Netvel: "Im Netz" - 17. Kapitel































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Im "Elizium" erzählte Reesli von dem Burgfestival in Qu., wo Rafa Ende Mai aufgetreten ist. Er stand mit Dolf auf der Bühne, ohne die Sängerin.
"Wenn ich so überlege, ist Dolf in der Band doch ziemlich überflüssig", meinte Reesli. "Er schaltet nur was an und ab ... Der einzige, der die Musik macht und machen kann, ist doch Rafa."
Die Stimmung soll gut gewesen sein, gut für Rafa. Allerdings gab es auch dieses Mal eine Panne. Vor dem Konzert hatte Rafa sich unter den Festivalbesuchern drei Mädchen herausgesucht, die bei seiner Coverversion von "Fred vom Jupiter" mitsingen sollten. Er gab ihnen ihren Text. Sie lernten den aber nicht richtig. Als sie auf der Bühne standen, kamen zaghaft ein paar Worte und dann gar nichts mehr.
Rafa durfte in Qu. ein Interview für einen Videokanal geben. Reesli beobachtete, daß Rafa schnell seine Spiegelbrille hervorzog, als die Kamera nahte. In dem Interview soll Rafa gesagt haben, daß er schon eine neue Sängerin in Aussicht hat.
Zu Reesli sagte Rafa, daß er in H. und Umgebung nicht mehr auftreten möchte. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, daß Rafa sich in dieser Region schon unbeliebt gemacht hat, lange bevor er das erste Mal auf der Bühne stand.
Am Freitag nach dem Festival soll Rafa im "Exil" aufgelegt haben. Es war nicht ersichtlich, ob er eine Freundin hatte.
"Spielst du 'W.O.L.F.'?" bat Reesli.
"Nur wenn du tanzt", entgegnete Rafa.
Er spielte das Stück, und Reesli hielt Wort.
Onno und Revil haben erzählt, daß Xentrix am Donnerstag im "Elizium" die Gäste geärgert hat. Er spielte Filmsamples aus "Soylent Green" ab, wie sie auch in dem gleichnamigen Stück von :wumpscut: vorkommen, und als sich die Tanzfläche füllte, blendete er "Brother Louie" von Modern Talking ein. Den Leuten, die trotzdem tanzten, rief Xentrix zu:
"Durch die Modern Talking-Truppe da unten wird der Begriff 'krank' neu definiert!"
Am nächsten Freitag war ich mit Ted, Marvin, Cyan und Lillien im "Exil". Lee aus HH. legte auf; Rafa hatte einen Auftritt in BO. und war nicht da.
Im "Exil" bedienten zwei Barmädchen. Eines von ihnen war das, mit dem Rafa angestoßen hat. Auf dem Laufband über dem DJ-Pult stand nicht mehr: "Ich liebe dich!!!" Es war nur angegeben, wer die einzelnen Termine gestaltet. Rafa und Lee gestalten umschichtig die Freitage.
Sandro hatte soeben ein siebzehnjähriges Mädchen namens Lara kennengelernt. Für ihn war es "Liebe auf den ersten Blick". Er meinte, er habe noch nie für ein Mädchen so viel empfunden.
Lillien erzählte, Rafa verstecke sich schon sehr hinter seinem Pseudonym "Honey". Er soll sich geweigert haben, ihr seinen richtigen Namen zu verraten. Wie er heißt, erfuhr sie erst, als sie ihn am Telefon sprechen wollte und die Mutter ihn herbeirief.
Zwischendurch, als ich gerade von der Tanzfläche kam, tauchte Xentrix vor mir auf.
"Sch...!" rief er und sah mich an wie ein Ertappter.
Ich packte ihn am Kragen seiner Lederjacke und zog kräftig daran.
"Wen haben wir denn hier?" fragte ich. "Hm? Wen haben wir denn hier?"
"Ich bin nicht schuld!" verteidigte sich Xentrix. "Der da hat mich hierher geschleppt!"
Er zeigte auf Cyrus, der an der Bar saß.
"Ich bin gezwungen worden!" rechtfertigte sich Xentrix.
"Es war seine Idee", sagte Cyrus kühl.
Es gab eine Runde Sauren für alle. Dieses Mal trank ich auch einen. Xentrix wollte mich wegschubsen.
"Geh' zur Seite, Weib!" rief er.
"Die Damen zuerst!" rief ich.
Dann stießen wir an.
Xentrix blieb lange im "Exil". Als er gehen wollte, sagte er zu mir:
"Wenn ich dich morgen nicht im 'Elizium' sehe, wirst du geschichtet!"
"Meine Schwester feiert morgen ihren Geburtstag", erwiderte ich. "Da kann ich nicht."
"O.k.! Ist entschuldigt!"
Ich fragte Xentrix, ob er etwas über die "Halle" wüßte. Da machte er mit seinen Fingern ein Kreuz und hielt es mir vors Gesicht, als hätte er den Satan zu vertreiben.
Ich haute Xentrix mit meinem Fächer und sagte:
"Du bist völlig besoffen."
Er schnitt die lustigsten Grimassen und stellte sich in die lustigsten Posen.
Als Xentrix fort war, regte sich der dicke Spheric darüber auf, daß ich mich mit Ted so schön unterhielt.
"Kannst gleich weiterbaggern mit deinem guten Freund", sagte Spheric.
Ich erklärte ihm, daß ich nicht baggerte, aber das wollte er nicht hören.
Der dicke Spheric hat einen nicht ganz so dicken Freund. Den führe ich unter "Manitou", weil er mit seinen langen schwarzen Haaren, seinen dunklen Augenbrauen und seiner bronzefarbenen Haut ein bißchen wie ein Indianer aussieht. Manitou sagte zu mir, er fände mich sympathisch. Ich sei "so richtig zum Knuddeln". Spheric gab mir einen aus. Manitou und er scherzten mit dem Barmädchen, das so gern bei Rafa hinterm Pult steht. Das Barmädchen soll Sharon heißen.
Spheric findet, daß es wirklich schlimm ist mit den Konkurrenzdenken bei Kappa und Xentrix. Vor vier oder fünf Wochen soll Kappa im "Elizium" gewesen sein, und Spheric dachte schon, jetzt würden Xentrix und Kappa sich endlich einmal aussprechen. Aber die beiden redeten kein Wort miteinander.
Laut Spheric soll Kappa seit zwei Jahren koksen und auch aus diesem Grund als DJ nachgelassen haben.
Im "Exil" steht eine Musicbox aus den siebziger Jahren. Einer von den Titeln, die man wählen kann, heißt "Blonde Haare - blaue Augen". Vielleicht kennt Rafa diesen Schlager noch von früher, und er ist davon angeregt worden zu seiner Textzeile "Blaue Augen, blondes Haar". Schon mit "Ganz in Weiß" hat Rafa Schlagermusik verarbeitet. Er scheint eine Vorliebe für diese Heile-Welt-Plastikmusik zu haben. Nicht zuletzt kann man auch über viele NDW-Stücke sagen, daß sie nichts anderes sind als weiterentwickelte Schlager.
Am Morgen war ich mit Sandro, Lara, Spheric, Manitou und dessen Freundin im "Nachtbarhaus". Wir tranken Milchkaffee; der ist im "Nachtbarhaus" besonders gut. Sandro konnte allerlei erzählen. Er will mitbekommen haben, wie Kappa vor zwei Jahren mit Koks angefangen hat. Damals soll Kappa sich einige Wochen lang mit dem Gedanken an Koks getragen haben, bis er schließlich sagte:
"Heute mach' ich's. Ich kauf' mir Koks."
Inzwischen soll Kappa abhängig sein. In der Zeit nach der Schließung des "Nachtlicht" soll Kappa so viel gekokst haben, daß er wie eine Leiche aussah.
Daß Rafa viel raucht, ist auch Lara aufgefallen. Sie hat beobachtet, daß er sich beim Auflegen eine Zigarette nach der anderen anzündet. Sie findet es schick, daß er weiße Zigaretten raucht. Cartier sind "Vorzeigezigaretten", die man verwenden kann, um besonders cool zu wirken.
Kappa soll immer noch mit Genna zusammen sein. Einmal soll er sich in der "Halle" zwei Mädchen unter die Arme geklemmt haben, und dann stellte er die Musik aus und rief vom DJ-Balkon herunter:
"Ich habe hier zwei Frauen, und das brauche ich für mein Ego!"
Hierzu fällt mir eine Zeile aus "Heat" von Soft Cell ein:
"Do you use our bodies like cigarettes,
do you need them for ego, do you need them for sex."
Bei der Organisation des Festivals, das Mitte Mai in der "Halle" stattfand, soll vieles schiefgegangen sein. Sandro fragte Rafa, weshalb die angekündigten Kirlian Camera nicht auftraten, und Rafa antwortete, er würde sich in die Brennesseln setzen, wenn er darüber nähere Auskünfte gebe.
Darryl soll sich auf dem Festival mit Kappa verstritten haben. Es soll so zugegangen sein, daß Darryl in einer Konzertpause die Bühne betrat und von einem Roadie von Nitzer Ebb deshalb eins übergezogen bekam. Darryl beschwerte sich lebhaft bei Kappa, der soll jedoch abgefüllt gewesen sein und nichts unternommen haben. Seitdem will Darryl angeblich nichts mehr mit Kappa zu tun haben.
Inzwischen soll Darryl bei der Mutter seines Kindes untergekommen sein.
Sandro kennt die Geschichte mit Darryl und Hennike auch. Er erzählte sie aber anders, als Toni es getan hat. Laut Sandro hat Hennike zuerst Darryl beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Während der Verhandlungen brach sie jedoch zusammen und erklärte, ihr eigener Vater sei es gewesen. Der Vater soll dann auch verurteilt worden sein. Revco spielte insofern eine Rolle, als es hieß, er sei dabeigewesen, als Hennike vergewaltigt wurde.
Was an all diesen Geschichten stimmt, bleibt jedoch offen.
Malda hat erzählt, daß sie sich mit Ivo Fechtner verloben will. Heiraten will sie ihn aber nicht. Ivo Fechtner soll sich übrigens mit seinen "Freunden fürs Leben" verstritten haben, Timo, Rayko und Sorel. Deshalb macht er mit ihnen keine Musik mehr.
Über Luisa wußte Malda, daß sie nur noch in Mainstream-Läden geht; in der Electro-Wave-Gothic-Szene ist sie gar nicht mehr zu finden. Das stützt meine Vermutung, daß Luisa damals vor allem deshalb zum Gothic wurde, weil Rafa sie dazu gemacht hat. Sie hat sich seinem Stil unterworfen, anstatt ihren eigenen zu entwickeln.
Damit man weiß, daß es Sommer wird, hat die Stadt die große antike Standuhr am CITICEN begrünt. Auf dem Dach wächst Gras, und Ranken hängen an allen vier Ecken herunter. In dem gläsernen Uhrenkasten wächst ein Kraut, angeblich Kartoffelpflanzen. Rote Pannesamtvorhänge leuchten durch das Glas.
Auf Constris Geburtstagsfeier waren auch Siddra und Sator. Sator hat gehört, daß Joël zur Zeit nirgendwo mehr auflegt. Er soll eine Umschulung machen.
Seth sagte, für ihn sei ich nur "die Ballerina". Wenn Rikka und Seth irgendwo eine Ballerina sehen, im Fernsehen oder auf Fotos, rufen sie:
"Hetty!"
Jane erzählte von der Kanzlei, in der sie arbeitet. Weil sie sich die Haare so kurz schneiden ließ, daß man die Rasur über den Ohren sehen kann, machte ihr ihre Chefin Ärger. Das übliche Vorurteil mußte wieder einmal herhalten: angeblich schrecke es die Kunden ab, wenn Mädchen sich über den Ohren rasieren. Ted und ich wissen es längst besser ... und das sagte ich Jane auch. Ich riet ihr, sich nicht einschüchtern zu lassen.
Es muß immer ein paar Mutige geben, die mit einem Stil anfangen. Allmählich gewöhnt sich das Auge der Öffentlichkeit an sie, und dann, nachher, will jeder so aussehen ... wenn auch vielleicht nur ein bißchen so. Der Gothic-Stil wird gezähmt und tragbar gemacht für die Sekretärinnen, die Versicherungsvertreter und die Bankkauffrauen.
Ich sagte Jane, daß ich nicht schockieren will. Ich will mich nicht abgrenzen. Ich will nicht auffallen. Ich will nur ich sein dürfen. Und das ist am ehesten gegeben, wenn mein Stil nichts Außergewöhnliches mehr darstellt. Ich muß also auf eine Verbreitung dieser Stilrichtung hinwirken.
Bei einer freundlichen Balgerei verlor Dereks Couchtisch ein Bein. Derek trat den Tisch endgültig kaputt und war stolz auf sein Werk. Nun mußte der Teppich als Tisch dienen.
Derek hat einen Untergrund-Katalog, in dem man die eigenartigsten Dinge bestellen kann - Schandmasken, Richtschwerte, Stundengläser mit allegorischen Figuren und Zigarettenguillotinen.
Während Constri ihren Geburtstag feierte, war Malda im "Exil". Rafa legte auf. Er hatte sich die Haare hochgestellt und trug eine Spiegelbrille.
"Ist Ivo auch da?" erkundigte er sich bei Malda.
Sie verneinte. Sie war mit ihrer Freundin Cassandra ins "Exil" gekommen.
Rafa unterhielt sich nicht weiter mit Malda; er wirkte sehr beschäftigt. Maldas Musikwunsch - "Hello hello" von Lars Falk - spielte er jedoch sogleich.
Malda hat das Barmädchen Sharon nicht bei Rafa hinterm Pult gesehen. Freilich waren Cassandra und Malda nur eine Stunde lang im "Exil", von Mitternacht bis eins, und sie konnten nicht mehr beobachten, was später noch geschah. Cassandra hält es nicht lange in Discotheken aus; sie hat eine Scheu vor Menschen.

In einem Traum machte Rafa einen Vorschlag für ein Treffen. Ich nahm den Vorschlag nur zögernd an. Durch dieses Zögern handelte ich mir endlose Streitgespräche mit Rafa ein, der sich von mir zurückgewiesen fühlte. Ich versuchte ihm zu erklären, daß ich ihn nicht zurückweisen wollte, doch er glaubte mir einfach nicht. Sein Vertrauen in mich lag darnieder.

Ich entnehme diesem Traum den Ratschlag, daß ich erst einmal zustimme, wenn Rafa einen Vorschlag macht. Paßt mir etwas an dem Vorschlag nicht, kann ich das später immer noch sagen. Rafa braucht Bestätigung, und er braucht sie umso schneller und umso mehr, wenn er etwas wagt, vor dem er sich sehr ängstigt. Und Verabredungen mit mir lösen in ihm ganz besonders viel Angst aus.

In einem weiteren Traum wurde ich im Krankenhaus gemobbt, fand aber schließlich ein Plätzchen, wo ich in Ruhe gelassen wurde und ungestört arbeiten konnte. Ich kletterte auf ein Regal, auf dem noch ein Regal stand. Dieses obere Regal drohte abzustürzen und mich mit zu Boden zu reißen. Hinter mir stand ein Tisch, auf den ich mich retten wollte, aber ich konnte ihn nicht erreichen.
"Kann mir vielleicht jemand den Tisch hinschieben, weil ich sonst umfalle?" rief ich. "Schnell ... schnell ..."
Da sprang gleich jemand herzu und rückte mir den Tisch hin. Ich trat darauf und brachte mich in Sicherheit.

Mitte Juni trafen Constri und ich Sandro in der Stadt. Strahlend berichtete er, daß es mit ihm und Lara etwas geworden ist. Sie trafen sich bei ihm und verbrachten die Nacht gemeinsam, und daraus ergab sich die Beziehung.
Malda hat erzählt, wie ihre Verlobung mit Ivo Fechtner war:
"Geht so."
Sie sollte ihr Essen selbst bezahlen, deshalb nahm sie nur etwas Kleines. Wenigstens die Ringe bezahlte ihr Verlobter. Jeder Ring kostete dreiundsiebzig Mark, und eingraviert wurde nichts; "das wäre ja noch teurer geworden".
"Jetzt stell' dir mal vor, was der Rafa wohl für Ringe aussuchen würde", sagte ich.
"Mit voll den Brillanten ...", vermutete Malda.
Laut Malda soll Ivo Fechtner Besserung versprochen haben, doch das hat er vielleicht nur getan, damit die Verlobung überhaupt zustandekommt. In Zukunft will Malda jedenfalls von ihm sofort Geld verlangen, wenn sie eine Pizza mitbringt.
Malda hat Ivo Fechtner gefragt, weshalb das zwischen ihm und mir "so komisch" sei. Er antwortete, das sei ja ich, die nicht mit ihm rede; von seiner Seite käme das nicht.
Onno berichtete am Telefon, er werde sich wohl bald von Grace trennen. Sie habe in einer vorherigen Beziehung Enttäuschungen erlebt und könne sich noch nicht wieder auf eine Beziehung einlassen. Er habe nicht vor, diese enttäuschenden Erfahrungen mit Grace aufzuarbeiten.
Carl hat erzählt, daß er sich mit Saverio gebalgt hat und daß auf diese Weise körperliche Nähe entstanden ist. Carl äußerte Saverio gegenüber die Vermutung:
"Du bist von deiner Mutter zurückgewiesen worden und hast jetzt Angst davor, daß ich dich enttäusche."
Saverio kommt aus einer zerbrochenen Familie.
Als Carl zu Saverio sagte:
"Ich liebe dich."
- entgegnete dieser:
"Du kennst mich doch gar nicht."
Am Samstag begrüßte mich Malda im "Elizium". Das schien Ivo Fechtner nicht zu passen. Als Malda und ich gerade miteinander getanzt hatten, kam er auf mich zu und riß mich am Arm.
"He!" rief er. "Wir beide ham noch mitnander zu reden!"
Ich befreite mich und lief zu den Türstehern. Ich erzählte ihnen, daß Ivo Fechtner auf mich losgegangen war, und bat sie, Ivo Fechtner zu verwarnen. Da ging auch gleich einer hin und redete mit ihm. Ivo Fechtner soll zugegeben haben, daß er mich am Arm gepackt hat. Nach dem kurzen Gespräch blieb er friedlich.
Elsa ist zum zweiten Mal mit Simon zusammen.
"Und wie ist es bei dir?" fragte sie mich. "Ich habe dich im 'Elizium' noch nie mit einem Mann gesehen, außer mit Rafa."
"Es gibt für mich auch keinen anderen als Rafa", erklärte ich.
Elsas Freundin Nora ist in einen Jungen verliebt, von dem sie glaubt, daß diese Liebe keine Zukunft hat, denn:
"Er hört Ska."
"In Indien gibt es das Kastenwesen", sagte ich. "Da gibt es für alle Berufe Kasten. Für die Priester gibt es eine Kaste ... und so weiter. Und niemand darf einen aus einer fremden Kaste heiraten."
"Ein Glück, daß das hier nicht so ist", freute sich Nora.
"Wieso?" fragte ich. "Wenn du meinst, du kannst mit einem nicht zusammenkommen, nur weil er Ska hört?"
"Na ... eigentlich hast du recht. Ich gebe ihn ja auch nicht auf."
Luc hat die Abschlußprüfung an der Fachschule für Gestaltung nicht bestanden. Es soll an einem bestimmten Lehrer liegen, der auch die meisten anderen Schüler durchfallen ließ.
Luc meinte, er sei froh, daß er sich nicht so schlecht fühle wie nach der Trennung von Veronique. Ein Jahr lang hat er ihr nachgetrauert.
Am Sonntag wurde Elaine getauft. Merles Mutter, Merles Schwester, Constri und ich waren die Paten. Elaine sah süß aus mit ihrem weißen Stirnband und ihrem Kleidchen aus Waschspitze.
An der Kaffeetafel erzählte Merles Mutter, daß sie nach dem Krieg in einer Moorhütte gewohnt hat. Diese Hütten habe ich vor siebzehn Jahren noch selbst gesehen. Unweit von Awb., dem Vorort von H., wo ich aufgewachsen bin, standen die winzigen, ärmlichen Häuschen mitten im Moor, zwischen Birken und Bombentrichtern. Sie waren so klein, daß ich mir kaum vorstellen konnte, daß sie einmal jemandem als Behausung gedient haben könnten. Arme Menschen, die im Krieg ihr Dach über dem Kopf verloren hatten, kauften sich damals für ein paar Pfennige ein Stück Moor und stellten ein Häuschen darauf. Später bekamen die Leute bessere Wohnungen und verließen ihre einsamen Häuschen. Erst um 1980 sind die letzten dieser Hütten der Moorautobahn zum Opfer gefallen. Ich habe sie später nicht mehr gefunden.

