Ja, A2 ist klar. Ich muß nur wissen, wo ich abfahren muß ..."
Ich sage ihm, daß er im Norden von H. auf die A7 wechseln muß, obwohl das in Wirklichkeit gar nicht so ist und auch gar nicht so geht. Dann sage ich ihm, daß er die Ausfahrt in Richtung Messe nehmen muß und daß er dann einen hohen Turm finden muß. Das stimmt wenigstens.
"Wenn du den Turm gefunden hast, mußt du rechts 'runterfahren, und dann kommst du auf die Tankstelle zu, und dann weißt du schon weiter."
"Nee."
"Ach, ich dachte, du könntest dich daran erinnern."
"Nein, kann ich nicht."
Ich sage ihm, in welche Straße er einbiegen muß. Dann frage ich ihn, ob er meine Nummer und meine Adresse hat.
"Ja, die habe ich", erwidert er und nennt meine Anschrift. "Welcher Stadtteil ist das, wo du wohnst?"
"Bc."
"Ah ja, Bc. ... also, wenn in den nächsten ... eineinhalb Stunden jemand bei dir klingelt, dann bin ich das", kündigt Rafa an.
"Ja."
"Hörst du denn die Klingel?"
"Die höre ich", kann ich versichern. "Erstens ist es unwahrscheinlich, daß ich schlafe in der Zeit; es ist wahrscheinlich, daß ich wach bleibe ..."
"Ach ... ich will nicht die Ursache dafür sein, daß du nicht schlafen kannst."
"Das ist aber eigentlich kein Wunder, wenn du nachts um zwei bei mir anrufst."
"Ich muß jetzt nur noch sehen, wie ich das mit den Vorbereitungen schaffe, mit Auto organisieren und so weiter."
"Hast du einen eigenen Wagen?"
"Nö."
"Wie willst du dann an ein Auto kommen?"
"Ach, das ... geht schon, das ist kein Problem. Da komme ich schon dran. Also - fünfzig - fünfzig."
"Also weißt du es noch nicht sicher."
"Äh ... ich denke, eher ... ja."
Rafa verabschiedet sich mit den Worten:
"Bis gleich."
Ich ziehe mir ein helles Bettjäckchen über das seidene Nachthemd und räume ein wenig auf. Dann erzähle ich dem Diktiergerät das Gespräch mit Rafa und lege mich wieder hin. Das Licht im Bad lasse ich brennen, damit es nicht ganz dunkel ist in der Wohnung.
Um viertel nach drei klingelt es mehrmals hintereinander. Ein Druck auf den Türöffner zeigt mir, daß die Haustür verschlossen ist. Ich nehme meinen Schlüssel mit in den Treppenflur und schließe sie auf. Rafa steht draußen, in seinem schwarzen Mantel mit den Silberknöpfen. Er trägt einen Pferdeschwanz und einen toupierten Pony und hat sich seit Tagen nicht rasiert. Bis auf die vernachlässigte Rasur gefällt mir alles.
Kaum erblickt mich Rafa in meinem seidenen Flatterhemd, ruft er:
"Was? Du bist noch nicht fertig?"
Ich nehme ihn in die Arme und gehe mit ihm nach oben.
"Er riecht so gut", denke ich. "Wie lange habe ich das nicht gehabt ..."
"Oh, du mußt aber fertig sein!" scheucht mich Rafa, während er in mein Zimmer marschiert. "Oder willst du etwa so ..."
"Nein."
"Wie lange dauert das, bis du fertig bist?"
"Das kommt darauf an. Ich würde eigentlich noch ganz gerne duschen."
"Nee, duschen kommt nicht infrage. Ich habe auch seit zwei, drei Tagen nicht mehr geduscht. Nicht zu gekommen. Ich komme nämlich gerade von einer Party."
"Oh je. Na ja, dusche ich eben später. Ins Bad muß ich aber trotzdem noch kurz."
"Wenn ich komme, dann will ich, daß du fertig dastehst und wir losfahren können."
"Ja, erstmal wollte ich ja, daß du da bist", erkläre ich und mache die Schreibtischlampe an. "Erstmal wollte ich sehen, daß du auch wirklich kommst."
"Na, dann los", sagt Rafa und setzt sich aufs Sofa. "Nu' los. Hopp! Eh ... mach'! Mach'!"
Ich laufe zu ihm und setze mich kurz auf seinen Schoß. Hingebungsvoll kuschle ich mich an ihn.
"Ey, Mensch, was 's' los, Baby?" tut Rafa verwundert.
Ich umarme und streichle ihn und seufze genießerisch.
"He - he!" ruft Rafa leise.
Er greift unter mich und hebt mich etwas an.
"Echt, ich mache mich wirklich gleich fertig!" versichere ich. "Ich will nur noch kurz eben ..."
Ich stehe auf und werfe einen sehnsuchtsvollen Blick zu Rafa hinüber. Ich tröste mich mit der Hoffnung, mich nachher noch länger auf ihn setzen oder legen zu können.
"Gleich, gleich!" beruhige ich ihn. "Ich mache mich ja gleich fertig!"
"Du hast jetzt das Privileg, in einem absoluten Schrottauto zu fahren", erzählt Rafa. "In einem Opel, den habe ich schon fünfmal von der Schrotthalde geholt."
"Den hast du sozusagen vom Tode erettet."
"So ungefähr."
"Dann hast du ja doch einen Wagen."
"Sieht so aus."
"Wie lange hast du den denn schon?"
"Weiß ich nicht."
"Woher hast du denn den Wagen?"
"Weiß ich nicht."
"Gehört der dir denn?"
"Weiß ich nicht."
"Also, nee, komm', das ist jetzt ...", beschwere ich mich über Rafas Heimlichtuerei. "Gehört er dir oder nicht?"
"Weiß ich nicht."
Rafa mustert mich.
"Stell' dir mal vor, das Haus würde jetzt einstürzen", sagt er. "Würdest du dann so - in dem Kleidchen - da 'rauslaufen?"
"Wahrscheinlich schon. Ich hätte ja keine Zeit, mich umzuziehen."
Ich gehe für einen Augenblick ins Bad. Inzwischen entdeckt Rafa etwas Neues an der Wand hinterm Sofa. Dort hängen die Schwarzweiß-Laserkopien von den Fotos, die Laura mir geschenkt hat; es sind die Aufnahmen von Rafa aus früheren Tagen.
"Wo hast du das Bild her?" fragt Rafa. "Das mit der Fernbedienung."
"Das hat mir Laura besorgt. Die Bilder hat mir Laura zum Geburtstag geschenkt."
"Wer ist Laura?"
"Die kennst du. Mit der hast du sogar schon geredet."
"Aaah ... ja."
"Die Bilder hat die wohl ... über irgendwelche Umwege ist die da drangekommen. Da wollte sie mir aber nicht verraten, über wen sie das gekriegt hat."
"Das Bild ist fast ... genau ... zwei Jahre alt. Das war auf Luisas Geburtstag."
"Bist du da nicht 'rausgeworfen worden?" frage ich, was ich schon vor zwei Jahren habe fragen wollen. "Nein!" entgegnet Rafa brüsk. "Wieso soll ich da 'rausgeworfen worden sein?"
"Na, ja - ich habe das damals von so irgendwelchen Leuten gehört. So eine Lia, die hat das gesagt, daß du da 'rausgeflogen sein sollst."
"Hähä, die Luisa, mich 'rauswerfen - das ist eine, das ist meine beste ..."
"Ich weiß; das ist eine deiner besten Freundinnen."
Rafa setzt sich wieder und sieht mir zu.
"Nun mach', mach'!" treibt er mich an. "He ... das ist aber zu langsam für eine spontane Aktion! Es ist nur wichtig, daß du dir warme Sachen anziehst, ganz warm und wetterfest."
"Das habe ich. Die Leggins ... auf jeden Fall die Leggins ..."
Ich nehme die hellen Leggins und den schwarzen Baumwollpullover aus dem Wäscheschrank. Aus dem Kleiderschrank hole ich die schmal geschnittene schwarze Hose. Rafa stellt sich vor mein Bett. Als ich mir das Nachthemd aus und das Unterhemd anziehe, dreht er sich züchtig weg und betrachtet Rikkas Bild mit dem "Black nasty Ninja". Als ich den Body anziehe, stöhnt Rafa:
"Oh, Mann, was Frauen immer drunterziehen müssen!"
"Ja, der Schlüpfer hier, der gehört eigentlich auch gar nicht so hin, das weiß ich selber; der gehört hier eigentlich nicht hin. Das ist nur so praktischer so."
Rasch ziehe ich mir die Leggins an und darüber die schwarze Hose. Rafa sieht das und sagt:
"He, wir fahren ja auch nicht nach ... äh ... Sibirien."
"Ja, soll ich sie nun drunterziehen oder nicht?"
"Ach, laß' so. Ach, laß' so."
Rafa steht in der Zimmertür.
"Ich möchte, daß einer gleich fertig ist, wenn ich komme", treibt er mich an. "Das möchte ich so."
"Ja, aber ich mußte erstmal sehen, ob du kommst."
"Wenn ich sage, ich komme, dann komme ich", behauptet Rafa. "Und wenn ich deiner Laura sage, daß ich keine Zeit habe, dich von irgendwelchen Türstehern ... zu ..."
"... befreien ..."
"... zu befreien, dann habe ich keine. Und außerdem ... war das ja derselbe wie letztes Mal, und da habe ich mir damals drei Stunden lang nur den Mund fusselig geredet wegen der Sache. Und da ... hatte ich dann irgendwie keine ... keine Zeit mehr zu."
"Du hast ein schlechtes Gewissen", stelle ich erleichtert fest. "Das ist gut. Das ist sehr gut."
"Ich kann ja nicht immer Samariterdienste spielen", fügt Rafa seinen Entschuldigungen hinzu. "Außerdem bist du ja 'reingekommen."
"Du hast ein schlechtes Gewissen. Das ist ein gutes Zeichen. Ich glaube, du hast das bereut, daß du mir damals so geholfen hast."
"Das habe ich nicht."
"Ich glaube, das hat dir nicht gepaßt, daß du das gemacht hast."
Rafa stellt sich vor meinen Schreibtisch und nimmt die durchsichtige Kuppel in die Hand, unter der es auf einen kleinen Friedhof und ein kleines Gothic-Pärchen schneit.
"Wer hat denn das gemacht?" möchte er wissen.
Er spricht laut, und nun darf er es auch, weil niemand in der Wohnung ist, den er stören könnte.
"Das habe ich in KA. gekauft", antworte ich. "Das ist ein Einzelstück. So ein Junge hat das gemacht."
Rafa dreht die Kuppel um und sieht das Preisschildchen.
"Preis - in D-Mark?" fragt er.
"Ja, sicher", entgegne ich. "Das ist siebzig Mark. Das ist Handarbeit. Weniger hätte ich auch gar nicht bezahlen wollen. Da wollte ich nicht handeln, auf keinen Fall."
Rafa fällt meine neue Fünfziger-Jahre-Nostalgie-Barbie ins Auge.
"Diese Barbie aus den Fünfzigern oder Sechzigern, sieht die wirklich so aus?" fragt er.
"Ja", antworte ich. "Das ist eine Nachbildung. Die sieht so aus wie das Original."
Als ich endlich den Rollkragenpullover und die Hose anhabe, ziehe ich mir kurzentschlossen mein neues Abendjäckchen über.
"Das habe ich gestern erst abgeholt", erzähle ich.
Das Jäckchen ist aus demselben Taft gemacht wie mein Tanzrock. Es ist ein Bolero mit Dreiviertelärmeln. Es hat nur oben zwei Knöpfe, die einander gegenüberliegen und mit einer zur "Acht" gebogenen Schnur zusammengefügt werden. Deshalb schließt das Jäckchen nicht ganz, sondern es bleibt in der Mitte etwas frei.
"Wie sieht das aus?" frage ich Rafa.
Er nickt zustimmend.
"Wenn der Pullover jetzt noch schwarz wäre ...", sagt er.
"Der war auch mal schwarz", erzähle ich. "Der ist nur ausgefärbt."
Rafa kommt zu mir in das hellere Licht vor dem Spiegel und betrachtet mich noch einmal sorgfältig.
"Oh ja, sieht richtig schick aus", urteilt er. "So wie Achtziger-Jahre-New Wave. Echt."
"Hosen trage ich eigentlich gar nicht."
"Ja, steht dir aber verdammt gut, echt gut."
"Oh, jetzt werde ich ja direkt mit Komplimenten überschüttet."
"Daß es in deiner Wohnung immer so ordentlich ist!" wundert sich Rafa. "Das sieht echt aus, als wenn hier gar keiner wohnt."
"Wie würde es denn aussehen, wenn du hier leben würdest?"
"Das würde leben."
"Wenn du bei mir im Bett gelegen hast, dann sieht das nachher immer so richtig zerwühlt aus. Das sieht immer völlig geil aus. Das Chaos, das du produzierst immer, hat etwas sehr Ästhetisches an sich."
"Nich'?"
"Meine anderen Gäste wühlen mir immer die CD's durch, und du wühlst mir das Bett durch."
Rafa schaut hierhin und dahin.
"Oh, du hast auch den 'Struwwelpeter'", bemerkt er. "Korrekt."
"Hast du das als Kind auch immer gehabt?"
"Ja."
Rafa scheint in Geldnot zu sein.
"Dann mußt du mir noch dreißig Mark leihen", sagt er.
"Kein Problem", entgegne ich. "Ich habe doch meine Kontokarte. Habe ich immer. Alles klar."
"Ja, ich weiß nicht, ob meine Karte noch funktioniert."
Rafa erzählt von dem Auto, mit dem er gekommen ist.
"Stell' dich auf eine abenteuerliche Fahrt ein", warnt er.
Ich binde mir die Schleife, und Rafa stöhnt:
"Jetzt wäre das Haus längst eingestürzt!"
"So, jetzt ziehe ich mir noch die Kajalstriche nach. Und das muß ich machen; da hilft alles nichts."
"Das kannst du doch auf der Fahrt machen", meint Rafa.
"Nein, das geht nicht", widerspreche ich. "Das muß ich jetzt machen."
Ich stelle mich vor den großen Flurspiegel und vervollständige meine Schminke.
"Was macht dein Mitbewohner?" fragt Rafa, der sich in meinem Zimmer umsieht.
"Der ist ausgezogen", erzähle ich. "Der lebt jetzt in einer schwulen WG."
"Und jetzt soll der Rafa wohl einziehen, he?" schließt Rafa messerscharf. "Gut getimt!"
"Na ja, ich hab' Carl ja nicht 'rausgeschmissen. Der ist ja freiwillig gegangen. Ich hätte ihn auch nie 'rausgeschmissen. Das war ja sein Wunsch. Der wollte ja selber gehen. Der wollte lieber in einer schwulen WG wohnen, damit er noch merkt, daß er schwul ist."
"Ach, das hat er so wohl auch gemerkt ... - Carl ist aber nicht wegen mir ausgezogen, ne?"
"Nein. Das ist wegen ihm selber gewesen. Das war sein eigener Wunsch."
Ich schicke mich daran, einige Sachen zusammenzuräumen.
"He, das ist aber zu lange für eine spontane Aktion!" scheucht Rafa mich immer wieder. "Das ist viel zu lange für eine spontane Aktion!"
"Ja, ich bin eben so", entgegne ich dann. "Ich kann eben nicht schneller. Ich bin eben so. Ich muß das eben alles machen; das ist ja wichtig. Ich darf ja nichts Wichtiges vergessen."
"Du sollst ja gerade das Wichtige vergessen", meint Rafa. "Du sollst ja nur das Wichtige vergessen."
Und er gesteht:
"Ich habe auch etwas Wichtiges vergessen. Ich könnte mich ärgern darüber, daß ich die Kassette mit 'Nosferatu' vergessen habe. Die habe ich mir erst zurechtgelegt und dann liegenlassen. Da könnte ich mich ärgern drüber."
Ich gehe in die Wäschekammer und hole eine Reisetasche aus weißer Baumwolle von einem Schrank. Dann nehme ich rasch einen Haufen Schlüpfer vom Wäscheständer und tue sie in die Tasche. Rafa kommt mir nach und macht große Augen, als er sieht, wie ich Handtücher zusammenlege.
"Handtücher muß ich auch noch mitnehmen", sage ich unbeirrt. "Die muß ich mitnehmen, da gibt es gar nichts."
"He, wir werden bestimmt ... bis zum Wochenende wieder zurück sein."
"Genau, und dafür brauche ich das dann alles schon."
"Ach, vielleicht fahren wir ja doch nicht an die Nordsee", kommt es Rafa in den Sinn. "Wir können ja auch ganz woanders hinfahren, zum Beispiel nach K."
"Ich möchte aber nicht nach K. Ich möchte lieber an die Nordsee als nach K."
"K. ist geil."
"Also, ich würde lieber an die Nordsee fahren."
"Ou, Mann! Jetzt wäre das Haus schon längst eingestürzt! Jetzt wäre das schon dreimal eingestürzt!"
Er betrachtet mich von oben bis unten.
"Du willst aber doch nicht in den Schuhen dahin fahren", sagt er und zeigt auf meine weißen Ballerinaschühchen.
"Nein, ich ziehe da auch noch andere an", beruhige ich ihn.
Endlich bin ich fertig.
"So - hat deine Katze Futter für drei Tage?" fragt Rafa.
Ich fülle Bisat noch etwas mehr Futter in den Napf und sehe auch nach der Wasserschale.
"So, das ist genug für drei Tage."
"Ach, beinahe hätte ich es vergessen - hast du was, wo man einen Liter Wasser 'reinfüllen kann?" fragt Rafa. "Eine Glasflasche oder so? Für ... Sprinkler."
Ich gebe ihm eine leere Grapefruitsaft-Flasche.
"Ja, aus dem Altglas", sagt er, als er sie entgegennimmt. "Ja, aus dem Altglas."
Im Bad füllt er die Flasche mit Wasser. Dann gehen wir hinunter zur Haustüre.
"Ach, 'ne Uhr", fällt mir ein. "Ach - ich brauche keine Uhr mitnehmen; du hast ja 'ne Uhr."
"Woher weißt du, daß ich 'ne Uhr habe?" fragt Rafa erstaunt.
"Du hast 'ne Uhr", sage ich geheimnisvoll. "Das weiß ich, daß du 'ne Uhr hast."
"Da muß ich am Ende dich fragen, ob ich 'ne Uhr habe oder nicht", meint Rafa, als wir nach draußen gehen in die Nacht. "Du weißt das jetzt schon eher als ich."
Das Auto parkt am Straßenrand, nicht weit von der Haustür. Es ist ein großer Kombi, wahrscheinlich über fünfzehn Jahre alt. Das Auto sieht merkwürdig aus. Es hat keine eindeutige Farbe mehr; es scheint gespachtelt oder auch vorgestrichen worden zu sein. Genau kann ich das im Dunkeln nicht erkennen.
Rafa öffnet mir die Beifahrertür. Ich werfe meine weiße Tasche auf die Rückbank. Auf dem Beifahrersitz finde ich einen weißen DIN A4-Bogen, den Rafa großzügig mit einem dicken schwarzen Filzstift bekritzelt hat. Stichwortartig ist da die Wegbeschreibung notiert, die ich ihm durchs Telefon gegeben habe. Mein Name, meine Adresse und meine Telefonnummer stehen auch auf dem Zettel. Ich glaube, Rafa hat deshalb in so großer Schrift geschrieben, damit er beim Fahren ohne Schwierigkeiten vom Zettel ablesen kann. Das Vorgehen von Rafa wirkt auf mich sehr planvoll und durchdacht, dabei aber auch eigenwillig und kindlich-süß.
Rafa hat mir oft vorgeworfen, "durchdacht" zu sein und "alles durchzuplanen". Hat er sich schon einmal überlegt, ob er selbst vielleicht auch "alles durchplant" und "durchdenkt"?
Rafa hebt die Motorhaube an und kippt das Wasser aus der Literflasche in den Plastikbehälter der Scheibenwischanlage.
"Hast du den Wagen repariert?" erkundige ich mich.
"Ich hab' den nicht repariert."
Ich setze mich. Rafa läßt eilig den Wagen an.
"Von innen ist doch ganz schick, nicht?" meint er.
"Ja, doch", stimme ich ihm zu.
"Das war nämlich mal ein echt komfortables Auto", erzählt Rafa.
Unordnung herrscht in dem Wagen. Der Aschenbecher - eine Art Schublade - steht offen und ist übervoll. Rafa raucht Cartier light, und er raucht dauernd.
"Warum hat das Auto eigentlich eine so merkwürdige Farbe?" möchte ich wissen.
"Das wollte ich eigentlich mal schwarz lackieren", erzählt Rafa. "Aber da bin ich noch nicht zu gekommen."
Er wendet. Noch einmal warnt er:
"Richte dich auf eine abenteuerliche Fahrt ein."
"Ah, ja."
"Heizung gibt's hier aber."
"Hast du denn gut hingefunden zu mir?"
"Ja, geht so. Mit einem bißchen Umweg ..."
"Hast du was getrunken?" frage ich mißtrauisch.
"Ich habe nichts getrunken", antwortet Rafa. "So, wie geht's jetzt zur Autobahn?"
"Das kann ich dir beschreiben. Das ist die A7."
"Die nächste Tankstelle, da muß ich noch hin. Tanken."
"Guck' mal, da vorn ist sie schon."
"Weiß ich. Bin ja nicht doof."
"Ja, klar, wir sind ja beide nicht doof."
"Ja, eben."
Wir fahren auf dieTankstelle.
"Hier, Super verbleit ... nein, Super bleifrei", sagt Rafa.
Er steigt aus und tankt. Ich entdecke seine Haarschleife vor mir auf der Ablage. Es ist die Spange mit der schwarzen Satinschleife, deren Enden schwalbenschwanzförmig auslaufen. Wie hübsch ist diese Schleife, und wie mitgenommen sieht sie aus! Sie ist bretthart und verklebt vom Haarlack.
Rafa macht die Fahrertür auf und sagt:
"So, jetzt brauch' ich noch ... dreißig Mark."
"Hier."
"Ehh - ich sag', ich brauch' dreißig Mark, und du hast die dreißig Mark schon in der Hand, bevor ich's ausgesprochen habe!" wundert sich Rafa. "Auch komisch."
Er hat vielleicht vergessen, daß er schon von den dreißig Mark geredet hat, als wir noch in der Wohnung waren.
"Mann, deine Haarschleife sieht ja aus", bemerke ich. "Die hat auch schon bessere Tage gesehen."
"Ja, ist ja auch tüchtig geliebt worden", sagt Rafa.
Ich frage mich im Stillen:
"Sehe ich etwa auch so aus, wenn ich von ihm tüchtig geliebt worden bin?"
"Außerdem ist da noch jede Menge Haarspray drauf", fügt Rafa hinzu.
"Ja, ich wasche meine Haarbänder immer", erzähle ich, "und meine Schleife auch."
"Ich wasche die Schleife auch. Aber jetzt bin ich da erstmal eine Weile nicht zu gekommen."
Ich beobachte das niedliche Geschöpf, wie es in den Tankstellenmarkt geht, mit forschem Schritt und erhobenem Kinn.
Rafa setzt sich wieder ins Auto und schaltet eilig das Radio an. Er meint, in dem und dem Sender könne man jetzt noch die und die Band hören. Im Tankstellenmarkt laufen immer Radios, und da kommt wohl gerade ein Stück, das Rafa mag. Er versucht, den Sender mit seinem Autoradio zu empfangen, schafft das aber nicht. Verärgert wühlt er in den Kassetten, die im Handschuhfach liegen. Er findet auch etwas, das ihm zusagt, und legt es ein. Dann sucht er noch ein wenig in dem Graben vor der Rückbank herum.
"Oh Mann, was ich alles hinten im Auto habe", seufzt er.