Ein Traum handelte von einem Mädchen, das mich und einen Mann auf der Straße ansprach und mit in ein Sektenquartier lockte. Dort wurde ein Video gezeigt. Man sah den weißhaarigen Guru, der ein Kind lobte, weil es sich von ihm hatte vergewaltigen lassen. Mir wurde übel. Das Mädchen ließ meinen Begleiter foltern. Ihm wurde helles Licht in die Augen geleuchtet.
"Ich liebe dich", sagte aus der Luft eine Stimme zu ihm, und er widerstand der Folter.
Da kündigte das Mädchen noch mehr Foltermaßnahmen an. Mein Ekel und meine Übelkeit wurden immer stärker.
"Wie komme ich hier heraus, ohne daß sie mir dasselbe antun?" dachte ich. "Eigentlich müßte ich mir zur Aufgabe machen, diese Sekte auszurotten. Aber wenn die Sektierer merken, daß ich gegen sie kämpfe, bringe ich mich in noch größere Gefahr."

Ein anderer Traum handelte davon, wie ein Mann um seine zukünftige Frau warb. Die beiden saßen in einer Marmorhalle auf einer Bank und unterhielten sich. Doch weil der Mann so gehemmt war, konnte er ihr seine Liebe nicht erklären. Schließlich stand sie auf.
"Tschüß dann", sagte sie freundlich, ihre Enttäuschung verbergend.
Sie ging aber nicht fort. Sie bummelte durch die glasüberdachte Einkaufspassage neben der Halle. Sie hoffte, daß der geliebte Mann ihr folgen würde. Das tat er wirklich, aber er wagte immer noch nicht, ihr den Heiratsantrag zu machen. Er beobachtete sie nur aus sicherer Entfernung. Sie ging langsam an einem Verkaufsstand vorbei. Dann drehte sie sich um, erblickte den Mann und fiel in Ohnmacht. Jetzt endlich bewegte sich der gehemmte, unbeholfene Mann auf sie zu. Was dann geschah, erfuhr ich nicht mehr, weil der Wecker klingelte.

In einem Traum hatte ich lauter Gefahren zu überwinden, und eine, die letzte, war die allergrößte; diese Gefahr hieß nur "er". Die Gefahren hatte eines gemein: sie bargen sich in der Gestalt von Menschen. Ich mußte herausfinden, welche Menschen die Gefahr in sich trugen, und diese Menschen mußte ich bekämpfen. Vor mir saß eine Frau, die immer ansagte, was für eine Gefahr als Nächstes drohte. Bald hatte ich alle Gefahren überwunden bis auf die letzte. Ich fuhr nachts mit Rafa in der Straßenbahn, weil das der vorgeschriebene Weg war. Mit uns fuhr eine Showtruppe, fünf junge Leute, in Schwarz und Weiß gekleidet. Und es schwirrte noch jemand um uns herum - der Sockenschuß. War er die letzte, ganz große Gefahr?
An der Haltestelle, wo es zu meiner Wohnung geht, stiegen wir alle aus. Die Straße war leer. Kein Auto fuhr vorbei, kein Mensch war zu sehen. Die Nacht war pechschwarz; nur die Straßenlaternen gaben ein bleiches, nebliges Licht. Schneematsch lag auf der Erde. Dabei war es gar nicht kalt. Ich legte mich mit Rafa einfach hin. Ich umarmte ihn und streichelte sein Gesicht. Er hatte sich sauber rasiert, und ich konnte ihn so streicheln wie schon lange nicht mehr. Der Sockenschuß tat uns nichts. Er lag in einer Parklücke und schlief. Ich sah wieder die Frau vor mir sitzen, die mir die letzte Gefahr ankündigen wollte. Da hatte ich eine Eingebung. Ich begriff, wer die Frau war.
"Er", sagte ich.
Die Gefahr verbarg sich in der Gestalt der Frau. Doch weil ich das erkannt hatte, hatte ich die Gefahr auch schon gebannt. Ich beschäftigte mich wieder mit Rafa. Er wurde unruhig. Er wollte ein Spielchen machen mit dem Sockenschuß. Er wollte ihm gegenüber so tun, als sei er schwul, und er wollte um den Sockenschuß werben.
"Ich tu's, ich tu's!" nahm Rafa sich vor. "Ich tu', was du mir geraten hast! Ich sage ihm, er kann mit mir, wenn er will! Nun wollen wir sehen, was geschieht!"
Er lief zu dem Sockenschuß und rüttelte an ihm.
Ich hatte Rafa wirklich empfohlen, sich dem Sockenschuß scheinbar anzubieten, doch den Zeitpunkt fand ich ungünstig. Ich wollte keine schlafenden Hunde wecken und versuchte, Rafa zurückzuhalten. Doch er hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, den Sockenschuß mit dem Spielchen zu verwirren. Zu meinem Glück fand der Vortänzer der Showgruppe sich bereit, an Rafas Statt das Spiel zu spielen. Der Vortänzer war groß und blond, und er trug schwarzes Leder. Forsch ging er an die Sache heran. Der Sockenschuß war schwer zu erwecken, und als er endlich wach war, da war er nicht mehr nur irre. Er war zu einem Automaten geworden, einem Monster. Er hüpfte mit einer Geschwindigkeit auf der Stelle, mit der Kastagnetten klappern. Dann lief er auf den Händen und hielt seinen Körper dabei waagerecht in der Luft. Schließlich begann der Vortänzer, dem Sockenschuß den Hof zu machen. Er tanzte ekstatisch, umgeben von seiner Truppe. Der Rhythmus der Musik war eine Art Kastagnettenklappern.
"Laß' uns beide zum Mond fliegen", sang der große Blonde.
Ich fand das Schauspiel so unterhaltsam, daß ich es am liebsten gefilmt hätte.

In einem anderen Traum fuhr ich mit ein paar Leuten in einem Ausflugsschiff auf einem großen Wasser, einem Hafenbecken. Ein Fremdenführer erzählte etwas über den Hafen. Ich entdeckte ein Schiff, das war so gewaltig, wie ich noch nie eines gesehen hatte. Es war beladen mit Gehwegplatten, Pflastersteinen und anderen Betonsteinen. Das Grau schimmerte golden in der Abendsonne. Die Steine türmten sich in Höhen, wie Baukräne sie haben. Ich verließ das Ausflugsschiff und stieg auf einer stählernen Leiter an dem Betonberg entlang, so weit hinauf, wie ich kam. Ich konnte mich nicht sattsehen. Weit unten in der Ferne lag das Ausflugsschiff und erschien winzig klein und flach. Ich mußte dorthin zurück, weil es nicht lange auf mich warten würde. Unten ging ich über einen langen Steg, der zum Teil überspült war. Anders konnte ich nicht zu dem Ausflugsschiff gelangen. Durch das Wasser war der Steg glitschig geworden, und ich rutschte aus und fiel quer über die Bretter. Ich fand keinen rechten Halt. Immer näher kam ich an den Stegrand; ich würde ins Wasser fallen. Doch vorher wachte ich auf.

Malda hat erzählt, daß Siddra sich schon wieder von Sator getrennt hat. Sie fühlte sich von ihm vernachlässigt.
Ivo Fechtner soll wütend sein über den Verweis, den er im "Elizium" bekommen hat.
"Hähä, in HB. gibt es keine Türsteher", soll er gesagt haben.
Das hört sich an, als wollte er damit drohen, mich bei "Crucifiction" anzugreifen.
Bei "Klangwerk" traf ich nach langer Zeit wieder Alanna. Mal ist jetzt mit einem Mädchen namens Dedis zusammen.
Wenn ich zu "Klangwerk" komme, kann ich immer nur meine Sachen in eine Ecke werfen und bin gleich auf der Tanzfläche, für mehrere Stunden fast ununterbrochen. Die Industrial-Elektro-Rhythmen wirken magnetisch auf mich. Zu den Höhepunkten gehörten "We are back" von L.F.O. und das einmalige "Fuckhead" von Test Dept., das aus der Zeit stammt, als Test Dept. noch handgearbeitete Industrialmusik gemacht haben.

Am Wochenende habe ich geträumt, der Sockenschuß würde im "Elizium" auf der Treppe zur Galerie stehen. Ich ging zu den Türstehern und fragte sie, ob sie vergessen hätten, daß der Sockenschuß gar nicht ins "Elizium" hineindarf. Die Türsteher hatten wirklich nicht mehr daran gedacht. Sie wollten den Sockenschuß wieder entfernen.

Als Carl, Constri und ich Ende Juni auf den Eingang des "Elizium" zukamen, saßen Sareth und seine Freunde davor auf der Treppe.
"Helmchen!" rief Sareth. "Kennst du einen, der Ivo Fechtner heißt?"
"Ja", antwortete ich. "Der hat angekündigt, mich am Freitag in HB. anzugreifen."
"Oh, da kenne ich ja die richtigen Leute!"
Drinnen bat Sareth, mich umarmen zu dürfen. Er wollte Siri ärgern. Ich hielt aber nichts von einem solchen Spiel. Das paßte Sareth gar nicht.
Derek hatte eine CD von der "Archives & Documents"-Box von Die Form mitgebracht. Luie spielte davon "Flesh Wound", ein rhythmisches Industrial-Stück mit schrägen, kreischenden Sounds. Wahrscheinlich kann man dieses lärmende Stück nur ertragen, wenn man industrielle Musik gewöhnt ist.
Im Vorraum der Toiletten begegnete mir ein kleines blondes Mädchen namens Kaja, das fragte:
"Bist du nicht die, die immer so geil tanzt?"
Kaja erzählte, ein Junge sei auf sie zugekommen; er würde auf mich stehen und sich nicht trauen, mich anzusprechen.
Toni traf ich auch im "Elizium". Ich sagte ihm, daß ich die Geschichte mit Hennike anders gehört habe, als er sie erzählt hat, und daß es weder Darryl noch Revco, sondern Hennikes Vater gewesen sein soll. Toni nahm das zur Kenntnis, äußerte sich aber nicht weiter dazu.
Derek unterhielt sich eine Zeitlang mit Laura. Es kam mir so vor, als wenn Laura ein Auge auf Derek geworfen hatte.
Gegen vier ging ich mit Sareth und seinen Leuten ins "Nachtbarhaus". Die Jungen machten Sprüche, die nicht immer stubenrein waren. Sareth betonte, daß er ein schlechter Mensch sei. Dazu guckte er ganz gefährlich.
"Du bist ein richtiger Rowdy", meinte ich. "Du erinnerst mich an die bösen Jungen auf dem Schulhof."
Siri verriet mir, daß ich Sareth damit sehr schmeichelte.
"Er will ein böser Junge sein", sagte sie.
Die Leute aus HB. glaubten mir, daß Ivo Fechtner mir übelwill. Sie versprachen, ein paar Worte mit ihm zu reden, falls er mich am nächsten Freitag tatsächlich angreifen sollte.
Sareth und Ivo Fechtner haben vor etwa zwei Jahren für dasselbe Szenemagazin gearbeitet. Sareth ist wütend auf Ivo Fechtner, weil der sich schnell die Promo-CD's abgriff, die dem Magazin zugesendet wurden.
Rys scheint früher als "schwer erziehbar" gegolten zu haben. Er erzählte mir, daß er lange nicht imstande war, Konflikte anders als durch Prügeleien zu bearbeiten. Inzwischen läßt er sich geeignetere Lösungsmöglichkeiten beibringen, und er berichtet von guten Lernerfolgen.
Ciril war nicht mitgekommen nach H. Siri meinte, sie glaube nicht, daß Ciril von seinem Wahn noch einmal loskommen wird.
Übrigens konnten sich die Leute aus HB. noch daran erinnern, daß der Sockenschuß sich früher "Jochim von Merkwürden" genannt hat.
Ende Juni ging ich in hellgrauen, silbrig schimmernden Kleidern zu Onnos Geburtstagsfeier. Das verwirrte die jüngeren Gothics und brachte sie zum Lästern. Sie scheinen sich von Uniformen abhängig zu machen und sich ihren Cliquenregeln unterzuordnen. Die eigenständigeren, meist auch älteren Leute in der Szene - und davon gibt es sehr viele - legen vor allem Wert auf ihren persönlichen Stil und kümmern sich nicht um Cliquenregeln.
Am nächsten Abend waren Eveline und ich bei Onno. Es gab japanischen Pflaumenlikör. Eveline erzählte, daß oft Vermutungen über die Herkunft meines Tanzstils angestellt werden.
"Kann die nicht anders, oder will die nicht anders?" sollen manche Leute fragen.
"Woher kommt das?" wollte Eveline es nun endlich wissen.
Ich erzählte ihr, wie ich 1990 im "Puzzle" in BS. die EBM-Musik kennengelernt habe und nach einem Schritt suchte, der für diese Musik schnell genug war. Ich fand drei Jungen, die einen bestimmten Schritt tanzten, und diesen Schritt eignete ich mir an und entwickelte ihn in den folgenden Jahren immer weiter und weiter.
Es gibt noch andere Schritte, die ich aus dem "Puzzle" habe. Die Grundlinie habe ich dort gefunden.
Revil wollte auch noch zu Onno kommen. Onnos Vermieter verbot Onno jedoch, die Tür zu öffnen, als Revil klingelte. Der Vermieter gilt als Menschenhasser. Ich habe Revil schließlich die Tür aufgemacht. Da wurde der Vermieter gewalttätig. Er zerrte an mir herum und schleuderte mich durch den Flur. Er schrie, die Gäste von Onno seien alle Kiffer und Huren, und überhaupt würde er alle hinauswerfen. Onno freute sich, weil er sowieso gehen wollte und nun keine Doppelmieten zahlen muß. Ich zeigte den Vermieter wegen Körperverletzung an, und Onno, Revil und Eveline stellten sich als Zeugen zur Verfügung. Am späteren Abend gingen wir noch zu Luca, der ebenfalls Geburtstag hatte. Luca wohnt in einem alten, windschiefen Häuschen, das chaotisch eingerichtet ist. In dem Durcheinander gibt es viele Totenschädel und sogar einen lebenden Skorpion.
Am Mittwoch begegnete mir in der Hochschule ein Krankentransporteur, der rief:
"Hi Betty!"
Es stellte sich heraus, daß er einer von den netteren Türstehern im "Nachtlicht" gewesen war. Er macht jetzt eine Reihe von Parties in den "Katakomben". Im "Exil" war er nur einmal und nur eine Stunde lang. Er mag Kappa gar nicht mehr leiden.
Am Mittwochabend war ich bei Malda. Sie erzählte mir, daß sie und Ivo Fechtner am Samstag nicht nach HB. fahren, sondern in die "Katakomben" gehen.
Als ich von dem "legendären 'Fall'" in BO. sprach, meinte Malda, ich sei auch eine Legende. Sie findet, daß ich der außergewöhnlichste Mensch sei, dem sie je begegnet sei.

Letztens hat Malda geträumt, ich würde ihr mein Lieblingsparfüm vorstellen und es ihr auftragen. Dann würde ich begeistert an ihr schnüffeln. Und ich würde sie nur mögen, weil sie mein Parfüm trug.

"Hoffentlich ist das nicht so", sagte ich über diesen Traum. "Ich möchte andere Menschen nicht ausnutzen, um mich selbst zu beweihräuchern. Ich will ihnen etwas geben."
Malda erzählte mir von ihrer zweijährigen Beziehung mit einem erheblich älteren Mann, der sie sehr vereinnahmte und drangsalierte. Malda war damals knapp volljährig. Die Mutter und das Gesundheitsamt halfen ihr dabei, von dem Mann wegzuziehen. Ivo Fechtner drangsaliert und vereinnahmt Malda auch. Wenn es ihr zuviel wird, droht sie damit, ihn zu verlassen.
Malda hat Ivo Fechtner noch einmal darauf angesprochen, daß er verbreitet, mit mir zusammengewesen zu sein. Er redete sich auf eine recht unbeholfene Art heraus:
"Ich habe ja nicht behauptet, daß ich mit ihr im Bett war."
Daß ein jeder aus "zusammen" auch "Bett" schließt, übergeht er geflissentlich.
Bei "Crucifiction" traf ich Dag und Geraldine. Maleen sagte, sie wolle Dag nicht mehr sehen und habe den Wunsch, ihn zu hauen. Ich mußte daran denken, daß sich meine Liebe zu Rafa nie in Haß verwandelt, gleich, was er anstellt. Dabei grenze ich mich durchaus von ihm ab, wenn er meine Gesellschaft und Zuwendung nicht verdient. Liebe und Selbstaufgabe sind für mich nicht dasselbe, im Gegenteil. In meinen Augen kann man nur für jemanden wirklich da sein, wenn man "da" ist, sich also nicht aufgibt, sondern sich um sich kümmert.
Vielleicht kann sich wirkliche Liebe gar nicht in Haß verwandeln.
Kurz vor Schluß lief bei "Crucifiction" "Tanz dich in mein Herz" von Rafa, dieses Stück, in dem er die Sängerin singen läßt.
"Oh je! Das singt die Exfreundin von Rafa", sagte ich zu Siri. "Mit der ist der jetzt zum neunten Mal auseinander."
"Also, ich finde, die kann überhaupt nicht singen."
"Kann die auch nicht."
"Das ist echt nur so ... la ... la ..."
"Eben, und so ist die auch vom Charakter - völlig ausdruckslos."
"Das ist W.E, nicht?"
"Ja."
"Die sind doch im 'Kehrwieder' aufgetreten", erzählte Siri. "Und wir kamen aus irgendeinem Grund kostenlos 'rein; deshalb waren wir da. Und wie die gesungen hat, die Jungs haben die voll angegeilt. Dabei finde ich die echt ganz schön eklig."
"Das ist die auch wirklich. Ich denke, Rafa glaubt, er ist so wenig wert, daß er nichts Besseres verdient hat als so ein Hurenweib."
"Das ist ja wohl ein schwaches Bild."
Siri und ich tanzten zu "Kick that habit man" von Monte Cazazza, dessen schwingender Rhythmus an die monotonen Klassiker von Suicide erinnert. Es ging weiter mit einem Stück aus dem Neoklassik-Bereich, "Kissing Jesus in the Dark" von Autopsia.
"Wenn ich daran denke, daß Rafa das auch könnte ...", seufzte ich. "Aber er hat gesagt:
'Ich will einfache Musik machen.'
Nur hat er dann auch einfach gestrickte Fans. Vielleicht will er solche Fans haben, weil er sich denen nicht unterlegen fühlt. Dabei ist der so intelligent; der ist ein richtiger Computer.
Rafa hat gesagt, er macht deshalb einfache Musik, weil das ankommt."
Bei Siri kommt diese Art von Musik jedenfalls nicht an:
"Echt, man hat eine CD, und dann reicht's einem."
Anfang Juli habe ich Folgendes geträumt:

Ein sehr langer Spielfilm kam im Fernsehen. Es ging um ein Mädchen, das nicht aufgab. Ich nenne es Vicky. Vicky liebte einen Mann namens Telly, der dauernd vor ihr davonlief. Telly wurde aus seiner Firma hinausgeworfen und gründete eine Showgruppe, mit der er herumzog. Vicky versuchte, ihn für einen Auftritt in einer bestimmten Halle zu gewinnen. Telly sagte ab, doch Vicky ließ nicht locker. Nach vielen Irrwegen kam Telly mit seiner Truppe schließlich doch - und er war sogar pünktlich. Vicky empfing ihn auf der Straße, die zur Halle führte.
"Telly, du weißt doch, daß ihr in fünf Minuten auftreten müßt", mahnte sie. "Nun komm' schon."
Und sie ging mit Telly auf die Halle zu, und die Truppe folgte ihnen.
"FIN" leuchtete auf der Mattscheibe.

Rafa hat wie Telly seine Firma verlassen; ob er freiwillig ging oder hinausgeworfen wurde, weiß ich allerdings nicht. Rafa hat auch eine Art Showgruppe, mit der er tourt. Und er läuft immer vor mir davon.
Am Ende des Films führte Vicky ihren Telly weg. Ob sie es schaffte, ihn zu heiraten, erfuhr man nicht.
In der Hochschule habe ich auf MRT-Bildern gesehen, wie das Gehirn langjähriger Raucher aussieht. Der Zigarettenkonsum soll langfristige Schäden verursachen.
Will Rafa nicht mehr denken können? Will er nichts mehr merken? Will er sich selbst ausradieren?
Im "Elizium" traf ich Reesli. Weder er noch ich hatten das Interview, das Rafa in Qu. gegeben hat, in dem Videokanal gefunden. Wir brachten nicht heraus, wann und ob es gesendet wurde.
Laura scheint Dereks mißgelaunte Stimmung ausnutzen zu wollen. Constri ist durch ihr Studium sehr belastet, und Derek weigert sich, zu arbeiten und fühlt sich nutzlos, weil er der fleißigen Constri nichts entgegenhalten kann. Constri ist am Wochenende müde, und wenn sie mit ins "Elizium" kommt, bleibt sie nicht lange. Derek sucht also nach Leuten, die nicht müde sind. Und Laura ist nimmermüde.
Derek ist ausgesprochen verstockt, seit Constri so wenig Zeit hat. Durch sein Verhalten greift er Constris Nerven noch zusätzlich an - anstatt ihr zu helfen und sie zu unterstützen. Vielleicht ist er neidisch auf Constri, weil sie so fleißig ist. Vielleicht denkt er auch, daß er ein Recht darauf hat, Constri ständig zu beanspruchen.
Im "Elizium" spielte Xentrix "Hersenvreters" von De Fabriek. Ich hatte schon ganz vergessen, was "Hersenvreters" für ein außergewöhnliches Stück ist. Es ist dumpf und rhythmisch und hat seltsame, etwas melancholische Samples. Es stammt von der CD "Save the Planet". Auf dieser CD gibt es auch ein Stück, bei dem Mal mitgewirkt hat. Es heißt "Gewalt". Man hört den treibenden Notstandkomitee-Rhythmus und die Flüsterstimme von Mal, die gut zu verstehen ist, weil er jede Silbe deutlich ausspricht:
"Problemlösung mit Gewalt, das ist hier der Alltag."
Mal macht kritische Texte. Rafa macht ebenfalls kritische Texte. Und neuerdings gibt Rafa sich auch Mühe, deutlich zu sprechen.
Die Musik und die Texte von Mal kann ich ernst nehmen. Was er macht, wirkt auf mich stimmig. Das, was Rafa macht, kann ich leider nicht ernst nehmen. Kritik ist etwas Dunkles; sie verträgt sich schlecht mit Heile-Welt-Geklimpere, erhobenen Zeigefingern und einer Sprache auf Sesamstraßen-Niveau.
Derek verließ gegen vier Uhr das "Elizium", und das ist sehr früh für ihn. Er ließ sich von Laura begleiten. Constri wird wohl nicht darum herumkommen, Maßnahmen zu ergreifen. Derek muß die Erfahrung machen, daß Constri ihm Halt gibt, und Halt bedeutet auch, daß Grenzen gesetzt werden.
"Man kann zusehen, wie sich die Pärchen finden und wieder trennen", sagte ich zu Sasch. "Welches Pärchen bleibt denn schon zusammen?"
"Ist vielleicht auch besser, allein zu bleiben", fand er.
Carl hat Constri am Sonntag erzählt, Iana habe zu ihm gesagt, Laura habe zu ihr gesagt, Constri und Derek seien nicht mehr zusammen. Laura scheint gegen Constri zu intrigieren. Überdies kam heraus, daß Laura dem Derek das Kompliment gemacht hat, er sei der schönste Junge im "Elizium".
In der Psychiatrie, wo ich den letzten Abschnitt meines Praktischen Jahres mache, kann ich auch Komplimente einsammeln. Ein gleichaltriger Kollege namens Brendan will unbedingt zu mir zum Abendessen kommen. Ich wies ihn darauf hin, daß ich nur Rafa unter solchen Voraussetzungen zu mir einladen würde. Er könne allerdings gern mit mir in ein Restaurant gehen. Das wollte Brendan aber partout nicht, und dadurch war für mich die Eindeutigkeit seines Vorhabens endgültig erkennbar, was auch noch durch seine schmachtenden Blicke unterstrichen wurde. Ich hatte den Eindruck, daß es Brendan keinesfalls um mich als Mensch ging; er hätte doch sonst den Vorschlag mit dem Restaurant annehmen können, um mich näher kennenzulernen.
Ein anderer, nur zwei Jahre älterer Kollege namens Pontus guckt mich öfters mit einem leichten Lächeln an.
"Na, was guckst du so?" fragte ich ihn.
"Ich schau' dich halt gern an", erwiderte er.
"Ja?"
"Es ist immer wieder faszinierend", meinte Pontus.
"Darf ich das als Kompliment notieren?" fragte ich.
Zögernd antwortete er:
"Ja."
"Oh, Komplimente höre ich gerne."
Pontus wirkte etwas schüchtern, und ich war skeptisch, weil ich im Berufsleben so schnell niemandem vertraue. Während meiner Schulzeit und meines Studiums habe ich zuviel Mobbing erlebt. Ich frage mich, weshalb allgemein so viel gemobbt wird, nicht nur gegen mich. Neid scheint eine wichtige Rolle zu spielen. So saß in der Mensa eine unscheinbar gekleidete Endvierzigerin an unserem Tisch, mit harten Gesichtszügen, Brille und puritanischer Kurzhaarfrisur, die sprach mich in harmlosem Tonfall an: Sie würde mich ja noch fast gar nicht kennen, und sie wollte wissen, wer ich denn sei? Ich sagte ihr meinen Namen. Umständlich teilte sie mir mit, daß da wohl ein paar Kollegen über mich gelacht hätten.
"Mir ist das egal, wenn irgendwelche Leute über mich lachen", erwiderte ich.
"Dann haben Sie ein gesundes Selbstwertgefühl", meinte die Frau.
"Wer ist das denn alles, der über mich gelacht hat?" erkundigte ich mich.
"Das sage ich Ihnen nicht", entgegnete die Frau. "Ich liefere die Kollegen nicht ans Messer."
"Ich möchte aber wissen, wer über mich lästert, damit ich weiß, welche Leute ich meiden muß."
"Ich will Sie ja nur schützen ..."
"Wenn Sie mir nicht sagen, wer das war, schützen Sie nicht mich, sondern die Leute, die über mich lästern. Warum lästern die eigentlich?"
"Na, ja ... mit dieser Schminke und so ... da darf man ... was heißt, darf man ..."
"Es gibt Menschen, die sind Psychologen und tolerant, und es gibt Menschen, die sind Psychologen und nicht tolerant", meinte ich. "Fragt sich nur, was besser ist."
"Na ja, solche ... Extremitäten sind immer ..."
"Extremitäten sind Arme und Beine."
"Na ja, Extreme", berichtigte sie sich. "Hier gab es auch mal eine Kollegin, die trug sehr ausgeschnittene Kleidung."
"Aber das habe ich ja nicht."
"Nein, das sage ich auch gar nicht."
"Warum vergleichen Sie mich dann mit der?"
"Ich vergleiche Sie nicht mit der."
"Ich habe das Wort 'dürfen' gehört", hakte ich ein. "Darf man sich denn hier schminken oder nicht?"
"Natürlich darf man das."
"Gut, mehr wollte ich auch gar nicht wissen. Wie heißen Sie eigentlich?"
"Frau Mehder."
"Ah, ja. Die anderen Namen kriege ich auch noch 'raus. Ich muß doch wissen, wer über mich lästert."
"Ich lästere nicht über Sie!"
Ich winkte müde ab und entfernte mich.
Der neue Kollege Errol erzählte mir, daß in KS., wo er vorher gearbeitet hat, auch welche über ihn gelästert haben. Nachdem er gerade vier Tage in KS. war, gingen ein paar Kollegen zum Chef und behaupteten, Errol sei unfähig. Später bekam Errol den Grund für diese Intrige heraus: sie hatten Errol beim Chef schlechtgemacht, weil er nicht wie die anderen Birkenstock-Latschen trug, sondern Schuhe mit Ledersohlen.
"Die Gründe für das Lästern sind irrational", meinte Errol. "Manchmal kann man aus der Kritik der Kollegen etwas lernen. Aber das mit deiner Schminke und meinen Ledersohlen ist natürlich absurd."
Nicht nur unter Kollegen gibt es Merkwürdigkeiten. Die Patientin Mireille Talbot, eine zierliche Dame Mitte fünfzig, die sich seit Jahren für schwanger hält, läuft im korrekten schwarzen Midi-Kleid mit Täschchen in der Hand auf einer geschlossenen Station auf und ab und beschwert sich. Zwischendurch schreibt sie lange Briefe an den Kanzler der Hochschule, die sie doppelt datiert, oben mit den tatsächlichen Datum, darunter in Klammern mit einem Datum acht Jahre weiter. Frau Talbot ist überzeugt, daß man gerade im "römischen Reich" lebe und daß sie einen Sohn habe, der der "römische König" sei. Der Stadtteil von H., wo sich das Heim befindet, in dem sie lebt, liege im Mittelpunkt des Weltalls.
Im Arztzimmer stellte uns Frau Talbot in der Visite ihren Mann vor, der neben ihr stehe. Er heiße Antonio. Pontus bemerkte:
"Wir können Ihren Mann aber gar nicht sehen."
"Sie wollen ihn nicht sehen!" wußte Frau Talbot zu erwidern.
Pontus bat Frau Talbot, ihren Mann im Arztzimmer zu lassen und kurz hinauszugehen, damit wir allein mit ihm reden könnten. Als er sie wieder hereinrief, teilte er ihr mit, auch ihr Mann sei der Ansicht, daß es nötig sei, daß sie hier auf der geschlossenen Station behandelt werde.
"Das wollen wir doch mal sehen", entgegnete Frau Talbot und flüsterte ihrem nicht vorhandenen Ehemann etwas zu.
Dann schaute sie uns mit wütend funkelnden Augen an und vermeldete:
"Stimmt nicht! Mein Mann will gar nicht, daß ich hierbleibe! Sie haben gelogen!"
Malda erzählte von ihrem Abend mit Ivo Fechtner in den "Katakomben". Gegen ein Uhr kam Rafa für ein Stündchen her. Ivo Fechtner berichtete ihm stolz, daß er sich mit Malda verlobt hat, und zum Beweis zeigte er ihm den Ring. Er nahm auch Maldas Hand und zeigte Rafa, daß sie ebenfalls solch einen Ring trägt. Malda paßte es gar nicht, vorgeführt zu werden wie ein neuerworbenes Auto. Rafa sah sich Ivo Fechtners Ring an und sagte trocken:
"Der Ring ist aus dem Kaugummiautomaten."
"Nein! Das ist echtes Gold!" beteuerte Ivo Fechtner. "Das ist 333 Gold!"
"Der Ring ist aus dem Kaugummiautomaten", wiederholte Rafa ungerührt.
"Hier, die Ringe sind beide gleich!" rief Ivo Fechtner. "Die sind echt!"
"Nein, die sind aus dem Kaugummiautomaten."
Malda lachte und lachte.
Rafa hat Ivo Fechtner an seinen schwächsten Stellen erwischt, an seinem Geiz und seiner Wichtigtuerei. Und er hat erreicht, daß Ivo Fechtner von der Frau ausgelacht wurde, die er stolz herumzeigte.
Rafa soll ohne weibliche Begleitung in den "Katakomben" gewesen sein, nur mit Cyrus und dessen Freundin Deirdre. Rafa soll seine Sonnenbrille getragen haben.
Am Freitagabend waren Constri, Derek, Carl und ich bei Merle und Elaine. Die Hitze machte uns alle träge, und Constri und ich waren müde, weil wir zu wenig Schlaf hatten. So wurden die Aufgaben dauernd weitergereicht:
"Hol' mal den Aschenbecher." - "Zünd' mal die Kerze an." - "Hol' mal Gläser." - "Schneid' mal die Baguettes durch." - "Gieß' mir mal ein."
Merle erzählte, daß sie von ihren Leuten auf Constri und mich angesprochen wurde.
"Sind die aus Porzellan?" hieß es. "Die sehen aus wie Puppen."
Merle sagt, sie findet uns toll, wie wir nun einmal sind.
Nachts traf ich Malda im "Elizium". Daria war auch da. Mir fiel auf, daß sie den Tanzstil der Sängerin nachahmt. Sie macht kurze Schrittchen mit verkreuzten Füßen und schüttelt die Handgelenke aus. Und das macht sie bei jedem Stück, egal wie es klingt und was für einen Rhythmus es hat.
Hennike ist auch nicht besser; sie trägt sogar ähnliche Kleidung wie die Sängerin. Aber es macht mir keinen Spaß, über Hennike zu lästern, weil sie mir nichts getan hat.

Morgens habe ich geträumt von einem Sektenguru. Er hatte eine sanfte Stimme, die mich ekelte. Der Guru sammelte viel höriges Volk um sich, das er nach Lust und Laune benutzen und foltern konnte. Ich hatte die Aufgabe, mich in das Sektenhauptquartier zu schleichen und ein Klappmesser herauszuholen. Ohne das Messer fehlte dem Guru ein wichtiges Stück seiner Macht. Ich fand das Messer auf einem Tisch liegend, und es gelang mir nach mehreren Anläufen, es mitzunehmen.
Es war nicht leicht für mich, an all diesen braven, unterwürfigen Jüngern vorbeizukommen, die mich bekehren wollten. Und es war erst recht nicht leicht, dem argwöhnischen Guru aus dem Weg zu gehen, der seine Macht gefährdet sah.
Mit einem dicken, brav wirkenden Mädchen ging ich in ein schloßähnliches Gebäude. Darin gab es einen Saal, in dem ein Sänger oder Redner etwas vortrug. Das Mädchen gestand mir, daß es diesen Herrn anbetete. Wir saßen weit vorne. Ich wurde angegiftet von einigen Mädchen, die auch so weit nach vorne wollten und bemerkt hatten, daß ich den Vortragenden in keiner Weise verehrte.
In einem Folterkeller ließ der Sektenguru die Unliebsamen und Abtrünnigen einsperren. Sie mußten auf einer Bank sitzen, und sie wurden von Sektenmitgliedern besucht, die ihnen glauben machen wollten, man sei erst dann frei, wenn man sich unterwerfe.

Der Traum erinnert mich daran, wie ich vor über einem Jahr von Zuschauerinnen bei einem von Rafas Konzerten in der "Halle" angegiftet wurde, die sich darüber aufregten, daß ich in der ersten Reihe zweimal hin- und herrannte, um vor Rafa und nicht vor der Sängerin zu stehen.
Derek hat Constri gegenüber inzwischen beteuert, daß er von Laura nichts will und daß er Constri nur eifersüchtig machen wollte. Außerdem scheint es ihm in der Tat sehr geschmeichelt zu haben, von Laura umgarnt zu werden. Derek behauptet, er kümmere sich hauptsächlich "aus Mitleid" um Laura.
"Keiner mag die mehr", sagte er zu Constri. "Keiner will mehr mit der reden. Die hat alle ihre Freunde verloren."
"Das ist aber ihre eigene Schuld", wandte Constri ein.
Nachts war ich im "Elizium". Saverio besuchte mich im Vorraum der Damentoilette, und wir hielten eine halbe Stunde lang Kaffeeklatsch. Einige Mädchen hörten gespannt zu, wie wir uns über das Außenseitertum und die Kultur der Avantgarde-Szene unterhielten. Eines der Mädchen war ein besonders hübsches; es ist groß und schlank und hat ein ebenmäßiges Gesicht und lange blonde Haare, die seitlich mit einer Spange zusammengerafft sind. Mir ging durch den Sinn, daß man den Menschen nicht hinter die Gardinen schauen kann und nie weiß, was sich hinter der Fassade verbirgt, wie sie auch immer aussehen mag.
Saverio hat eine gewisse Szene-Arroganz. Er möchte, daß der kleine Kreis der Industrial-Hörer geschlossen bleibt. Ich hielt dagegen, daß es ein Überleben als Szene-Mitglied nur gibt, wenn man von der Gesellschaft nicht ausgestoßen wird, und das wird man am wenigsten dann, wenn die Szenekultur verbreitet wird und die Allgemeinheit sich daran gewöhnt. Außerdem sagte ich, daß ich mir wünsche, daß die musikalische Avantgarde möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht wird, damit auch diejenigen sie entdecken können, die noch gar nicht wissen, daß sie zu ihnen paßt.

In einem Traum las ich Inyas Namen auf einer Wand voller Graffitis. Ich wischte den Namen weg. Als Inya entdeckte, daß ihr Name abgewischt war, fragte sie erbost, wer das gewesen sei.

Vielleicht möchte ich Inya aus der Geschichte tilgen, ohne daß mir das bewußt wird. Das wird nicht nur an ihrem Verhältnis mit Rafa liegen, sondern auch an einem Vorfall im "Elizium", der vier Jahre zurückliegt. Damals kannte ich Rafa nur vom Sehen und tanzte mit ihm häufig zu "Gottes Tod" von Das Ich. Eines Nachts ging Inya zu mir auf die Tanzfläche und fragte mich:
"Kannst du mal kurz mit 'rauskommen?"
"Worum geht es denn?" erkundigte ich mich.
"Es ist wegen Jochen", antwortete sie.
"Nein", entgegnete ich sogleich und tanzte weiter.
Der Sockenschuß war zu dieser Zeit regelmäßig im "Elizium". Mit Inya war er damals gut bekannt, ohne jedoch mit ihr zusammenzusein. Ihr Anliegen, mit dem sie mich beim Tanzen störte, zeigte mir, daß sie mit Vorsicht zu genießen war, und ich mied sie noch mehr als sonst. Inya und ich sind gegensätzliche Geschöpfe und hatten uns ohnehin nie etwas zu sagen.
Am Sonntag fuhr ich nach L. zu einem Industrial-Festival. Mit den Leuten, die ich dort traf, unterhielt ich mich über DDR-Biermarken und über die Zimmerleute. Zimmerleute sollen ihre Kollegen mit Preßluftpistolen an die Wand tackern, ihnen Nägel durch die Ohren schlagen und sie stundenlang an Gerüsten baumeln lassen.
Winterkälte begannen das Festival mit uferlosen Rhythmen, die ihresgleichen suchen. Diese maschinellen Sounds passen zu den Motiven der Winterkälte-7''-Box, der kontraststarke Schwarzweißfotos von Strommasten beiliegen. Es wurde getanzt und getanzt, in derselben Endlosschleife, in der auch die Musik dahinlief, wie bei einer musikalischen Meditation. Die Performance umfaßte nicht nur die Musiker, sondern zu einem gleichen Teil das Publikum.
Dive trat danach auf, wie immer mit seinem Megaphon, und führte den Tanz weiter. Dirk I. soll süße sechsunddreißig Jahre alt sein. Ich finde ihn sehr hübsch, mit seinen blitzenden Augen und seinem jugendlichen Gesicht. Zur Zeit trägt er sein dunkles Haar kinnlang.
Esplendor Geometrico schließlich taten das, was als "Abräumen" bezeichnet wird. Die kahlen, strikten Rhythmen durchschnitten den Saal, und die Leute tanzten ernst und emsig, tanzten und tanzten. Währenddessen liefen abstrakte Computervideos ab. Was ich an solchen Szenen mag, ist das Miteinander, das Sprechen ohne Worte. Der Rhythmus verbindet alle, auf der Bühne und davor. Die rein elektronische, atonale Musik von Esplendor Geometrico bekam viel Applaus, und es folgten reichlich Zugaben. Nach dem Konzert lief Dirk I. mit einem Handtuch um den Hals durch die sich leerende Halle, in der schon ein grellweißes Licht brannte. Es war bis in den späten Abend hinein sehr heiß, und Dirk hatte sich bei dem Auftritt von Esplendor Geometrico naßgetanzt. Er erzählte mir, daß es in Belgien keine Industrial-Tanzläden gibt. Höchstens Aphex Twin wird dort gespielt. Und man sieht kaum Schwarzgekleidete.
Ich sagte Dirk, daß ich es hübsch finde, wenn er sein Haar länger trägt. Er war geschmeichelt. An unsere Begegnung in BO. vor zweieinhalb Jahren kann er sich noch erinnern. Als ich erzählte, daß in H. kaum noch Konzerte veranstaltet werden, fragte Dirk, ob HB. weit von H. entfernt sei.
Nein, das sei es nicht.
Dirk kündigte an, daß er im November in HB. auftreten möchte, gemeinsam mit Yelworc. Wenn ich dorthin komme, wird Dirk zu dem Künstler, den ich am zweithäufigsten auf der Bühne gesehen habe. Nur Rafa ist ihm noch voraus. Es ist schon seltsam; ich bin nie wegen Rafa in eine Konzerthalle gegangen, und dennoch habe ich ihn schon siebenmal live erlebt.
"Wir sehen uns bei 'Klangwerk'", sagte ein Junge zu mir.
Ich kannte ihn noch gar nicht, aber er kannte mich. Es kommt häufig vor, daß mich jemand anspricht, der mich kennt, ohne daß ich ihn kenne. Das kann mit meinem schlechten Gesichtergedächtnis zu tun haben.
Malda rief mich tags drauf an und berichtete, Ivo Fechtner habe den Wunsch, mit mir Frieden zu schließen. Ich entgegnete, wenn Ivo Fechtner Frieden haben wolle, müsse er mich in Frieden lassen.
Der Friede zwischen Ivo Fechtner und mir scheint vor allem Maldas Wunsch zu sein, die zwischen uns steht und nicht weiß, in welche Richtung sie sich wenden soll.
Am Dienstag um halb zwei Uhr früh rief Constri an, verheult wie so oft. Ich schimpfte sie aus und verlangte von ihr, daß sie Derek für ein paar Wochen aus der Wohnung wirft, damit er sich in Wn. darauf besinnt, was er an ihr hat. Ich finde, daß Constri sich von Derek viel zu viel gefallen läßt. Ihr fehlt es an einer ausreichenden Verteidigungsbereitschaft. Weil sie nicht aufhören wollte zu jammern, schickte ich sie zu Carl. Dort fuhr sie auch brav hin.

Gegen Morgen habe ich geträumt, daß meine Schreibtischlampe seltsame knackende Geräusche von sich gab. Schließlich ging sie aus. Ich schaltete das Deckenlicht ein, doch das leuchtete so schwach, daß man kaum etwas sehen konnte. Das Knacken ging unterdessen weiter, und ich hörte es noch, während ich erwachte.