Dann läßt er den Wagen an.
"He!" staunt er. "Das Auto fährt tatsächlich!"
"Ja, und es fährt wohl auch ganz gut."
"So, jetzt müßtest du mich nachher nochmal daran erinnern, das Öl nachzufüllen."
"O.k. Wann ungefähr?"
"Ach, beim nächsten Mal Tanken."
Wir fahren auf die Straße. Die Musik, die Rafa angemacht hat, kann man mit dem Ausdruck "Neue Welle-Synthi-Pop-Disco" beschreiben. Mir fällt ein, daß ich nicht darauf gekommen bin, selbst Kassetten mitzunehmen - obwohl Musik mir doch so wichtig ist!
"Kassette", sage ich leise.
Dann denke ich mir aber, daß es vielleicht nicht verkehrt ist, Rafa die Gestaltung des Musikprogramms zu überlassen. Erstens machen ihn die Klänge seiner Lieblingsstücke innerlich sicherer und besser gestimmt, und zweitens kann ich anhand der Musikauswahl seine Verfassung beurteilen.
"Ich bin zur Zeit voll auf dem NDW-Trip", erzählt er.
Wir kommen auf den Schnellweg. Rafa blickt mich schelmisch von der Seite an und fragt:
"Was 's' los, Baby?"
Zur Antwort streichle ich ihm die Wange. Ich streichle ihm von nun an öfter die Wange.
"Was 's' los, Baby?" fragt Rafa wieder.
"Ach", sage ich und kuschle mich an ihn.
Das reicht ihm nicht; er möchte mehr hören.
"Und? Was hast du so gemacht in den letzten Wochen?" erkundige ich mich.
"Oh, ich habe viel gemacht in den letzten Wochen", antwortet Rafa ausweichend.
Ich verzichte darauf, ihn zu fragen, ob er die Sängerin noch hat. Rafa weiß, daß ich ihn nicht zu sehen und zu sprechen wünsche, wenn er eine Beziehung unterhält. Nimmt er darauf keine Rücksicht, ist er es, der sich mit unangenehmen Schuldgefühlen belastet.
Außerdem müßte ich unseren Ausflug sofort beenden, wenn ich wüßte, daß Rafa nicht frei ist. Und ich habe mich so lange nach ihm gesehnt, daß ich es nicht darauf ankommen lassen will.
"Auf was für einer Party bist du denn gewesen?" wähle ich ein anderes Thema.
"Ach, das war bei so einem alten Kumpel von mir."
"Und? Hast du denn dieses Jahr deinen Geburtstag gefeiert?"
"Ich feiere immer meine Geburtstage", sagt Rafa. "Mehr ... oder weniger."
"Letztes Jahr hast du ihn ja auch nicht gefeiert."
"'türlich hab' ich ihn gefeiert!" kommt es von Rafa. "'türlich hab' ich meinen Geburtstag gefeiert! Kappa war da ..."
Rafa zählt noch mehr Leute auf, die bei ihm waren; von der Sängerin redet er allerdings nicht.
"Mein Geburtstag war echt schön, die Party", erzähle ich. "Die war am 04.02."
"Herzlichen Glückwunsch nachträglich", sagt Rafa.
"Herzlichen Glückwunsch nachträglich", sage ich auch zu ihm und streichle seine Schulter. "Auf meiner Party hatte ich ungefähr fünfunddreißig Gäste. Nächstes Jahr wird es ja ein Jubiläum. Da habe ich dann wahrscheinlich nicht fünfunddreißig, sondern vierzig oder fünfzig Gäste. Oh ... ich hätte dich auch gern eingeladen. Ich finde das so schade, daß ich dich nicht einladen konnte. Ich finde es auch so schade, daß ich dir nichts zum Geburtstag schenken kann. Ich würde dir so gerne mal was zum Geburtstag schenken."
Rafa sagt nichts darauf.
Er hat etwas seltsam Ausgelassenes an sich, gerade als würde er unter dem Einfluß einer Droge stehen.
"Und?" frage ich ihn. "Bist du sehr breit?"
"Ich bin nicht breit."
"Ich bin auch schon mal mit einem ziemlich betrunkenen Kappa im Auto gefahren. Der wollte unbedingt auf nasser Fahrbahn seinen Porsche ausfahren, und das kurz vor einer Ampel."
"Was für ein Porsche war das? Ein roter oder ein schwarzer?"
"Ein roter."
"Oh - oh ...", macht Rafa.
Ich weiß nicht, ob Kappa einen oder zwei Porsche hat oder ob der rote der ältere und der schwarze der neuere ist oder umgekehrt. Es könnte auch sein, daß Rafa den roten Porsche in einen schwarzen verwandelt hat. Vermutlich hat Rafa nach der Farbe gefragt, um herauszubekommen, wann ich mit Kappa im Auto gesessen habe. Was war an diesem Zeitpunkt das Besondere? Gewiß, es ist schon ungewöhnlich, daß Kappa mit mir in "Halle 1" wollte, während Rafa sich Meta als Freundin nahm. Die Frage ist, ob es zwischen diesen Ereignissen einen Zusammenhang gab.
Kurz bevor wir die A7 erreichen, stelle ich Rafa eine Frage, die mich schon länger beschäftigt:
"Wie endete denn nun das 'Nachtlicht'?"
"Herr Donhausen - was der Besitzer ist - hat mit dem 'Future' fette Schulden gemacht", erzählt Rafa. "Und er hat dann von den Einnahmen vom gutgehenden 'Nachtlicht' nicht die Miete, sondern seine Schulden bezahlt."
"Das ist ja auch eine Schweinerei."
"Ja. Das Verfahren läuft. Aber viel wird da wohl nicht bei 'rauskommen. Jetzt geht es ja in der 'Halle' weiter."
"Ist das nur samstags?"
"Nächsten Freitag ist es ja, und dann wechselt es immer", gibt Rafa Auskunft. "Mal ist es in 'Halle 1', mal ist es im 'RoseHip', mal ist es in der 'Halle', in der eigentlichen. Wir wechseln halt immer."
"Wo bist du denn am letzten Samstag gewesen?"
"Da habe ich ein Konzert gegeben in Belgien."
"Im Rahmen eines Festivals?"
"Nein, zusammen mit PP?."
"Und, wie war's?"
"Oh, ist ganz witzig, wenn man in Belgien Leute trifft, die Songs kennen, die man selber gemacht hat."
"Ist das in der 'Halle' eigentlich auch so, daß man den Leuten die Taschen wegnimmt?"
"Weiß ich nicht so ganz."
"Einmal ist es ja so gewesen, daß sie nichts gesagt haben, und einmal ist es so gewesen, daß sie die mir erst wegnehmen wollten und mich dann doch durchgelassen haben. - Also, wenn den Leuten im 'RoseHip' auch die Taschen weggenommen werden, dann brauche ich da gar nicht erst hinzugehen. Ich lasse mir meine Tasche nicht wegnehmen.
Ich habe Darryl im 'Nachtlicht' das Versprechen abgenommen, daß diese Skins da nicht wiederkommen ..."
"Welcher Darryl?" fragt Rafa. "Meinst du Detlev?"
"Ja."
"Hähä, der Detlev hat im 'Nachtlicht' genauso viel zu sagen wie du."
"Aber trotzdem, er hat eben gemeint, Kappa hätte versichert, daß die endgültig 'rausgeflogen sind, daß der Lennart da endgültig 'rausgeflogen ist und nicht mehr wiederkommt. Und dann saß der da eben schon wieder, und da war ich auch tierisch sauer auf Kappa, daß der daran nichts geändert hat."
"Der Lennart ist ja aus anderen Gründen 'rausgeflogen."
"Ja, aber er war eben wieder da, und das war der entscheidende Punkt. Und deshalb hätte ich das 'Nachtlicht' auch nicht mehr besucht. Ich wäre da nicht mehr hingegangen."
"Brauchst du jetzt ja auch nicht mehr."
"Ja, eben, das ist es ja - ich habe beschlossen, dem 'Nachtlicht' den Rücken zu kehren, und kaum eine Woche später hat der Laden dicht."
"Ich finde es gut, wenn die Leute ihre Taschen abgeben müssen."
"Ich finde es überhaupt nicht gut. Denn die Leute, die ihre Taschen mit 'reinnehmen müssen, das sind in der Regel die Leute, die sich nachschminken müssen. Und die sind harmlos. Und die Skins, die haben ihre Waffen unter der Bomberjacke. Und die kommen durch."
"Aber wenn die Leute ihre Taschen abgeben müssen, dann ist da ja auch an der Pforte eine gewisse Selektion, und dann kommen auch nur noch bestimmte Leute 'rein."
"Genau", gebe ich Rafa recht. "Die Leute mit ihren Bomberjacken kommen 'rein, die Skinheads, die werden durchgelassen, und die Gothics, die sich nachschminken müssen und ihre Taschen brauchen, die müssen draußen bleiben."
"Ja, aber wenn man den Leuten erlaubt, ihre Taschen mit 'reinzunehmen, schleppen die da ihr Tränengas und ihre Schlagstöcke und so weiter mit 'rein."
"Gut, dann reicht es doch, wenn man in die Taschen 'reinguckt, nicht? Dann kann man es ja da auch genauso gut zur Regel machen, da 'reinzugucken, und fertig, aus."
"Ja, wenn man nett und höflich fragt, dann wird auch nur 'reingeguckt", behauptet Rafa.
"Im 'Nachtlicht' habe ich nett und höflich gefragt, und die wollten mich trotzdem nicht durchlassen", halte ich dagegen. "Die wollten mir nicht nur 'reingucken, die wollten mir die wegnehmen. Ich halte es für viel besser, wenn man prinzipiell nur 'reinguckt und den Leuten die Taschen prinzipiell nicht wegnimmt. Ich bin absolut harmlos, ich tue niemandem etwas, und ich habe es nicht nötig, mich von solchen Leuten anpöbeln zu lassen. Ich gehe nicht in die Disco, um mich am Eingang von irgendwelchen Leuten anpöbeln zu lassen und mir die Tasche wegnehmen zu lassen. Man erreicht damit ja nur, daß die Skins dann alle 'reinkommen und daß die Gothics draußenbleiben."
"Ja, dann mach' eine Disco auf, wo die Leute ihre Taschen mit 'reinnehmen können", sagt Rafa von oben herab.
"Wieso, die Disco gibt es doch schon - das 'Elizium'!" rufe ich ihm ins Gedächtnis zurück. "Ich brauche doch gar keine mehr aufzumachen, weil die Disco doch schon da ist - das 'Elizium' nämlich. Da ist es so, wie ich mir das vorstelle. Das 'Elizium' ist genauso eine Disco, wie ich sie gern habe. Gut, es ist ein bißchen klein, und die Anlage ist auch nicht so toll. Aber sonst stimmt's echt!"
"Haha, klein und die Anlage! Haha!" lacht Rafa. "Das ist doch das Wichtigste!"
"Für mich ist das aber nicht das Wichtigste", erwidere ich. "Ich finde es am Wichtigsten, daß ich mich in einer Disco wohlfühle. Im 'Elizium' fühle ich mich wohl. Da werde ich nämlich respektiert und nicht angepöbelt. Da ist mir das nicht so wichtig, wie die Anlage ist. Und außerdem, seit im 'Nachtlicht' die neue Tanzfläche da drin war, konnte ich da sowieso nicht mehr drauf tanzen, weil man da eh nur ausgerutscht ist. Da konnte man das eh vergessen. Das hätte eh nichts mehr gebracht. Damals, am Anfang im 'Nachtlicht', wo da noch die Fliesen waren, da konnte man noch drauf tanzen, da ging das noch."
"Wenn du auf Fliesen tanzen willst, kannst du auch im Badezimmer tanzen", sagt Rafa abfällig. "Wie sah denn das aus?"
"Gut, das sah vielleicht besser aus, aber man konnte es nicht nutzen. Man rutschte ja drauf aus. Und wenn die Toilettentür nicht schließt, aber es muß ein neuer Tanzboden 'rein, das ist vom Verhältnis her nicht passend."
"Eine tolle Anlage und Tanzfläche - wenn ich die Toilettentür nicht zumachen kann, ist mir das wurscht."
"Genau das ist mir aber nicht wurscht. Im 'Elizium' jedenfalls ist es nämlich so, daß man die Toilettentüren schließen kann und daß die Tanzfläche rutschfest ist. Und so gefällt mir das. Ich werte eben anders als du. Mir sind eben andere Sachen wichtig als dir. Dann gehe ich eben nur noch ins 'Elizium', wenn die einem in der 'Halle' die Taschen wegnehmen. Dann gehe ich halt einfach nur noch ins 'Elizium', fertig, aus - und zu 'Klangwerk' und zu 'Crucifiction' oder ins 'Fall'; da kann man überall seine Taschen mitnehmen. Dann gehe ich eben überhaupt nicht mehr in die 'Halle'. Dann muß ich immer meine Freunde warnen, weil viele von denen auch Taschen haben."
"Ich darf in der 'Halle' immer meine Tasche mit 'reinnehmen."
"Ja, du! Als ich nach KA. gefahren bin, habe ich vorher extra beim Veranstalter angerufen und gefragt, ob man da seine Taschen mitnehmen darf, und da hieß es erst 'nein' und dann 'ja', und dann durfte man seine Taschen mit 'reinnehmen, und das Festival war wunderbar. Es waren sehr viele Leute da, es gab viel zu kaufen ... da habe ich dann auch diese Glaskugel mit dem Friedhof drin erstanden ... und es gab niemanden, der da irgendwie Randale gemacht hätte oder irgendwas mit 'reingenommen hätte. Da wurde dann halt in die Taschen 'reingeguckt, und fertig, und das war's.
Ich habe Xentrix auch schon öfter auf das Thema angesprochen und gefragt, ob die am Ende im 'Elizium' sowas auch noch einführen. Dann hat Xentrix aber immer gesagt:
'Sowas passiert bei uns nicht.'
Wenn ich in die Oper gehe, muß ich auch nicht meine Tasche abgeben. Ich meine, ich gehe nicht in die Oper, weil mir das zu langweilig ist. Aber trotzdem."
Rafa nimmt diese Predigt schweigend in sich auf.
"Ist das schon Autobahn?" fragt er, nachdem wir abgebogen sind.
Ich bestätige das.
Keine Rede ist mehr von K. Ich bin erleichtert. Mit Rafa will ich nicht in eine lärmende Metropole fahren. Ausgehen und mich vergnügen, das kann ich mit anderen Leuten. Für Rafa brauche ich Ruhe.
Ich beobachte seine Fahrweise. Er fährt sicher, aber ausgelassen. Er schaltet schnell, im zweifachen Sinne. Er läßt sich nirgends aufhalten, wo er sich nicht aufhalten lassen muß. Wenn er findet, daß das Überholen "dran" ist, tut er das ohne Zögern, auch wenn wir mitten im Gespräch sind. Nach einem Augenblick des Schweigens reden wir dann weiter.
Rafa flucht nicht über andere Fahrer, macht aber trotzdem Bemerkungen über sie, etwa:
"Kommkommkomm ..."
Auf Rafas Kassette befindet sich "Autobahn" von Kraftwerk. Dann gibt es noch "Träume mit mir" von Grauzone zu hören.
"Das ist eins deiner Lieblingslieder", sage ich über "Träume mit mir". "Das hattest du auf deiner Hitliste drauf."
Auch die anderen Stücke auf der Kassette stammten aus der Zeit vor 1984, als Rafas Vater noch lebte.
Rafa schaut mich an, und ich schaue ihn an.
"Na? An was denkst du?" möchte er wissen.
Ich antworte etwas zögernd:
"Ich denke gerade darüber nach, was ich denen im Krankenhaus erzähle, wenn ich die anrufe. Eigentlich ist es ja so, daß wir PJ-Studenten uns immer freinehmen können, wenn wir möchten. Aber es ist besser, wenn man das mit den Mitstudenten abspricht, weil es dann unter Umständen nicht als Fehltag eingetragen wird."
Ich glaube nicht, daß Rafa wirklich so lange nicht geduscht hat. Immer wieder muß ich meine Wange an seine Schulter lehnen und den seltsamen, bezaubernden Geruch einatmen, der auf mich anziehender wirkt als jedes Parfüm. Im Vergleich mit Rafa finde ich Parfüms aufdringlich und nichtssagend.
Ich bitte Rafa, auf eine Raststätte zu fahren.
"Das ist auch die Aufregung", erkläre ich.
"Warum bist du aufgeregt?"
"Ist doch kein Wunder, wenn ich mit dir da auf einmal über die Autobahn fahre."
Rafa hält vor dem Eingang zu den Toiletten.
"So, ich bin gleich wieder da", sage ich.
"Ja."
Ich lasse meinen Mantel im Auto und renne durch die Kälte, so schnell ich kann. Als ich zurückkomme, hat Rafa seinen Mantel ausgezogen. Darunter trägt er ein weißes Hemd und die Weste mit dem roten Rücken. Ich reiße die Autotür auf und springe wieder auf meinen Platz, den Platz an Rafas Seite.
"Oh, schön - du hast ja die rote Weste an", stelle ich erfreut fest. "Das ist ja toll."
Ich mag den altmodischen Stil, den Rafa so gern trägt. Sein Hemd hat einen steifen Kragen und steife Manschetten, die jeweils an den Ecken umgeknickt sind.
Von nun an liegt meine Hand nicht nur manchmal, sondern dauernd auf Rafas Schulter. Ich wühle in seinem Hemd herum. Während Rafa etwas am Armaturenbrett verstellt, streichle ich vorsichtig seine Hand. Ich kann ihn nicht neben mir sehen, ohne auf irgendeine Art nach ihm zu greifen.
"Was hast du eben gemacht?" frage ich.
"Ich habe die Uhr nachgestellt."
Rafa hält kurz auf einem Parkplatz.
"Ich muß nur mal überprüfen, ob das hintere Licht geht."
"Das vordere Licht geht zumindest."
"Klar, sehe ich doch, daß das vordere Licht geht", sagt Rafa mißbilligend. "Oder glaubst du, ich bin doof?"
"Nein."
"Wir sind ja beide nicht doof."
Rafa setzt sich wieder ins Auto.
"Nur die Nummernschildbeleuchtung geht nicht", hat er festgestellt. "Ja, wenn das die Polizei sieht, ist nicht so gut."
Im Weiterfahren sagt er:
"Das ist die erste Tour mit dem Wagen, die länger ist als - hundert Kilometer."
"SHG. - wie weit ist das von H. weg? Vierzig Kilometer?"
"Achtundvierzig."
Zu einem Stück auf der Kassette erklärt Rafa:
"Das ist Rheingold."
"Das ist eine deiner Lieblingsgruppen."
"Absolut."
"Die hast du auch auf deiner Chartliste gehabt."
"Ich hab' heute nachmittag um vier einen Termin", fällt Rafa ein.
"Termine sind dazu da, um sie abzusagen", finde ich. "Ich sage meine auch ab."
Rafa scheint müde zu werden.
"Was hältst du davon, im Auto zu schlafen?" fragt er mich.
"Nichts", antworte ich prompt. "Ich finde das entsetzlich. Ich finde das furchtbar. Ich finde das scheußlich."
"Ja?"
"Ja, ich finde das ganz, ganz grauenvoll. Ich muß immer in einem Bett schlafen. Ich würde nur in Appartements und Zimmern und sowas übernachten. Dusche muß da sein und solche Sachen. '82 bin ich mal mit meiner Familie Zelten gefahren, drei Wochen quer durch Frankreich. Das war fürchterlich. Das war schauderhaft. Das war katastrophal. Und da habe ich mir geschworen: Nie wieder Zelten. Oh, ich hasse Zelten."
"Ich liebe Zelten!"
"Und ich hasse Zelten."
"Wieso?"
"Das ist einfach widerlich. Da muß man halb blind, ohne Kontaktlinsen, dreißig Meter bis zur nächsten Toilette laufen, und dann ist die am Ende noch verdreckt. Und dann Regen möglichst noch und Kälte ..."
"Regen und Kälte ist geil."
"Ich finde das ja gerade widerlich. Zelten, das kannst du mit Kappa machen."
"Wieso mit Kappa?" fragt Rafa verwundert. "Wieso soll ich mit Kappa zelten?"
Ich gehe nicht weiter darauf ein. Ich muß daran denken, daß die Freundschaft von Rafa und Kappa eben doch nicht so unschuldig ist, wie ich sie gerne hätte. Ich will Rafa nur mit jemandem zelten lassen, mit dem er nicht schlafen würde, und er schläft mit fast allen, die sich ihm anbieten.
"So mache ich das normalerweise, wenn ich in andere Städte fahre, dann bleibe ich gar nicht über Nacht", erzähle ich. "Ich mache öfters diese Eintagsfliegen, daß ich also über Nacht zu einem Konzert oder irgendwohin fahre und dann am Morgen wieder zurück. Und schön ist das immer, wenn ich zu 'Crucifiction' fahre. Dann sehe ich immer zu, daß ich das mit einem Besuch bei Folter verbinde und daß ich dann noch möglichst viele Leute mitnehme. Da wird es dann besonders lustig. Und dann treffen wir uns vorher bei Folter, und nach der Party fahren wir dann mit dem ersten Zug, oder ich fahre mit jemandem mit, wenn jemand fährt. Und wenn ich in BO. bin, ist es auch immer schön. Wenn ich in BO. mal ausgehen möchte, rufe ich einen Bekannten an. Ich habe einen Bekannten in Ht., der war auch schon mal im 'Nachtlicht'. Und dann gehen wir abends essen, und dann gehen wir zum Konzert, und dann ist Tanzen, und am Morgen gibt es dann noch Kaffee, und dann fahre ich morgens um sechs Uhr mit dem Zug. Das ist schön. Das ist wie ein Tag Urlaub. Das ist richtig ... Erholung, so ein Tapetenwechsel. - Bist du denn schon öfter an die Nordsee gefahren?"
"'türlich."
"Wo warst du denn da überall?"
"In CUX. ... und anderen Städten."
"Und ich war immer auf den Inseln."
"'türlich, die Inseln", sagt Rafa. "Da war ich auch schon."
Ich zähle die Inseln auf, wo ich schon gewesen bin.
"Da war ich voll krank", erinnere ich Rafa an meinen Urlaub im letzten Jahr. "Da konnte ich überhaupt nichts machen. Und dann haben Constri und Sadia mir immer voll das leckere Essen gebracht."
Auf unserer Fahrt reden Rafa und ich manchmal gar nicht, sondern wir sitzen nur da, und ich habe die Hand auf seinem Arm oder unter seiner Weste liegen. Ich finde es schön, daß wir ruhig nebeneinander sitzen können. Nicht dauernd reden zu müssen, ist für mich ein Zeichen von Vertrautheit.
Wir fahren an den Betonburgen eines Vorstadtviertels vorbei.
"Siehst du, jetzt sind wir schon in HB.", sagt Rafa.
"Ja."
"Ich bin müde ohne Ende", gesteht Rafa.
Ich sage ihm, daß ich sein Zahlenquadrat gelöst habe, und nenne ihm die Ziffern, soweit ich sie auswendig weiß. Und ich erzähle ihm einen meiner Träume:
"Vor einigen Monaten habe ich geträumt, ich würde in einem Café sitzen, und ich hatte nichts Richtiges an, nur Unterwäsche. Und da bist du auf einmal von der Seite gekommen und wolltest mich ganz schnell mitnehmen. Ich wollte mir noch was anziehen; das wolltest du aber nicht. Du hattest aber auch nicht viel mehr an. Du hattest auch nur so ein T-Shirt an und noch ein bißchen was. Da sind wir dann 'rausgegangen, und da habe ich dann meine Tasche mitgenommen und komischerweise auch mein Bügeleisen. Das war vielleicht merkwürdig. Und das Bügeleisen habe ich dann irgendwo abgestellt."
Schließlich scheint Rafas Müdigkeit überhandzunehmen.
"Ich schlag' vor, wir fahren auf einen Parkplatz und schlafen ein bißchen, ist das o.k.?" fragt er vorsichtig.
"Ja, ist o.k."
"Das 's' schön", meint Rafa erleichtert. "Sehr schön."
"Ja?"
"Ja. Sehr gut ist das. Gut."
Er gibt zu bedenken, daß er noch einen Sparkassenautomaten finden muß. Eine EC-Karte, die für jeden anderen Geldautomaten ebenso geeignet ist, scheint er nicht zu besitzen.
Zwischen HB. und Bv. gibt es keine Raststätte. Rafa fragt mich, ob mir ein Parkplatz ausreicht, und ich antworte, das sei nicht der Fall. Ich zeige Rafa ein Schild, auf dem steht:
"WC 17 km"
Das ist ein Parkplatz, auf dem es ein WC gibt. Ich kenne die Anlage schon von der letzten Nordseereise. Der quadratische, neumodische Bau kann einen das Fürchten lehren. Rafa hält gegenüber, zwischen zwei Lastern. Hier ist die letzte Lücke; der Platz steht voller Lastwagen. Rafa ist zunächst unsicher, ob er es schafft, lenkt dann den Wagen in die Lücke und ist stolz:
"Das sind so die Einpark-Künste."
Auch dieses Mal lasse ich meinen Mantel im Auto und renne mit der Tasche in der Hand durch die Kälte. In dem Toilettenbau ist es nicht weniger kalt. Mich empfängt dämmriges Licht, das fürs Nachschminken nicht genügt. Alles ist aus Metall, automatisch, unzureichend und unsauber. Weil es noch nicht einmal Garderobenhaken gibt, befestige ich die Tasche mit viel Mühe an dem schwergängigen Türknauf. Die Spülung geht immer dann los, wenn man sie bestimmt nicht braucht, im Gegenteil. Klopapier finde ich gar nicht erst. Da merke ich wieder einmal, wie hilfreich es ist, eine wohlausgestattete Handtasche dabeizuhaben.
Endlich bin ich fertig und stürze zu Rafa ins Auto.
"So, da bin ich wieder."
Ich kann die Tür gar nicht schnell genug zuschlagen.
"Na? Wie war's?" erkundigt sich Rafa.
"Oh - ätzend, eklig", berichte ich. "Kalt. Wäh, so ein ekliges automatisches ..."
"Hm?"
"So ein ekliges automatisches WC war das, so ein ekliges, kaltes. War noch nicht mal Klopapier da und sowas."
"Jetzt brauchen wir nur noch die Sitze zurückzuklappen, und schon können wir schlafen."
"Wie geht denn das?"
Rafa zeigt mir, wo der Hebel ist.
"Echt, jetzt weiß ich, was ich vergessen habe - meinen zweiten Mantel", stelle ich fest.
Ich muß mit dem einen vorlieb nehmen.
"Jetzt nochmal schnell die letzte Wärme ausnutzen, die wir haben", sagt Rafa.
"Am besten wäre ja eine Standheizung", meine ich.
"Der Wagen hätte eine Standheizung", sagt Rafa.
"Kannst du die nicht anmachen?" frage ich.
"Das würde die Batterie auslutschen, glaube ich", vermutet Rafa. "Das habe ich im Gefühl."
"Das ist so ähnlich wie in Amsterdam damals, als ich mit Ivo Fechtner in Amsterdam war", erzähle ich und ziehe meinen Mantel um mich herum. "Als Timo und ich in Amsterdam geschlafen haben, haben wir auch die Standheizung angehabt. Timo war auch mehr so ein Mensch wie ich, der es gern warm haben wollte und der sich gerne auch mal gut in Ruhe hinsetzen wollte und sich frischmachen und was Vernünftiges essen wollte. Und Ivo Fechtner hingegen war ein Typ, der setzte sich dann währenddessen lieber in irgendein kaltes Auto und las Zeitung, und er dachte nur daran, daß er für fünfhundert Mark CD's kauft. Und Komfort und Wärme und das alles war ihm egal. Und so ein Typ bin ich nicht."
"Und genausoein Typ bin ich", behauptet Rafa.
Er kuschelt sich auf dem Fahrersitz in seinen Mantel. Er legt ihn nicht richtig über sich, sondern knüllt ihn mit den Armen zusammen. Ich lege mich quer und ein Stück weit über Rafa.
"Es ist kalt", sage ich entschuldigend. "Ich muß mich an dir wärmen."
Rafa schiebt mich nicht weg. Er fragt stattdessen:
"Echt - findest du das bequem so?"
"Aber sicher! Aber nur! Ich finde nichts bequemer, als auf dir draufzuliegen. Du bist echt die beste Matratze."
Rafa findet das sehr komisch.
"Wenn du dich ganz langmachen willst, kannst du dich auch auf die Rückbank legen", schlägt er vor.
"Dann kann ich mich ja nicht an dir wärmen", entgegne ich. "Da bleibe ich lieber hier. Alleine würde ich mich nicht auf die Rückbank legen."
Ich liege eng an Rafa gekuschelt. Das Radio läuft noch, und das Lichtlein im Radio brennt.
"Du schläfst immer bei Radio, nicht?" spreche ich Rafa darauf an. "Immer bei Licht und Radio, nicht?"
"Ja."
"Das klingt ganz schön nervig."
"Soll ich's ausmachen?"
"Ja, das wäre schön."
"Gut, mach' ich's aus."
Er macht es aus. Dann beginnt er, mit seinem Mantel herumzuspielen. Er zieht sich den Mantel über den Kopf und wickelt seinen Oberkörper ein.
"Oh, schade", seufze ich, "jetzt kann ich mich ja gar nicht mehr an dir wärmen."
Ich krieche wieder auf Rafa, so weit ich kann.
"Ich muß mich an dir wärmen", erkläre ich. "Wenn ich mich an dir wärme, dann friere ich nicht."
"Aber so warm bin ich doch auch nicht."
"Nein, aber du machst einen warm. Das war damals auch so phänomenal, im September. Da lag ich neben dir, und ich berührte dich so mit der einen Seite, nur mit der einen Seite. Und trotzdem wurde mir so glühend heiß, daß ich die Decken auf den Boden geschmissen habe."
"Geschmissen", kichert Rafa. "Wie du das sagst ... Echt - wollen wir das echt machen mit der Rückbank? Wollen wir das machen mit der Rückbank?"
"Daß wir uns da drauflegen?"
"Na, wir können's ja mal versuchen."
"Gut, dann versuchen wir das doch mal."
"O.k., alles retour!"
Wir klappen die Lehnen wieder hoch. Rafa schickt sich an, die Autotür zu öffnen.
"Willst du aussteigen?" frage ich.
"Ich will umsteigen", antwortet Rafa.
"Ja, ich klettere", sage ich. "Ich klettere zwischen den Sitzen hindurch. Dann ziehe ich mir nochmal eben die Schuhe aus."
Ich lasse die Schuhe vorne. Die weiße Tasche werfe ich über die Lehne der Rückbank in den Kofferraum. Rafa und ich steigen auf die Rückbank. Dort ist es für uns beide reichlich eng.
"Wird dir das denn bequem?" möchte Rafa wissen.
"Ich muß nur auf dir draufliegen, dann finde ich das bequem", sage ich. "Es gibt nichts Bequemeres, als auf dir draufzuliegen."
"Nun los, nun - mach's dir bequem."
"Nein, leg' erst du dich hin, dann kann ich mich auf dich drauflegen."
Rafa legt sich hin, und ich klettere auf ihn. Wir kommen mit den Mänteln nicht zurecht. Rafa findet die Kletterei und Wühlerei so lustig, daß er immer wieder lachen muß. Ich höre sein Lachen so selten und so gerne.
"Leg' dich doch andersrum", sagt Rafa, als es einfach nichts werden will mit den Mänteln und mit uns. "Guck', so 'rum. So."
Etwas zögernd folge ich seiner Beschreibung. Ich lege mich mit dem Rücken an die Lehne, und dann legt Rafa sich vor mich und die Beine auf mich. Er zieht seinen Mantel über uns beide und fragt:
"Ist es dir jetzt noch irgendwo kalt?"
"Ja, am Knie und an den Füßen."
"Dann mach' dir da deinen Mantel doch drum."
Ich umwickle mir die Beine, in der Enge mehr schlecht als recht.
"Kann man die Lehne nicht ein bißchen zurückklappen, daß wir mehr Platz haben?" frage ich.
"Nein, die kommt nur nach vorne, die Rückenlehne", erklärt Rafa. "Moment - ich brauch' jetzt noch was unter den Kopf. Ist deine Tasche weich?"
"Klar ist die das. Ich hol' die mal 'rüber. Warte mal."
"O.k., dann müssen wir das eben nochmal umbauen."
Ich angele die weiße Tasche aus dem Kofferraum und reiche sie Rafa. Er stopft sie sich unters Genick. "Ist das gut?" frage ich ihn.
"Klar!" antwortet er fröhlich. "Mensch, haha - das ist richtig bettmäßig jetzt. Also, ich lieg' jetzt bequem. Ich lieg' jetzt voll bequem. Liegst du auch bequem?"
"Ja, sicher."
Rafa hält mich in den Armen. Ich habe meinen linken Arm angewinkelt. Ich darf ihn nicht unter Rafas Körper schieben, denn der ist zu schwer. Mit meinem freien rechten Arm umgreife ich Rafa. Ich kann mich nicht fest genug an ihn kuscheln. Ich genieße es, mich von ihm umarmen zu lassen. Endlich wehrt er mich nicht mehr ab.
"Das hättest du jetzt auch nicht gedacht, wa'?" sagt er, voller Stolz auf seinen Mut und seinen Einfallsreichtum.
"Nein", bestätige ich. "Ich wußte, daß es deine Zeit ist, aber ich hätte es trotzdem nicht gedacht. Ich habe schon richtig Entzugserscheinungen gehabt ..."
Wieder muß ich mich an ihn kuscheln.
"Jetzt kann ich dich endlich mal wieder richtig umarmen", freue ich mich. "Heute bist du viel weniger stachelig als beim letzten Mal."
"Ich bin immer stachelig."
Ich denke daran, wie gern ich mich von Rafa streicheln lasse. Er streichelt mich jetzt nur wenig und schüchtern, und mein Gesicht streichelt er gar nicht. Aber er hält mich fest, sehr fest.
"Du scheinst aber doch eine ziemliche Sehnsucht nach mir gehabt zu haben, wenn du so etwas machst wie dies hier", vermute ich. "So ganz nichts kann da ja wohl kaum sein."
Rafa schweigt. Ich nehme an, daß er in der räumlichen Enge eine Rechtfertigung sucht für unsere Nähe. Auch die Tatsache, daß wir beide vollständig angezogen sind, könnte es ihm erleichtern, mich zu umarmen.
Ob er noch mit der Sängerin zusammen ist, möchte ich Rafa immer noch nicht nicht fragen. Wenn ich weiß, daß er mit ihr zusammen ist, darf ich ihn nicht anfassen. Und ich genieße es so, ihn anzufassen. Sein Mantel begräbt fast meinen Kopf unter sich.
"Was 's' los?" fragt Rafa besorgt. "Warum atmest du so schwer?"
"Das ist nur, weil ich ... so unter der Decke liege."
Rafa zieht den Mantel etwas zurück.
"Wann warst du mit Ivo Fechtner in Amsterdam?" nimmt er Bezug auf meine Äußerung von vorhin.
"Also, mit Amsterdam, das war so", erzähle ich, "ich bin doch mal mit Ivo Fechtner nach Amsterdam gefahren. Das ist aber schon ewig lange her, schon fast zwei Jahre. Das war im Frühjahr '93. Da bin ich mit einem namens Timo und noch einem anderen ... ich weiß nicht mehr, wie der heißt ... mit denen bin ich in einem Auto gefahren. Und Ivo Fechtner ist mit zwei Leuten gefahren, die ihn nachher aus der Redaktion einer Szenezeitschrift geschmissen haben. Edit und Bias hießen die."
"Warum haben die ihn da 'rausgeschmissen?"
"Weil er die wohl ziemlich übel versetzt hat."
"Was soll der denn gemacht haben?" fragt Rafa, und seine Stimme klingt ahnungslos.
"Wahrscheinlich hat der mit denen ungefähr dasselbe gemacht wie mit mir", vermute ich. "Bias und Edit haben mir das in KA. erzählt, auf dem Festival. Ich war ja im letzten Herbst im Oktober in KA., und da habe ich die getroffen. Sie haben zu mir gesagt, sie hätten den Fehler gemacht, sich auf Ivo Fechtner zu verlassen. Den gleichen Fehler habe ich auch gemacht. Da wußte ich bescheid, daß er mit denen ungefähr dasselbe gemacht hatte wie mit mir. Und da habe ich zu denen gesagt, den gleichen Fehler hätte ich auch mal gemacht, aber eben auch nur einmal, und danach habe ich ja Kontakt zu ihm abgebrochen.
Ivo Fechtner hat mich ja noch ausbooten wollen. Wir sind nach Amsterdam gefahren und vorher noch nach BO. zu dem PNE-Konzert - nein, das war kein Konzert, das war nur ein PNE-Video. Und da warst du auch. Und da hat Ivo Fechtner gemerkt, daß er bei mir absolut null Chance hat. Und da hat er gleich am Sonntag drauf gegen mich intrigiert. Da hat der drei von meinen Freunden angerufen und denen gegenüber behauptet, ich hätte schlecht über die geredet. Das war eine gedruckte Lüge. Und dann hatte ich nachher alle Mühe, das richtigzustellen. Und dann war da wenige Tage später ein Elektro-Festival in HI. Und da wollte Ivo Fechtner unbedingt mit Timo in einem Auto fahren, und da war dann für mich kein Platz mehr da. Und er hatte aber sein Auto in der Garage stehen. Und da habe ich mir gedacht, daß es doch eigentlich selbstverständlich ist, daß er dann mit mir fährt. Und meine Freunde, die sind auch alle hingefahren, und die haben alle auch damit gerechnet, daß ich mit Ivo Fechtner fahre, und deswegen hatten die auch keinen Platz mehr für mich. Ich bin bei dem Festival dann schließlich doch gewesen. Ich habe noch eine Fahrgelegenheit gefunden.
Das hat man aber auch schon eher gemerkt, das Miese an Ivo Fechtner.
Das war nämlich bei ihm so, daß er mich immer wieder angerufen hat und gefragt, ob ich Lust habe, zu irgendwelchen Konzerten mitzukommen. Und das uferte dann dahingehend aus, daß er mich fünfmal in der Woche zu irgendwelchen Konzerten mitgenommen hat. Wenn aber ich mal einen Wunsch hatte und irgendwohin wollte, dann hieß es:
'Öh, muß nicht unbedingt sein, hab' keine Lust.'
Oder sonstwas. Und das fand ich schon ziemlich mies."
"Wieso?" fragt Rafa. "Ist doch korrekt von ihm, wenn er irgendwohin will und dir anbietet, mitzukommen."
"Ja, das ist es auch. Aber wenn er dann nie auf meine Wünsche eingeht, finde ich das nicht mehr korrekt."
"Wieso? Er ist doch der Fahrer."
"Ja, klar. Aber nur weil er der Fahrer ist, ist er doch nicht der Einzige, der bestimmt."
"Wieso? Du kannst doch nicht bestimmen, wohin er zu fahren hat."
"So, und du findest also, 'Alle Macht dem Fahrer'. Das geht für mich aber nicht allein darum, wer fährt. Das geht für mich auch um Kameradschaft und Freundschaft und um ein Miteinander. Es ging mir gar nicht darum, unbedingt mit dem Auto dahin zu fahren. Wir hätten auch mit dem Zug dahin fahren können. Das wäre mir egal gewesen. Es ging um die Begleitung, um die Gesellschaft, um das Mitmenschliche. Und wenn ich ihn immer begleite und mir dann auch einmal wünsche, daß er mich begleitet, daß ich irgendwohin will, wo ich mir seine Begleitung wünsche - ich finde dann schon, wenn das dann nicht möglich ist, ist das dann eine Beziehungsform, auf die ich gut verzichten kann. Das ist eine Beziehungsebene, die ich nicht haben möchte und die ich nicht gebrauchen kann. Ich habe genug Leute, die mit mir irgendwohin fahren, weil sie gern mit mir unterwegs sein möchten, und ich habe genug Leute, wo das auch auf Gegenseitigkeit läuft, und so jemanden wie Ivo Fechtner kann ich dann nicht gebrauchen. Von dem habe ich dann nichts, weil da das Zwischenmenschliche völlig fehlt und es nur noch darum geht, wer das Auto hat. Dieses Prinzip 'Alle Macht dem Fahrer' teile ich absolut nicht. Das ist für mich keine Kameradschaft, keine Freundschaft. Das ist für mich dann ein reines Zweckbündnis, und darauf kann ich ohne Weiteres verzichten. Davon habe ich nichts."
Rafa freut sich über das weiche Lager:
"Richtig bettmäßig."
"Ich finde es auch richtig gemütlich."
"Tja, ist eben kein Ivo-Fechtner-Peugeot", sagt Rafa stolz.
"Allerdings", stimme ich kichernd zu, "das ist kein Ivo-Fechtner-Peugeot."
Es freut Rafa offensichtlich, daß er mir besser gefällt als Ivo Fechtner.
"Das hättst du nicht gedacht, was?" muß Rafa wieder fragen. "Das hättst du nicht gedacht."
"Nein, das hätte ich wirklich nicht gedacht. Die Überraschung ist dir echt gelungen."
"Nich'?"
Wir liegen für ein Weilchen still. Dann fragt Rafa auf einmal:
"Hast du zu Hause was zu essen?"
"Klar habe ich zu Hause was zu essen. Jede Menge."
"Was hast du denn zu essen?"
"Kommt darauf an, was du möchtest. Ich habe zum Beispiel Toastbrot ... aber ich weiß nicht mehr, wieviel da ist; da müßte man vielleicht nochmal neues holen. Und ich habe noch Marmelade und 'Milky Way'-Brotaufstrich ..."
"Was ist das?"
"Das ist sowas Ähnliches wie Nutella, nur da ist auch noch was mit weißer Schokolade zwischen."
"Nein, ich will richtiges Essen, warmes Essen."
"Klar, das ist auch ganz in meinem Sinne. Ich möchte auch lieber warmes Essen."
"Hast du Nudeln?"
"Natürlich, Nudeln habe ich."
"Hast du auch Soße?"
"Wahrscheinlich ja. Vielleicht auch nicht. Wir können aber auf jeden Fall auch von der Tanke welche holen."
"Ich mach' die Soße immer gerne selber."
"Klar, ich habe da auch noch ein Döschen Tomatenmark."
"Ja, oder Pizza."
"Klar, wir können uns an der Tanke auch Pizza holen."
Wie schön ist die Aussicht, doch nicht im Auto übernachten zu müssen!
"Was willst du denn trinken?" locke ich Rafa mit meiner Gastfreundschaft. "Irgendwas Bestimmtes?"
"Das kommt aufs Essen an", meint er. "Wenn es Pizza ist, dann nehme ich auch schon Cola dazu."
Nach kurzem Schweigen läßt sich Rafa bestätigen:
"Du hast also Essen."
"Ja, sicher", erwidere ich. "Wir können gerne zu mir fahren. Da gibt es eine Dusche ..."
"Und 'n warmes Bett."
"Genau", sage ich schnell. "Und ein warmes Bett."
Ich denke daran, wie gerne ich mit Rafa in meinem Bett liegen würde. Dort wäre es gemütlicher als auf der Rückbank, und ich könnte Rafa vielleicht sogar ausziehen. Und heiß duschen könnte ich.
"Du möchtest wohl gerne mit mir im Bett liegen und fernsehen", nehme ich an.
"Ja, auch."
"Wenn ich mit dir im Bett liege, brauche ich keinen Fernseher, oh, nein", sage ich schwärmerisch. "Ich meine, dich finde ich sowieso spannender als irgendsoeinen Film. Na - vielleicht kann es auch mal ganz gemütlich sein. Wenn Constri und Derek miteinander im Bett liegen, dann gucken die auch oft fern. Constri und Derek haben den Fernseher auf so einem Wagen."
"Au ja - wollen wir zu dir fahren?" fragt Rafa.
"Von mir aus gern", entgegne ich. "Wir können gern zu mir fahren. Willst du also doch nicht mehr an die Nordsee, hm?"
"Na ja, jetzt ist irgendwie so ... das Spontane irgendwie schon 'raus. Das ist jetzt schon zu lange. Das ist für mich jetzt schon wieder alles viel zu durchgeplant. Ich wollte ja auch nur mit dir irgendwohin fahren. Ich meine ... dreißig Kilometer weiter ist die Nordsee. Das ... bringt's jetzt irgendwo auch nicht mehr."
"Von mir aus können wir gerne zu mir fahren und was essen."
"Au ja, wollen wir das machen?"
"O.k., machen wir das."
"O.k."
Rafa setzt sich auf. Er klettert über mich hinweg zur Autotür und öffnet sie.
"Oh!" stöhnt er. "Ist das kalt hier! Das glaubt man gar nicht, daß das so kalt ist. Das ist ja hier drin dagegen noch voll warm."
Er geht um das Auto herum zur Fahrertür und steigt ein. Ich krabbele wieder zwischen den Sitzen hindurch nach vorne. Meinen Mantel ziehe ich noch nicht an. Ich will die "Tuchfühlung" zu Rafa behalten. Auch hoffe ich, daß die Heizung genügend Wärme bringt.
Rafa hat behauptet, er sei "genauso ein Typ" wie Ivo Fechtner.
Allein, er hat diesen Satz durch sein eigenes Verhalten Lügen gestraft. Wer ist es denn, der aus dem kalten Auto in ein warmes Bett will? Wer ist es denn, der "richtiges Essen" will? Wem geht es darum, mit mir "irgendwohin zu fahren" und nicht darum, mich zu Konzerten mitzuschleifen?
Außerdem ... fährt Rafa keinen "Ivo-Fechtner-Peugeot" ... und ist stolz darauf.
"Gibt es bei dir in der Nähe einen Geldautomaten?" erkundigt sich Rafa.
"Natürlich. Das weißt du doch. Da hast du doch selbst schon was abgehoben."
"Ja, da kann ich mich dran erinnern. Sicher. Da gibt es ja einen."
"Da ist jetzt auch ein neuer drin. Das ist immer noch an derselben Stelle, aber das ist jetzt ein neuer. - Oh, ist mir kalt, ist das kalt!"
Rafa fischt ein schwarzes Kästchen aus dem Graben vor der Rückbank.
"Guck' mal, was man da so alles findet!" staunt er.
Er nimmt ein Kabel in die Hand, das aus dem Kästchen heraushängt, und sucht an der Fahrertür herum.
"So, wo ist hier 'ne Erdung?" fragt er sich selbst.
Mit dem freien Ende des Kabels berührt Rafa eine Stelle in der Nähe der Türangel. Es gibt ein paar blaue Blitzchen. Rafa hält mir das Kästchen hin und fragt:
"So, kommt jetzt was? Kommt da Wärme?"
Ich entdecke in dem Kästchen eine Heizschlange. Als ich meine Hand davor halte, fühle ich, wie die Schlange warm wird, und ich sehe, wie sie zu glühen beginnt.
"Ja, da wird's warm, richtig warm!" rufe ich. "Oh! Das ist ja eine Handheizung!"
"Ja, nich'? Toll, was man hier alles so findet, nich'?"
Rafa legt die Heizung wieder nach hinten. Dann läßt er das Auto an und wundert sich darüber, daß das Auto immer noch fährt. Er meint, er habe gar nicht damit gerechnet, daß es solange "durchhält".
"Es fährt doch gut", finde ich.
Das erste Tageslicht ist heraufgekommen.