Was sind das für müde, verendende Funzeln? Ist es Constris Mattigkeit und Unsicherheit, die ich bildlich erlebte?
"Ach, was soll ich nur tun?" ist Constris häufigste Frage im Hinblick auf Derek.
Und wenn man ihr sagt, was sie tun soll, kommt:
"Ich weiß nicht, ob das richtig ist."
Jetzt will ich mich mit ihr erst wieder über das Thema unterhalten, wenn sie vom Jammern zum Handeln übergegangen ist.
Carl beherbergt Constri, weil sie sich nicht nach Hause traut. Dabei ist es an ihr, Derek die Tür zu weisen. Derek soll mit Laura wirklich ein Techtelmechtel gehabt haben; das hat Carl über Iana erfahren. Wenn Rafa sich mit mir solche Sachen erlauben würde, müßte er sofort für mehrere Wochen nach SHG. verschwinden. Ich würde mit ihm absprechen, daß im Falle seiner Untreue Maßnahmen ergriffen werden, die er sich durchaus selbst aussuchen kann, sofern sie angemessen sind.

In einem Traum äußerte Jason den Wunsch, mich "ohne die andern" zu treffen. Ich befürchtete, daß er sich in mich verguckt hatte, und ich bremste ihn. Da sagte er, er wolle ja nur CD's mit mir austauschen. Ich meinte, wenn das alles sei, so ließe es sich einrichten.

Am Abend rief Derek bei mir an. Er suchte nach Constri. Er wollte aber nicht zugeben, daß er Sehnsucht nach ihr hatte. Er bot das Bild eines Menschen, der seine Gefühle nicht mehr spürt. Solche Geschöpfe empfinden das Leben nicht unbedingt als schlecht, aber als sinnlos. Denn die Gefühle, die dem Leben einen Sinn geben, nehmen sie nicht wahr. Und sie können auch nicht mehr an Gefühle glauben.
Derek ist wirklich sehr verstockt. Außer "Jaa", "Nnein", "Weiß ich nicht" und verlegenem Kichern hörte ich von ihm nur, daß an ihm und seinem Dasein nichts zu bessern sei und daß er außerdem soeben seine halbe Einrichtung zertrümmert habe - die Hälfte von dem, was noch von seiner Einrichtung übrig ist. Denn vieles, was er besessen hat, hat er bereits zerstört, und anderes hat er durch ungeschicktes Wirtschaften verloren.
Ich ermahnte Derek, vor seinen Problemen nicht davonzulaufen, sondern sie zu bearbeiten. Ich riet ihm dringend, es Constri zu sagen, wenn ihn etwas stört. So können sie beide gemeinsam Wege finden zur Lösung der Probleme. Und es können Mißverständnisse vermieden werden.

Ein Traum hatte die Gestalt eines Schwarzweiß-Films aus den zwanziger Jahren. Auf einem Schiff hatte sich eine tückische Krankheit ausgebreitet. Der Kapitän band sich am Steuerrad fest, in Erwartung des Todes. Als fast alle auf dem Schiff tot waren, schleifte eine Frau ihre tote Nebenbuhlerin in ein Bad, zog ihren Kopf in ein Waschbecken und zerschlug den Kopf mit einem Knochen.



Vor den "Elizium" begegnete mir Kaja. Sie erzählte, daß es viele Leute gebe, die auf mich eifersüchtig seien. Sareth und Rys waren auch draußen auf dem Weg. Ihre Freunde waren drinnen.
Im "Elizium" war ordentlich Trubel. Die Luft stand. Jungen und Mädchen hielten Fächer in den Händen. Als ich hineinkam, fing gerade "Deiche" von den Sex Gang Children an, und ich mußte gleich tanzen. Dann schaute ich, wer alles da war. Dolf sah ich und Sanna. Im Seitengang stand Stéphane und rechts neben ihm Ivo Fechtner. Links neben Stéphane stand jemand, der mir sehr verdächtig erschien. Dieser Herr hatte sorgsam hochgestellte Haare. Vorn hingen Strähnen herunter, die das Gesicht zum Teil verdeckten. Die Kleidung war das Auffälligste. Der Herr trug ein knielanges weißes Nachthemd aus Baumwolltrikot, bedruckt mit bunten Schmetterlingen. Darunter hatte er eine Leggins an, die mit bunten Punkten gemustert war. Ich betrachtete die schwere Gestalt und war mir gar nicht sicher, wen ich vor mir hatte. Der Mensch redete mit Inya. Ich ging erst einmal zu Stéphane und unterhielt mich mit ihm. Ich stellte mich so dicht neben den fremden Herrn, daß ich ihn berührte. Ich streichelte auch ein wenig die kräftigen, von Trikotstoff umhüllten Arme.
"Ist er's?" fragte ich leise in den Lärm hinein. "Ich muß es herausfinden."
Die Hände hatten die richtige Form, und die Uhr trug das Geschöpf nach innen. Die Ohrringe kannte ich nicht. Bei den spitzen schwarzen Schuhen war ich mir nicht sicher.
Ich stand lange so an Rafa gelehnt, und er redete fleißig mit Inya. Dolf stand bei der rechten Box und schaute unverhohlen zu mir hinüber.
Es kamen mehrere Leute an mir vorbei, die mich begrüßten. Da war Armin, da war Luca, und da war auch Sandro. Sandro klagte mir sein Leid:
"Mein Glück dauerte gerade zwei Wochen!"
"Oh je, oh je", seufzte ich. "Was macht man nur?"
"Ich trinke und trinke, so lange, bis ich nichts mehr merke."
"Das ist aber nicht gut. Das ist fürchterlich."
"Ja, deshalb weine ich ja auch alle Tage."
"Das ist schon besser."
Schließlich ging ich einige Schritte näher zur Bar, um Reesli und Siddra zu begrüßen. Siddra will Sator gerne wiederhaben, und sie hofft, daß er sie auch noch will. Sator hatte einen Besuch im "Elizium" angekündigt, um sich mit Siddra auszusprechen.
Rafa kam mir nach und stellte sich an die Bar, nur wenige Schritte von mir entfernt. Er unterhielt sich mit verschiedenen Leuten. Er redete und redete und redete. Ich konnte den Geruch wie Weihrauch und Patchouli wahrnehmen, den ich an Rafa so mag.
Reesli fand Rafas Kostümierung sonderbar.
"Ich kenne das von ihm", erzählte ich. "Das macht er immer, wenn er sich in frühere Zeiten zurückversetzen will."
"Der sah früher so aus?"
"Ja; er hat sich früher immer die Haare hochgestellt."
Reesli erzählte, daß er Rafa unlängst mit Salome im Gespräch gesehen hat.
"Ist er eigentlich liiert?" wollte ich wissen.
"Was heißt 'liiert'?"
"Ob er irgendeine Art von Freundin hat."
"Nein, ich glaube nicht", meinte Reesli. "Sonst hätte er sich wohl nicht so mit Salome unterhalten können."
Rafa hatte endlich genug am Tresen geschwatzt. Mit zwei Bierhumpen in einer Hand kam er auf mich zu.
"Na?" grüßte er freundlich und stolperte beinahe.
Dieses Stolpern kannte ich schon vom vorletzten Mal. Ich nahm Rafa behutsam in die Arme und sagte:
"Oh, jetzt mußt du aber aufpassen, daß du nicht dein Bier verschüttest!"
Ich streichelte ihm die Schultern. Argwöhnisch betrachtete ich die beiden Humpen und fragte:
"Für wen hast du denn das zweite Bier geholt?"
"Für mich!"
"Für dich! Warum nimmst du dann gleich zwei?"
"Weil ich sowieso mehr trinke als eins, und weil ich das nervig finde, wenn ich andauernd zur Bar rennen muß."
"Ah, ja."
Ich stehe vor ihm, eine Hand auf seinen Arm, eine auf seine Schulter gelegt. Ich streichle ihn.
"Ach, Mensch, jetzt faß' mich doch nicht immer so an!" ruft er gequält und will mich abschütteln.
"Ich fasse dich aber so gerne an", erwidere ich und streichle ihn weiter.
"Ich will aber nicht angefaßt werden", sagt er trotzig.
"Warum willst du das denn nicht?"
Ich überlege, ob ich Rafa auf den Mund küssen soll, doch er ist zu abwehrend. Ich lehne meine Wange an seine. Und weil er so gut rasiert ist, streichle ich ihm die Wange auch noch. Rafa wirft den Kopf zur Seite.
"Oh, Mensch, jetzt - laß' mich doch mal los", sagt er unwirsch.
Ich mag ihn nicht loslassen. Er ist viel zu anziehend für mich, als daß ich vor ihm stehen könnte, ohne ihn zu berühren.
"Komm', jetzt - laß' mich los", drängt Rafa. "Bitte. Bitte."
Ich habe immer noch meine Hände auf seinen Schultern liegen und streichle ihn.
"Jetzt laß' mich doch mal los! He!" ruft Rafa leise und zieht meine Hände von seinem Körper.
Zum Ausgleich nehme ich eine Falte von seinem Gewand zwischen zwei Finger.
"Da auch", bestimmt Rafa und löst meine Hand von dem Kleidchen.
Damit erreicht er aber nur, daß ich meine Hände wieder auf seine Arme lege.
"Laß' mich doch mal los, bitte", sagt Rafa. "Bitte, bitte, bitte."
"Warum darf ich denn dich nicht anfassen?"
"Ich mag es nicht, wenn man mich anfaßt", behauptet Rafa.
"Was ist denn daran so schlimm, wenn ich dich anfasse?" frage ich mit ruhiger Stimme. "Was ist denn daran so schlimm?"
Rafa wehrt sich heftig.
"Jetzt laß' mich doch endlich mal los", verlangt er. "Bitte. Bitte. Bitte, bitte, bitte."
Seine Stimme klingt flehend und traurig. Ich kann aber nicht von ihm lassen.
"Siehst du, meine Bitten sind dir überhaupt nichts wert", folgert Rafa enttäuscht.
"Ich nehme deine Bitten schon ernst", erwidere ich.
"Warum läßt du mich dann nicht los?"
"Weil ich glaube, daß du das magst, wenn ich dich anfasse", deute ich und berühre seine Wange mit den Lippen. "Was ist denn so schlimm daran, wenn ich dich anfasse? Warum darf ich dich nicht anfassen?"
"Es geht nicht."
"Warum geht das nicht?"
"Da ist eine Mauer."
"Ich weiß, daß da eine Mauer ist", bestätige ich und sehe Rafa in die Augen.
"Übrigens siehst du heute echt niedlich aus", meint er.
"Du auch!" rufe ich und stütze mein Kinn auf seine Schulter. "So richtig zum Anbeißen."
"Ich will aber gar nicht gebissen werden", entgegnet Rafa mit einem Lächeln.
"Süüß", schwärme ich und strahle ihn an.
Ich halte ihn auch weiterhin vorsichtig in den Armen, und widerwillig läßt er mich gewähren.
Mir fällt ein, daß ich Rafa noch fragen muß, ob er eine Freundin hat.
"Und ... ? Wie sieht's aus?" erkundige ich mich.
"Es sieht so aus, daß ich noch jede Menge Videofilme von dir habe", gibt er zur Antwort.
"Wenn du solo bist, darfst du mich besuchen", schlage ich vor.
"Nein, du kommst zu mir", legt Rafa fest.
"O.k., ich komme zu dir. Wann soll ich dich denn besuchen?"
"Demnächst."
"Wie wollen wir uns denn verabreden?"
"Ich schlage vor, du rufst an."
"O.k., dann rufe ich dich an", sage ich und küsse noch einmal seine Wange. "Bist du denn zu Hause?"
"Ja, ich bin zu Hause. Ruf' aber am besten erst um vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn Uhr an. Das ist am günstigsten."
"Ist gut."
"So, ich muß aber jetzt unbedingt nach hinten ...", entschuldigt sich Rafa und strebt fort.
Ich entlasse ihn aus meiner Umarmung und gehe auf die Tanzfläche. Als ich an meine Tasche will, steht Rafa da, wo ich meine Sachen habe, und unterhält sich. Ich lecke an seinem Arm und kaue an dem Trikotstoff. Rafa äußert einen Laut der Empörung; ich weiß aber nicht, ob das mir gilt. Ich wühle meine Tasche hervor, streichle Rafa kurz über den Rücken und gehe zu den Toiletten. Als ich mich nachschminke, höre ich aus dem Vorraum Mädchenstimmen rufen:
"Rafa! Rafa!"
Er scheint das "Elizium" zu verlassen. Ich kann ihn nachher nicht mehr entdecken.
Sator kommt wirklich noch für ein Stündchen ins "Elizium". Von Siddra höre ich später, was er mit ihr besprochen hat. Ein Junge namens Teufel hat ihr empfohlen, Sator ins Gesicht zu sagen, daß sie ihn liebt. Das hat sie auch getan. Da wirkte Sator erleichtert und umarmte sie. Er sagte, sie solle sich ruhig neu binden, wenn das ihr Wunsch sei. Sator scheint auch schon wieder eine Freundin zu haben.
Luc beklagt, daß es so viele Leute gibt, die sich nur der Mode wegen schwarz kleiden. Er meint, er trage Schwarz wegen seiner inneren Einstellung, und diese sei "elitär".
"Ich fühle mich nicht als Elite", erwidere ich. "Ich möchte, daß sich der Gothic-Stil verbreitet. Ich will nicht auffallen. Ich will nur ich selbst bleiben."
"'Elitär' ist ein blödes Wort", lenkt Luc ein. "Vergiß' das. Ich bin nicht besser als andere. Ich bin nichts Besonderes, nur insofern, als jeder Mensch etwas Besonderes ist. Ich bin nur ich."
Ivo Fechtner starrt zu mir herüber, und das erinnert mich an den Sockenschuß.
Rafa erscheint wieder, als Xentrix anfängt, Rucksäcke mit dem Schriftzug von "IndiRec" zu verlosen. Auf der Treppe zur Galerie kommt Rafa mir entgegen. Ich streichle ihn am Arm. Ich glaube nach wie vor, daß er das mag.
Den letzten Rucksack, der verlost wird, bekomme ich. Ich kann als Erste sagen, daß das Lied, das gerade beginnt, "Israel" von Siouxsie and the Banshees ist und daß diese Version von dem Live-Album "Nocturne" stammt.
"He!" ruft Luie. "Ich denke, du hörst nur Elektronik!"
Als ich den Rucksack in meine Tasche stecke, kommt Xentrix vorbei und rügt mich:
"Schämst du dich denn nicht, den armen, mittellosen Kindern die Sachen wegzunehmen?"
Rafa tanzt nie. Er steht längere Zeit an der Bar, in seiner Zuflucht, der linken Ecke. Sareth ist sehr betrunken. Er lehnt an der Säule in der Nähe der Bar und sieht mir beim Tanzen zu. Endlich hat es sich gefügt, daß ich Rafa und Sareth am selben Ort treffe. Ich finde Sareth hübsch und nett, aber Dirk I. und Xentrix finde ich auch hübsch und nett ... und ich finde noch mehr Jungen hübsch und nett. Das hat nicht viel zu sagen. Was Bedeutung für mich hat, ist die Frage, ob ich mich jemandem nahe fühle, und nur Rafa fühle ich mich nahe.
Gegen drei Uhr verließ Rafa mit einem Trupp Leute den Tanzraum. Etwa eine halbe Stunde später schaute ich nach ihm und fand ihn draußen im Hinterhof. Umgeben von einem Menschenhaufen stand er vor der Treppe, die zum Eingang führt. Dolf sah zu mir hoch. Ich kehrte wieder um.
Siri weinte im Vorraum und wurde von Maleen getröstet. Siri hat Ärger mit Sareth. Er spielt den "schlechten Bengel". Er betrinkt sich sinnlos und verhält sich abweisend. Ich empfahl Siri, ihm herauszugeben, indem sie ihm Grenzen setzt und sich ihm entzieht, wenn er zu weit geht.
Sareth stand immer noch im Tanzraum und schaute grimmig. Ich erzählte ihm, daß ich den Mann meines Lebens bändige, indem ich ihn auseinandernehme. Sareth meinte, er hätte wohl Lust, sich auch so behandeln zu lassen, vorausgesetzt, es täte jemand, der ihm gewachsen sei. Der Gedanke bereitete ihm so viel Vergnügen, daß er lachte.
"Oh, ich habe gelacht", stellte er fest. "Entschuldigung."
Nun war es an mir, zu lachen. Ich fühlte mich an Rafa erinnert. Ich sagte Sareth auch, daß Rafa und er manches gemein hätten.
Als ich noch einmal nach Rafa schaute, war im Hinterhof niemand mehr. Es regnete.
Bevor ich mich im Morgengrauen auf den Heimweg machte, fragte ich Sandro, ob er sich inzwischen besser fühle.
Nein, es ginge ihm schlechter.
"Weshalb?"
"Ich weiß jetzt den Grund", erzählte er wutentbrannt. "Ich weiß jetzt, warum Lara mich nicht mehr an sich herangelassen hat. Sie wollte mich ja nicht mehr küssen. Und ich weiß jetzt, warum. Als sie bei Rafa übernachtet hat, hat sie mit ihm geschlafen und sich von ihm entjungfern lassen."
Sandro wollte zum "Exil" gehen und "aufräumen".
"Willst du Rafa zusammenschlagen?" fragte ich ihn.
"Nein."
"Willst du mit ihm reden?"
"Nein, ich rede mit Lara."
"Das ist auch besser", meinte ich. "Sie ist schuld."
"Rafa ist ein Schwein."
"Er ist ein Verirrter."
"Rafa ist ein Schwein."
"Er ist ein Verirrter, der dauernd Fehler macht."
"Alle, die Rafa näher kennen, haben mich vor ihm gewarnt", erzählte Sandro. "Als ich Rafa gesagt habe, daß ich mit Lara zusammen bin, da ist in ihm der Jagdtrieb erwacht. Er wußte, daß er sie jederzeit haben kann, weil sie ihn vergöttert. Und er, er hat vorher noch zu Lara und mir gesagt, wir wären im 'Exil' die beiden einzigen, denen er noch trauen könnte."
"Ist Rafa jetzt eigentlich mit Lara zusammen?"
"Ich glaube, nein."
Rafa hat seine Stärken benutzt, um anderen zu schaden. Er hat sich Selbstbestätigung gesucht auf Kosten anderer. Was ist das für eine Moral? Was ist das für ein Erzieher der Menschheit, der anderen so in den Rücken fällt? Was für eine Botschaft ist das, die Rafa den Menschen überbringen möchte? "Seid fies zueinander"?
Mir wird schwindelig, wenn ich daran denke, daß ich diesen Sünder liebe und mit ihm fertigwerden muß, was es auch koste. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn, diese Gestalt, so seltsam hilflos und schutzbedürftig. Es ist ein zweigeteiltes Wesen, und die Fassade wird mindestens ebenso überzeugend dargestellt wie das Geschöpf, das sich dahinter verbirgt.
Jane hat mir erzählt, daß sie sehr lachen mußte, als sie Rafa in seinem Nachthemd sah. Er hat richtig für Furore gesorgt.
Malda war in der Samstagnacht - während ich Rafa im Nachthemd traf - bei Cassandra zu Besuch und hat Folgendes geträumt:

Sie war selbst nicht im "Elizium", sie sah es nur wie in einem Film. Ich tanzte, graziös, und Rafa stand dicht hinter mir und schaute auf meine Füße. Er schien sich an mich kuscheln zu wollen. Seine Kostümierung war auffällig und für ihn sehr ungewöhnlich. Er trug ein bunt gemustertes, knielanges Kleid, das wie ein Nachthemd aussah. Seine Haare waren hochgestellt. Siddra fand diese Tracht cool und sagte:
"Hey Beavis, check this out!"

Als ich Malda erzählte, daß die Wirklichkeit ganz ähnlich gewesen war wie ihr Traum, sagte sie staunend:
"Nee, wa'?"
Malda und ich wissen zwar beide, daß man in seinen Träumen manchmal hellsehen kann, doch es beeindruckt uns immer wieder.
Daß Maldas Traum eine Erfindung von Ivo Fechtner war, mit der sie mich beeindrucken sollte, halte ich für unwahrscheinlich. So viel Phantasie traue ich Ivo Fechtner nicht zu, und welchem Zweck dieses Spiel hätte dienen sollen, könnte ich mir auch nicht erklären.
Ich erzählte Malda, daß Ivo Fechtner mir im "Elizium" zwar nichts getan, mich dafür aber angestarrt hat. Malda meinte, es liege wohl daran, daß Ivo Fechtner bedauert, mich nicht bekommen zu haben. Nichts sei zwischen ihm und mir gelaufen, soll er wahrheitsgemäß zu Malda gesagt haben. Nicht einmal einen Kuß auf die Wange habe er von mir gekriegt.
Bei Malda hat er es besser. Sie will ihn inzwischen auch heiraten und meint, daß sie ihn liebt.
"Ich mag es, daß er wie ein Köter und gleichzeitig wie ein Säugling aussieht", sagte sie zu mir. "Und ich wollte sowieso schon immer einen Mann haben, der kleiner ist als ich."
Ich erkundigte mich, wie Ivo Fechtner im Bett sei.
"Bei der Hitze hat er meistens keine Lust", sagte Malda.
Ich frage mich, wie lange Ivo Fechtner Abstand zu mir hält. Er hat zu Malda gesagt, er habe das Gefühl, klein beizugeben, wenn er mich in Ruhe ließe. Er soll rachedurstig sein.