"Oh, das ist ja innen auch rot", stelle ich fest, als ich meine Hand unter Rafas Weste schiebe.
Die Weste ist vorn aus einem schweren schwarzen Baumwollstoff gemacht und hinten aus rotem Futtertaft. Der Baumwollstoff ist ebenfalls rot unterfüttert.
Wir fahren vom Parkplatz herunter.
"So, und wie wenden wir hier jetzt?" fragt Rafa.
"Bei der nächsten Ausfahrt. Eher geht's nicht."
"Würde ich auch sagen - bei der nächsten Ausfahrt."
Rafa fällt ein prüfender Blick von mir auf.
"Was 's' los?" fragt er. "Was guckst du?"
"Ich wollte nur schauen, ob du auch angeschnallt bist."
"Ich bin angeschnallt."
Rafa nimmt eine Kassette aus dem Handschuhfach und preist sie an:
"Hier - W.E live in MD."
"War die Sängerin dabei?"
"Ich glaub', ja."
"Oh, nein ...", seufze ich. "Also, ertragen kann ich das ja alles, aber wenn die loslegt, dann bleibt kein Auge trocken. Das möchte ich mir nicht 'reintun. Das kann ich nicht ertragen."
"Singt da nur in einem Lied."
"Eben, und das will ich nicht hören", sage ich, und meine Stimme wird härter. "Ich finde die so widerlich - mir wird schlecht, wenn ich die nur sehe. Ich will die nie mehr sehen und nie mehr hören. Von daher gesehen war es auch ganz gut, daß ich wochen- und monatelang nicht ins 'Nachtlicht' gegangen bin. Ich hasse es, wütend zu sein."
"Was haßt du?"
"Ich hasse es, wütend zu sein", wiederhole ich ruhig, mit einer Stimme, die vor Zorn fast zerspringt. "Ich habe nicht gerne Aggressionen. Ich mag es nicht, wenn mir der Kragen platzt."
Rafa sagt dazu nichts. Ein anderer hätte vielleicht gedroht:
"Steig' aus, wenn du meine Sängerin beleidigst."
Wir kurven über den Zubringer von der Autobahn herunter. Rafa meint:
"Hoffentlich geht' s hier auch wieder 'rauf."
"Das wird schon 'raufgehen", bin ich mir sicher. "Schau' mal, da vorn, da ist schon das Schild."
"Stimmt."
Meine Wut bedrängt mich. Ich versuche meinen Gefühlen in noch deutlicherer Form Ausdruck zu verleihen.
"Ich kann unendlich wütend sein", warne ich. "Ich kann unsagbar wütend sein. Ich kann so wütend sein, das ist unvorstellbar."
Rafa sagt auch hierzu nichts. Er spielt mehrere Stücke aus dem Konzert vor. Inzwischen befinden wir uns auf der Fahrbahn in Richtung H. Bei einem Stück spricht Rafa leise mit. Ich schaue ihm sanft lächelnd zu. Ich betrachte sein Profil. Im Frühlicht ist es nur ein Schattenriß. Die Scheinwerfer der Autos strahlen es wechselnd an.
"Er hat diese Züge", denke ich. "Er hat eben dieses Aussehen, nach dem ich gesucht habe. Genauso, genauso muß er aussehen."
Rafa spult öfters das Band vor. Das Stück, in dem die Sängerin singt, erspart er mir. Er läßt mich aber "Alle Helden sterben früh" hören. Dabei spricht er nicht mit. Vielleicht möchte er mich erkennen lassen, daß man eben doch verstehen kann, was er auf seinen Konzerten ins Mikrophon schreit. Ich höre aufmerksam zu und verstehe den Text auch; das kann aber daran liegen, daß ich ihn schon im Textheft gelesen habe. Rafa hat das Stück für das Konzert ein wenig verändert. Den Ausruf "Alle Helden sterben früh!" ließ er die Sängerin mitrufen. Dünn und flach versteckt sich ihre Stimme hinter der von Rafa.
Nach "Alle Helden sterben früh" folgt eine Ansage von Rafa; er sagt "Hallo MD." oder so etwas Ähnliches. Ich spreche die Ansage lächelnd mit.
"War echt witzig, das Konzert", erzählt Rafa. "Echt witzig. Konnte man gar nicht ernst bleiben bei."
"Und ich bin froh, daß ich nicht dabei war."
"Wieso?"
"Weil ich diese dreckige Ziege nicht auf der Bühne sehen kann, ohne zu kotzen."
Alle Bandmitglieder verabschieden sich mit einem "Dankeschön". Als die Sängerin an der Reihe ist, sagt Rafa:
"Das - isse."
"Dankeschön", ahme ich das Quäken der Sängerin nach. "Dankeschön."
Als Nächstes verabschieden sich die Bandmitglieder nacheinander:
"Tschüß ... tschüß ... tschüß."
Die Sängerin sagt zuletzt "Tschüß", und ich ahme wieder ihr Quäken nach:
"Tschüß. - Cyberspace."
"Ich verstehe nicht, weshalb du so über eine Frau herziehst, die du gar nicht kennst", gibt sich Rafa erstaunt.
"Oh!" rufe ich da. "Die kenne ich gut genug, um zu wissen, was für ein Weib das ist. Die kenne ich gut genug, um zu wissen, daß ich die nicht näher kennenlernen will."
Die Heizung macht das Auto nicht richtig warm. Ich drehe das Gebläse in meine Richtung, doch das bringt nicht viel. Ich friere in der laukalten Luft. Rafa stellt an der Heizung herum. Ich streichle seine Hand. Auch sein Bein muß ich anfassen.
Rafa lobt die Fans aus dem Osten:
"In den neuen Bundesländern sind die Fans witziger drauf. Die sind überhaupt viel besser drauf."
"Warum?"
"Mit denen kann man viel besser Party machen."
"Mit Partymusik ist mir nicht gedient", sage ich. "Ich brauche Musik, die ehrlich ist, die nichts beschönigt. Die die Wirklichkeit so brutal zeigt, wie sie ist."
"Wieso, das ist doch nicht ehrlich."
"Für mich ist das ehrlich. Ich empfinde das so. So richtig grausame Industrialmusik, wenn ich dazu tanze, dann geht es mir gut. So ein würgendes Stück von Dissecting Table, da fühle ich mich wohl, wenn ich dazu tanze."
"Weshalb?"
"Weil ich da die Wirklichkeit wiederfinde. Es ist mir wichtig, die Gefühle, die ich habe, in der Musik wiederzuentdecken."
"Ich will ja gerade nicht, daß in der Musik Gefühle transportiert werden."
Rafa spielt noch mehr Musik, die er gemacht hat. Darunter ist auch eine Art NDW-Techno-Verschnitt.
"Das ist unsere neue Maxisingle", stellt Rafa vor.
"Ist das etwa das unsägliche Stück, das ihr da kürzlich in der 'Halle' vorgetragen habt?" möchte ich wissen.
"Ja", antwortet Rafa. "Das haben wir da gespielt."
"Ohh ... oh, je ..."
"Wieso - magst du's nicht?"
Ich schüttle heftig den Kopf.
"Das sind nachgemachte Technobeats", urteile ich. "Das ist mir zu simpel, zu einfach gestrickt. Das ist ja nur popsongmäßig."
"Ja, ist es auch", stimmt Rafa mir zu. "Aber mit was anderem ist kein Blumentopf zu gewinnen."
"Esplendor Geometrico haben schon mehr als einen Blumentopf gewonnen, und die machen anspruchsvolle Musik", entgegne ich. "Diese Musik hier ist naiv, einfach."
"Ich will einfache Musik machen."
"Ja, das kann ich mir denken, daß du das willst. Ich glaube, du kannst anspruchsvollere Musik machen als das hier. Ich denke, daß du auf jeden Fall was Anspruchsvolleres machen kannst. Ich bin ja auch künstlerisch anspruchsvoll. Du willst aber nicht anspruchsvollere Musik machen; das sehe ich schon. Und da gibt es auch einen Grund dafür. Und zwar nicht den Grund, daß man mit was Besserem nicht ankommt. Sondern das ist ein seelischer Grund."
"Und welcher ist das?"
"Diese Vorliebe hat einen Grund, und das ist einfach diese Haltung: 'Das Leben ist so schön ... das Leben ist so schön ...'"
Rafa spricht mit leiser Stimme den Text von "W.O.L.F." mit. Nach wie vor habe ich meine Hände auf seiner Schulter liegen. Sein Gesicht ist entspannt, und seine Augen blicken offen und traurig in die Ferne.
"Das ist er wirklich", denke ich. "Dieses Herumbrüllen ist eine Fassade, die Musik ist eine Fassade, genau wie die Sonnenbrille, hinter der er sich versteckt. In Wirklichkeit ist Rafa leise und traurig."
Ich nicke innerlich und sage mir wieder einmal:
"Ja, dieser Mensch ist es."
Nach einer Weile erkundige ich mich vorsichtig:
"Wo das 'Nachtlicht' jetzt zu hat - wovon lebst du denn jetzt?"
"W.E."
"Das wirft so viel ab, hm?"
"'s reicht."
"Wieviel ist das im Monat?"
"'s reicht."
"Na, das willst du mir mal wieder nicht sagen, ne? Ich kann's gar nicht glauben, daß man mit Musik soviel Kohle machen kann. Das können höchstens Front 242."
Rafa schüttelt sich.
"Ah, das nervt echt tierisch, du, wenn du da immer so anfaßt", wehrt er mich ab. "Das nervt echt tierisch, wenn du mich da immer so anfaßt."
"Ich muß dich ja anfassen. Ich fasse dich so gerne an. Du bist so anziehend. Ich muß dich einfach immer anfassen."
Ich streiche über seine Wange.
"Ach, jetzt - laß' es doch mal", sagt er ungehalten. "Das nervt echt. Oh - das kann ich echt nicht ab."
"Magst du das denn nicht, wenn ich dich anfasse, hm?"
"Nee."
"Oh, das glaube ich nicht", entgegne ich sanft. "Ich glaube, du hast das ganz gerne."
"Jedenfalls mag ich es nicht immer, wenn man mich anfaßt."
"Oh, dann magst du es ja zumindest manchmal. Das ist doch immerhin etwas."
Nach kurzem Schweigen füge ich hinzu:
"Du bist so anziehend für mich. Ich muß dich immer anfassen. Ich muß dich einfach immer anfassen, die ganze Zeit. Das ist schon echt verboten, wie anziehend du bist."
Je heller es wird, desto schüchterner wird Rafa. Er sagt nicht mehr so oft "Baby" zu mir.
Ich schaue auf die Uhr über dem Lenkrad. Die Zeit ist günstig für den Anruf im Krankenhaus. Wir nähern uns einer Raststätte. Auf Rafas Kassette beginnt "Der Zauberstab" von Za Za. Ich muß sogleich meinem Widerwillen Luft machen:
"Das Stück finde ich scheußlich."
"Das ist supergeil."
"Ich weiß; wir waren über dieses Stück noch nie einer Meinung."
Wir kommen auf die Raststätte. Rafa fährt an die Zapfsäule. "Der Zauberstab" verstummt.
"So, jetzt brauch' ich nochmal zwanzig Mark", sagt Rafa.
Ich gebe ihm einen Zwanzigmarkschein.
"So, das sind zusammen fünfzig Mark", rechnet er. "Ist überhaupt kein Problem."
"Ach, da vorn ist ja auch schon ein Fernsprecher. Du, dann lauf' ich gleich schon mal 'rüber und telefoniere."
"Is' gut."
"Also, ich bin gleich wieder da."
"Ja."
Ich rufe über das Kartentelefon die chirurgische Station an, wo ich inzwischen eingesetzt bin.
"Ist einer von den Doctores da?" frage ich die Schwester.
Sie gibt mir den AiP Thasso. Ich sage ihm, daß ich mir aus privaten Gründen kurzfristig drei Tage Urlaub nehmen muß. Er erwidert nur, das sei o.k. Ich biete an, den Urlaub im Sekretariat zu melden, doch Thasso meint, das sei nicht nötig.
"Ich will unbedingt im grünen Bereich bleiben", sage ich.
Es soll nicht auffallen, daß es in meinem Leben drunter und drüber geht.
Rafa hat sich im Mantel wieder ans Steuer gesetzt. Ich seufze stumm, denn durch den dicken Wollstoff kann ich seinen Körper so schlecht fühlen. Ich kann nicht mehr unter seine Weste fassen und an seinen Hemdsärmeln herumnesteln.
"Oh, der Kragen ist ja innen blau", stelle ich fest, als ich den Mantel im Tageslicht betrachte.
"Ja", sagt Rafa.
Ich erinnere ihn daran, daß er Öl nachfüllen wollte. Er möchte das aber noch verschieben.
Wir fahren zurück auf die Autobahn, und es geht weiter mit dem "Zauberstab":
"Du bist die schönste aller Hexen,
alles an dir ist reiner Sex. Wenn
ich dich kriege,
zeigt dir mein Zauberstab die Liebe."
"Ich entscheide, wer hier irgendwas kriegt, und dem Rafa werde ich es schon zeigen", denke ich.
Eine weitere Zeile in dem Stück lautet:
"Deine Beine sind grade wie für mich gemacht."
Das klingt nach Fabrikat, nach Gegenstand. Ich finde den Text menschenverachtend.
Während ich in der Toilette war, hat Rafa den Beifahrersitz nach vorn gezogen, und ich schaffe es nicht, ihn wieder nach hinten zu schieben. Ich bitte Rafa, mir zu erklären, wie man den Sitz wieder zurückschieben kann. Er sagt, daß es unter dem Sitz einen Hebel gibt. Nach einigem Suchen finde ich diesen Hebel auch, und ich schiebe den Sitz rückwärts. Dann lege ich wieder den Arm um Rafas Schultern.
"So, jetzt kann ich dich besser anfassen", sage ich erleichtert.
Mir fällt die Schramme an seiner linken Hand ins Auge.
"Du hast dich ja da an der Hand geschnitten", spreche ich ihn darauf an. "Wie hast du dich denn da gekratzt?"
Rafa weicht aus:
"Weiß ich nicht."
Ich ziehe meinen Mantel auch wieder über. Es will einfach nicht warm werden im Auto.
"Was hat denn der Typ gesagt?" erkundigt sich Rafa.
"Welcher Typ?"
"Ja, von deinem ... Krankenhaus da."
"Ach, das ist gar kein Problem. Ich habe mir einfach Urlaub genommen für drei Tage."
"Siehste", fühlt sich Rafa in seiner Einschätzung der Sachlage bestätigt. "Perfekt."
"Ich habe mir da offiziell freigenommen, und es kann auch sogar sein, daß mir das nicht als Fehltage abgezogen wird, wenn ich Glück habe."
"Siehste? Und, na - ist doch bestens, hm?"
"Ja, das ist genauso, wie es sein sollte. Das ist wunderbar. In der Inneren war es auch so, da haben sie mir die Fehltage nicht abgezogen, obwohl ich oft gefehlt habe, weil ich ja auch krank war damals."
Wir fahren in die Morgensonne hinein. Ich kuschle mich an Rafas Schulter. Er setzt seine Sonnenbrille nicht auf, und ich setze meine auch nicht auf. Das ist mir recht; so können wir uns in die Augen sehen.
"Im Krankenhaus ist es ja nun wirklich sehr interessant", erzähle ich. "Und es ist auch so, daß das Fach für mich interessant ist. Im OP gefällt mir das nicht so. Das Hakenhalten ist anstrengend. Da bin ich einmal fast umgefallen.
Zum Glück ist es bald vorbei, das PJ. Ich freue mich schon darauf. Und wenn sie mir die Fehltage nicht abziehen weiter, dann ist das PJ schon im August zuende und nicht erst im September. Und das ist schön; dann kann ich wieder, wenn ich Glück habe, im Institut weiterarbeiten und Geld scheffeln."
"Gefällt dir das nicht ... da?" fragt Rafa.
"Im Institut gefällt's mir besser", antworte ich ehrlich. "Da gefällt's mir besser als im Krankenhaus. Es ist wohl doch auch das Fach, das ich einfach interessant finde. Ich kann ewig lange zuhören, wenn jemand einen Vortrag hält, eine Fortbildung macht. Da haben wir jetzt erst wieder etwas über interessante Krankheitsbilder gelernt, über den Mesenterialinfarkt und über die akute nekrotisierende Pankreatitis. Das sind Krankheitsbilder mit hoher Letalität. Die haben bis zu achtzig Prozent Letalität bei dem Mesenterialinfarkt, um fünfzig ungefähr bei der nekrotisierenden Pankreatitis. Und immer wieder sehe ich dann auch die Leute mit den Spätfolgen vom Alkohol- und Zigarettenkonsum."
"Welche sind das denn?"
"Also, bei Zigaretten auf jeden Fall das Bronchial-Ca., das kriegen viele. Und bei Alkohol eben Hirnschäden und Leberschäden und Nervenschäden. Und da ... hatte ich natürlich gleich wieder einen bestimmten Gedanken im Hinterkopf."
"Und der wäre?"
"Ja ... mein Gedanke ist der, wieviel du eigentlich immer ... so rauchst und trinkst. Dein Konsum ... wenn ich das so beobachte ... zumindest an Zigaretten ... ist ziemlich extrem. Und da müßtest du doch wohl etwas reduzieren. Kokst du denn auch, wie Kappa das macht?"
"Weiß ich nicht."
"Und wenn, dann wieviel?"
"Weiß ich nicht."
"Ich mache mir halt Gedanken über deinen Drogenverbrauch."
"Koksen tue ich eher wenig."
"Und Alkohol dafür mehr."
"Das macht Spaß, sich so richtig vollaufen zu lassen."
"So, das findest du schön."
"Ja. Ist doch schön."
"Aber du gefährdest dich doch damit", wende ich ein. "Du machst dich doch damit kaputt."
"Also, irgendwann ist doch sowieso mal Schluß", erwidert Rafa. "Und ob man nun mit achtzig stirbt und hat immer gesund gelebt oder mit vierzig und hat richtig seinen Spaß gehabt ..."
"Also, dir macht das Spaß, dich so richtig vollaufen zu lassen."
"Ja."
"Das ist also das Schönste für dich, was es gibt."
"Nein, es gibt schon ein paar Sachen, die sind noch schöner. Aber es gehört zum Schönsten."
Ich streichle Rafa ein wenig und sage:
"Ich will nur nicht mitansehen, wie der Mann, den ich liebe, verfällt."
"He - noch lebe ich!" will er mich beruhigen. "Und ich bin ... gesünder als jeder andere ... ach nein, nicht unbedingt gesünder als jeder andere, aber doch so ... vom Gesundheitszustand noch ganz gut."
"Ja, aber ich möchte auch, daß das so bleibt, weißt du?" sage ich eindringlich. "Ich möchte das auch, daß das so bleibt."
Rafa erwidert darauf nichts.
Wir nähern uns den Ausfahrten zu den östlichen Stadtteilen von H. Ich muß an den Wirrwarr von Autobahnen, Zubringern und Schnellstraßen denken, der hinter Awb. liegt und in dem ich mich nicht besonders gut auskenne.
"Du hast ja auch ganz schön schnell zu mir gefunden", lobe ich Rafa. "Eine Dreiviertelstunde nur ..."
"Wie kommst du da jetzt drauf?"
"Es war für mich ja etwas umständlich, dir den Weg zu erklären, weil ich ja nicht Auto fahre."
"Na ja, aber ich bin ja nicht doof."
"Klar. Wir sind ja beide nicht doof."
"Nich'?"
"Bei dir habe ich immer den Eindruck, wenn du willst, kannst du fast alles."
"Oh", staunt Rafa, findet das aber gleich gar nicht mehr so besonders:
"Jemand, der etwas will, kann sowieso fast immer alles. Der Wille bahnt immer den Weg. Das hängt doch vor allen Dingen vom Willen ab."
Ich zeige Rafa, wie er fahren muß. Wir fahren zuerst zum Geldautomaten. Ich bleibe im Auto und sehe Rafa zu, wie er mit seinem schwarzen Mantel und dem Pferdeschwanz draußen herumläuft, und ich denke:
"Diese Bewegungen, diese Haltung, dieser Körper - genau das ist der Mensch, nach dem ich immer gesucht habe. Es stimmt jedesmal, so oft ich das auch nachprüfe."
Leise sage ich vor mich hin:
"Er ist so süß. Er ist so süß."
Rafa kommt freudig lächelnd zurück. Er setzt sich ans Lenkrad, gibt mir die fünfzig Mark wieder und sagt:
"Siehste, Karte funktioniert noch."
Wer weiß, wie er sich durchschlägt. Wer weiß, was er für Schulden hat. Wer weiß, was er wirklich verdient.
Ich lege wieder meinen Arm um seine Schultern und erkläre ihm den Weg bis zur Tankstelle. Im Tankstellenmarkt nimmt Rafa sich 'Pizza Crossa Salami', die wir schon im September hatten, außerdem Gouda und Zaziki.
"Zaziki ist gut", sagt er. "Zaziki ist nur geil."
"Igitt, Zaziki! Du wirst doch nicht etwa Zaziki nehmen!"
"Ah, 'türlich! Zaziki ist nur gut! Zaziki ist geil."
Er geht zielstrebig zum Getränkeregal und nimmt sich eine Flasche Multivitaminsaft. Ich nehme mir die gleiche Pizza, ein 'Pingu' und eine Milchschnitte aus dem Kühlfach und hole mir eine Flasche Grapefruitsaft. Rafa geht auf die Kasse zu. Ich frage ihn:
"Willst du nicht auch noch was zu knabbern haben?"
"Ich habe das noch nicht gefunden. Ich weiß nicht, wo es das hier gibt."
"Komm' mal mit", fordere ich ihn auf. "Komm' mal mit. Da vorne. Schau', schau' da in dem Regal, da ist das alles."
"Die", sagt er und nimmt zwei Tüten. "Ja, genau die sind das."
Ich nehme eine Tüte 'Milchfrüchtchen' aus Schaumzucker und Fruchtgummi. Dann nehme ich mir noch ein Schokoladenei von Lindt.
Wir zahlen jeder unsere eigenen Sachen. Dann gehen wir hinaus, zurück zum Auto. Ich greife nach Rafas Hemd und taste am Kragen und an den Biesen neben der Knopfleiste herum.
"He, was soll'n das?" fragt Rafa.
"Das faßt sich so schön an, diese ... das ist so hübsch, diese Abnäher in dem Hemd", erkläre ich.
Rafa parkt bei mir vorm Haus. Während ich meine Sachen zusammenraffe, geht er um das Auto herum und stellt sich vor die offene Beifahrertür. Ich bin noch nicht ausgestiegen. Der Zettel ist mir ins Auge gefallen, auf dem Rafa meine Wegbeschreibung festgehalten hat. Ich nehme ihn in die Hände und betrachte ihn.
"Brauchst du den noch?" frage ich Rafa.
Er verneint.
"Weil ich den nämlich gerne haben würde", erkläre ich.
"Nee, dann brauch' ich ihn noch", sagt Rafa schnell und nimmt mir den Zettel weg. "Dann brauch' ich ihn noch."
Im gleißenden Sonnenlicht gehen wir schwarzen, übernächtigten, zerrupften, lichtempfindlichen Gestalten zur Haustür.
In meinem Zimmer legt Rafa seinen Mantel in die linke Sofaecke. Die Tüte mit seinen Einkäufen wird an die Türklinke gehängt. Den Inhalt meiner Tüte stelle und lege ich auf den Eßtisch.
"Wenn du mich jetzt nicht lynchst, mache ich ein bißchen elektronische Musik an", sage ich. "Aber ist nicht sowas Hartes. Ich will dich ja nicht umbringen."
Auf der Kassette befinden sich wehmütige Stücke wie "My Animosity" von Mainesthai, "Programme not informatif" von SA 42 und "Desolation" von X marks the Pedwalk. Die Musik ist mal rhythmisch, mal ambient und trotz der Düsternis eingängig.
"Kann ich mal in deiner Videosammlung stöbern?" fragt Rafa artig.
"Aber bitte, aber gern", antworte ich. "Schau' dich nur um. Aber paß' auf, wenn du ans Videoregal gehst; da liegt nämlich noch die Rose von Rosen-Reesli."
"Wer ist Rosen-Reesli?"
"Ach, das ist Thorlev Rees."
"Und wer ist das?"
"Das ist der, der damals im 'Elizium' an alle Mädchen Rosen verteilt hat."
"Stört mich nicht, die Rose."
"Am Freitag, dem 03. März kommt 'Dracula' mit Bela Lugosi. Den muß ich mir 'reintun."
"Ich finde den gar nicht so besonders", meint Rafa. "Viel besser ist 'Im Zeichen des Vampirs'."
"Den kenne ich. 'Mark of the Vampire'. Den habe ich auch auf Video."
"Der ist nur geil."
"Da spielt der Lugosi gar keinen echten Vampir. Das ist alles nur Schau."
"Eben - Vampire sind ja auch nicht echt."
Rafa ist begeistert von dem Regal voller Kassetten, das bis zur Decke reicht. Einen Film nach dem anderen sortiert er sich heraus. Er kauert von dem Regal und meint:
"Ich habe es noch nie erlebt, daß jemand so viele gute Filme auf einem Haufen hat."
"Mensch, dann habe ich ja voll deinen Geschmack getroffen."
"Das hast du allerdings."
"Oh ja, Mensch, das finde ich ja schön, daß das so harmoniert."
"Solltest eine Videothek aufmachen."
Während Rafa mit den Videos beschäftigt ist, schaffe ich Ordnung in der Wohnung. Unaufhörlich redet Rafa mit mir. Mal möchte er etwas wissen, mal hat er etwas entdeckt, das ihm merkwürdig vorkommt. Weil ich nicht dauernd anwesend bin, kann ich Rafa manchmal nicht verstehen. So kommt es, daß ich zwischen der Wäschekammer und den übrigen Räumen hin- und herrenne. Sooft ich zu Rafa gehe, lege ich die Arme um seine Schultern und streichle ihn. Er fordert mich wie ein Kind, das nie alleingelassen werden will und immer Tuchfühlung braucht.
Rafa holt sich den Aschenbecher aus dem Ständer in meinem Zimmer, den er schon kennt. Vor dem Videoregal stellt Rafa den Aschenbecher auf einen Gossenwürfel und legt eine Chipstüte von der Tankstelle daneben. Jetzt kann er rauchen, futtern und in aller Ruhe nach Videos suchen.
"Ich muß da einige Bänder mitnehmen", kündigt er an. "Hast du gehört? Ich muß da einige Bänder mitnehmen."
"Ja, ist gut, nimm' die dir mit."
Kassette um Kassette zieht Rafa aus dem Regal.
"Ach, jetzt legt der die alle in den Werkzeugkasten, ist das süß", sage ich entzückt, als ich wieder einmal nach ihm sehe. "Du hast dir aber viele Kassetten 'rausgesucht. Oh Mann, das sind aber ganz schön viele."
"Ja, habe ich dir ja gesagt."
Rafa stellt fest, daß ich einige Filme doppelt habe. Ich erzähle ihm, daß ich Filme, die mir besonders wichtig sind, zur Sicherheit zweimal aufnehme.
"Was heißt 'Ekel OF'?" fragt Rafa.
"Das ist die Originalfassung", erkläre ich. "Das ist alles auf englisch. 'Ekel' ist einer der besten Filme überhaupt. 'Ekel' von Polanski."
"Den habe ich noch nicht gesehen."
Rafa möchte den Film gern auf deutsch haben. Er sucht, bis er ihn findet.
"Darf ich dich denn jetzt mal fotografieren?" frage ich.
"So? Hier?" kommt es etwas verwundert und verschreckt von Rafa.
"Ja, warum nicht?" entgegne ich. "Sicher. Klar."
"Aber - oh, nee, das ist blöd."
"Wieso? Ich finde, das paßt ganz gut."
"Wieso paßt das?"
"Weil du die Kassetten doch so faszinierend findest. Nun, darf ich dich fotografieren?"
"Weiß ich nicht."
"Na gut, dann mach' ich's", beschließe ich. "Constri macht das bei ihrem Derek auch einfach. Sie geht dann auch einfach mit der Kamera hinterher und knipst ihn. Der läßt sich auch immer nicht gerne fotografieren. Der will auch immer vor der Kamera weglaufen."
"Oh!" ruft Rafa. "Oh nee, dann lieber nicht! Nee, nee, jetzt nicht! Nicht fotografieren!"
Ich hole die Kamera hervor.
"Oh, ich darf dich also nicht fotografieren, hm?" säusele ich bedauernd vor mich hin. "Darf ich dich nicht fotografieren, hm?"
"Weiß ich nicht."
"Gut, dann mach' ich das jetzt. So. Also."
Ich stecke den Blitz auf und mache die Kamera einsatzbereit. Dann lege ich auf Rafa an.
"So!" sage ich ermunternd. "Hergucken!"
"Gibt's nicht!"
Zuerst bekomme ich Rafa nur von hinten aufs Bild, weil er sich nicht vom Regal wegwenden mag. Als er sich dann doch umdrehen muß, um Kassetten in der Werkzeugkiste zu sammeln, wehrt er sich gegen die Überfälle mit der Kamera:
"Oh, nicht! Nicht einfach ..."
Ich mache viele Bilder, damit wenigstens einige von ihnen etwas werden. An sich stimmt die Kulisse. Sie enthält vorwiegend die Farben Schwarz, Weiß und Rot, dazu noch Grau. Rafa ist in den Farben Schwarz, Weiß und Rot gekleidet.
Meistens verdeckt er sein Gesicht mit Videokassetten. Allmählich verliert er jedoch ein wenig die Scheu vor der Kamera. Er findet sogar Gefallen daran, mit Videokassetten in den Händen zu posieren. Da funktioniert mit einem Mal der Auslöser nicht mehr.
"Oh, was ist jetzt los?" frage ich erschrocken. "Ich glaube, die Batterie ist ausgelutscht."
Das ist für Rafa ein Grund zu wahrer Freude.
"Brauchst dich also nicht zu sorgen", meine ich. "Der Fotoapparat geht eh nicht."
Ich stelle fest, daß ich immer, wenn ich den Apparat kurz ausschalte, anschließend wieder ein Bild machen kann. So kommen wengistens noch einige Bilder zusammen.
"Laß' dir ruhig Zeit", sagt Rafa, als ich das Essen machen will. "Das kann länger dauern."
"Na, dann hast du ja genug Beschäftigung. Dann habe ich ja das richtige Spielzeug für dich."
"Na ja, Spielzeug ..."
"Du könntest dich sechs Wochen lang in der Wohnung aufhalten, ohne dich im Entferntesten zu langweilen."
"Ja."
Es gibt noch reichlich Hausarbeit zu tun für mich. Rafa sagt häufig etwas zu mir, auch wenn ich ihn beim Hin- und Herlaufen nicht immer verstehen kann. Ich versuche ihn ein bißchen zu bremsen.
Rafa erkundigt sich nach Edgar-Wallace-Verfilmungen. Ich erzähle ihm, daß ich "Die seltsame Gräfin" habe. Rafa kennt den Film noch nicht.
Im Gegenzug fragt er, ob ich "Der Fan" mit Desirée Nosbusch kenne. Rafa findet den Film sehr wichtig und möchte ihn mir aufnehmen.
"Sind deine Videokassetten irgendwie geordnet?" fragt Rafa, als ich gerade in der Küche bin.
"Nein, die sind überhaupt nicht geordnet", gebe ich Auskunft. "Die sind völlig durcheinander. Ich habe die nicht sortiert."
"Ich bring' da nämlich voll das Chaos 'rein", gesteht Rafa.
"Ach, das Chaos war schon vorher da", kann ich ihn beruhigen. "Man sieht es nur nicht. Bei mir ist das Chaos unsichtbar. Sieht nur ordentlich aus, ist aber nicht ordentlich."
"Wenn, dann mach' ich jetzt Chaos."
"Ach, da kann man schon gar kein Chaos mehr 'reinbringen; das ist schon völlig chaotisch."
Der Backofen scheint stärker zu heizen als gewöhnlich. Ich gehe zu Rafa hinüber und melde Besorgnis wegen seiner Pizza an:
"Oh, ich hoffe, die ist noch nicht zu weit."
"Pack' mal in die Mitte 'rein", rät er. "Wenn sie warm ist, ist sie fertig."
"O.k., das mach' ich mal."
Ich will es tun, aber die Pizza ist in der Mitte schon zu heiß zum Berühren.
"Du, guck' dir mal die Pizza an", bitte ich Rafa. "Ich hoffe, die ist noch nicht zu weit."
Rafa folgt mir zum Backofen und wirft einen Blick hinein.
"'türlich!" urteilt er. "Wenn die hier braun ist, ist die zu weit."
"Ob man die noch essen kann?"
Rafa zuckt mit den Schultern und nickt.
Ich lasse in der Eßecke die Jalousie hoch.
"Da vorn ist dein Stuhl", sage ich zu Rafa. Das weißt du ja noch."
"Mein Stuhl?"
"Ja, sicher. Ich habe dich doch damals gefragt, wo du sitzen willst, und du hast gesagt, am Fenster."
Ich nehme die Pizza für Rafa zuerst aus dem Ofen und stelle sie auf den Tisch. Während ich meine Pizza aus dem Backofen hole, fragt Rafa nach einem Mülleimer. Er hat alle Oliven von seiner Pizza heruntergeholt. Ich lasse mir die Oliven geben, weil ich sie gern mag, und lege sie auf meine Pizza.
Ich betrachte Rafas Pizza und sage wieder:
"Echt, ich hoffe, die ist noch nicht zu weit."
"'türlich ist die zu weit", findet Rafa und sticht mit der Gabel hinein. "Aber die geht noch. Die kann man noch essen."
"Gott sei Dank."
Ich entdecke einen weißen Fussel auf Rafas Weste und nehme ihn weg; es ist ein Stück von einem Aufkleber, der Videokassetten beiliegt. Bei der "Nachtlicht"-Eröffnung hätte ich so etwas auch gern getan und konnte es nicht.
Bisat setzt sich auf den Hocker von Carl. Ich erzähle Rafa, daß Bisat meistens auf Carl Platz nimmt, wenn er zugegen ist.
"Bisat mag mich wohl nicht, hm?" befürchtet Rafa.
"Doch", versichere ich. "Das weißt du doch, daß der dich mag. Du hast das doch damals selbst gesagt, als er dich begrüßt hat damals."
"Katzen lasse ich immer in Ruhe", meint Rafa. "Ich finde das blöd, dieses Streicheln und Kraulen. Die Katzen sind eben da; um die kümmere ich mich gar nicht weiter."
"Du hast dich immerhin schon mit Bisat unterhalten."
"Habe ich das?"
"Ja, beim letzten Mal, da hast du dich mit Bisat unterhalten."
Nach dem Essen räume ich ab. Rafa stellt fest, daß sein Feuerzeug nicht funktioniert.
"Hast du Benzin?" fragt er.
"Ich habe ein Feuerzeug", kann ich ihm anbieten. "Da vorne liegt es."
"Ich will aber kein Feuerzeug. Ich will dieses hier nachfüllen. Mich ärgert das, wenn das immer gerade dann nicht geht, wenn ich's brauch'. Hast du wirklich kein Benzin?"
"Nein, ich habe kein Benzin."
Bisat steht vor Carls Zimmertür und maunzt.
"Was will dein Miez?" fragt Rafa.
"Ach, der will nur in Carls Zimmer."
"Und? Warum läßt'n nicht 'rein?"
"Ach, dann vergeß' ich ihn da. Das Zimmer ist leer, und dann, am Ende, vergeß' ich ihn da noch, weil ich da sonst sowieso nicht 'reingehe."
"Hört der auch, wenn man ihn ruft? Hört der auf seinen Namen?"
"Er weiß schon, wie er heißt."
"Kommt er denn, wenn man jetzt ihn ruft?"
"Der kommt nur, wenn er will."
Rafa kann nicht damit aufzuhören, sich über sein Feuerzeug zu ärgern. Ich biete ihm noch einmal mein silbernes an.
"Ich will kein anderes Feuerzeug", sagt er trotzig. "Ich will Benzin für mein Feuerzeug."
"Ich habe aber kein Benzin, wirklich nicht. Ich habe Brennspiritus, aber kein Benzin."
"Brennspiritus geht nicht."
"Eben, das dachte ich mir."
Rafa zündet sich die Zigarette an dem Teelicht an, das auf dem halben hantelförmigen Pflasterstein brennt. Ob er ahnt, was es mit diesem Licht auf sich hat? Ob er ahnt, daß es ein Opferlicht ist, sein Ewiges Lichtlein?
Ich schwärme von Industrial-Musik:
"Das sind Rhythmen, die einen zerlegen. Der Rhythmus scheucht einen regelrecht. Du tanzt ja nun fast gar nicht mehr."
"Na, ich muß ja Musik machen", entgegnet Rafa. "Da kann ich ja nicht tanzen."
"Natürlich, ein Rollenwechsel ist das schon. So erkläre ich mir das auch. Na ja, du machst ja nicht immer Musik. Und im 'Elizium' tanzt du ja auch fast nicht."
"Weil da die Musik zu schlecht ist."
"Die Musik ist hervorragend. Außerdem - früher hast du im 'Elizium' oft getanzt."
"Ja, früher, da war ich noch nicht so weit vorn in der Zeit. Da war ich ein ganz normaler Disco-Gänger und habe zu dem getanzt, was so im Schwange war. Und deshalb habe ich auch öfter tanzen können."
"Und jetzt bist du weiter vorne? Dann bin ich aber noch weiter vorne als du. Pierrepoint ist Musik von übermorgen."
"Ich glaube nicht, daß du weiter vorn bist als ich", meint Rafa. "Ich kenne mich mit den Veröffentlichungen gut aus."
"Du kennst die neuen Sachen zwar, aber du spielst sie nicht."
"Weil keiner danach tanzt."
"Wenn im 'Elizium' Esplendor Geometrico läuft, ist die Tanzfläche voll."
"Das kenne ich nicht."
"Siehst du - dann bin ich doch weiter vorne als du, in zweifacher Hinsicht: erstens kenne ich Sachen, die du nicht kennst, und zweitens weiß ich, daß die Leute dazu sehr wohl tanzen. Und außerdem ist es eben nicht so, daß man ein Stück spielen kann, neu eingeführt, und wenn die Leute nicht tanzen, daß man dann einfach sagen kann, geht nicht, die Leute tanzen nicht. Sondern man muß das Stück eben immer wieder und wieder spielen, und irgendwann gewöhnen sich die Leute ja auch dran."
"Das weiß ich."
"Zum Beispiel 'Tiempo' von Calva y Nada - das wünschen wir uns jetzt öfter im 'Elizium'."
"Ich versuche gerade, so Sachen wie 'Hello hello' von Lars Falk zu etablieren."
"Eben, und das mag ich nicht. Das ist ja eher dein Stil."
"Ich würde nicht sagen, 'mein Stil'. Das ist kein Stil, eher eine Phase."
"Da hast du eigentlich recht, daß es eher eine Phase ist. Das ist schön; dann kann es sich auch mal ändern."
"Ich kann diese Pseudos mit diesen verzerrten Stimmen nicht leiden."
"Dive ist kein Pseudo, und Esplendor Geometrico sind das auch auf keinen Fall", verteidige ich Industrial. "Esplendor Geometrico sind eine sehr elegante Band."
"Ich habe mal ein Konzert gesehen von Cat Rapes Dog, als ich die noch gut fand", erzählt Rafa. "Da war so ein siebzehnjähriger Sänger, und der hatte seine Stimme verzerrt. Erst habe ich gedacht, ist das toll, wie jemand so singen kann. Und dann habe ich gehört, wie der Sänger mit seiner echten, normalen Stimme eine Ansage gemacht hat. Und das hat so lächerlich geklungen ..."
"Aber du verzerrst deine Stimme ja selbst."
"Stimmt - ich verzerre meine Stimme selbst. Echt, nicht mit Verzerrer. Ich mache das selbst."
"Deine Stimme klingt viel schöner, wenn du sie nicht verzerrst."
"Ich verzerre ja auch immer weniger. Aber es ist leichter, zu singen, wenn man verzerrt."
"Deine Stimme klingt viel leichter, wenn du sie nicht verzerrst."
"Es ist aber leichter, zu singen, wenn man herumschreit."
"Das glaube ich dir. Aber es klingt jedenfalls viel hübscher, wenn du richtig singst."
"Ja, ich verzerre ja auch immer weniger."
"Üben!" mahne ich. "Üben!"
"Mach' ich ja auch."
Rafa will sich noch eine Zigarette anzünden.
"Hast du denn wirklich kein Benzin?" fragt er wieder.
"Nein, ich habe keins", sage ich fest.
Da nimmt Rafa endlich mit meinem silbernen Feuerzeug vorlieb.
"Willst du duschen, bevor ich geduscht habe?" frage ich etwas später.
Rafa winkt ab:
"Nein, das mache ich nachher zu Hause."
"Ach, du willst nicht duschen?" frage ich nach.
"Nein!"
"Oh, jetzt hatte ich dich gar nicht ausgezogen", bedaure ich. "Ich hätte dich so gerne noch ausgezogen."
"Und dann?" fragt Rafa.
"Ach, ich finde es einfach schön, mit dir im Bett zu liegen", sage ich schwärmerisch. "Und da du mir sowieso am besten gefällst ohne Kleider ... oder doch zumindest in minimaler Bekleidung ..."
"Und dann?" fragt Rafa wieder.
Er sieht mich mit einem vieldeutigen Blick an, gerade, als warte er auf etwas. Ich schaue zu Boden und zucke mit den Schultern.
"Tja", sage ich nachdenklich. "Weiß ich nicht."
Rafa scheint immer noch zu glauben, daß ich ihn nur enttäuschen will und ihn absichtlich zurückweise. Ich stelle mich hinter seinen Stuhl und schließe die Arme um ihn.
"Echt, du faßt mich an, wie man einen Hund anfaßt", beschwert sich Rafa.
"Aber du bist für mich kein Hund", entgegne ich leidenschaftlich. "Du bist ein Mensch. Und ich fasse dich nicht an wie einen Hund, sondern wie einen Menschen."
"Wohl faßt du mich an wie einen Hund. So faßt man doch Haustiere an."
"Das weiß ich, daß du ein Mensch bist", sage ich und umarme und streichle Rafa weiter. "Du bist ein Mensch, und ich bin ein Mensch, und deshalb fasse ich dich auch nicht an wie ein Tier."
"So, du wolltest noch 'Die seltsame Gräfin' suchen", wechselt Rafa zu einem sachlichen Thema.
Er steht auf und geht zum Fernseher. Ich stelle mich vor ihn und nehme ihn in die Arme.
"Siehst du", sage ich, "so umarme ich einen Menschen. So umarme ich kein Tier."
"Guck' mal, das ist doch schon mal viel zu -", beschwert sich Rafa. "Du nimmst mir ganz die Bewegungsfreiheit."
"Das soll doch so sein beim Umarmen", erwidere ich. "Du nimmst mir ja auch die Bewegungsfreiheit, wenn du mich umarmst, und so soll es ja auch sein."
"Guck' mal, das ist jetzt schon viel zu - viel zu hoch. Weiter unten ... tief ..."
Ich umarme ihn in der Taille, doch auch das paßt ihm nicht. Immer stört ihn etwas.
"Das ist doch gar nicht so einfach, nicht?" sagt Rafa schließlich, und es klingt wie eine Entschuldigung.
"Ich weiß, du bist ein Mäkelkind", kann ich aus Erfahrung bestätigen. "Das ist ganz schön schwer, dir was rechtzumachen."
Ich greife nach Rafas Arm und lege ihn um meine Taille. Er läßt es geschehen, tut aber von sich aus nichts.
"Dann mach' mir doch mal vor, wie man richtig umarmt", fordere ich ihn auf. "Zeig' mir doch mal, wie man deiner Meinung nach richtig umarmt."
"Nö."
"So, jetzt sagst du mir bitte mal, wie ich dich umarmen soll", verlange ich. "Jetzt will ich's wirklich genau wissen. Wie soll ich es denn machen, so daß es richtig ist?"
"Weiß ich nicht."
"Das weißt du nicht ... also, das mußt du doch wissen ..."
Rafas Blick fällt auf die Vergrößerung des Schwarzen Peters, den ich von Constri bekommen habe. Das Bild hängt über dem großen Flurspiegel. Rafa liest vor, was Constri meinem Schwarzen Peter in den Mund gelegt hat:
"'Ganz in Weiß'."
"Ja, kennst du doch; das hat meine Schwester gemalt. Das ist die Spielkarte."
"Bin ja auch wirklich der Schwarze Peter", sagt Rafa, während er ins kleine Zimmer hinübergeht, wo die Videokassetten liegen. "Ich heiß' ja auch Peter."
"Ja. Und meine Schwester, die wußte das. Deshalb hat sie das so gemacht."
"Die seltsame Gräfin" finde ich im Videoregal nach wenigen Augenblicken. Den ehrgeizigen Rafa sticht es, daß er die Kassette übersehen hat.
Ich ziehe die Jalousie in der Eßecke herunter und gehe in die Dusche. Dann schlüpfe ich wieder in mein weißes Seidennachthemd. Als ich im Bad fertig bin, stapelt Rafa die Kassetten, die er sich ausleihen will, im Flur neben dem Telefon. Zwei gleich hohe Stapel macht er und zählt die Kassetten auf dem ersten; er kommt bis neun.
"Und, wieviele sind das dann?" fragt er mich.
"Achtzehn."
"Genau. Was willst du denn dafür?"
"Die kann ich dir ja so ausleihen."
Nicht nur die Kassetten darf Rafa mitnehmen. Ich habe noch etwas für ihn. Es ist ein Bild in meinem Fotokalender, von dem er einen Abzug haben wollte. Dieses Bild gehört zum Monat Februar und hängt im Kalender gerade vorn. Ich zeige Rafa das Kalenderbild.
"Hier, das ist das", sage ich. "Das hat dir gefallen."
"Ja, das ist cool."
"Und den Abzug habe ich machen lassen, und den kriegst du jetzt."
"Ist auch merkwürdig, daß wir gerade Februar haben", meint Rafa nachdenklich.
Ich suche den Abzug heraus und gebe ihn Rafa.
"Das gehört dir", sage ich und gebe ihm den Abzug.
"Was willst du dafür?" fragt er.
"Nichts", antworte ich. "Aber du kriegst noch eine schöne Fototasche, damit ihm nichts passiert."
Rafa setzt sich mit der Fernbedienung in der Hand auf seinen Stuhl. Er schaut kurz in "Woyzek" hinein und beschließt, den Film mitzunehmen. Dann schaltet er quer durch die Kanäle und erwischt ein grellbuntes Popvideo.
"Ist das nicht Igna Humpe?" fragt Rafa.
"Inga Humpe?" berichtige ich. "Ich weiß es nicht."
Rafa rätselt und rätselt. Ich lege die Arme um seine Schultern und gucke mit ihm in die Röhre. Ich kann mich an das Gesicht von Inga Humpe kaum noch erinnern; das letzte Bild von ihr habe ich irgendwann in den Achtzigern gesehen. Sie war blond. Die Frau in dem Video hat eine rotgefärbte Kurzhaarfrisur. Ich empfinde alles Rotgefärbte als störend, solange die Sängerin von Rafa mir im Wege ist. Ich möchte, daß Rafa umschaltet, doch er will unbedingt noch die Titelanzeige sehen. In der wird aber nur der Name einer Band angegeben; es kann sich also höchstens um ein Projekt handeln, an dem Inga Humpe beteiligt ist.