.






.

Am Dienstag erreichte ich zuerst nur Rafas Mutter.
"Dawyne", meldete sie sich.
"Guten Tag", sagte ich. "Ich würde gern Rafa sprechen."
"Wer ist denn da?"
"Hetty."
Sie wollte ihn holen gehen.
"Rafa, bist du da?" rief die Mutter und schlug gegen seine Zimmertür. "Telefon!"
Als keine Antwort kam, hämmerte sie noch einmal ganz ordentlich gegen seine Tür und rief:
"Telefon! ... Telefon!"
Dann kam sie wieder an den Apparat und berichtete:
"Nee, rührt sich nichts. Kann aber eigentlich nicht weit sein."
Ich sagte ihr, daß ich es am Nachmittag schon einige Male erfolglos versucht hatte. Sie erzählte, Rafa sei zwischendurch dagewesen und hätte auch schon Anrufe gekriegt.
"O.k., dann versuche ich es später nochmal", kündigte ich an.
"Gut", meinte sie.
Kurz nach halb zehn versuchte ich es wieder. Die Mutter meldete sich:
"Dawyne."
"Guten Abend, ich bin es nochmal. Ich wollte nur fragen, ob Rafa jetzt da ist."
Sie ging gleich und holte ihn.
"Ist das Valentina?" fragte er, als er zum Telefon ging.
"Nein, das ist ein anderes Mädchen", antwortete die Mutter. "Die hat vorhin schon mal angerufen."
Ich argwöhnte sogleich, daß Rafa mit jener Valentina etwas hat.
"Ja?" meldete sich Rafa.
"Na?" begrüßte ich ihn.
"Wer ist da?" fragte er.
"Ich."
"Ja, wer ist da?"
"Ich bin's."
"Ach, du."
"Ich sollte dich doch anrufen."
"Jaa", erinnert sich Rafa. "Oh, Sch..."
"Ärgert es dich, daß ich anrufe?"
"Nö."
"Wir wollten uns verabreden."
"Ja. Komm' mal morgen vorbei."
Rafa spricht hastig, als wolle er mich möglichst schnell abfertigen und sich dann wieder anderen Dingen zuwenden.
"Morgen ist für mich ein bißchen eng", zögere ich. "Da weiß ich nicht, ob ich das kann. Ich glaube, das schaffe ich nicht."
"Na ja, Donnerstag habe ich keine Zeit, Freitag habe ich keine Zeit, nur morgen kann ich ausnahmsweise."
"Geht denn auch nächste Woche?"
"Nächste Woche?"
"Ja."
"Klar."
"Gleich Montag?"
"Ja, klar."
"Montag wäre für mich ideal."
"Na gut, dann kommst du Montag."
"Kannst du dir das merken?"
"Ja, klar."
"O.k., dann gib das mal in deinen lieben Computer ein. So, jetzt muß ich noch überlegen, welchen Zug ich nehme."
"Ruf' mich am Montag nochmal an, ja?"
"Wann soll ich dich denn anrufen?"
"Irgendwann."
"Du müßtest dann aber zu Hause sein."
"Sagen wir, ich bin zu Hause ab ... vierzehn Uhr, meinetwegen."
"Ich arbeite bis fünf."
"Ach, so ..."
"Das wird dann so ... eher um neunzehn Uhr 'rum sein. Du müßtest dann so ... siebzehn, achtzehn Uhr zu Hause sein."
"Gut, ich bin dann zu Hause."
"Sei am besten ab siebzehn Uhr zu Hause."
"Ja, klar."
"Gut, dann trage ich das in meinen Kalender ein, Montag, den 24.07. Ich rufe dich dann um fünf, halb sechs an. Kannst du dir das denn merken bis dahin?"
"Ja."
"Kannst du dann auch wirklich zu Hause sein?"
"Ja."
"Ja?"
"Ja, wir sehen uns ja wahrscheinlich am Wochenende eh nochmal."
"Nein, das geht nicht, weil ich am Wochenende nicht da bin."
"Oh, das ist schlecht."
"Ich bin am Freitag in HH. und Samstag in HB., weil - 'Crucifiction'."
"Ja."
"Also, dann sehen wir uns am Montag."
"Na, dann ist ja alles klar", meint Rafa.
"Nein, das ist noch nicht alles klar", erwidere ich. "Ich muß erst noch wissen, ob du solo bist."
"Na, ja."
"Ah ja, dann ist ja gut. Also, ich rufe dich am Montag gegen fünf, sechs Uhr an."
"O.k., mach' das. Tschüß."
"Tschüß."
Am Donnerstag bekam ich abends Besuch von Merle, Elaine, Constri, Derek und Carl. Derek hatte Elaine eine ganze Weile auf dem Schoß und wiegte sie in den Armen. Constri machte viele Fotos.
Merle erzählte von einem Bekannten, der mich auf ihrer Geburtstagsfeier gesehen und über mich gesagt hatte: "Ich habe Angst vor Hetty. Die wirkt wie eine Untote. Die ist so blaß, und die will nur Kerzenlicht haben."
Am Freitag fuhr ich doch nicht nach HH. zu der Elektro-Tanzveranstaltung "Stahlwerk". Es war zu heißes Wetter, und ich war zu müde.
Am Samstag war ich mit Constri, Derek und Carl in HB. Zuerst besuchten wir Folter. Dorthin kamen auch noch Ortfried, Odette, Talis, Ellen und Dag. Dag hat sich bei einem Unfall fünf Rippen gebrochen, und wegen der Schmerzen konnte er nicht lange bleiben. Rufus war auf der Rückfahrt von einem Konzert der harten japanischen Industrial-Noise-Band Merzbow am Steuer eingeschlafen und hatte selbst bei dem dann folgenden Unfall am wenigsten abbekommen. Ciril und Dag hatte es ärger erwischt. Dag freute sich darüber, daß er Valoron N verschrieben bekam:
"Das macht so schön dicht."
Constri trug ein enges schwarzes Spitzenkleid, das sie Siddra abgekauft hat. Constris schlanke Figur kommt in dem Kleid sehr zur Geltung. Wenn man Derek darauf anspricht, grunzt er verlegen:
"Hm!"
Mich nennt Derek übrigens "Miss Zerbrechlich". Er glaubte bislang, daß ich nicht wirklich so weiß bin, wie ich aussehe, sondern daß das nur vom Talcum kommt. Constri erklärte ihm, daß das Talcum nur zum Mattieren da ist.
Bei "Crucifiction" war Malda mit Ivo Fechtner. Dieser zog Malda weg, als sie mit Constri etwas besprechen wollte. Kurz danach kam Malda noch einmal zu Constri und führte hastig die Besprechung zuende. Später kam Malda mir in die Damentoilette nach, und wir tauschten uns über den Vorfall aus. Malda sicherte zuvor, ob Ivo Fechtner auch nicht in der Nähe sei. Dann sagte sie mir, sie sei sehr wütend über sein Verhalten. Sie wollte sich das nicht auf Dauer bieten lassen. Ich empfahl ihr, mit ihm Klartext zu reden.
Auch dieses Mal gab es viel Industrial bei "Crucifiction", darunter auch "Fire" von Maschinenzimmer 412 und "Sacrosancts bleed" von In Slaughter Natives.
Sareth und Siri vertrugen sich wieder.
"Ich habe nicht das Gefühl, daß ich ihn in der Hand habe, aber ich habe das Gefühl, daß ich ihn habe", meinte Siri.
Am Montag habe ich Folgendes geträumt:

Rafa und ich trafen uns tatsächlich. Rafa erfuhr viel von mir, und er merkte auch vieles, was ich vor ihm verbergen wollte. Rafa war mit mir wie in einer anderen Welt, und er schrieb lauter Ansichtskarten.