"Ich fasse dich also an wie ein Tier, nicht wie einen Menschen?" komme ich auf Rafas Vorwurf zurück.
"Ja."
"Du bist aber ein Mensch, und ich fasse dich auch an wie einen Menschen", verteidige ich mich.
"Nein", widerspricht Rafa. "Das ist doch voll der Lassie-Griff."
"Ich fasse dich sehr wohl an wie einen Menschen. Das lasse ich mir nicht anhängen. Das auf keinen Fall. Ich streichle dich wie einen Menschen, und ich umarme dich wie einen Menschen."
"Ja, umarmen - umarmen vielleicht", gesteht Rafa mir zu.
Er schaltet nach dem Stück immer noch nicht um, denn die Sparks erscheinen und singen und spielen ihren Hit, den Xentrix so gerne mag. Ich möchte nicht ewig über Rafas Rücken gebeugt stehenbleiben. Ich finde es bequemer, Rafa im Liegen zu umarmen.
"Wollen wir nicht ins Bett gehen?" schlage ich vor.
"Nein, ich will nicht", wehrt Rafa ab. "Dann schlaf' ich ein."
"Aber es ist doch erst zehn. Wir können doch ruhig schön ins Bett gehen."
"Nein, dann schlaf' ich ein."
"Ja, dann hole ich wieder die Kamera", drohe ich. "Dann wollen wir mal sehen, wie du wegläufst."
Ich stelle mir einen Stuhl neben den Fernseher und setze mich mit der Kamera dorthin. Jetzt kann Rafa die Mattscheibe nicht ansehen, ohne der Kamera das Gesicht zuzuwenden. Damit ich nicht friere, habe ich mir mein Bettjäckchen übergezogen.
Rafa hält sich die Hände vors Gesicht. Zwischen den Händen hindurch schaut er zum Fernseher.
"Ich stell' nur scharf", sage ich. "Ich mach' gar nichts. Ich stell' nur scharf."
Ich setze die Kamera ab. Da blickt Rafa schelmisch zwischen seinen Händen hervor. Eilig nehme ich die Kamera wieder hoch und sage theatralisch:
"Oh, er guckt mich an! Er guckt her! Ich seh' ihn ganz genau! Oh, jetzt mußt du dich aber konzentrieren ... darfst bloß nicht die Hände wegnehmen ... mußt aufpassen ... mußt aufpassen ... nicht, ja nicht die Hände wegnehmen ..."
Rafa muß lächeln. Ich bekomme dieses Lächeln nicht aufs Bild, weil der Auslöser versagt. Also rede ich weiter:
"Ah, Vorsicht, bloß nicht hergucken! Bloß nicht die Hände wegnehmen! Oh, aufpassen, aufpassen ..."
Da muß Rafa wieder lächeln, und ich drücke ab.
"Ein Lächeln!" rufe ich erfreut. "Wunderbar! Ein Lächeln!"
Rafa wird es mit den Händen wohl zu unbequem. Er versteckt sein Gesicht hinter Videokassetten, mal einer, mal zweien. Manchmal hält er zwei Kassetten übereinander und sieht durch den Schlitz dazwischen. Manchmal macht er aus zwei Kassetten einen Tunnel, durch den er fernsieht. Manchmal nimmt er auch die Kassetten weg, und ich muß versuchen, sein Gesicht zu erhaschen. Die fast leere Batterie der Kamera macht mir ein rechtzeitiges Reagieren nahezu unmöglich. Rafa scheint das Spiel zu gefallen. Er macht sich einen Spaß daraus, hinreißend in die Kamera zu lächeln und dann wieder sein Gesicht zu verbergen, ehe der Auslöser tut, was ich will.
Nach einer Weile legt Rafa die Videokassetten auf den Tisch und macht sich aus der Fernbedienung einen schwarzen Augenbalken.
"Los, ich will die Augen sehen!" befehle ich. "Zeige deine Augen!"
Das Spiel geht weiter, bis es mir genug ist.
"So, jetzt könnten wir eigentlich langsam mal ins Bett gehen", schlage ich vor.
"Dann bring' erstmal die Kamera weg", fordert Rafa.
"O.k. Dann bringe ich jetzt die Kamera weg, und dann sehen wir weiter."
"Ja - dann seh' ich weiter fern", verdreht Rafa meinen Satz.
"Gut, dann mach' ich weiter."
Ich setze mich wieder mit der Kamera auf den Stuhl und mache noch mehr Bilder.
"Aufpassen!" warne ich. "Oh, jetzt mußt du aber aufpassen, daß ich dich nicht aufs Bild kriege! Oh! Bloß nicht lachen! Das ist so herrlich; wenn ich das meiner Schwester erzähle, die lacht sich tot."
Schließlich lege ich die Kamera endgültig aufs Bügelbrett und gehe mit energischen Schritten auf Rafa zu.
"So, das Sandmännchen hat schon gerufen", mahne ich.
"Ich habe seit über vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen", erzählt Rafa.
"O.k., dann wird es ja Zeit, daß du ins Bett kommst", stelle ich fest. "Dann wird es allerhöchste Zeit, daß du ins Bett kommst."
"Ich will mich aber nicht ins Bett legen."
"Jetzt habe ich dir so viele Kassetten ausgeliehen. Jetzt kannst du dich ja auch mit mir ins Bett legen."
"Was 's'n das für'n Handel?"
"Das ist kein Handel. Aber es könnte sich dadurch ja ausgleichen."
"Natürlich ist das ein Handel."
"So, jetzt machen wir einen Ausmachversuch", kündige ich an.
"Was - was machst du da?" fragt Rafa verwirrt, als er sieht, wie ich mich dem Fernsehapparat nähere.
"Einen Ausmachversuch", wiederhole ich. "Mal sehen, was passiert, wenn ich den Fernseher ausmache."
Ich schalte den Fernseher aus. Dann gehe ich wieder zu Rafa und lege meine Arme um ihn.
"So, jetzt wollen wir mal ins Bett gehen", sage ich auffordernd.
"Will aber gar nicht ins Bett gehen", wehrt sich Rafa.
Er gähnt.
"Oh, du bist so müde; du mußt sich doch jetzt mal schlafen legen", sage ich freundlich. "Komm', jetzt gehen wir mal ins Bett. Es ist doch erst zehn Uhr."
"Ich will aber nicht ins Bett."
"Ich will aber ins Bett. Komm', dann setz' dich doch wenigstens zu mir."
"Gut, dann komm' ich nochmal mit und setz' mich zu dir."
Rafa folgt mir in mein Zimmer.
"Ganz schön hell hier", findet er.
Das Sonnenlicht wird durch die weiße Jalousie kaum gedämpft. Als ich die dunkelgrauen Vorhänge zuziehe, wird das Zimmer gleich viel schattiger.
Rafa macht Anstalten, sich aufs Sofa zu setzen. Damit bin ich nicht einverstanden.
"Da, auf die Bettkante", bestimme ich und ziehe ein wenig an ihm. "Komm', auf die Bettkante."
"O.k. - Ascher ..."
Rafa sammelt seine Utensilien, den Aschenbecher, die Zigaretten, den Multivitaminsaft, das Glas und mein silbernes Feuerzeug. Die Sachen kommen auf eine Ablage in der Nähe des Fußendes.
Rafa will die Hoffnung immer noch nicht aufgeben:
"Und du hast wirklich kein Benzin?"
"Nein, ich habe kein Benzin, wirklich nicht."
"Also, was ist denn jetzt mit dem 'Fan' mit Desirée Nosbusch?" fragt er ungeduldig. "Kennst du den Film jetzt oder nicht?"
"Ich kenne den nicht."
"Werde ich dir mal aufnehmen. Vielleicht findest du den auch erstmal ganz schön bescheuert. Mußt du vielleicht ein paarmal ansehen. Na ja, vielleicht magst ihn ja doch. Ich muß mich ja auch irgendwie dafür revanchieren, daß du mir so viele Kassetten ausleihst."
Rafa nimmt am Fußende Platz.
"Du bist echt schon so 'ne verrückte Marke, ey", seufzt er.
"Komm'", fordere ich ihn auf, während ich unter die Decken schlüpfe. "Komm' mal weiter ans Kopfende."
Ich rucke ein wenig an Rafa.
"Du behandelst mich wie einen Hund", beschwert er sich. "So - 'Hund, komm' her!' und so."
"Gar nicht; ich behandle dich überhaupt nicht wie einen Hund. Ich behandle dich wie einen Menschen, jawohl."
"Nein, ganz genau - 'Komm', hierher, komm' hierher!'"
Rafa legt sich zurück, quer über das Bett. Damit er das Glas und die Flasche auf der Ablage nicht umstößt, hat er beides ein wenig zur Seite geschoben. Er sieht sich die Bilder über dem Sofa an. Noch immer beschäftigen ihn die Aufnahmen von ihm selbst, die Laura mir verschafft hat.
"Wie findest du denn das zweite Bild?" fragt er.
"Welches denn jetzt?"
Rafa beschreibt mir etwas umständlich, was für ein Bild er meint. Es ist eines, auf dem er so stark geschminkt ist, daß er wie ein Puppenjunge aussieht. Mit unschuldig-sinnlichem Blick guckt er in die Kamera. Seine Haare sind zum Teil geweißt oder gebleicht und hängen ihm ins Gesicht.
"Oh, das finde ich ganz hübsch", sage ich.
"Das bin ich mit ... hochgestellten Haaren", erklärt Rafa, und aus seiner Stimme spricht der Stolz auf seine Schmink- und Frisierkünste.
Ich habe gewisse Einwände:
"Also, am schönsten finde ich dich ja mit so leicht toupiertem Pony, nur wenig geschminkt und ... Pferdeschwanz, und daß man von deinem Gesicht möglichst viel sieht. Auf dem Bild sieht man das Gesicht nicht so gut. Einmal ist es wegen der Schminke, und dann ist es auch stark überbelichtet. Und dann wirkt das so glatt; da fehlen dann die Besonderheiten, die Eigenheiten, die Konturen des Gesichts. Ich finde es immer wichtig, daß man das Typische, das Besondere an deinem Gesicht sehen kann. Das kann man auf dem Bild leider nicht so gut sehen. Aber ich finde die Bilder alle hübsch."
"Na ja ... bis auf das obere ... das ... äh ..."
Das obere Bild hat mir so gefallen, daß ich es als vergrößerte Farbkopie noch ein zweites Mal aufgehängt habe. Man sieht Rafa im Profil. Er trägt seinen Talar und hat den Mund offen, weil er redet, redet, redet ...
"Das finde ich ganz besonders hübsch", meine ich.
Rafa versteht das nicht:
"Was findest du daran hübsch?"
"Na ja, es zeigt dich in einer typischen Pose. Du gestikulierst und redest, redest, redest, redest."
"Wieso? Ich rede nicht viel", behauptet Rafa.
"Oh, doch", widerspreche ich. "Du redest sehr viel. Das ist immer so herrlich, dir zuzuschauen beim Reden. Du redest dann und gestikulierst und redest und redest und redest. Das ist einfach herrlich, dabei zuzuschauen. Zum Beispiel damals, vor einem Jahr im 'Elizium', wie du da den Revco vollgelabert hast.
'Du schaffst das schon'", ahme ich nach, wie Rafa mit schwerer Zunge verhandelte. "'Du kriegst das schon hin. Du schaffst das schon. Du kriegst das schon hin. Du kriegst das schon hin.'
Du warst schon völlig besoffen und hast dem immer auf die Schulter geklopft.
'Du schaffst das schon.'"
"Wann war das?" fragt Rafa. "Da kann ich mich nicht dran erinnern. Davon weiß ich nichts. Wie? Das habe ich doch nicht zu ihm gesagt."
"Doch, doch, das hast du gesagt. Das weiß ich noch ganz genau. Der Revco, der wollte dich irgendwo als Unterstützung haben. Das war eine Sache, wo er glaubte, die nicht allein bewerkstelligen zu können, wo er dich irgendwie dabeihaben wollte.
'Ich schaff' das nicht!' hat er immer gesagt. 'Ich schaff' das nicht! Nein, nein, ich schaff' das nicht, ich schaff' das nicht!'
Und dann hast du immer gesagt:
'Duu schaffst das schon ... jaa, du schaffst das schon ...'"
"Da weiß ich aber nichts mehr von. Da muß ich aber sehr breit gewesen sein."
"Das kann durchaus sein, daß du da einen Filmriß hattest. Breit genug bist du gewesen. Und der Revco ... der immer so voll hinter dir her ... 'Wo ist Rafa? Wo ist Rafa?'"
Rafa scheint diese Geschichte ziemlich zu erheitern.
"Der Revco, der wollte mir ja mal ein Geheimnis über dich verkaufen", fahre ich fort.
"Über mich gibt es keine Geheimnisse!" kommt es da von Rafa.
"Oh, ich denke schon, daß es über dich einige gibt", entgegne ich. "Zumindest hat Revco mir eins verkaufen wollen. Er wollte, daß ich ihm dafür alles sage, was ich über dich weiß."
"Was, sowas kann man doch nicht verkaufen!"
"Ja, das war so, daß Revco behauptet hat, er wüßte was über dich, was keiner weiß, und das wäre das Geheimnis und so weiter, und da habe ich gesagt, wenn er mich schon so neugierig macht, dann könnte er es mir auch sagen. Da hat er gemeint:
'Is' gut - dann sag' mir alles, was du über Rafa weißt. Dann sag' ich dir das, was ich weiß.'
Und dann, als ich beschlossen hatte, mich auf diesen Handel nicht einzulassen, hat Revco auch schon nicht mehr mit mir geredet."
"Was soll'n das? Über sowas kann man doch nicht handeln."
"Kann man auch nicht. Mein' ich ja."
"Ich kann ... mir schon denken, was es eventuell gewesen sein könnte."
"Kannst du es mir denn dann sagen?"
"Nein, das erzähle ich dir nicht."
"Warum denn nicht?"
"Ach, das ist eigentlich nur so eine alte Sache ... die könnte der wissen ... ja, vielleicht war es das ..."
"Dann sag' es mir doch mal."
"Nein, vielleicht war es das auch nicht; vielleicht ist es auch was anderes gewesen."
Rafa hat sich am Fußende zusammengerollt, und ich liege am Kopfende und beuge mich über ihn und streichle ihn.
"Ich verstehe nicht, weshalb du mich dauernd anfassen mußt!" stöhnt er.
"Ich kann nicht anders; ich muß dich anfassen", erkläre ich zum wiederholten Mal. "Du siehst so süß aus, und du faßt dich so süß an ..."
"Mh ... süß ... hahaha ..."
"Ja, du siehst so süß aus, und da muß ich dich einfach anfassen. Wenn ein Zuckerstückchen neben mir liegt, muß ich naschen. Du bist nämlich mein Lieblingsgericht."
Mit diesen Worten rolle ich mich ebenfalls zusammen und ärgere mich über das Federbett, das Rafa und mich voneinander trennt.
"Fräulein Zappelphilipp", sagt Rafa.
Ich muß gleich wieder nach ihm sehen. Schelmisch blickt er mich an.
"Oh, jetzt guckst du wieder so süß!" rufe ich hingerissen.
"Nun los, nun los, nun leg' dich hin!" verlangt Rafa. "Richtig hin!"
Ich rolle mich am Kopfende zusammen, weil nicht mehr Platz im Bett ist. Rafa deckt mich sorgsam zu. Er ist aber selber nicht ruhig. Er spielt mit dem Deckbett herum.
"Ich baue eine Mauer", sagt er. "Das ist bestimmt jetzt auch wieder süß, he?"
"Ja, das ist süß! Das ist ja auch der Grund, warum ich nackte, rohe Betonmauern so faszinierend finde. Sie sind eine Herausforderung für mich."
"Die Mauer ist nicht aus Beton."
"Nein, sie ist nur aus einer Decke."
"Eben."
Rafa lüpft das Federbett. Er schlägt meine Füße ordentlich in den Stoff meines Nachthemds ein und legt seinen Kopf daneben.
Freilich hat Rafa noch lange keine Ruhe. Er fängt schon bald wieder an, zu rascheln und zu wühlen. Er versteckt seinen Kopf im Bettbezug. Der hat keine Knöpfe; es ist ein alter Damastbezug, der aus einer Zeit stammt, als man Bettwäsche mit Bändern schloß, auf die Knöpfe genäht waren. Ich habe den Bezug einfach offengelassen.
Rafas Versteckspiel entzückt mich. Ich muß lachen.
"Ist das jetzt auch wieder 'süß'?" fragt Rafa.
"Ja, das ist süß!" rufe ich schwärmerisch.
"Steht morgen in der Bildzeitung, hä?" argwöhnt Rafa.
"Warum in der Bildzeitung?" frage ich. "Warum soll das in der Bildzeitung morgen stehen?"
"Sowas wissen doch auch sonst immer alle möglichen Leute."
"Warum sollen denn das alle möglichen Leute wissen?"
"Ja, du bist doch so eine Tratschtante."
"Oh! Was habe ich denn schon über dich 'rumgetratscht?"
"Ähh ..."
Rafa will es nicht sagen.
"Es reden auch viele über dich", meint er schließlich.
"Was reden die denn so?"
"Ach, sag' ich nicht."
"He, ich möchte das aber wissen, was die über mich reden. Also, was reden sie?"
Rafa schweigt zunächst. Nach einer Weile aber gibt er mir doch noch eine Art Antwort. Er fragt in die Stille hinein:
"Warum hat Jochen über dich gesagt:
'Die popelt so, wie ich pople, und das provoziert mich'?"
"Das ist eine kurze Geschichte; das kann ich dir ganz einfach erklären", entgegne ich. "Das ist folgendermaßen: Ich hantiere viel öfter mit Taschentüchern 'rum als andere Leute. Das hat auch der Sockenschuß mitgekriegt, und irgendwann dann - das war so, nachdem ich ihn aus meinem Freundeskreis entfernt hatte - habe ich mitbekommen, daß er sich auf einmal auch dauernd mit Taschentüchern beschäftigt hat und so 'rumgenestelt hat und sich geschneuzt hat, und da nehme ich halt an, daß er mich nachgeahmt hat. Das war es dann auch wohl."
"Da mußt du ihn ja schon ganz genau beobachtet haben", folgert Rafa argwöhnisch.
"Na, ja - es gibt ja nicht viele Leute, die so mit den Taschentüchern 'rumhantieren wie ich", deute ich meine Aufmerksamkeit. " Das fällt dann schon auf, wenn auf einmal jemand anders das auch macht."
"Warum bist du eigentlich bei dem Jochen früher immer ums Haus geschlichen?" fragt Rafa weiter. "Das erzählen mir nämlich immer total viel Leute."
"Das ist absolut gelogen", entgegne ich in einem sachlichen Tonfall. "Davon ist kein Wort wahr. Es stimmt, daß der Sockenschuß früher immer bei mir ums Haus geschlichen ist. Der saß nachts draußen davor, auf einer Bank. Da saßen Constri, ihr damaliger Freund Cyd und ich am Fenster im kleinen Zimmer hier in dieser Wohnung und guckten 'raus, und es war schneidende Kälte draußen, es war unter null Grad, und da vorne, etwa fünfzig Meter weiter auf einer Parkbank, sah man diese typische Sockenschuß-Frisur. Der saß da nämlich, und der saß da sehr oft, auch nachts, und lungerte da 'rum. Oft konnte ich gar nicht nach Hause abends, weil er bei uns um den Block gefahren ist. Und einmal, da bin ich in eine Telefonzelle gegangen und habe bei mir zu Hause angerufen; da hatte ich auch so fünf Gäste oder so. Und die sind dann mit dem Auto mir entgegengefahren und haben mich eingesammelt und haben mich sozusagen beschützt. Die sind dann vorgefahren bis hier vorne, haben dann gehalten, und dann sind wir gemeinsam zur Haustür gegangen, und da war der Sockenschuß auch schon wieder mit seinem Fahrrad und kurvte um uns 'rum und rief irgendeinen Mist, so - 'Ich liebe dich doch, und ich kriege dich!' und solche Sachen, und dann sind wir 'reingegangen, und dann hat einer von meinen Bekannten gesagt, daß er nicht glaubt, daß der Sockenschuß verrückt ist, und er wollte 'rausgehen und sich selbst überzeugen, und dann ist er 'rausgegangen und hat mit dem geredet, und dann kam er nach einer Viertelstunde wieder 'rein und sagte:
'Der ist verrückt. Der ist verrückt. Der ist verrückt. Der ist verrückt.'
Der Sockenschuß hat mir auch an der Bushaltestelle aufgelauert. Das war dann immer so: Ich bin abends zur Hochschule gefahren, zur Arbeit gefahren, und da habe ich immer einen bestimmten Bus genommen, und der wußte, wann ich in den Bus steige. Das war so zwanzig Uhr nochwas oder so. Und immer dann, wenn ich in den Bus gestiegen bin, hat der mir an der Haltestelle aufgelauert."
"Was ist denn daran so schlimm, wenn der dir da auflauert?"
"Der hat mich aufs Übelste belästigt", versuche ich, Rafa klarzumachen, was es bedeutet, wenn einem ein Wahnsinniger nachsteigt. "Wie ist das denn, wenn du mit jemandem nichts zu tun haben willst, und der rennt dir dauernd hinterher? Mein Vater, meine Schwester und Cyd sind mal nachgekommen und haben den Sockenschuß abgefangen, und da hat mein Vater ihn bei den Schultern genommen und geschüttelt und hat gesagt:
'Wenn du das nochmal machst, geht's dir schlecht.'
Und dann hat der mir wenigstens nicht mehr an der Bushaltestelle aufgelauert. Das ist ja auch gefährlich gewesen. Der hatte ja auch ein Messer dabei. Das war damals 1992 im 'Trauma', als der 'Elizium'-Betrieb dorthin verlegt war. Da ist ihm mal das Messer auf die Tanzfläche gefallen. Der hat voll das Klappmesser dabeigehabt. Und da habe ich auch gedacht, als Nächstes habe ich das wohl im Rücken. Und Constri hatte auch Angst um mich, daß der mir was tut, und hat sich große Sorgen gemacht.
Das Widerlichste war ja, daß der einfach überall war, wo ich auch hingegangen bin. In allen Discotheken und auf allen Tanzflächen habe ich immer diese Visage ansehen müssen. Und wenn da jemand immer ist, den man widerlich findet, den man nicht sehen will, und der ist ständig in der Nähe, dann ist das ein Alptraum, ein unglaublicher Alptraum, eine unheimliche Bedrängnis.
Und dann hat der mich in BS. ja auch mit Steinchen beworfen. Das war 1991, da waren Carl und ich im 'Puzzle' gewesen, und da war der auch. Der ging ja einfach in jede Disco, wo ich hinging. Und dann war der eben da auch aufgetaucht. Und auf dem Heimweg hat der uns dann richtig in den Büschen aufgelauert und ist uns dann hinterhergelaufen und hat mich mit Steinchen beworfen und gerufen:
'Ich krieg' dich! Ich krieg' dich!'
Und Carl hat ihn dann noch angeschrien, und dann mußten wir richtig vor dem weglaufen und dem Zugschaffner noch bescheidsagen, da fährt ein Irrer mit, daß er den nicht vorbeiläßt, und wir sind dem so mehr oder weniger glimpflich noch entronnen und haben erstmal Anzeige erstattet. Dann war erstmal Ruhe.
Und es war auch so, als wir damals noch in der anderen Wohnung gewohnt haben, da war das Erste, daß er nicht mehr in die Wohnung durfte, die war zu, da gab's nichts mehr. Und dann hat er sich auf die Treppe gesetzt und da stundenlang gesessen. Da konnte ich also noch nicht mal einkaufen gehen. Und nachher ist der immer mit dem Fahrrad vor der Tür 'rumgefahren. Und dann sind wir irgendwann umgezogen, und ich habe gedacht, jetzt ist endlich Ruhe, aber da hatte der auch schon unsere Adresse 'rausgekriegt und ist immer vor unserem Haus hin- und hergefahren. Und dann kam oft Carl und sagte:
'Hetty, ich hab' den Sockenschuß wieder bei der Tanke gesehen.'
Da konnte ich wirklich nachts nicht allein auf die Straße.
Eine ganze Menge von meinen Freunden und Bekannten wissen das noch. Der Ortfried weiß das noch, wie der mich verfolgt hat, das weiß Constri noch, das weiß der Cyd noch, und auch meine Kommilitonin Lana weiß das noch. Das wissen eine ganze Menge Leute noch - wenn du Bestätigung haben willst.
Das ist also eine gedruckte Lüge, wenn es heißt, daß ich um sechs bei dem vor der Haustür 'rumgelaufen bin. Um sechs Uhr habe ich was anderes zu tun gehabt. Da bin ich entweder in der Hochschule auf der Wache gewesen oder zu Hause im Bett. Da habe ich weiß Gott was anderes zu tun gehabt. Das Komische ist nur: Du glaubst mir immer noch nicht, was ich über den Sockenschuß sage, und trotzdem hast du mir gegen ihn geholfen. Da mußt du mir doch wenigstens ein bißchen glauben, nicht?"
Rafa bleibt still. Ich sehe nach ihm und stelle fest, daß er eingeschlafen ist. Meine Erzählung scheint auf ihn wie eine Gutenachtgeschichte gewirkt zu haben. Wenn Rafa nach einer Gutenachtgeschichte verlangt, muß diese vom Sockenschuß oder vom Ivo Fechtner handeln. Ich glaube, es beruhigt Rafa, wenn ich ihm zum hundertsten Mal versichere, daß ich weder mit dem Sockenschuß noch mit Ivo Fechtner etwas gehabt habe. Rafa möchte es immer wieder bestätigt haben. Dann fühlt er sich wohl und kann schlafen.
Sogar damals in SHG. wollte Rafa zum Einschlafen etwas vom Sockenschuß hören. Damals schon muß ihn das sehr beschäftigt haben. Damals schon muß Rafa eifersüchtig gewesen sein auf alle, die er verdächtigte, mit mir zusammengewesen zu sein.
Gegen Mittag wache ich auf. Es ist nun die rechte Zeit, meine Verabredung mit Constri abzusagen. Ich schlüpfe aus dem Bett, vorsichtig, um Rafa nicht zu wecken. Hinter mir schließe ich die Zimmertür, so leise es geht. Das Telefon nehme ich mit in das leere Zimmer von Carl. Rafa soll auf keinen Fall im Schlaf gestört werden.
Constri und ich wollten uns um sechzehn Uhr im Institut treffen. Sie wird von mir in die Arbeit mit dem Macintosh eingewiesen, um für den Professor Gutachten tippen zu können. Ich sage ihr nun, daß jemand Gewisses bei mir ist.
"Versuche, alleine klarzukommen", bitte ich Constri. "Wenn es gar nicht anders geht, kannst du mich anrufen. Ich bin auf jeden Fall zu Hause."
Sie zeigt gleich Verständnis.
Nach dem Gespräch lasse ich die Tür ein wenig offen zu dem leeren Zimmer, in das hell die Sonne scheint. Dann gehe ich wieder zu Rafa. Ich stelle mich vor mein Bett und frage mich, ob es möglich ist, mich so zu ihm zu legen, daß ich ihn berühre. Es ist nicht möglich, weil er sich so eingerollt hat. Ich müßte mich schon auf ihn legen, und das würde ihn wecken. Rafa ist sehr empfindlich, auch im Schlaf. Ich nehme meinen Lagerplatz am Kopfende wieder ein. Ich will mich aber noch nicht zufriedengeben. Ich beuge mich zu Rafa und nehme ich vorsichtig in die Arme. Da äußert er einen Wehlaut, etwas wie:
"Mh! Mh!"
Und er zieht die Decke über sich. Ganz deckt er sich nie zu; es ist vor allem sein Kopf, den er verbirgt. Dieses Verhalten erinnert mich an ein dreijähriges Mädchen, das nach einer Knochenmarktransplantation im Isolierzelt lebte. Es wollte etwas trinken und stieß sich unglücklich am Strohhalm.
"Mein Mund ist so wund!" rief es wehklagend und versteckte seinen Kopf unter der Bettdecke.
Das Kind hat jedesmal seinen Kopf verborgen, wenn es sich erschreckt hat oder etwas nicht wollte. Den Rest seines Körpers beachtete das Mädchen weniger.
Als Rafa klagt, lasse ich gleich von ihm ab. Nach einer Weile kriecht er wieder unter dem Deckbett hervor; vielleicht ist es ihm zu warm. Ich streichle sehr, sehr vorsichtig seine Schultern und sein Haar. Das Haar ist verklebt vom Haarlack und kann nicht so gestreichelt und zerwühlt werden, wie ich es gern tun würde.
Einmal lege ich zart die Arme um Rafa. Ich schaffe es, ohne daß er aufwacht.
Rafa hat behauptet, daß er einige Tage lang nicht geduscht hat. Ich kann mich nicht genug wundern; dauernd muß ich an seinem Hemd schnüffeln, weil er gar so gut riecht. Das kann ich nicht verstehen.
Rafa liegt mit Schuhen auf dem Bett; schließlich hatte er sich ja vorgenommen, wachzubleiben. Zunächst ließ er die Füße noch artig über die Bettkante hängen, doch jetzt, im Schlaf, kann er sich nicht mehr so recht steuern. Seine Füße liegen auf der Matratze. Rafa trägt flache, nadelspitze Schnürschuhe.
Lange Zeit kann ich mich nicht niederlegen zum Schlafen, denn ich muß nach Rafa sehen und ihn berühren und mich an ihn kuscheln. Ich streichle Rafa immer wieder, auch seine Beine. Ich schaue mir den Stoff genau an, aus dem seine schmal geschnittene schwarze Hose gemacht ist. Es ist ein Trikotstoff, und an manchen Stellen hat er schon winzige Löcher. Der abgetragene Stoff ist voller Fusseln.
Rafas Garderobe ist zum Teil sehr schick, aber auch ziemlich ramponiert. Das fällt nur im Dunkeln nicht so auf.
Ich finde einen Weg, Rafa auch dann noch zu berühren, wenn ich mich am Kopfende zusammengerollt habe. Ich lege ein Bein auf seine Beine. Näher kann ich ihm nicht kommen, obwohl wir beide uns ein Bett teilen. Rafa ist sehr geschickt darin, für Abstand zu sorgen. Die Decken hat er zwischen uns aufgetürmt wie ein Gebirge.
Am frühen Nachmittag wird Rafa wach. Sofort setzt er sich auf die Bettkante und trinkt in einem Zug viel Multivitaminsaft aus der Flasche, als hätte er lange gedurstet.
Als ich aus dem Bad zurückkomme, sitzt Rafa auf dem Sofa.
"Wie hast du denn diesmal geschlafen?" möchte ich wissen.
"Kurz", antwortet er. "Aber gut."
"Oh, du hast gut geschlafen? Das freut mich ja. Das ist ja schön."
"Nich'?"
"Ich habe noch deine Zahnbürste. Wenn du die haben möchtest, mußt du nur sagen."
"Ja, das wär' nicht schlecht."
"Gut, dann hol' ich die dir mal."
"Ja."
Ich bringe sie ihm. Er hat noch eine brennende Zigarette zwischen den Fingern. Ich setze mich zu ihm aufs Sofa. Er hat ein Bein angewinkelt und über das Knie gelegt.
"Oh, jetzt kann ich mich gar nicht auf dich draufsetzen", seufze ich. "Oh ..."
"Du mußt dich doch nicht auf mich draufsetzen", meint Rafa. "Wieso mußt du dich auf mich draufsetzen?"
"Ich muß mich doch immer auf dich draufsetzen. Das ist doch viel schöner, wenn ich auf dir draufsitze."
"Das ist viel strangulierender, wenn du dich auf mich draufsetzt", stellt er richtig.
Ich umarme ihn zärtlich. Wieder seufzt Rafa:
"Mensch, daß du mich immer anfassen mußt ..."
"Du glaubst mir ja nicht, daß meine Gefühle echt sind, aber sie sind echt. Und weil du sie mir nicht glaubst, kannst du auch nicht verstehen, warum ich dich immer anfassen muß."
Eine Videokassette fällt Rafa ins Auge, die auf dem Bügelbrett liegt.
"Was steht da?" fragt er. "'... Frankenstein'?"
"'Doku Frankenstein' steht da", lese ich vor. "Das ist eine Reportage gewesen. Hast du nicht Angst vor Frankenstein?"
"Wieso soll ich Angst vor Frankenstein haben?"
"Letztes Jahr hattest du gesagt, du hättest Angst vor Dracula und Frankenstein."
"In welchem Zusammenhang soll ich das gesagt haben?"
"Ich habe dich gefragt, ob du noch Angst vor mir hast", erinnere ich ihn. "Und da hast du gesagt, ja. Und dann habe ich gefragt, vor wem du außer mir noch Angst hast, und dann hast du gesagt, vor Dracula und Frankenstein."
"Ah, ich hab' doch keine Angst vor Dracula und Frankenstein."
"Hast du denn noch Angst vor mir?" möchte ich wissen.
"Ja", antwortet Rafa. "Ich habe noch Angst vor dir."
"Warum hast du denn noch Angst vor mir? Ich tue dir doch nichts."
"Ist ja auch keine lebensbedrohliche Angst."
"Ah ja, keine lebensbedrohliche, aber eine bedrohliche Angst. Vor wem hast du denn außer mir sonst noch Angst?"
"Weiß ich nicht."
Rafa sinnt nach und lacht vor sich hin:
"Haha ... Angst vor Frankenstein ... Ich hab' Angst vor Frankenstein, hab' ich gesagt?"
"Ja, das hast du gesagt. Du hast gesagt, du hast Angst vor Dracula und Frankenstein."
"Ha! Da muß ich aber breit gewesen sein."
"Nüchtern warst du jedenfalls nicht."
Rafa macht seine Zigarette aus und geht ins Bad. Ich lege mich wieder ins Bett, springe aber gleich noch einmal auf und frage durch die Badtür:
"Du, soll ich dir ein Handtuch geben?"
"Nein."
Als Rafa aus dem Bad kommt, bittet er mich um einen Kamm und eine Bürste. Er richtet sich im Badezimmer die Haare. Die Tür läßt er offen. Sorgsam kämmt er sich und bindet sich den Pferdeschwanz neu. Ich sehe ihm lächelnd zu.
"Jetzt müßtest du dich nur noch rasieren", meine ich. "Ich finde das nämlich immer voll ätzend, wenn du dich nicht rasierst."
"Ich find' das schön."
"Und ich find' das absolut ätzend."
Rafa geht vor den großen Flurspiegel und zupft sich noch einmal Pony und Pferdeschwanz zurecht. Das finde ich furchtbar niedlich, und ich bin ganz entzückt. Ich muß Rafa gleich wieder umarmen. Er steht ruhig da und läßt es willig geschehen.
Als die Frisur fertig ist, geht Rafa zum Sofa und greift nach seinem Mantel, den er dort abgelegt hatte.
"Oh, du ziehst dir ja schon wieder den Mantel an", bedaure ich.
"Ja", sagt er. "So, jetzt brauch' ich noch 'ne möglichst große Tüte."
Er packt die Videokassetten und das Foto hinein und sieht auf die Uhr. Er findet, daß er gut in der Zeit ist.
"Ah, dann kann ich mich ja nochmal hinsetzen", meint er und nimmt auf dem Sofa Platz.
Er will sich eine Zigarette anzünden und schaut in seine Innentasche.
"Hab' ich's doch schon wieder eingesteckt", stellt er fest und zieht mein silbernes Feuerzeug hervor.
"Ach, du bist auch einer von denen, die immer die Feuerzeuge einstecken?"
"Ja."
"Ortfried Brinkus ist auch so einer, der nimmt auch immer die Feuerzeuge mit."
Bei seinem Besuch im September setzte sich Rafa nur auf mein Drängen noch kurz aufs Sofa, bis sein Taxi kam. Dieses Mal setzt er sich nicht nur von selbst, sondern er läßt es auch zu, daß ich auf ihm Platz nehme. Ich kuschle meine Wange in seine Halsbeuge und verharre mit geschlossenen Augen. Es dauert nicht lange, da schiebt Rafa meinen Körper etwas zurück.
"Daß du dich immer auf meinen Familienplaner setzen mußt!" bemerkt er. "Mann, Mann, Mann!"
"Entschuldigung."
Ich rutsche gleich ein Stück weiter auf seinen Oberschenkel.
"So, so ist es gut", sage ich. "So ist es gut."
Dann lasse ich mich wieder an Rafas Schulter sinken, lege die Arme um seinen Hals, streichle seinen Rücken und schließe die Augen. Rafa raucht und duldet es. Meine Zuwendung scheint ihm zu gefallen, ihn aber gleichzeitig auch verlegen zu machen.
Schließlich greift Rafa ein wenig unter mich und sagt auffordernd:
"Hoch, hoch, hoch!"
Es wird ihm doch zuviel. Ich setze mich neben ihn und lege von dort aus die Arme um seine Schultern. Ich streichle ihn weiter. Ich streichle Rafa immer, wenn er in meiner Nähe ist und ich nicht schlafe.
"Ist echt bemerkenswert, wie gut die innere Uhr funktioniert", sagt Rafa. "Daß die einen genau zu einer bestimmten Zeit weckt. Das muß Schicksal sein. Aber das kommt öfter vor, daß man so zehn Minuten vorm Weckerklingeln aufwacht."
"Wenn man jeden Tag zur gleichen Zeit aufstehen muß, wacht man oft schon zehn Minuten vorm Weckerklingeln auf."
"Die Zeiten, zu denen ich aufstehe, sind sehr unterschiedlich."
"Es gibt aber doch sowas wie die innere Uhr."
"Kann man das trainieren?"
"Sicher kann man das trainieren", meine ich.
"Und woran macht man das fest?"
"Das hat zum Beispiel auch mit dem Sonnenstand zu tun."
Die Sonne scheint und scheint. Auch die schweren Vorhänge können sie nicht ganz aussperren.
"Heute habe ich dich gar nicht ausgefragt", stelle ich fest.
"Ja, das war schön", findet Rafa.
"Aber ich muß dich ja nicht jedesmal ausfragen."
"Warum mußt du mich überhaupt ausfragen?"
"Ich will über dich so viel wissen wie möglich. Ich habe noch eine ganze Menge Fragen an dich. Aber die stelle ich dir heute nicht. Die kann ich dir auch ein andermal stellen. Das sind alles Fragen, die sich darauf beziehen, daß du dich in Widersprüche verwickelst."
"Ich widerspreche mir nicht", behauptet Rafa.
"Das tust du wohl."
"Ja, in bestimmten, kleinen Dingen, die ich über mein Gefühlsleben sage, die einer momentanen Stimmung unterworfen sind und die sich durchaus ändern können", gesteht Rafa immerhin. "Außerdem verändert man sich selbst - Gott sei Dank."
"Tja ... die vielen Videokassetten", sage ich nachdenklich. "Ich frage mich schon, wie und wann du mir die wiedergeben willst."
"Das frage ich mich auch."
"Mal sehen."
"Du weißt ja, daß du sie zurückkriegst."
"Ja, sonst würde ich sie dir ja auch nicht geben."
"Genau. Ich gebe immer alles wieder."
"Ich weiß; es ist bei dir nie böser Wille, wenn du etwas verbockt hast", gestehe ich Rafa zu.
"Ich verbocke nichts", behauptet er.
"Oh, du hast schon ganz schön was verbockt", widerspreche ich.
"Wann habe ich denn was verbockt?" stellt Rafa sich ahnungslos.
"Damals - du hattest dich mit mir auf einen bestimmten Tag hier verabredet und warst nicht gekommen", erinnere ich ihn. "Und das hatten wir sogar mehrmals verabredet. Und dann hattest du dich auf einen bestimmten Tag mit mir im 'Elizium' verabredet. Da warst du auch nicht gekommen."
"Das war auch, weil ... mit der Koordination ...", versucht Rafa sich herauszureden. "Das waren Planungsprobleme."
"Du bist getürmt", sage ich ihm auf den Kopf zu. "Du bist vorher getürmt, weil du Angst hattest vor dem Date."
"Das ist aber auch nichts Wichtiges gewesen."
"Nichts Wichtiges?"
"Ich meine, das ist nicht Materielles gewesen."
"Ja, das war vielleicht nichts Materielles. Aber das war was Immaterielles. Und für mich ist das Immaterielle immens wichtig.
Wenn du mir die Kassetten wiedergeben willst, dann findest du auch einen Weg. Wenn ich nämlich wochen- oder monatelang nicht ins 'Elizium' oder die 'Halle' komme, dann rufst du mich eben an. Das geht dann mehr weg von der Disco-Ebene, hin zur privaten Ebene. Und das ist auch da, wo ich es hinhaben will.
Ich denke gerade daran, daß du eigentlich vor zwei Jahren um diese Zeit zum ersten Mal hierherkommen wolltest. Damals wolltest du am 19. Februar kommen, und dann hast du es mehrmals verlegt, und zum Schluß war es der 9. April. Und jetzt bist du am 22. Februar gekommen. Aber für dich ist das - in zwei Jahren - nicht schlecht. Von der Zeit her ist das für dich gar nicht schlecht."
Rafa lächelt ein wenig.
"Ja, die kleinen Schritte", fahre ich fort, "man muß immer die kleinen Schritte auch sehen. Ich freue mich über jeden Schritt. Jeder Schritt ist ein Fortschritt. Na - bei dir ist es noch eher so, daß du immer zwei Schritte vor- und einen zurückgehst."
"Dann käme wohl jetzt der Schritt zurück", schließt Rafa.
"Ja", bestätige ich. "Verhältnis zehn ..."
"Ah ja, das weißt du", redet Rafa mir dazwischen.
"Ja, das weiß ich", sage ich ruhig. "Ich kenn' dich doch. Jetzt kommt der Schritt zurück. Verhältnis zehn."
"Und das weißt du."
"Ja, ja, sicher. Der kommt jetzt."
"Eine Frage."
"Ja?"
"Wo hast du eigentlich diese Aluminiumteile her?" erkundigt sich Rafa. "Hast du da 'n Freund, der dir das besorgt hat alles? Oder wie?"
"Nein. Das sind Aluminiumprofile, die habe ich von der Messe. Da war so ein Körbchen, und da lagen die alle drin. Da konnte sich jeder was 'rausnehmen. Ich habe die Teile halt gesehen und fand die so schön, und da habe ich mir halt gleich einen ganzen Schwung mitgenommen. Ich möchte auch mal wieder ein richtiges Barbie-Totenbett bauen. Ich hatte früher immer ein Totenbett. Aber das ist so unheimlich aufwendig. Das kostet unheimlich viel Zeit. Man muß da ja auch ein vernünftiges Totenhemd nähen und so weiter. Das ist alles ein ziemlicher Aufwand. Na ja, eine Grabplatte habe ich ja, eine richtige, von einem Grabsteinmetz."
"So", sagt Rafa, als er aufgeraucht hat. "Rafa muß los."
"Oh, Rafa muß noch bleiben", sage ich und kuschle mich an ihn.
Er steht auf, und ich lasse nicht ab von ihm. Er geht ein Stück durchs Zimmer und zeigt auf ein Bild über meinem Bett.
"Wer ist das auf dem mittleren Foto?" fragt Rafa.
"Ach, das sind Whitehouse", antworte ich. "Das sind bloß Whitehouse. Das ist eine ziemlich extreme Düster-Noise-Industrial-Band."
"Blackhouse und Whitehouse - haben die irgendwas miteinander zu tun?"
"Blackhouse verstehen sich als Antithese zu Whitehouse", erkläre ich. "Die sagen, sie wollen positiven Noise-Industrial machen, während Whitehouse negativen Noise-Industrial machen."
"Aber ich meine - haben die sonst irgendwas miteinander zu tun? So bandmäßig?"
"Na ja, es sind halt beides amerikanische Gruppen, und Blackhouse haben sich nach Whitehouse den Namen gegeben. Whitehouse gab es eher."
"Haben die bandmäßig insofern was miteinander zu tun, daß sie irgendwie einen gemeinsamen Sänger haben oder sowas?"
"Nein, das haben die wohl nicht. Blackhouse haben das nur in einem Interview mal so gesagt, daß sie sich als Antithese verstehen. Jetzt die neue CD, die sie haben, ist ziemlich schlecht, während so Sachen wie 'Holy War' genial sind."
"'We will fight back!', ist die nicht neu?"
"Mittelneu. Die ist auch gut. Die haben ja noch eine neuere."
"Die ist doch gut."
"Ja, aber ich finde die ziemlich schlecht."
Rafa geht zur Tür. Ich streichle ihn unaufhörlich. Kurz vor der Schwelle bleibt er stehen und läßt es zu, daß ich ihn umarme. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter, schließe die Augen und halte ihn schweigend umfangen. Er rührt sich nicht und erwidert auch die Umarmung nicht. Nach einer Weile scheint ihn die Stille zu verunsichern.
"Wo ist denn jetzt der Grabstein?" fragt er.
"Guck', hier", antworte ich und zeige ihm die graue Steinplatte mit der schwarzen Inschrift. "Da auf dem Barbiegrab. Das ist eine Grabplatte, ein Muster, richtig von einem Grabsteinmetz. Die fand ich so schön; da habe ich gefragt, ob ich sie haben kann, und da konnte ich sie haben."
"Mh, und da steht sogar was drauf", bemerkt Rafa und liest den Schriftzug:

HIER RUHT BARBIE
1992

"Das sind gefärbte Buchstabennudeln", erkläre ich. "Das sind Buchstabennudeln, die ich angemalt habe."
Auf dem Weg zur Wohnungstür stellt Rafa Fragen zu verschiedenen Dingen, die ihm ins Auge fallen. Es ist, als suche er nach Gründen, um nicht so bald gehen zu müssen.
Prüfend betrachtet er sich im Flurspiegel.
"Echt, du mußt immer ... immer hinter mir herlaufen", wundert er sich. "Echt, so ... so ... 'Komm', beifuß, komm', komm', beifuß!' Immer so hinter mir herlaufen!"
"Ich muß dich halt dauernd anfassen", sage ich schwärmerisch. "Ich muß dich immer anfassen."
Rafa setzt sich wieder, dieses Mal jedoch an den Tisch, und er legt sich ein Bein über das Knie. Ich stelle mich hinter ihn und schließe die Arme um seine Schultern.
"Ich möchte mich auf dich draufsetzen", sage ich sehnsuchtsvoll. "Ich möchte mich so gern auf dich draufsetzen."
"Nein", sagt er unwirsch. "Jetzt - jetzt setz' dich doch mal - da hin."
Er zeigt auf meinen Hocker.
"Los!" drängt er. "Setz' dich da hin! Setz' dich da hin!"
Rafa gibt erst Ruhe, als ich mich setze. Ich schiebe den Hocker dicht an den von Rafa, so daß unsere Körper sich berühren.
"Wo ist nochmal die Tüte, wo ich meine Sachen drin hab'?" fragt Rafa. "Was habe ich eigentlich noch von dem, was ich gekauft habe?"
"Da ist sie. Da hängt sie."
Rafa geht hinüber in mein Zimmer, um sich seinen Saft und sein Glas zu holen.
"Oh, und jetzt komme ich schon wieder mit", seufze ich.
"Nein!" bestimmt Rafa.