Als ich am Montagabend um zwanzig vor sechs bei Rafa anrief, dauerte es ein wenig, ehe seine Mutter den Hörer abnahm.
"Dawyne?" meldete sie sich.
"Guten Tag, ich würde gern Rafa sprechen."
Die Mutter sagte, außer ihr sei niemand da.
"Weil, wir waren nämlich verabredet", erzählte ich. "Er wollte zwischen siebzehn und achtzehn Uhr zu Hause sein."
"Bin eben nach Hause gekommen, ist keiner hier."
"Ist gut, dann melde ich mich später nochmal."
Gegen sieben Uhr versuchte ich es erneut. Es war besetzt. Etwa zehn Minuten später bekam ich wieder die Mutter an den Apparat.
"Guten Tag, ich bin es nochmal", sage ich. "Ich wollte nur fragen, ob Rafa jetzt da ist."
"Ja."
Sie geht, um ihn zu holen. Sie ruft ihn laut und schlägt mehrmals heftig gegen seine Tür. Es dauert ein Weilchen, ehe Rafa sich rührt, und dann darf er sich auch noch eine Predigt von seiner Mutter anhören. Ich kann den Wortlaut nicht verstehen, weil es zu weit weg ist. Aber der Tonfall spricht für sich.
"Ja?" meldet sich Rafa schließlich.
"Eigentlich wolltest du ja zwischen siebzehn und achtzehn Uhr zu Hause sein", tadele ich.
"Tja, isses eben später."
"Und, wie ist es?" frage ich. "Ich wollte ja zu dir kommen."
"Heute ... habe ich aber keine Zeit."
"So. Wir waren aber auf diesen Termin fest verabredet."
"Ist mir aber was Wichtiges dazwischengekommen."
"Was denn?"
"Das sage ich nicht."
"Was ist denn wichtiger als unsere Verabredung?"
"Alles mögliche."
"Was ist denn wichtiger, hm?"
"Das sage ich nicht."
"Das Date, das wir hatten, das war aber älter; das hatten wir schon letzte Woche ausgemacht. Und da hattest du noch Zeit."
"Es gibt aber Sachen, die wichtiger sind als das."
"Und was, zum Beispiel?"
"Ist doch egal", weicht Rafa aus.
"Ist mir nicht egal", gebe ich zurück. "Ich möchte das wissen."
"Ich sage dir das aber nicht. Ich kann eben nicht, und daran kann man nichts ändern."
"Also, für mich war der Termin fest."
"Der war nicht fest", widerspricht Rafa. "Ich habe doch gesagt, du sollst mich heute nochmal anrufen."
"Das geht aber nicht. Das ist nämlich so, wenn du mit mir ein Date machst, dann nehme ich mir immer den nächsten Tag frei. Und ich kann mir nicht dauernd irgendwelche Tage freinehmen."
"Wieso brauchst du den nächsten Tag frei?"
"Das ist doch klar, daß ich mir den nächsten Tag freinehme, wenn ich mich mit dir treffe."
"Das ist überhaupt nicht klar."
"Doch, für mich ist das klar. Na, jetzt weißt du's ja. Jedenfalls geht das deswegen auch erst in zwei Wochen wieder."
"Ja. Muß ich mit leben."
"Ich meine, wenn du dieses Treffen nicht nutzt, dann mußt du auch in Kauf nehmen, daß es erst sehr viel später stattfindet. O.k., dann gucke ich mal in meinen Terminkalender. Guck' du auch in deinen."
"Ich habe keinen Terminkalender."
"Dann schalte deinen Computer an. Irgendwie mußt du dir deine Termine ja merken. Also, in zwei Wochen ... natürlich nur, wenn du solo bist ... das muß ich ja immer zuerst abklären ..."
"Wie?"
"Ich muß dich doch immer erst fragen, ob du solo bist."
"Wieso mußt du das fragen?"
"Das weißt du doch, daß ich dich das immer fragen muß", erinnere ich ihn. "Bist du denn solo?"
"Ja."
"Gut; das mußte ich auch wissen. Ich meine, du hast ja nun wieder eine ganze Menge Frauen gehabt in der letzten Zeit. Also, welchen Tag wollen wir nehmen? Den wievielten?"
"Ach, das ist mir jetzt zu kindisch", wehrt Rafa ab. "Das ist mir alles schon wieder viel zu kompliziert."
"Das ist nicht kompliziert."
"Doch. Das ist viel zu sehr geplant. Sowas muß spontan sein."
"Das geht aber nicht immer spontan. Ich muß das planen. Mit anderen Leuten kann ich das auch machen, über zwei Wochen ein Date machen. Mit Malda geht das auch."
"Wer ist Malda?"
"Die kennst du nicht. - Ach, die kennst du doch! Die kennst du. Die ist jetzt mit Ivo Fechtner zusammen."
"Haa, die sind verlobt!" betont Rafa.
"Und Malda und ich sind befreundet", ergänze ich. "Also willst du dich heute nicht mit mir treffen ..."
"Ich habe wichtige Termine. Und wichtige Termine muß man einhalten."
"Nein, wichtige Termine muß man absagen. Was glaubst du, wieviele Termine ich schon abgesagt habe deinetwegen, im Februar; vielleicht erinnerst du dich ja noch dran."
"He, sind wir denn hier, um zu handeln?"
"Nein, es geht mir nicht darum, zu handeln. Es ist einfach nur so, daß ich es fair finde, wenn du auch meinetwegen Termine absagst. Wenn ich mich mit dir verabrede, dann nehme ich das sehr ernst. Dann hat das für mich eine echte Priorität."
"Es gibt eben Dinge, die sind wichtiger."
"Dann scheint dir unser Treffen ja nicht so besonders wichtig zu sein."
"Wieso, ich kann doch nichts dafür, wenn mir was dazwischenkommt."
"Ich meine, es könnte ja sein, daß du zu einer anderen Frau gehst."
"Ich gehe nicht zu einer anderen Frau."
"Also, gut. Na, wenigstens bist du solo; das ist ja schon mal etwas. An für sich möchte ich ja, daß du überhaupt nichts mehr mit anderen Frauen hast."
"Wieso? Ich kann doch? Ich darf doch?"
"Aber ich will es nicht."
"Ja, und? Kann dir doch egal sein."
"Das ist mir aber nicht egal. Und das weißt du auch, daß ich das nicht möchte. Ich will dich für mich allein haben."
"Vergiß' es", sagt Rafa wegwerfend. "Kriegst du nicht. Gibt's nicht. Das ist unmöglich."
"Ja, da muß ich dich noch hinerziehen."
"Erziehen! Ha!" lacht Rafa. "Ich muß dich erziehen!"
"Warum mußt du mich denn erziehen?" frage ich lauernd.
"Ich versuche dich schon so lange zu erziehen", seufzt Rafa. "Bisher sind alle meine Versuche gescheitert."
"Oh ... alle deine Erziehungsversuche sind gescheitert ... du bist süß, du bist einfach süß ... Wenn du schon so lange versuchst, mich zu erziehen, dann muß dir das doch sehr wichtig sein? Warum ist dir das denn so wichtig?"
"Weil du ein Mensch bist."
"Ach, und du willst alle Menschen erziehen?"
"Na ja, immerhin gehörst du ... zu meinem engeren Umfeld", erklärt Rafa, "was man ... daran merken kann, daß wir miteinander telefonieren, nicht?"
"Ach, du willst nur die Menschen aus deinem engeren Umfeld erziehen."
"Echt, dich müßte man mal übers Knie legen ..."- er dämpft seine Stimme - "... und dir so richtig den Pöter versohlen."
"Ach, du willst mich verdreschen."
"Was heißt 'verdreschen'? Ich will dir was klarmachen."
"Du hast aber gesagt, du willst mich versohlen."
"Na, ja - mental versohlen."
"Ah, mental", wiederhole ich genüßlich. "Warum willst du mich denn mental versohlen?"
"Wegen deinem Verhalten."
"Was stört dich denn an meinem Verhalten?"
"Ich komme mit allen anderen ... fünf komma fünf Milliarden Menschen klar, nur mit dir nicht", sagt Rafa, und ich spreche mit:
"... fünf komma fünf Milliarden Menschen klar, nur mit mir nicht. - Was ist das denn, was dich an meinem Verhalten stört?"
"Dein ganzer Stil", antwortet Rafa. "Schon allein der Tonfall ... schon allein der Tonfall, in dem du redest ..."
"Was stört dich denn an meinem Tonfall?"
"So redet man nicht, wenn man sich unterhält. So redet man, wenn man was in einen Computer eingibt."
"Und was stört dich sonst noch an meinem Verhalten?"
"Dein ganzes Verhalten."
"Was ist denn an meinem Verhalten?"
"Dein Verhalten ist ... abnorm."
"Und weil ich ein abnormes Verhalten habe, möchtest du mich versohlen?"
"Ja."
"Gibt es denn noch mehr Menschen in deinem Umfeld, die abnorm sind?"
"Nein."
"So, ich bin also die Einzige in denem Umfeld, die sich abnorm verhält."
"Na ja, wenn ich eine Rangordnung aufstellen würde, dann hättest du mit Sicherheit einen der ersten Plätze."
"Also verhalte ich mich am abnormsten von allen", schließe ich daraus. "Welche Eigenschaften sind es denn, die dich an mir stören?"
"Die fehlende Spontaneität."
"Du willst dich nie auf was festlegen."
"Ich muß mich doch nicht festlegen."
"Wenn du dich mit mir verabreden willst, mußt du das schon."
"Ich werde mich nie festlegen."
"Ich wollte mich eigentlich mit dir treffen. Und ich habe das Treffen sehr ernst genommen."
"Für mich ist das nichts Besonderes, wenn ich mich mit dir treffe", meint Rafa.
"Für mich ist es etwas Besonderes", gebe ich zurück.
"Es ist zwar nichts Besonderes, aber auch nicht ganz unwichtig", lenkt Rafa ein. "Immerhin habe ich mich mit dir verabredet. Und ich wollte das Treffen."
"Ich weiß, daß du das wolltest", bestätige ich. "Wir haben uns ja auch eine Weile nicht gesehen. Und das lag an dir."
"Wieso lag das an mir?"
"Ende Mai bist du ins 'Elizium' gekommen und hast gesagt, du willst mich anrufen."
"Ende Mai ist schon eine Weile her, ne?"
"Du wolltest mich anrufen, hast es aber acht Wochen lang nicht getan."
"Samstags bin ich immer ... im 'Exil'."
"Ich kann dich eben nicht einfach ansprechen, weil ich ja nie weiß, ob du eine Freundin hast. Das sieht man dir nämlich nicht an der Nasenspitze an. Du mußt immer auf mich zukommen. Ich komme nie auf dich zu. Und ich konnte dich ja nicht anrufen, weil du ja anrufen wolltest."
"Ha, was für eine Logik!"
"Ich kann das eben nicht dulden, wenn du mit anderen Frauen was hast."
"Lächerlich."
"Du willst dich nie festlegen."
"Worauf soll ich mich denn festlegen?"
"Du willst dich nie für mich entscheiden."
"Das ist absurd", meint Rafa. "Wir werden ohnehin nie zusammen sein. Außerdem - wieso - du kannst doch abends zu mir kommen und am nächsten Tag arbeiten. Das geht doch."
"Das geht eben nicht."
"Warum geht das nicht?"
"Es geht halt nicht."
"Ja, warum?" hakt Rafa nach. "Warum?"
"Weil das nach so einem Treffen für mich unmöglich ist, am nächsten Tag zur Arbeit zu gehen."
"Ach, du meinst, daß dich das so schafft, daß du am Tag danach frei brauchst?"
"Sicher."
"Oh, dann sollten wir uns wohl besser gar nicht mehr sehen."
"Doch, natürlich, ich muß dich sehen! Ich muß dich immer sehen. Ich muß dich dauernd sehen."
"Ich will mich aber nicht mit jemandem treffen, der mich dauernd angrabbelt und umarmt ... wir sind hier echt nicht im Kindergarten, echt."
"Was ist denn so schlimm daran, wenn ich dich anfasse?"
"Daß ich es nicht will. Ich fühle mich angegriffen."
"Du fühlst dich angegriffen."
"Ich fühle mich von dir ... vergewaltigt."
"So, du fühlst dich von mir vergewaltigt."
"Ja. Das ist ja, wie wenn irgendsoein Typ auf dich scharf ist und sagt, so, Baby, ich f... dich."
"Du hast mir gegenüber schon so viel körperliche Sehnsucht gezeigt, daß ich das nicht als Vergewaltigung sehe."
"Wolltest du das denn? Wolltest du, daß ich dich streichle?"
"Ja, sicher!"
"Siehst du, da ist der Unterschied. Ich will das eben nicht."
"Na ja, aber guck' mal, von dir kam doch körperliche Sehnsucht 'rüber", halte ich dagegen. "Du hast doch Verlangen nach mir gehabt."
"Ja, aber Gefühle können sich doch auch ändern."
"Ich denke schon, daß Gefühle etwas Dauerhaftes sind. Und du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, und da will ich dich natürlich anfassen."
"Ich will aber nicht, daß du mich anfaßt."
"Ich werde dich immer anfassen, wenn ich dich sehe", kündige ich an. "Wenn du verhindern willst, daß ich dich anfasse, darfst du nicht in meine Nähe kommen."
"Gut, dann müssen wir uns eben telefonisch kennenlernen."
"Na gut, dann telefonieren wir halt jetzt immer miteinander. Wie wollen wir das organisieren?"
"Das ist mir zu kindisch. - Ich meine ... du bist ja noch jung und kannst dir noch jemand anderen suchen."
"Das geht nicht", erwidere ich bestimmt. "Ich liebe dich und sonst keinen. Und daran wird sich auch nichts ändern."
"Gut, dann muß das zwischen uns eben immer so weitergehen, bis zu unserem Tod."
"Ja."
"Echt, was weißt du von Liebe!" begehrt Rafa auf. "Du hast da nur irgendsoein Gefühl und denkst gleich, das ist Liebe."
"Nein, ich liebe dich wirklich."
"Luisa und Tessa, was glaubst du, wie ich die geliebt habe!"
"Zumindest die Sängerin, die hast du nicht geliebt."
"Und wie habe ich die geliebt! Die liebe ich vielleicht immer noch!"
"Na, dann gehst du eben mit ihr zum zehnten Mal zusammen."
"Vielleicht gehe ich mit der noch tausendmal zusammen."
"Ja, vielleicht noch zehntausendmal."
"Genau."
"Das denke ich nicht, daß du die liebst."
"Was glaubst du, ich habe geheult wie ein Schloßhund wegen der, ich habe echt geheult wie ein Schloßhund."
"Ich denke trotzdem nicht, daß du die liebst."
"Warum nicht?"
"Weil die nicht zu dir paßt."
"Und ob die zu mir paßt!" widerspricht Rafa. "Tessa ist die Frau fürs Leben, echt."
"Dann heirate sie doch", empfehle ich. "Aber dann darfst du auch erst wieder mit mir reden, wenn du dich scheiden läßt. Und das dürfte schwer für dich werden."
"Wieso dürfte das schwer für mich werden?"
"Weil du doch immer wieder Sehnsucht nach mir hast."
"Ich habe keine Sehnsucht nach dir", will Rafa klarstellen.
"Aber warum kommst du dann immer wieder auf mich zu?"
"Weil ich immer noch die Hoffnung habe, daß es möglich ist, mit dir ein normales Gespräch zu führen. Daß man mit dir normal reden kann."
"Was heißt für dich 'normal reden'?"
"Das heißt, daß wir miteinander auf einer lockeren, freundschaftlichen Ebene reden."
"Das kriegst du nicht", erteile ich ihm gleich eine Absage. "Du kannst aus einer Liebe keine Kumpelschaft machen. Das ist unmöglich."
"Das ist keine Liebe."
"Ich weiß, du glaubst mir meine Liebe nicht."
"Aus welchem Grund solltest du mich lieben?"
"Dafür gibt es keinen logischen Grund. Gefühle sind nichts, was man mit der Logik erklären kann. Ich liebe dich eben, und ich will dich natürlich ganz für mich allein."
"Vergiß' es. Das gibt's nicht."
"Du willst wohl, daß die Frau, mit der du zusammen bist, es toleriert, wenn du dauernd auf die Wildbahn gehst und dir da deine Frauen holst."
"Nein, das habe ich nicht gesagt", windet sich Rafa. "Deine 'Liebe' steht dir nur im Weg. Man muß den, den man liebt, nicht immer für sich allein haben. Kannst du das nicht akzeptieren, weil du mich liebst?"
"Nein, ich kann das ja gerade deshalb nicht akzeptieren, weil ich dich liebe", erwidere ich. "Wenn man jemanden liebt, dann lehnt man alle anderen ab, mit denen der etwas hat, alle. Ich will dich ganz für mich alleine haben."
"Findest du das nicht ganz schön egoistisch?"
"Das ist kein Egoismus. Das ist Liebe. Wenn man jemanden liebt, will man den immer für sich allein haben. Das habe ich dir auch schon mal gesagt. Zur Liebe gehören genau zwei und sonst nichts. Da gibt es keine Dritten und Vierten und Fünften. Du bist für mich der Einzige, und außer dir gibt es für mich niemanden."
"Dann mußt du eben das, was du da 'Liebe' nennst, umändern."
"Ich werde meine Gefühle für dich nicht verleugnen. Ich mache meine Gefühle nicht kaputt. Das kann ich nicht, und das werde ich nicht. Meine Gefühle sind ein Teil von mir. Und ich stehe zu mir. Ich bin mir selbst treu."
"Dann mußt du eben ... von deinem Level 'runter."
"Das kommt überhaupt nicht in Frage. Es gibt für mich nur dich und sonst niemanden. Du bist der einzige, den ich lieben kann."
"Traurig für dich."
"Es gibt für mich keinen anderen."
"Hast du denn immer noch die Vorstellung, daß du mit mir mal zusammen sein könntest?" "Ja."
"Das ist völlig unmöglich."
"Warum ist das unmöglich?"
"Weil du mir nicht geben kannst, was ich brauche."
"Ich weiß, du willst nur eine Frau, die funktioniert, mit der du ins Bett gehen kannst und so weiter."
"Ja, unter anderem das."
"Aber ich funktioniere nicht. Ich bin keine Marionette, die einfach funktioniert."
"Ich habe auch nicht gesagt, daß du wie eine Marionette funktionieren sollst."
"Wie soll ich denn funktionieren, deiner Meinung nach?"
"Ich will, daß du wie Hetty funktionierst."
"Wie funktioniere ich denn?" frage ich neugierig. "Sag's mir doch mal."
"Du bist völlig verquer und stimmst nicht, und du bist völlig irre."
"Ich weiß, du willst eine, die nicht an deiner Mauer herumbröselt", folgere ich. "Aber ich bin keine Marionette von dir. Ich lasse nicht mit mir spielen. Du willst mich wohl bestrafen, weil ich nicht so funktioniere wie die anderen."
"Ich will dich eben nur so treffen und mal ganz normal mit dir reden. Aber das geht ja mit dir nicht."
"Weil ich dich liebe, kann ich mit dir nicht umgehen wie mit einem Kumpel. Das wirst du auch nie bekommen. Ich liebe dich schon ziemlich lange, schon fast so lange, wie ich dich kenne. Wie gesagt, habe ich mich auch geärgert darüber, daß es nun du warst. Ich weiß, daß du ein ganz besonders schwieriger Mensch bist. Aber dann habe ich es schließlich irgendwann angenommen. Ich bin ja schließlich selber auch ein schwieriger Mensch. Ich werde mit dir noch sehr viel Arbeit haben, und du wirst mit mir auch noch sehr, sehr viel Arbeit haben."
"Ich habe mit dir keine Arbeit", behauptet Rafa.
Er kann sich nicht genug darüber aufregen, wie ich mit ihm rede und wie ich ihm zusetze.
"Ich rede nur mit dir so, weil ich dich liebe", erkläre ich ihm immer wieder. "Ich würde mit Freunden nie so reden, wie ich mit dir rede, und ich würde mit dir nie so reden, wie ich mit meinen Freunden rede."
"Und warum kommen dann dauernd Leute an und heulen sich bei mir aus, nur weil sie mit dir geredet haben?"
"Wer ist das?" nehme ich Rafa ins Verhör. "Wer heult sich bei dir aus? Ich will Namen hören."
"Namen sage ich dir nicht."
"Heraus mit der Sprache. Ich muß das wissen."
"Ich sag's aber nicht."
"Sag' mal ... warum sind die Leute eigentlich zu dir gegangen, wenn sie sich meinetwegen ausheulen wollten?"
"Weil sie eben wissen, daß ich mit dir irgendwie ... zu tun habe."
"Aber es gibt doch Leute, die viel mehr mit mir zu tun haben", wende ich ein. "Warum sind sie nicht zu denen gegangen?"
"Die wollen wohl mit deinen Leuten nichts zu tun haben."
"Aha, es waren also Leute von dir", folgere ich. "War es Dolf?"
"Nee."
"War es Kappa?"
"Nee."
"War es Detlev - oder - Darryl?"
"Nee."
"Also, von den Leuten war es schon mal keiner."
"Das ist damit nicht gesagt."
"Na, dann war es also Dolf."
"Na gut, laß' es Dolf sein, ey", seufzt Rafa.
"Ah, ja. Es war also Dolf."
"Dolf war's nicht."
"Na, von wegen. Dolf hat sich nämlich bei dir ausgeheult, weil ich ihm die kalte Schulter gezeigt habe."
"Dolf läßt sich von dir nicht mehr schocken. Dolf kennt dich schon so lange, echt ..." "Ja, Dolf ist ein kluges Kind. Der traut sich an mich nicht 'ran, weil er weiß, daß ich ihm die kalte Schulter zeige."
"Ja, Dolf ist nicht doof. Der weiß schon, was er tut."
"Ich hab's - du hast dich bei Dolf ausgeheult!" rate ich.
"Nee, hör' auf, jetzt wird's aber echt ein bißchen hart, ne!" bremst Rafa.
"Ja!" rufe ich mit dem Gefühl, ihn entlarvt zu haben. "Genau! Du hast dich bei Dolf ausgeheult, wegen mir! Dolf kennt mich überhaupt nicht. Er kennt mich ja nur vom Sehen. Er hat noch nie richtig mit mir geredet."
"Echt, wir müßten unsere Beziehung nochmal ganz von vorne aufbauen, echt."
"O.k., dann fangen wir doch gleich damit an."
"Ich will mich echt einfach nur mit dir treffen können und ganz normal mit dir reden."
"Das will ich ja auch. Ich wollte heute abend zu dir kommen. Aber du hast dir dann eben mal schnell was vorgenommen. Da hast du es ja schon wieder unmöglich gemacht."
"Tja, ich hab' eben keine Zeit."
"Ja, jetzt freust du dich richtig drüber, daß das Date mit uns heute nicht stattfinden kann, weil du dich davor gefürchtet hast."
"Ich habe mich nicht davor gefürchtet", behauptet Rafa. "Ich habe nur was Wichtigeres vor."
"Ja - du hast doch Angst vor mir. Oder wie siehst du das? Hast du noch Angst vor mir?"
"Ich habe Angst vor dir."
"Und warum hast du Angst vor mir?"
"Ich habe Angst vor deinem Verhalten."
"Warum hast du davor Angst?"
"Weil du verrückt bist", meint Rafa. "Du bist völlig durchgedreht."
"Ja, jetzt willst du mich als verrückt hinstellen ... Du wirst immer ganz starr, wenn ich dich umarme. Du verwandelst dich dann immer in einen Grabstein. - Ach ja, ich weiß, wann du mich umarmt hast! Ende Mai im 'Elizium' hast du mich umarmt."
"Ja, weil ich da besoffen war und halt irgendjemanden umarmen wollte."
"Das glaube ich nicht. Du bist sehr zielstrebig auf mich zugegangen. Du bist diesen typischen Zickzack-Kurs gegangen. Du bist morgens um vier ins 'Elizium' gekommen, hast erst eine Weile in der Ecke gelabert, dann bist du hoch zu Xentrix gegangen, hast mit dem gelabert, und dann bist du 'runter und hast dich über die Tanzfläche mir langsam angenähert. Das war dieser typische Zickzack-Kurs. Den kenne ich schon. Das hatten wir auch schon öfter."
"Beobachten tust du mich ja gut", meint Rafa. "Da weiß ich immer, was ich gemacht habe."
"Siehst du, ich kann dir immer sagen, was du gemacht hast. - Ich würde dich jetzt so gerne anfassen. Ich will dich beißen, und ich will mich auf dich drauflegen und in deinen Haaren 'rumwühlen. Ich liebe dich. Und ich liebe dich immer mehr. Ich liebe dich von Tag zu Tag mehr."
"Echt, du bist völlig verrückt."
"Es ist schön, dich zu lieben", sage ich schwärmerisch. "Es ist schön, zu lieben. Es ist einfach schön, dieses Gefühl zu haben."
"Dann brauchst du mich doch eigentlich gar nicht mehr zu sehen."
"Doch, unbedingt! Das muß sein, daß wir uns sehen. Das ist absolut wichtig."
"Ich wollte mich eigentlich nur ganz normal mit dir treffen."
"Dann treffen wir uns eben."
"Wann willst du mich denn treffen?"
"So bald wie möglich."
"Ich will mich aber nicht mit dir treffen."
"Warum willst du dich nicht mit mir treffen?"
"Das ist doch nichts", meint Rafa. "Das wird doch nichts."
"Für mich ist dieses Treffen wichtig."
"Für mich ist es nicht wichtig."
"Du hast aber sehr lange darauf hingearbeitet."
"Ja, ich wollte das."
"Ja, und? Ich bin immer noch ich; da kannst du dich auch mit mir treffen."
"Nein, das ist mir jetzt zu blöde."
"Du willst dich also nicht mit mir treffen."
"Nein."
"Dir war das Treffen wichtig", erinnere ich ihn. "Ende Mai wolltest du mich anrufen, und dann hast du es acht Wochen nicht geschafft, und dann hast du mich jetzt wieder im 'Elizium' angesprochen, und da sollte ich dich anrufen. Wann willst du dich denn mit mir treffen?"
"Ich sage ja, ich will mich nicht mit dir treffen."
"Du willst dich also überhaupt nicht mehr mit mir treffen."
"Nein."
"Das heißt, du gibst auf."
"Ja."
"Wenn du dich nicht mit mir treffen willst, dann kann ich dich auch nicht dazu zwingen."
"Genau", freut sich Rafa.
"Du hast ja noch die zwanzig Videokassetten von mir."
"Ach, waren das zwanzig?"
"Ja, das sind zwanzig."
"Die liegen hier ordentlich aufgestapelt und sortiert", versichert Rafa. "Denen passiert nichts."
"Das weiß ich, daß denen nichts passiert. Aber wie willst du mir die wiedergeben?"
"Die kann ich dir ja demnächst mal mitbringen."
"Aber die kann ich nicht auf einmal tragen. Ich habe das mal ausprobiert; zwölf kann ich gerade mal noch tragen, aber nicht zwanzig."
"Die kannst du tragen."
"Nein, das kann ich nicht."
"Dann tu' ich sie dir in einen Rucksack 'rein."
"Übrigens bin ich am nächsten Samstag nicht im 'Elizium'. Da bin ich in HH. bei 'Klangwerk'."
"Ist doch nicht schlimm", meint Rafa. "Ich nehme die Videokassetten mit ins 'Exil' und lege sie bei mir hin. Und wenn du mal da bist, kannst du sie dir abholen. Ist das o.k. so?"
"Dann mußt du sie mir aber bringen. Holen tu' ich sie nicht, weil ich dich nicht anspreche; du könntest ja immer eine Freundin haben."
"Oder ich gebe die Kassetten einem von deinen Freunden mit, die da öfter sind. Machen wir so, o.k.?"
Ich erkläre mich vorerst halbherzig einverstanden, um die Videokassetten als Streitpunkt nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken.
Rafa findet, daß ich "völlig durchgeknallt" bin und daß ich "fixe Ideen" habe und Sachen sehe, die gar nicht da sind. Er findet, daß ich mir "alles nur einbilde", meine Gefühle für ihn und seine für mich.
"Wenn ich dir sage, ich bin rot, dann sagst du, Rafa, du bist nicht rot, du bist grün", wirft er mir vor. "Es gibt eben Widersprüche bei dir", erkläre ich.
"Wenn ich dir sage, ich bin rot, dann sagst du, Rafa, du bist nicht rot, du bist grün", beschwert er sich nochmals.
Ich versuche, seine Gedanken nachzuvollziehen, und ich stelle es so dar, daß es ihn stört, wenn ich in sein Verhalten etwas hineindeute, das ich darin sehe. Rafa wehrt ab mit der dauernd wiederholten Frage:
"Kannst du damit aufhören, ja oder nein?"
"Also, du willst nicht, daß ich dein Verhalten deute."
"Nein!" ruft er. "Du verstehst mich immer noch nicht."
"Du fühlst dich von mir gründlich mißverstanden."
"Nein! Du begreift nicht, was ich sagen will, echt."
"Ich habe halt meine Theorien ..."
Ich setze wieder an und will ihm etwas sagen, und immer, wenn ich sage "Ich glaube, daß ...", "Ich fühle, daß ..." oder "Ich nehme an, daß ...", unterbricht mich Rafa und erklärt, das sei alles Schwachsinn, und alle Theorien von mir seien Schwachsinn.
"'Ich habe das Gefühl ...', 'Ich habe das Gefühl ...'", sagt er höhnisch. "Du hast ein Gefühl ... Was ist denn das für ein Gefühl?"
Rafa ist wütend und lacht viel. Sein Lachen klingt zynisch, verächtlich und anklagend. Immer wieder muß ich mir den Vorwurf anhören:
"Echt, du hast immer noch kein Wort verstanden von dem, was ich sage."
Rafa scheint es als Zeichen von Unverständnis zu werten, daß ich versuche, ihn zu verstehen. Ich ahne, daß Rafa glaubt, die Bekenntnisse meiner Liebe zu ihm seien nichts als freche Lügen.
"Du mißtraust mir", nehme ich an.
"Nein!" ruft er.
"Was ich auch sage, es stimmt nicht."
"Du redest immer wieder dasselbe", seufzt Rafa. "Echt, ist das nicht möglich, mit dir mal normal zu reden?"
"Es gibt Dinge, die muß ich einfach mit dir besprechen", erkläre ich. "Ich muß dich analysieren. Du wehrst dich dagegen, daß ich dich logisch auseinandernehme."
"Das ist einfach nur Schwachsinn, was du da redest. Kannst du damit aufhören? Ja oder nein?"
"Ich muß doch mit dir reden. Ich muß dir diese Fragen stellen."
"Ich red' nicht davon, daß du mir Fragen stellst, sondern davon, daß du mir Fragen beantwortest. Kannst du damit aufhören, ja oder nein?"
"Wie soll ich denn dann mit dir kommunizieren?" frage ich etwas ratlos.
"Das ist es ja eben!" sieht Rafa sich bestätigt. "Man kann mit dir überhaupt nicht normal kommunizieren!"
"Also, die Sache mit den Jungen, die gesagt haben, ich hätte gesagt, ich würde die lieben, da glaubst du mir auch nicht, daß ich das zu denen nicht gesagt habe."
"Du wirfst da was durcheinander", meint Rafa. "Ich habe nur den Jungen geglaubt und nicht dir, aber ich habe nicht von dir behauptet, ja, du hast zu denen gesagt, du liebst sie."
"Du hast aber doch den Jungen geglaubt."
"Du wirfst da nur was durcheinander,echt."
"Und daß du denen das geglaubt hast, das hat mich sehr getroffen. Und das solltest du auch bedenken."
"Echt, stell' dir vor, zu dir sagt dauernd jemand 'Ich liebe dich'."
"Ja, ich liebe dich."
"Woher willst du denn wissen, daß du mich liebst?"
"Ich fühle das."
"Dann bist du eben allein mit diesem Gefühlen. Dann mußt du halt einsehen, daß da ... von meiner Seite nichts ist."
"Das glaube ich nicht, daß da nichts ist."
"Da ist aber nichts."
"Diese Mauer, die du da um dich baust, die kenne ich schon. Auf die falle ich auch nicht mehr so einfach 'rein."
"Ich baue keine Mauer um mich."
"Im 'Elizium' hast du noch gesagt, da ist eine Mauer."
"Klar, gegen dich baue ich eine Mauer."
"Und warum baust du gegen mich eine Mauer?"
"Weil du nicht ganz dicht bist", erklärt Rafa. "Ich muß mich vor dir schützen, weil du nicht ganz dicht bist."
"Aber wenn du dich vor mir schützen willst, mußt du doch nur von mir Abstand halten. Warum kommst du denn überhaupt noch an?"
"Tja, Menschen sind mir eben wichtig."
"So, dir sind alle Menschen wichtig", folgere ich.
Rafa nuschelt einen Satz. Ich kann nur einzelne Silben verstehen.
"Was?" muß ich nachfragen. "Was?"
Ich lasse Rafa den Satz zweimal wiederholen. Ich höre so aufmerksam hin wie möglich, doch ohne Erfolg.
"Entschuldigung, ich habe das akustisch nicht verstanden", sage ich vorsichtig, als Rafa den Satz zum dritten Mal nuschelt.
Er unternimmt einen vierten Versuch. Die Worte quälen sich über seine Lippen und verlieren dabei ihre Gestalt.
"Echt, ich habe immer noch kein Wort verstanden", gestehe ich. "Kannst du das nochmal wiederholen? Ich habe das absolut nicht verstanden."
Rafa spricht den Satz ganz langsam, und ich spreche die Silben mit. Ich fühle, daß es ihn Überwindung kostet, so deutlich zu reden.
"Es ist also mehr zwischen uns, als daß man in der Disco nur so aneinander vorbeilaufen kann", habe ich endlich verstanden.
"Ja", bestätigt Rafa. "Is' das so schwer ..."
Offenbar war es so schwer - für ihn.
"Warum magst du das denn nicht, wenn ich dich umarme?" möchte ich wissen. "Das ist doch das Zärtlichste, was es gibt."
"Ich will's aber nicht. Kannst du denn nicht einfach so mit mir reden, ohne mich ewig anzufassen?"
"Ich bekomme von dir fast nichts", erwidere ich ernst und eindringlich. "Du umarmst mich viel zu selten. Und da nehme ich mir halt, was ich kriegen kann. Ich will leben. Ich will leben. Und wenn du das nicht willst, daß ich dich anfasse, dann darfst du eben nicht auf mich zugehen."
"O.k., das nächste Mal, wenn ich besoffen bin, werde ich daran denken, daß ich einen großen Bogen um dich mache."
"Jetzt haben wir doch wieder das Gleiche wie letztes Jahr im Juni", stelle ich fest. "Da hast du dir sogar vorgenommen, ohne mich zu leben, und im September warst du wieder bei mir."
"Wieso, ich lebe doch ohne dich! Das hat doch überhaupt nichts zu sagen, wenn ich mal bei dir übernachte. Ich habe immer ohne dich gelebt! Wir waren doch nie zusammen, nie! Ja, wenn wir wenigstens gemeinsam schlafen würden oder ein Wochenende in den Urlaub fahren würden, das wäre vielleicht was; da wäre was. Aber wenn ich nur mal so bei dir übernachte, das ist doch nichts, das ist doch gar nichts, das ist kein Schlüsselerlebnis, das ist nichts."
"Au ja, dann fahren wir doch einfach miteinander ein Wochenende in den Urlaub."
"Nein, nein."
"Dann kann es ja auch keine 'Schlüsselerlebnisse' geben, wenn du das nicht zuläßt."
"Ich will auch nichts weiter, als normal und unbefangen mit dir zu reden."
"Unbefangen kann ich mit dir gar nicht mehr reden", entgegne ich, "weil da immer die dunklen Schatten am Horizont sind."
"Die dunklen Schatten am Horizont kommen von dir." "Nein, die kommen von dir."
Rafa lacht wieder.
"Wir sind echt so verschiedene Charaktere", findet er. "Da ist echt nichts Gemeinsames bei uns. Das werde ich ja schon sagen können nach den fast fünfundzwanzig Jahren, die ich mich selbst schon kenne."
"Ja, du mauerst dich wieder ganz schön ein. Ich kenne das schon. Ich habe das oft genug mit dir erlebt. Du hast mich immer wieder zurückgewiesen und weggestoßen."
"Hast du denn immer noch die Hoffnung, daß wir eines Tages zusammen sind?"
"Ja."
"Das gibt's nicht", versichert Rafa.
"Für mich bist du nicht ersetzbar, deshalb hat es auch keinen Sinn, dich aufzugeben. Ich liebe nur dich. Ich kann auch keinen anderen lieben."
"Dann kann das eben die nächsten fünf Jahre so weitergehen ... oder wie lange das schon dauert."
"Ja."
"Echt, man müßte dich mal übers Knie legen und so richtig versohlen."
"Warum hast du denn so eine Lust, mich zu versohlen?"
"Ich habe nicht gesagt, daß ich Lust habe, dich zu versohlen", stellt Rafa richtig. "Ich habe nur gesagt, man müßte dich versohlen."
"Ich höre an deiner Stimme, daß du Lust hast, mich zu versohlen. Ich kenne dich gut genug. Dir läuft richtig das Wasser im Mund zusammen. Ich meine, wir könnten uns ja mal treffen, und dann beiße ich dich, und du versohlst mich."
"Du, das tut weh!"
"Was glaubst du, wie ich dir wehtun kann!"
"Ach, das lassen wir mal lieber", winkt Rafa ab. "Ich bin stärker."
"Und ich bin auf eine andere Art stärker."
"Auf welche denn?"
"Auf die mentale, wie du so schön sagst. Auf die mentale."
"Haha! Vergiß' es. Nee, nee, vergiß' es."
"Du willst also nicht gegen mich antreten? Du willst kneifen?"
"Lassen wir das. Vergiß' es."
"Du wirst auch dafür bestraft, wenn du mit irgendwelchen anderen Frauen 'rummachst."
"Bestraft ... hahaha ... bestraft ..."
Rafa scheint das recht vergnüglich zu finden.
"Ich habe dich auch schon oft genug bestraft", erzähle ich.
"Wie bestrafst du mich denn?" möchte Rafa wissen.
"Indem ich mich dir entziehe."
"Ach, dadurch, daß ich mit dir nicht reden darf."
"Ja, dadurch bestrafe ich dich. Bei dir habe ich noch Einiges an Erziehungarbeit zu leisten."
"Jetzt wird mir klar, was das für ein Gefühl das ist, wegen dem ich noch mit dir zu tun haben will", sagt Rafa, und aus seiner Stimme spricht Verachtung. "Du tust mir irgendwie leid, echt."
"Ich glaube, daß du in deinem Innern etwas verbirgst", sage ich nachdenklich. "Und das möchte ich finden. Ich glaube doch, daß du Sehnsucht nach mir hast. Du hast selbst gesagt, daß du mich brauchst. Du wolltest dich sogar schon umbringen meinetwegen."
"Wann wollte ich mich umbringen?"
"Ach, du kannst dich daran gar nicht mehr erinnern? Dein Gedächtnis ist gut, nur willst du immer ganz gerne vergessen ... Ende Februar hast du mich nachts um vier angerufen und mir was gebeichtet."
"Was habe ich dir denn gebeichtet?"
"Die Abtreibung. Da habe ich auch monatelang drauf gewartet, daß du mir das beichtest."
"Ja, und? Und?"
"Dann habe ich gesagt, daß ich mit dir nicht reden will, weil du eine Freundin hast, und da hast du dann gesagt:
'Weißt du, was ich hier in der Hand habe? Ein Schweizer Messer. Was wäre, wenn ich mir damit jetzt die Pulsadern aufschneide?'"
"Hahaha!" lacht Rafa. "Das war ein Test! Ich wollte einfach nur wissen, wie du darauf reagierst."
"Du hast aber gesagt, daß du schon drei Versuche gemacht hast. Und du hast das sehr ernst gesagt. Ich habe deine Stimme noch im Ohr."
"Das war alles gelogen."
"Das glaube ich nicht."
"Ach, was du glaubst!"
"Das klang aber sehr echt."
"Das war gelogen."
"Warum hast du mir denn erzählt, daß du schon dreimal versucht hast, dich umzubringen?" "Das war nur ein Test."
"Jetzt weiß ich, was auch nur ein Test ist: Dein Spruch 'Ich liebe dich nicht', das ist nur ein Testspruch."
"Ich liebe dich aber nicht."
"Ja, das ist ein Testspruch", deute ich. "Du willst damit testen, ob meine Liebe wirklich dauerhaft ist, und das ist sie."
"Warum glaubst du mir, wenn ich lüge, und nicht, wenn ich die Wahrheit sage?" fragt Rafa aufgebracht. "Warum glaubst du mir die Lügen und nicht die Wahrheit?"
"Es ist bei dir ganz einfach so, daß ich selbst immer erkennen muß, was Lüge und was Wahrheit ist, weil du Wahrheit und Lüge immer durcheinandermischst."
"Ja, weil man das bei dir muß."
"Daß du suizidgefährdet bist, das glaube ich, weil du ja sonst mit dir eben auch nicht gerade so sehr gut umgehst."
"Hahahaha ...", lacht Rafa wissend.
"Ich glaube, daß du in dir etwas versteckst", hake ich weiter nach. "Es müßte halt endlich etwas geschehen, wodurch der Knoten platzt."
"Hahaha, da müßte höchstens in dir ein Knoten platzen."
"Irgendwas stimmt da nicht mit dir."
"Mit dir stimmt was nicht, genau."
"Ja, mit dir stimmt was nicht."
"Echt, es wird höchste Zeit, daß ich Schluß mache, echt", seufzt Rafa.
"Ja?"
"Ich krall' mich hier schon an die Decke."
"Ich hätte da noch etwas mit dir zu besprechen."
"Was denn?" fragt Rafa ungeduldig. "Was Wichtiges?"
"Ja. Ich habe da noch ein paar Fragen, die ich dir stellen will."
"Was denn für Fragen?"
"Einmal ... wie oft du versucht hast, dich umzubringen. Dann ... warum du versucht hast, dich umzubringen, aus welchem äußeren Anlaß. Dann ... warum es dir nicht geglückt ist. Dann ... wie deine Eltern darauf reagiert haben."
"Warum es mir nicht geglückt ist!" lacht Rafa. "Das kann ich dir sagen: weil ich es noch nicht versucht habe. Hahaha ..."
"In der nächsten Zeit werden wir uns kaum sehen oder miteinander sprechen können."
"Ja, wenn Hetty wieder ihre komische Phase hat und mit mir nicht reden will ...", weiß Rafa. "Ich will mich nicht auf dein Niveau begeben, echt. O.k., das war's dann. Mach' noch was Feines ..."
"Halt, ich bin noch nicht fertig."
"Ich bin aber fertig", sagt Rafa mit Nachdruck. "Fertig. Ciao."
Er wartet einen Augenblick, dann legt er den Hörer auf.
Was ich Rafa zuletzt noch mitteilen wollte, war meine Erfahrung, daß die Angst alle übrigen Gefühle zudecken und betäuben kann.
"Die Angst geht zuletzt", könnte man sagen.
Daraus läßt sich ableiten, daß man seine Liebe zu einem anderen Menschen nicht mehr wahrnimmt, wenn die Angst vor diesem Menschen zu groß wird. Ich habe Rafa das schon einmal zu erklären versucht, letztes Jahr im Juni, als er sich auf eine ähnliche Art einmauerte. Nachdem er mich einige Zeit nicht gesehen hatte, löste sich die Angst, und die Sehnsucht kehrte zurück.
Ich denke nicht, daß Rafa mich Ende Mai umarmt hat, weil er betrunken war. Ich denke, daß er sich betrunken hat, um mich umarmen zu können.
So viel Zeit muß ich ohne ihn verbringen. So oft sehe ich andere Gesichter, so selten seines. Und noch seltener kann ich seine Stimme hören. Und noch viel seltener kann ich ihn anfassen.
Viel zu wenig von meinem Leben kann ich mit dem Menschen teilen, der mir am meisten bedeutet.
Als ich Constri im letzten Winter von meiner Furcht erzählt habe, daß die Sängerin ein Kind von Rafa erwarten könnte, meinte sie:
"Du kriegst immer wieder eins drauf, immer wieder."
Ich kann mir nicht vorstellen, daß Rafa jemals zu mir jenes Wort sagt, das er in einem Traum schon ausgesprochen hat:
"Danke."
In "Elizium" erzählte ich Sasch, mit Rafa sei es ein dauernder Kampf. Sasch empfahl mir eine Geschichte namens "Briefschach", die von Goethe stammen soll. Die Geschichte soll davon handeln, wie ein Mensch einen anderen durch eine Fernschachpartie in den Selbstmord treibt.
"Macht will ich über ihn gewinnen", sagte ich, "doch nicht die Macht, ihn zu töten, sondern die, ihn dem Leben wiederzugeben."
Bei "Klangwerk" konnte ich kaum meine Sachen in eine Ecke werfen und stürmte auf die Tanzfläche. So ist es fast immer. Es liefen "Dark Side of the Life" von Dissecting Table, "Feed me" von Salt, "Muerte al Escala Industrial" von Esplendor Geometrico, "Outside" von Klinik und ... und ...
Mal hat sich die Haare kurz schneiden lassen und weißblond gefärbt. Er berichtete, daß in zwei Wochen die erste CD von Notstandskomitee erscheinen soll.
Ich lobte Mals Beitrag zu der CD "Save the Planet" von De Fabriek, das ruhige, melancholische Stück "Gewalt". Ich bat Mal, es zu spielen. Es lief dann auch wirklich.
Bei "Klangwerk" traf ich einen Jungen namens Steffen wieder, den ich letztes Mal dort kennengelernt habe.
"Ich finde deine Schleife so geil", sagte er zu mir. "Ich finde, daß du damit aussiehst wie eine Kellnerin. Und seit ich dich zum ersten Mal auf der Tanzfläche gesehen habe, weiß ich, daß ich Kellnerinnen auf der Tanzfläche einfach geil finde."
Einen von Steffens Freunden lernte ich auch kennen; er heißt Rega - eigentlich Reginald.
Ende Juli habe ich Folgendes geträumt:

Rafa hatte sich entschieden, mich zu heiraten. Ich freute mich auf die Ehe und auf die Kämpfe mit Rafa, doch ich war noch gar nicht fertig ...
Die Feier wurde im Wesentlichen durch meine Familie vorbereitet. Am Morgen der Hochzeit wurde es hektisch. Um dreizehn Uhr sollte die Trauung sein. Rafa war nicht anwesend. Und ich hatte auch um halb eins noch Alltagskleider an und hatte im Haushalt alle Hände voll zu tun. Ich hetzte mich ab. Mein Brautkleid hatte ich noch nicht einmal selbst gekauft. Es gefiel mir aber. Es war lang und aus weißer Seide. Die Ärmel bestanden aus mehreren Puffärmeln untereinander. Das Kleid hatte einen U-Boot-Ausschnitt. Als ich mich endlich umziehen wollte, kam mir mein Vater dazwischen und wollte irgendetwas und störte mich. Ich zog einen Bademantel über, um nicht in Unterwäsche herumzulaufen. Constri und meine Mutter scheuchten mich. Sie wollten schon das Essen auf dem Herd anstellen, obwohl ich nicht fertig und Rafa nicht da war.
"Laßt das aus", mußte ich ihnen mehrmals sagen. "Das wird bloß kalt."
Außerdem gab es da noch ein Buch, das zwei Verfasser hatte, Rafa und mich. Für das Buch waren schon Werbeplakate gedruckt worden. Die Pseudonyme der Verfasser standen untereinander, oben meines und unten das von Rafa. Ich hatte mir die Pseudonyme ausgedacht. Für Rafa war mir schnell eines eingefallen. Mein Pseudonym aber änderte ich immer wieder; ich konnte mich nie entscheiden. Es war nicht einfach, dauernd neue Plakate drucken zu lassen.
Ein Uhr war schon vorbei, und ich hatte immer noch nicht mein Brautkleid an.
"Zwei wird es auf jeden Fall", dachte ich. "Vor zwei schaffe ich es nicht."
Schließlich setzte ich mich mit ein paar Leuten an einen Tisch, um mich auszuruhen. Der Professor kam, und das Zimmer, in dem wir saßen, verwandelte sich in sein Arbeitszimmer. Ich hatte in seinem Auftrag neue Gardinen angebracht. Im Nachhinein fand ich das Muster doch etwas kitschig. Der Professor machte auch gleich Sprüche über die Gardinen; sie seien ihm etwas zu schlicht, und er habe sich prächtigere vorsgestellt. Er gab mir zu verstehen, daß man mit mehr Zeit und mehr Geld auch mehr hätte bewirken können. Ich erklärte ihm, daß mir beides gefehlt hatte und daß ich deshalb nach dem erstbesten Sonderangebot hatte greifen müssen.

Dieser Traum will mir vielleicht sagen, daß ich erst Ordnung in mein Leben bringen muß, um Rafa heiraten zu können.

Anfang August habe ich geträumt, es wäre Rafa beinahe gelungen, mit mir zu schlafen. Rafa wollte mir aber nicht schaden. Er überlegte hin und her, was zu tun sei.

Bei Malda traf ich Siddra. Sie erzählte, daß Rafa schlechte Laune gehabt haben soll, als er im Nachthemd im "Elizium" war. Reesli soll ihm das Nachtkleidchen hochgehoben haben, und Rafa soll Reesli sehr, sehr böse angeschaut haben.
Sasa soll kürzlich wegen ihres Verflossenen in den Fluß gesprungen sein, und Darva soll sie herausgezogen haben.

In einem Traum fand ich ein Büchlein, in das ich lauter Bildchen gemalt hatte. Die Bildchen hatten alle nur ein Thema - Hochzeit. Ich sah Rosen, Brautkränze, Ringe, Paare ...
Es war mitten im Juni, und ich gab eine große Feier; ich wußte aber nicht mehr, aus welchem Anlaß. Vielleicht wollte ich so tun, als würde ich meine Hochzeit feiern. Brendan war unter den Gästen, der einerseits nach der richtigen Frau sucht, sich aber andererseits auf keine festlegen will. Er hatte einen schüchternen Freund mitgebracht, der Anschluß suchte. Ich machte mir sehr viel Streß wegen der Feier, eigentlich viel zu viel. Das hatte etwas mit meiner Angst zu tun, niemals wirklich meine Hochzeit feiern zu dürfen.

Ein Traum handelte von einer Frau namens Elisabeth. Sie hielt eine CD in der Hand mit außergewöhnlicher Musik. Die CD hieß "Aus dem Blumenlädchen". Im Booklet stand ein Heiratsantrag an Elisabeth. Widersacher versuchten, Elisabeths Ehe zu verhindern. Sie blieb trotz dieser Gefahr zuversichtlich und dachte an das Kind von ihrem Bräutigam, das sie noch nicht zur Welt gebracht hatte und daß sie Julia nennen wollte.