Als er wieder am Tisch sitzt, fragt er:
"Was willst du denn jetzt machen mit dem Zimmer, wo Carl weggezogen ist?"
"Nichts."
"Nichts?"
"Nein, nichts. Was soll ich damit auch machen?"
"Oh, da fallen mir doch tausend Dinge ein, die man damit machen kann!"
"Was denn so alles?"
"... du könntest dir ein zweites Schlafzimmer einrichten ..."
"Das ist ja gar nicht mein Zimmer. Das will ich ja nicht nutzen. Das ist nicht mein Zimmer. Ich hab' ja schon eins."
"Was denn - da könntest du es doch auch ... vermieten."
"Ich würde keinen Fremden in das Zimmer mehr lassen."
"Ja - aber du kannst doch irgendwas mit machen. Was willst du sonst damit machen?"
"Da hatten wir doch vorhin drüber geredet, nicht?"
"Weiß ich nicht."
"Ach, ist schon gut", winke ich ab. "Ist ja auch nicht so wichtig. Jedenfalls ist der Kreis der Leute, die hier einziehen können, eng begrenzt. Erstmal passiert eben nichts damit. Jetzt, wo Carl nicht da ist, haben wir ja auch sozusagen sturmfreie Bude."
"Das würde mich nicht stören, wenn Carl da wäre", meint Rafa. "Würde es deinen Mitbewohner denn stören, wenn ich da bin?"
"Nein, Carl würde es nicht stören, wenn du da bist."
"Also."
"Trotzdem glaube ich, daß du es ganz gut findest, daß wir hier für uns sind", vermute ich. "Nächstes Jahr, wenn ich meinen nächsten Geburtstag feiere, dann schmeiße ich da einen neuen Teppich 'rein in das Zimmer und streiche die Wände weiß, damit ich das Zimmer in die Party einbeziehen kann. Aber sonst mache ich weiter nichts. Den Teppich, den schmeiße ich sowieso 'raus, der ist Müll. Der ist hin."
"Wieso ist der hin?"
"Na ja, fünf, sechs Jahre Gebrauch ... und da sieht man ja auch alles, x Rotweinflaschen umgekippt ... Da vorne in meinem Zimmer habe ich einen grauschwarzen drin, und hier auch. Wenn da sowas passiert, wenn da eine Party gefeiert wird, sieht man nachher nichts. Aber der, dieser blöde blaue, da sieht man alles drauf. Der fliegt auf den Müll."
"Wie komme ich jetzt wieder auf die Autobahn?"
Ich erkläre ihm den Weg. Rafa sucht seine Sachen zusammen.
"Darf ich die Chips mitnehmen?" fragt er wohlerzogen.
"Natürlich darfst du die mitnehmen", erwidere ich. "Sind ja deine."
Er geht nach vorn zur Wohnungstür und nimmt die Tüte mit den Leihgaben in die Hand. Er meint, daß er nun ganz schön viel anzugucken hat.
"Und du hast jede Menge Filmschulden bei mir", ergänze ich. "Jetzt bin ich ja gespannt, wann du mir die Videokassetten zurückgibst."
"Da bin ich auch gespannt drauf."
"Na ja, so acht bis zwölf Wochen dauert das ja immer, bis du wieder auf mich zugehen kannst. So lange wird das wohl dauern. Es wird ja erstmal wieder dein Rückschritt kommen ..."
Neben der Wohnungstür gibt es eine Vertiefung in der Wand. Dort hängt der Sicherungkasten. Rafa guckt in die Vertiefung und findet neben dem Sicherungskasten eine Barbiepuppe, die ich besonders schaurig zurechtgemacht habe. Ich habe ihr den Kopf und ein Bein abgetrennt und ihr ein Gummiskelett "angezogen". Drähte helfen es halten. Die Puppe trägt auch einen grauen Slip, der anstelle der seitlichen Stege Drähte hat.
"Das hast du aber nicht hingebastelt, das da", vermutet Rafa.
"Doch, doch", erwidere ich, "das war ich, selbstverständlich. Das ist original von mir."
Ich nehme die Barbie aus der Lücke, in der sie klemmt, und zeige sie Rafa. Dann zeige ich auf die Barbie mit den hochgeklappten Beinen, die in den Deckel eines Schuhkartons eingepaßt ist.
"Und das da", fahre ich fort, "das hat meine Schwester gemacht. Da war sie noch ein Kind. Sie wollte eigentlich nur eine Barbie in dem Deckel von dem Schuhkarton unterbringen, und das ging nicht anders. Und dann habe ich das irgendwann mal wiedergefunden und fand das so geil, daß ich das an die Wand genagelt habe. Das hängt schon ewig an der Wand. Das hing schon früher an der Wand, bevor wir ausgezogen sind, vor neun Jahren oder so. '86 sind wir von zu Hause ausgezogen."
Ich halte Rafa in den Armen. Er erwidert meine Umarmung nicht, aber er steht ganz ruhig da. Und er steht lange ruhig da. Es ist gerade so, als könnte er selbst sich nicht recht von mir lösen. Ich bin es schließlich, die ihn von sich läßt. Rafa geht in den Hausflur und sagt:
"O.k., das war ja richtig nett."
"Ja."
"Bis demnächst."
"Bis demnächst."
"Tschüß."
"Tschüß."
Es ist kurz vor drei Uhr.



In den kommenden Stunden und Tagen fielen mir kleine Veränderungen auf, die Rafa außer den Lücken im Videoregal hinterlassen hatte. Die Rose vom Rosen-Reesli lag nicht mehr, sondern stand aufrecht im Regal, weil so besser an die Kassetten heranzukommen war. Auf dem Betonboden neben dem Regal fand ich noch eine halbleere Chipstüte.
Als ich Constri, Carl und Laura am Telefon von Rafas nächtlichem "Überfall" erzählte, dachten sie alle erst, ich würde ihnen nur einen Traum erzählen. So unwirklich erscheint das, was Rafa sich ausgedacht hat.
Als Carl Violet erzählte, daß Rafa bei mir zu Besuch war, meinte sie:
"Hetty soll ja mit Rafa zusammen sein, aber man sieht das nicht so."
Es geht schon die Mär um, daß Rafa und mich ein besonderes Band aneinanderknüpft.
Als ich Constri von Rafas Äußerungen über Ivo Fechtner und den Sockenschuß erzählte, meinte sie:
"Das hört sich an, als wenn der eifersüchtig ist."
"Der ist rasend eifersüchtig", bestätigte ich. "Dabei haben der Sockenschuß und Ivo Fechtner bei mir nie die Spur einer Chance gehabt."
Sator meinte zu Rafas Besuch:
"Also, wenn das mit dir und Rafa mal was wird, dann ist echt sowas von Party fällig. Du gibst dir echt so eine Mühe ..."
Am Tag nach Rafas Besuch bin ich mit Constri nach BI. gefahren, weil sie sich dort exmatrikulieren mußte. Ihr Studium an der Fachhochschule für Mediendesign in H. beginnt im März.
Das Universitätsgebäude von BI. ist ein schmuckloser, unübersichtlich großer Betonkomplex. Angeblich soll diese Architektur zum Hinunterspringen verleiten; das können aber auch Gerüchte sein.
Wir tranken Kaffee in der Studentencaféteria. Wir hatten einen Tisch mit Blick auf den Eingangsbereich, über dem die Caféteria schwebt. Constri erzählte mir, wie sie hier immer mit Rikka gesessen hat. Statt zu den Vorlesungen zu gehen, führten sie eine Liste über die verschiedenen Taschensorten der Leute, die in das Gebäude hineingingen. Da gab es den von Juristen bevorzugten Aktenkoffer mit Zahlenschloß, da gab es Ledertaschen, die in Kniehöhe baumelten, weil die Tragriemen so lang waren, und die deshalb von Constri und Rikka in die Kategorie "Baumelbaumel" eingeordnet wurden ... und noch einige mehr. Constri und Rikka malten alle Taschenkategorien ordentlich auf.
Jura machte Rikka und Constri keinen Spaß. Der Lernstoff und auch viele ihrer Kommilitonen wirkten auf sie recht eintönig. Als sie mit einer Gruppe von Studenten abends essen gingen, hatten die jungen Leute auch hierbei nur ein Thema - Jura.
Nachdem Constri sich exmatrikuliert hatte, haben Constri und ich in einem indonesischen Restaurant nach langer Zeit wieder eine ganz besondere Suppe gegessen, die es nur dort gibt, eine einmalige Variante von "Tom Yum Gai". Für diese Suppe allein lohnt es sich schon, nach BI. zu fahren.
Am darauffolgenden Abend war ich mit Hendrik im "Barcode" in HH., ein ehemaliges Kino, das zum Teil nach Ruine und zum Teil nach Desginer-Werkstück aussieht. Stahlkunst von Ytong steht dort herum. Das "No Smoking"-Schild für den hölzernen Zuschauerraum ist geschnitten in Stahl, und dahinter leuchtet eine Lampe, damit man die Schrift lesen kann. Die Toilettenanlagen sind neu und sauber; die Kacheln sind giftgelb und die Wände darüber giftgrün und golden gesprenkelt. Das Angebot an der Bar ist spartanisch. Wie bei "Klangwerk" gibt es nur Bier, Orangensaft, Club-Cola, Wasser, Sekt und Kaffee.
Im "Barcode" war heute eine Performance von Ytong zu sehen und eine Improvisation von Mal. Ytong ließ einen Tänzer über den Boden robben und unterlegte das mit einem immergleichen Klang. Mal spielte mit zwei Musikern, mit denen er vorher noch nicht gearbeitet hatte, und sie ließen das Ergebnis auf sich zukommen.
Als dritte Band kam ein rotgekleidetes Hippie-Pärchen auf die Bühne, das ich an der Bar schon lange hatte kiffen sehen. Die Frau trug Boots mit dicken Kreppsohlen und einem noch dickeren Absatz, dazu ein bauchfreies Flatterblüschen, Schlaghosen und strähnige Haare. Der Mann war ähnlich zurechtgemacht. Als Mal die beiden als "Gruppe" ankündigte, wehrte sich die Frau und betonte:
"Band!"
"O.k.", sagte Mal, "'Band'."
Und er setzte sich ins Publikum. Dort saß er aber nicht lange.
Im Halbkreis stand eine Anzahl Gitarren auf der Bühne.
"Ich habe nichts gegen Gitarren", sagte ich zu Hendrik, "wenn sie wie ein Instrument behandelt werden. Aber ich kann es nicht leiden, wenn da nur drauf 'rumgeschrammelt wird. Das kann ich gar nicht leiden."
Ein dicker Mensch drehte sich um und fragte mich:
"Kannst du das vielleicht nochmal näher erklären?"
"Das möchte ich jetzt nicht weiter ausführen", entgegnete ich. "Ich bin hier, um mich zu amüsieren und nicht, um Vorträge zu halten."
Der Mensch drehte sich wieder weg und murmelte:
"Sauber."
Die Band hatte im Folder blumig für sich selbst geworben. Man sprach von "multimedialer Auslebung von Gefühlen" und einem "aufgewühlten, blubbernden Kosmos". "Leptosome Gitarrenakkorde" sollten mit "anderen, wilden Klängen" zu einem "neuen Universum" verschmelzen und gipfeln in "eruptiven Schwellklängen" und "splitternden Gitarrengrooves". Der Humor der Band sollte "die UFO's zum Tanzen bringen". Ein "Lyrik-Therapeut" wurde vorgestellt, der brachte "die Buchstaben zum Tanzen". Der "Tänzerin Morgaine" wurde ein "bannender Ausdruck wie die Bewegung von Tier und Blume" zugeschrieben. Angeblich waren die "dadaistischen Texte oft auf das Publikum bezogen", und Insekten und Außerirdische spielten darin eine große Rolle.
Die Hippie-Frau und der Hippie-Mann griffen sich je eine Gitarre. Sie schalteten einen Kasten ein, aus dem in regelmäßigen Abständen dumpfe Laute kamen. Dann bearbeiteten sie die Gitarren. Sie griffen keine Akkorde, sondern schrammelten einfach darauf herum, wie Kinder das machen, wenn sie noch nicht wissen, wie man eine Gitarre spielt. Durch das Schrammeln wurden die dumpfen Laute aus dem Kasten ein wenig abgeändert. Nun kam der Gesang dazu.
"Ihr seid alle Sonnenblumen!" riefen die beiden Hippies ins Publikum. "Wir sind Sonnenblumen! Ihr seid Sonnenblumen!"
Die Frau hob kurz eine Gummispinne in die Höhe und schüttelte sie.
"Oh! Eine Spinne!" wisperte ein Zuschauer.
Hendrik verließ nach wenigen Minuten den Saal, weil er so lachen mußte. An der Bar holte er sich Kaffee. Er traf dort auch Mal, der dauernd sagte:
"Sch..., Sch..., Sch..., Sch... ..."
"Jetzt kommt ein schnelles Stück", kündigte der Hippie an.
Und die beiden schrammelten etwas schneller als vorher. Schließlich rief der Mann:
"Die Gitarre ist kaputt! Die Gitarre ist kaputt!"
Damit war das Konzert fürs Erste vorbei, denn die Gitarre war wirklich kaputt.
Am nächsten Tag erzählte Laura von der "Halle". Sie war in der Nacht dort gewesen, und Dolf war auf sie zugekommen und hatte sich mit ihr unterhalten. Währenddessen erschien auch Rafa. Er kam allein.
"Oh, guck' mal, wie Rafa wieder aussieht - wie in alten Zeiten", raunte man.
Rafa hatte sich so zurechtgemacht wie auf den Fotos, über die wir gesprochen haben, als er bei mir war. Seine Haare waren kunstvoll hochgestellt und weiß besprüht. Er trug seinen Talar. Und er war äußerst betrunken. Er taumelte durch den Saal, hierhin und dorthin.
Dolf erzählte Laura von dem Konzert, das er kürzlich mit Rafa in Belgien gegeben hat. Er meinte, dort hätten sich die Gothics noch züchtig gekleidet, "wie sich das gehört", ohne Lack, mit wenig Haut, die Damen in lang, die Herren im Frack.
Laura erzählte Dolf, daß ich gerade in "Barcode" war, bei einem Auftritt von Mal.
"Was - und ich weiß davon nichts?" tat Dolf entgeistert.
Er schlug Laura vor, zum Wave-Gotik-Pfingsttreffen nach L. zu kommen. Er wollte auch dorthin fahren. Rafa näherte sich schwankend.
"Hallo, Süße!" rief er zu Laura herüber.
"Ich bin nicht deine Süße", entgegnete sie kratzig. "Sag' lieber 'hallo', das reicht."
"Du wirst ja auch immer fetter!" gab Rafa zurück.
Laura betrachtete sich kritisch von oben bis unten und glaubte, unvorteilhaft gekleidet zu sein. Ich allerdings glaube, daß Rafa sich einfach nur geärgert hat und Laura das spüren lassen wollte.
Später redete Laura mit einem Mädchen. Rafa stellte sich daneben. Da ging Laura weg.
Noch später redete Laura mit jemand anderem. Rafa stellte sich daneben. Laura ging wieder weg.
Schließlich legte Rafa auf. Er spielte Depeche Mode und sagte anschließend durchs Mikrophon:
"Und jetzt kommt eine Band, die wir den ganzen Abend noch nicht gehört haben."
Wieder spielte er Depeche Mode.
Die Sängerin kam gegen halb drei. Ihre Haare waren dieses mal orange. Sie waren merkwürdig schräg nach unten gestylt.
Laura hat die Sängerin einmal hinterm DJ-Pult gesehen.
Übrigens kennt Laura einen, dem Rafa eine Kassette mit Neuer Deutscher Welle aufgenommen hat. Beschriftet hat er die Kassette nicht.
Auch Revil war in der "Halle". Er fand es schön, wie Rafa sich zurechtgemacht hatte. Gegen Morgen ging Revil hoch zum DJ-Pult und fragte Rafa nach einem Titel; es war "Assimilate" von Skinny Puppy. Rafa nannte den Titel. Dann legte er Revil eine Hand auf die Schulter und sagte:
"Tut mir leid, ich kann nicht mehr; ich bin so besoffen."
Ellen und Talis waren ebenfalls in der "Halle". Ellen erkannte Rafa zuerst gar nicht in seiner Verkleidung.
Im "Elizium" trat eine Band auf, von der ich schon lange nichts mehr gehört hatte, Remain in Silence. Ich ging mit Jane hin.
Constri und ich haben uns früher in den achtziger Jahren öfter im Probenraum von Remain in Silence getroffen, und während die Band Musik machte, half ich Constri bei den Hausaufgaben. Das war in der Zeit, als Constri und ich kurz hintereinander unser Elternhaus verließen, weil wir dem zweiten Mann unserer Mutter ein Dorn im Auge waren. Unsere Mutter stellte sich damals gegen uns, änderte ihre Haltung aber einige Jahre später.
Ich wohnte damals für einen Monat bei Henk in einer chaotischen WG in BS., bis ich dann im Dezember mit Constri zusammen in eine "richtige" Behausung zog. In der Zwischenzeit konnten Constri und ich nur telefonieren und uns im Probenraum oder in Cafés und Discos treffen. Der Probenraum von Remain in Silence befand sich in einem alten Fachwerkhaus im Stadtteil Bc. Ein Pommes frites war an die gekalkte Wand genagelt worden, weil die Jungen testen wollten, wie schnell er sich zersetzt. Gegenüber im Restaurant "Labyrinth" war die nächste Toilette.
"Irgendwann, wenn wir Geld haben, gehen wir im 'Labyrinth' essen", nahmen Constri und ich uns vor, und das taten wir auch.
Das alte Fachwerkhaus hingegen, wo der Probenraum war, ist inzwischen vollständig renoviert und zu einem "Gourmettempel" umgebaut worden, wo es kein Essen gibt, sondern nur 7-Gänge-Menus mit kryptischen Bezeichnungen.
Remain in Silence bestehen heute nur noch aus den beiden Initiatoren, N.D. und Dreas. Beide sind mit ihren damaligen Frauen nicht mehr zusammen. Constri und ich kannten die Frau von N.D. Wir hatten immer den Eindruck, daß sie N.D. bewachen wollte. Ich fragte N.D. nun, ob seine Frau klammerig gewesen sei. Er meinte, über das Thema könnte er einen ganzen Abend lang reden. Die Scheidung liegt zwei Jahre zurück, und er ist froh darüber.
"Ich kann mich noch an eure Wohnung erinnern", sagte ich. "Es war eine geräumige Wohnung ohne Privatsphäre."
N.D. nickte und sagte, er sei eh nie zu Hause gewesen.
"Das ist ja auch ein Zeichen dafür, daß in einer Beziehung was nicht stimmt", meinte ich.
Das Konzert von Remain in Silence fand viel Anklang. Danach legte Luie auf. Darva ärgerte sich darüber, daß er mich noch nicht beim Tanzen fotografieren konnte, weil ich immer mit dem Rücken zum Seitengang tanzte. Er wünschte sich einen "ruhigen Abend", an dem er mich kennenlernen könnte. Daß die Würfel längst gefallen sind, sagte ich ihm noch nicht.
Dolf kam schon vor Mitternacht. Er saß viel auf der Galerie, manchmal sogar alleine. Saverio war auch im "Elizium", mit seinen übergewichtigen Begleiterinnen. Sie saßen meistens um zwei aneinandergerückte Tische herum. Carl war niedergeschlagen, weil er an Saverio nicht herankam, und er verließ das "Elizium" zeitig. Anfang Januar hatten Carl und Saverio noch eine ganze Weile miteinander reden können; Carl hatte Saverio in der Stadt getroffen und ihn mit ins Kaffeehaus genommen.
Charlene tat der Rücken weh, und sie wollte sich setzen. Ich schlug ihr vor, sich auf Jason zu setzen. Da sagte Jason:
"Nein, nein! Ich habe nicht viel Fleisch auf den Knochen und Charlene auch nicht."
In der Damentoilette legte Darva auf mich an. Er wollte mich im Spiegel fotografieren. Er machte das ohne Blitz. Zur Sicherheit fotografierte er mich noch einmal ohne Spiegel und mit Blitz.
Laura erschien gegen Morgen im "Elizium". Sie war vorhin im 'Sterilen Norden' bei HB. gewesen.
Zu "Launch my Olive" von De Fabriek tanzte ich mit zwei Nebelgestalten, Simon und Sasch. Ich sah Dolf im Seitengang stehen, mit Luca. Schon wieder hatte Dolf mich im Blickfeld.
"Ich konnte einige Fotos machen", erzählte mir Darva später in der Toilette.
"Auch, wo ich tanze?" fragte ich.
"Ja."
Endlich hatte er mich von vorn aufs Bild bekommen.
Während der ganzen Nacht machte mir mein Kreislauf Ärger. Ich wollte mich dauernd hinsetzen, aber ich mußte tanzen, und da ging es nicht. Gegen Morgen setzte ich mich auf einen Stuhl, und Laura setzte sich neben mich auf das Podest. Da kam Dolf und unterhielt sich mit Laura. Er stellte eins seiner Beine auf das Podest, wie er es häufig tut.
"Du warst in HB.?" begann er das Gespräch. "Wir wären da auch gerne aufgekreuzt, aber da ist irgendwo eine Party gewesen, und nach der Party sind wir halt ins 'Elizium' gegangen. Ich wäre so gerne mit in den 'Sterilen Norden' gekommen, und jetzt muß ich in diesem blöden, langweiligen 'Elizium' sein. Hast du in HB. den Ivo Fechtner gesehen?"
"Solche Leute sehe ich nicht", erwiderte Laura schnippisch.
"Aach, so", sagte Dolf.
Ich wandte mich ihm nicht zu. Ich schloß sogar vorübergehend die Augen.
Laura empfahl Dolf, zur nächsten "Crucifiction"-Veranstaltung zu kommen. Er wollte das Datum wissen.
"Hetty, welcher Tag ist das nochmal?" fragte mich Laura.
"Der 10.03.", antwortete ich.
"Der 10.03.", gab Laura an Dolf weiter.
"Mensch, da gebe ich doch in L. meine Gothic-Party", bedauerte er.
Als Laura mich ansprach, hatte sie mit ihrem Pony meine Stirn gestreift.
"Sitzen meine Augenbrauen noch?" fragte ich sie.
Sie bejahte.
"Das ist das Einzige, was mich interessiert", meinte ich.
"Wie?" fragte Laura. "An Dolf?"
"Das ist das Einzige, was mich an mir interessiert."
"Ihr geht's heute nicht so gut", sagte Laura zu Dolf. "Ich muß mal eben mein Glas wegbringen ..."
Sie stand auf und ging zur Bar. Dolf rührte sich nicht von der Stelle. Er schien etwas von mir zu wollen, und ich wußte nicht, was. Ich sah ihn immer noch nicht an. Eine Junge kam vorbei und rief "Hallo". Ich dachte erst, er wollte Dolf grüßen und ihn möglichst auch gleich noch entführen. Aber Dolf blieb, wo er war. Schließlich wandte er sich an mich:
"Na, was 's' los mit dir? Du sitzt da so mit gesenktem Blick; das paßt gar nicht zu dir."
Ich sah ihn an und fragte mit einem freundlichen Lächeln:
"Darf ich das nicht?"
"Du darfst hier viel."
"Eben."
"Hast kein' Nerv mehr hier?"
"Doch, ich find's heute richtig gut."
"Gut?" wunderte sich Dolf.
"Ja, ich find's heute gut", wiederholte ich.
"Es ist voll", meinte er, "aber nicht gut."
Jemand tippte ihm an die Schulter, der ihn wohl mitnehmen wollte.
"Also, ich muß jetzt", entschuldigte sich Dolf. "Tschüß."
Und er entschwand. Wer weiß, was er noch alles mit mir geredet hätte, wenn er nicht fortgemußt hätte. Sein Verhalten sieht so sehr nach einer geplanten Annäherung aus.

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