Im "Elizium" erzählte Sasa nichts von ihrem Sprung in den Fluß; dafür erzählte sie, daß sie schon zweimal Tabletten geschluckt hat, angeblich jedesmal wegen ihres Verflossenen. Letzten Endes wird ein solches Verhalten kaum auf Sasas gescheiterte Beziehung zurückgehen. Vielmehr wird sie in ihrer Kindheit Belastungen erfahren haben, die ihre Entwicklung beeinträchtigten und zum Aufbau abhängiger Beziehungen führten.
Reesli erzählte, er wolle sich von mir abschleppen lassen. Ich entgegnete, es gebe nur einen, der sich von mir abschleppen lassen darf. Reesli fragte mich, wer das denn sei.
"Du hast das doch vor drei Wochen gesehen, hier im 'Elizium'", war meine Antwort. "Ich hatte ihn ganz schön am Schlafittchen."
"Ist es Rafa?"
"Ja, sicher."
"An Rafa ist nichts."
"An Rafa ist alles."
"Vergiß' Rafa. Rafa ist tot."
"Rafa ist nicht tot."
"Dann mach' ich ihn tot; dann vergißt du ihn."
"Wenn du ihn umbringst, bringst du mich mit um."
Reesli beschloß, erst einmal etwas zu trinken, um "seine Gedanken zu sortieren".
Sandro berichtete, als er vor drei Wochen frühmorgens ins "Exil" gekommen sei, seien weder Rafa noch Lara dort gewesen. Sandro hat bei Rafa einige Tage später angerufen, und Rafa hat ihm erzählt, es sei schön gewesen mit Lara. Im Übrigen liebe er Lara nicht, und er habe ihr auch gesagt, daß sich daran nichts ändern würde, wenn sie etwas mit ihm hätte. Lara soll damit zufrieden gewesen sein; es sei ihr nur darum gegangen, daß Rafa ihr "das erste Mal macht". Und so wurden sie handelseinig - eine Nacht und dann nichts mehr.
Sandro fuhr zu Lara, die nicht weit von Rafa wohnt. Lara erzählte ihm, sie habe nie vorgehabt, mit Rafa etwas Festes anzufangen, weil sie von seinen Frauengeschichten gehört hatte. Sie sei am Mittwoch mit Rafa zusammengewesen, am Donnerstag habe sie mit ihm geschlafen, und am Freitag war dann gleich Sandro an der Reihe. Lara hatte Sandro in der Zeit davor mit der Begründung vertröstet, sie müsse noch warten, bis die Pille wirke, und Kondome seien ihr zu unsicher. Dann "buchte" sie Rafa, und danach durfte Sandro es versuchen. Sandro hatte trotz seiner fünfundzwanzig Jahre noch keine Erfahrungen mit Frauen, und er war sehr unsicher und fühlte sich als Versager. Lara meinte aber, es habe ihr gefallen, und sie soll auch sehr hingebungsvoll gewesen sein. Umso mehr hat es Sandro verletzt, als er von Dritten erfahren mußte, daß Rafa mit Lara so im Vorübergehen geschlafen hat.
"Lara ist für Rafa ein Mensch zweiter Klasse", sagte Sandro. "Er hätte sie nie genommen, wenn ich ihr nicht den Weg zu ihm geebnet hätte. Erst als er wußte, wie wichtig mir Lara ist, hat er sich dazu herabgelassen, mit ihr zu schlafen. Er wollte mir nur zeigen, he, ich kann sie sowieso haben."
"Da wird man wütend."
"Lara kam zu mir, gleich nachdem sie bei Rafa gewesen war", erzählte Sandro. "Kann sein, daß sie zwischendurch noch nicht mal geduscht hat."
"Igitt", sagte ich schaudernd. "Da kann einem ja schlecht von werden, wenn man sich das vorstellt."
"Mir ist auch schlecht geworden", meinte er. "Ich habe sogar gekotzt."
Sandro war so tief getroffen, daß sein angeschlagenes Selbstwertgefühl noch weiter sank, und er brannte sich mit Zigaretten ein Kreuz in den Unterarm und fügte sich Schnittverletzungen am Handgelenk zu. Als er mir die Narben zeigte, mußte ich ihn sehr tadeln.
"Stell dir vor, du findest die Frau, die dich wirklich liebt, und die sieht das", sagte ich. "Dann gibt es aber Senge. Du darfst deinen Körper nicht zerstören, weil es immer sein kann, daß ihn noch jemand braucht."
Ich bezweifle, daß Sandro diesen Gedankengang nachvollziehen konnte. Er war noch sehr mit seinen Selbstwertproblemen beschäftigt. Seit Donnerstag gibt es jedoch einen Hoffnungsschimmer für ihn. Er hat eine neue Freundin gefunden - Deva -, die zu ihm gesagt hat, sie würde ihn sehr liebhaben. Was daraus nun wieder wird ...
Reesli hatte sich Orangensaft mit Malibu-Likör geholt, und ich trank etwas davon und fand es sehr lecker. Reesli konnte es nicht fassen, daß ich nur Rafa will und sonst keinen. Er wirkte sehr geknickt. Ich sagte ihm, daß ich mich immer freue, wenn ich Verehrer habe, daß ich aber auch traurig bin, wenn die Verehrer traurig sind, weil sie mich nicht kriegen.
Als ich mich in der Damentoilette nachschminkte, kam ein Mädchen herein, das etwas abgerissen und punkig gekleidet war, wie die Leute im "Nirvana". Es schien betrunken zu sein, und als es mich ansprach, dachte ich zuerst, es wollte mich beschimpfen. Es machte mir aber nur ein Kompliment:
"Sag' mal, hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, daß du eine ziemlich nette Art hast, zu tanzen?"
"Ja", antwortete ich etwas verunsichert.
"Gut, dann bin ich ja nur eine von vielen", meinte das Mädchen.
"Danke", sagte ich ehrlich.
"Keine Ursache", erwiderte das Mädchen.
Es wunderte mich, daß mich jemand zu mögen schien, der mich vom Typ her eigentlich nicht mögen konnte.
Sarolyn überlegte, ob sie noch ins "Exil" gehen sollte, wo eine "Remember Nachtlicht Party" stattfand. Sie blieb dann aber doch im "Elizium". Sie sagte zu mir, inzwischen könne sie nachvollziehen, daß es schwierig ist, mit Laura zurechtzukommen. Laura stritt sich mit Sarolyn öfters wegen Kleinigkeiten; das konnten ausgeliehene Lackhandschuhe sein oder eine halbe Stunde Verspätung bei einem Treffen. Ich meinte, daß Laura Streit sucht und darauf achtet, es sich mit möglichst allen Leuten zu verderben.
"Du bist nicht die Einzige, mit der Laura sich verstreitet", sagte ich. "Ich kenne mindestens zehn Leute, denen etwas Ähnliches passiert ist."
Sarolyn erzählte, Laura würde nur von sich selbst sprechen und auf die anderen nicht achten. So etwas hat Carl neulich auch gehört.
Übrigens soll die Beziehung von Laura und ihrem letzten Freund unter anderem an ihrer Streitsucht und Eifersucht kaputtgegangen sein. Ich kann mich noch daran erinnern, wie sie mit ihm vor der Bar saß. Sie umklammerte ihn, als wollte sie allen zeigen:
"Der gehört mir."
Saverio war mit May und Edna im "Elizium". Er erzählte mir im Vorraum, er wisse jetzt, wie Dirk I. und Blackhouse ihre dumpfen, maschinellen Klänge erzeugen, und jetzt mache er mit seinem Computer selbst Industrialmusik.
Von Carl wußte ich, daß Saverio ihn in der letzten Woche angerufen und sich zweimal mit ihm getroffen hat. Es soll Streitereien gegeben haben.
Reesli trank ordentlich und meinte schließlich, er sei so voll, daß er nicht mehr merke, mit wem er nach Hause gehen würde. Er würde lediglich noch merken, ob ich es sei oder eine andere. Er habe drei Angebote bekommen, aber diese Mädchen seien alle nichts Rechtes.
"Ich habe das Gefühl, daß wir beide uns ähnlich sind", sagte Reesli zu mir.
Ich entgegnete, allzu ähnlich seien wir uns wohl nicht. Da meinte Reesli, nur ich sei so verrückt wie er selbst.
"Rafa ist auch so verrückt", sagte ich.
Simon kam gegen Morgen ins "Elizium". Er berichtete, im "Exil" würden Rafa und Kappa auflegen. Zeitweise sei es recht gut besucht gewesen.
Ex-"Nachtlicht"-DJ Sazar ist seit einiger Zeit regelmäßig im "Elizium". Es erstaunte mich dennoch, daß er heute nicht im "Exil" war, wo doch eine "Remember Nachtlicht Party" stattfand.
Reesli fragte mich, ob ich glaube, daß auch Rafa mich liebt.
"Ja, das glaube ich", antwortete ich, "weil ich sonst nicht so eine enge Beziehung zu ihm hätte aufbauen können."
"Das heißt, wenn das stimmt und er dich auch liebt, dann heiratest du ihn und hast Kinder mit ihm?"
"Ja."
Reesli meinte, er hätte nicht gedacht, daß es auch Menschen gibt, die nicht schlecht und böse sind. Und er würde mich wollen, eben weil ich nicht schlecht sei. Ich sollte ihn nur erst näher kennenlernen. Ich entgegnete, er dürfe mich gern näher kennenlernen, doch dürfe er nie vergessen, daß er mich nicht bekommen könne. Da wollte er mich dann doch lieber nicht näher kennenlernen. Wir kamen überein, alles so zu lassen wie bisher.
Ich habe Angst davor, daß Rafa sich mit Messern oder Zigaretten Verletzungen zufügen könnte. Ein Selbstmord scheint mir augenblicklich nicht zu drohen, doch schon die Vorstellung, daß sein Körper verletzt wird, ist für mich unerträglich. Ich finde es schon furchtbar genug, daß er so viel raucht und trinkt; damit verletzt er sich ja bereits, halt nur innerlich statt äußerlich.
Nicht nur Sandro hat Probleme mit dem Selbstwertgefühl. Rafa leidet ebenfalls darunter. Er hält sich fest an seiner erotischen Ausstrahlung und seiner Fähigkeit, Leute zu verführen. Er ist in diesem Punkt wahrscheinlich nicht weniger verletzbar als Sandro. Es könnte sein, daß Rafa auch deshalb so gern seine Verführungskünste demonstriert, weil er bei mir auf Granit gebissen hat. Ich glaube, daß er diese "Niederlage" nicht verwinden kann. Vielleicht will er mich dafür bestrafen, indem er mich abwehrt, wenn ich ihn umarme.

In einem Traum war Rafa bei mir. Zwischen uns lief nicht allzu viel ab, doch es ging immerhin so weit, daß wir uns zum Teil auszogen. Ins Bett wollte Rafa aber nicht, obwohl ich es schon aufgeschlagen hatte. Lieber ging er heim. Als er fort war, fand ich Spielzeug auf meinem Schreibtisch liegen, Rafas Band als Barbie-Sonderedition. Eine Ken-Puppe war wie Rafa zurechtgemacht worden, eine Barbie oder Skipper wie die Sängerin Tessa und eine Todd-Kinderpuppe wie Dolf.
Die Sängerin mußte maßlos stolz darauf sein, daß sie als Barbiepuppe verewigt worden war, und das, obwohl sie gar nicht mehr zur Band gehörte.

In der folgenden Nacht klingelte gegen halb drei das Telefon. Ich hatte schon gewisse Ahnungen, als ich im Halbschlaf in den Flur lief und den Hörer abnahm.
"Ja?" meldete ich mich.
"Na?" hörte ich vom anderen Ende der Leitung.
"Ach, hallo", sagte ich, als ich Rafa erkannte. "Na? Wie geht's, hm?"
"Och, ganz gut. Eigentlich ganz gut."
"Und warum?"
"Ja, ich habe was getrunken, und ich habe gedacht, jetzt könnte ich doch noch jemanden anrufen, zum Beispiel dich. Habe ich dich eben aufgeweckt?"
"Ja."
"Hast du eben geschlafen?"
"Ja."
"Oh, das tut mir leid", entschuldigt sich Rafa. "Das wollte ich nicht."
"Aber das macht doch nichts."
Mir fällt auf, daß meine Stimme viel weicher klingt als bei unserem letzten Telefongespräch, und ich kann mir denken, woran das liegt - Rafas Stimme klingt ebenfalls viel weicher und zahmer.
"Ich versuche jetzt, das Telefon mit in mein Zimmer zu nehmen", kündige ich an. "Ich wuschele da jetzt mal eben mit der Schnur 'rum. Ich nestele da jetzt so ein bißchen mit den Kabeln 'rum. Du sollst nie vergessen, wenn jemals das Gespräch plötzlich weg ist, dann liegt es nur daran, daß mit dem Kabel irgendwas nicht o.k. ist. Es liegt nie an mir. Ich beende nie plötzlich ein Gespräch durch Hörer-Auflegen, auch bei Streit nicht. Es ist äußerst selten, daß ich sowas mache, und es passiert nie in einem Gespräch mit dir, daß ich das Gespräch durch Hörer-Auflegen beende. Das kann dann nur daran liegen, daß mit dem Kabel was ist. Das sollst du nie vergessen. - So, Aktion erfolgreich", teile ich Rafa mit, als ich im Bett liege und das Telefon auf dem Gully abgestellt habe, den Steini mir geschenkt hat. "Na? Jetzt erzähl' mal."
"Erzähl' du mal."
"Also, letzten Samstag war ich ja im 'Elizium' ..."
"Ach, du warst im 'Elizium'?"
"Ja, sicher. Natürlich. Es war echt schön."
"Ah, da fällt mir was ein. Ich habe kürzlich im 'Volvox' in BI. deine Freundin getroffen."
"Welche Freundin?"
"Die, die mal mit diesem Fedor zusammen war."
"Ach, Laura. Die ist jetzt nicht mehr meine Freundin, weil sie es sich ordentlich mit mir verdorben hat. Die tut das öfter, daß die es sich mit Leuten verdirbt."
"Laura war sehr nett zu mir."
"Ja, sie ist zu allen möglichen Leuten sehr nett", kann ich erzählen. "Sie ist auch zu mir schon sehr nett gewesen."
Da sagt Rafa mit einem Lächeln in der Stimme:
"Sie war aber sehr nett zu mir."
"Hast du mit ihr geschlafen?" frage ich beiläufig.
"Das sage ich nicht", erwidert Rafa, der sich darüber zu ärgern scheint, daß ich mich über seine Anspielungen nicht ausreichend ärgere.
"Ah, du hast also mit ihr geschlafen", vermute ich.
"Das habe ich nicht gesagt", entgegnet Rafa.
Es könnte sein, daß Laura sich Rafa schnappen wollte, um mir eins auszuwischen. Das läßt mich jedoch kalt. Mich beunruhigt höchstens die Vorstellung, daß Rafa sich im "Volvox" mit Tessa treffen könnte.
"Oh, Sch..., eigentlich wollte ich dich gar nicht anrufen", sagt Rafa, und sein Atem geht recht schnell.
"Aber du hast mich angerufen", erwidere ich sanft. "Hm? Du hast mich angerufen. Und das ist entscheidend."
"Ach, ist das jetzt auch wieder ein Schlüsselerlebnis für dich?"
"Ja, sicher!" bestätige ich. "Jeder kleine Schritt ist ein Schritt, und du selber mußt bestimmen ..."
"Was? Ich muß bestimmen?" fragt Rafa entgeistert, der sich wohl davor fürchtet, daß ich mich seinem Willen und seinen Launen unterwerfen könnte.
"Du mußt bestimmen, wie schnell du gehst", spreche ich den Satz zuende. "Du mußt bestimmen, wie groß die Schritte sind, die du machst. Und ich merke auch, wie aufgeregt du bist. Aber du hast es getan. Du hast mich angerufen."
"Mußt du morgen arbeiten?"
"Natürlich muß ich arbeiten."
"Geht das, daß du dir freinimmst?"
"Ja, das geht schon", sage ich etwas zögernd, "weil ich mich in dem Block, in dem ich jetzt bin, ganz gut eingeordnet habe und mir auch schon mal einen Tag freinehmen kann, weil ich das doch relativ strukturiert betrieben habe."
"Was machst du gerade?"
"Ich liege im Bett."
"Deine Stimme klingt so erotisch", findet Rafa.
"Die klingt doch immer erotisch", entgegne ich.
"Nein, sie klingt so, als würdest du dich gerade streicheln."
"Nein, du darfst nie vergessen, daß ich so etwas nie tue", sage ich bestimmt. "Das ist jetzt ganz echt und ganz ernst. Ich will nur von dir gestreichelt werden. Du bist dafür da. Das ist deine Aufgabe."
"Wann habe ich dich denn das letzte Mal gestreichelt?"
"Also, umarmt hast du mich zum letzten Mal im Mai. Das weiß ich noch; da bist du ins 'Elizium' gekommen. Und gestreichelt - ja, im Februar. Ich weiß wieder, im Februar, da hast du mich gestreichelt, ganz schüchtern und vorsichtig. Da habe ich richtig gemerkt, jetzt hat er mal wieder Sehnsucht nach mir, jetzt muß er wieder ankommen. Du warst aber insgesamt sehr abwehrend. Du wolltest mich gar nicht an dich heranlassen."
"Was würdest du denn sagen, wenn ich dir sage, daß ich mit dir schlafen will?"
"Erstens, ich will es auch. Zweitens, ich kann es nicht. Und drittens, da ist etwas ..."
"Und warum kannst du es nicht?"
"Die Antwort darauf ist eins der größten Geheimnisse meines Lebens, das ich bislang nicht lösen konnte."
"Wann?" fragt Rafa. "Wann kannst du es denn lösen?"
"Das hängt auch von dir ab. Es ist nämlich so, daß nur wir beide gemeinsam, in Zusammenarbeit, auf die Lösung kommen können."
"Gelingt das denn?"
"Ja, sicher. Du liebst mich, und ich liebe dich, und sowas, sowas muß einfach irgendwie was werden."
"Da haben wir es wieder, da sind wir wieder bei dem Punkt angekommen. Woher willst du wissen, daß ich dich liebe?"
"Sagen wir ganz einfach - ich fühle es. Mehr kann ich jetzt nicht sagen. Du wirst schon noch merken, daß du mich liebst. Außerdem sind wir beide ungewöhnlich zäh und ungewöhnlich willensstark und ungewöhnlich hartnäckig, und wir empfinden ungewöhnlich tief, und wir sind ungewöhnlich intelligent ..."
Rafa lacht ein wenig.
Im Hintergrund höre ich jemanden sprechen. Es ist eine männliche Stimme. Rafa scheint Besuch zu haben. Wie mag er das mit solchen intimen Telefonaten in Einklang bringen? Wie öffentlich ist sein Privatleben, und wie öffentlich ist sein Körper?
"Mir ist in meiner frühen Kindheit mal Schaden zugefügt worden", fahre ich fort. "Da ist etwas wie eine innere Instanz in mir, die sagt, das darfst du nicht, tu's nicht, tu's nicht, das ist böse, das ist schlecht. Das ist aber jetzt nicht wie eine Stimme, die ich da irgendwie höre, die das zu mir sagt. Das ist nichts Akustisches, sondern das ist einfach ein Gefühl in mir. Das ist ein Gefühl, als wenn da eine Mauer ist. Aber ich will Sex, und du bist der Einzige, dem ich das zutraue."
"Was, ich bin der Einzige, der das könnte?" staunt Rafa.
"Ja, sicher", bestätige ich. "Ich fasse wirklich keinen anderen an. Ich kann auch keinen anderen anfassen. Da können die hübschesten Jungs kommen. Die lassen mich eiskalt, weil ich eben nur dich will. Ich finde es wichtig, offen und ehrlich zu sein. Ich will nur dich anfassen. Ich will nur dich streicheln. Ich will nur dich küssen. Ich will nur dich beißen."
"Wußtest du eigentlich, daß Sex für mich das Wichtigste ist?"
"Du hast selbst gesagt - ich habe die Worte noch im Ohr, wie du gesagt hast:
'Es gibt auch Sachen, die für mich wichtiger sind als Sex.'"
"Wann habe ich denn das gesagt?"
"Ach, weiß ich nicht mehr genau, aber es ist noch nicht lange her; ach ja, im September - du warst doch im September letzten Jahres bei mir."
"Wann denn da?"
"Der 1. September oder der 2. September; na, jedenfalls Anfang September war es im letzten Jahr, als du Meta abgewimmelt hast und dann mit mir mitgefahren bist. Da hast du gesagt:
'Es gibt auch Sachen, die sind für mich wichtiger als Sex.'
Und deshalb kannst du jetzt nicht mehr behaupten, daß Sex für dich das Wichtigste wäre."
"Und was wäre, wenn ich dir jetzt sage, daß ich eine neue Freundin habe, und daß ich Vater werde - mal wieder?"
"Ach, da gibt es schon wieder ein Kind."
"Vielleicht", sagt Rafa geheimnisvoll.
"Wenn du nicht solo bist, kann ich mich natürlich nicht mit dir treffen", bedaure ich, "und wir können uns gar nicht treffen, und eigentlich kann ich dann auch nicht mit dir telefonieren."
"Ich bin solo."
"Du bist solo."
"Ja."
"Wen hast du denn geschwängert?"
"Das sage ich nicht."
"Etwa wieder die Sängerin?"
"Was für eine Sängerin?"
"Na ja, die Dame, von der du dich Ende März zum neunten Mal getrennt hast."
"Also, langsam wirst du echt grotesk, Mädchen."
"Also, isses die nun?"
"Nein."
"Ist es Lara?"
"Welche Lara?" tut Rafa ahnungslos. "Ich kenne keine Lara."
"Natürlich. Die hat dich doch kürzlich gebucht, für eine Nacht."
"Das weißt du?"
"Tja, ich erfahr' sowas. Es gibt nämlich nicht nur Leute, die sich angeblich bei dir wegen mir ausheulen. Es gibt auch Leute, die sich bei mir wegen dir ausheulen."
"Wer hat sich denn bei dir ausgeheult? Lara?"
"Nein, die hast du doch beglückt!"
"Und wenn ich dir jetzt sage, ich hab' mit ihr gar nicht geschlafen?"
"Oh, du hast mit ihr geschlafen. Das sagt sie selber. Das habe ich zumindest gehört. Ich kann es zwar nicht beweisen, aber das ist der derzeitige Stand. Irgendwas muß ich ja glauben. Lara hast du beglückt, aber dafür hast du jemand anderem geschadet. Du hast ihn in so tiefe Verzweiflung gestürzt, daß er sich fast getötet hätte."
"O.k., anderes Thema", bittet Rafa.
"Da hast du nämlich ganz schön was angerichtet", sage ich streng. "Ja, wem hast du denn nun ein Kind ans Bein gebunden?"
"Das sage ich nicht."
"Hast du Laura geschwängert?"
"Nein."
"Hast du vielleicht das Barmädchen aus dem 'Exil' geschwängert?"
"Nein."
"Ich kann mich ja noch erinnern an das Schauflirten, das du mit ihr damals abgezogen hast."
"Das - was?"
"An das Schauflirten."
"Was ist denn das?"
"Na ja, das geht so, daß man sich mit dem Mädchen hinters DJ-Pult stellt und mit dem ungefähr zehn Kurze kippt."
"Was ist das?"
"Na ja, Schnäpse. Vielleicht waren's auch Saure; ich weiß nicht."
"Ach ja, hähä, das", fällt es Rafa wieder ein.
"Da hast du dich wahrscheinlich geärgert, daß du dich an mich nicht 'rangetraut hast", stichele ich. "Ja, ich weiß, daß du zur Zeit dauernd irgendwelche Kinder in die Welt setzt, weil du immer wieder mit irgendwelchen Frauen schläfst."
"Ja, das muß ich ja," entgegnet Rafa trotzig, "weil ich ja mit dir nicht schlafen kann."
Für mich ist das eine Offenbarung. Die Äußerung bestätigt mir, was ich schon lange vermute - Rafa will eigentlich mich haben, und weil er mich nicht so leicht bekommt, wie er es gewohnt ist, wird er wütend und versucht, mich damit zu bestrafen, daß er zu anderen Frauen geht. Nur schneidet er sich damit ins eigene Fleisch. Er verbaut sich nämlich erst recht den Weg zu mir. Ich gebe ihm einen Rat:
"Du könntest es schaffen, wenn du dir mehr Mühe gibst und wir uns öfter sehen und wenn wir endlich offiziell zusammen sind."
"Wußtest du eigentlich, daß für mich zur Liebe Sex untrennbar dazugehört?" will Rafa mich entmutigen.
"Für mich auch", sage ich fest. "Für mich ist Sex sehr wichtig."
"Wie kannst du das denn sagen? Du weißt doch gar nicht, was Sex ist."
"Es ist in mir etwas wie ein Programm ..."
"Ich hab's", unterbricht mich Rafa. "Ich weiß - du denkst zuviel."
"Nein, laß' mich doch mal weiterreden. Ich glaube, in mir ist einfach etwas drin wie ein Programm auf der Festplatte, das mir sagt, daß Sex was Schönes und was Wichtiges ist, und wenn, dann natürlich mit dir. Ich meine, ich habe ja noch nie Sex gehabt. Aber da ist eben was in mir programmiert."
"Du hast dich noch nie selbst befriedigt?" fragt Rafa, der das nicht fassen mag.
"Nein", antworte ich sehr bestimmt. "Du darfst nie vergessen, daß ich das nicht tue."
"Du hast dich echt noch nie selber gestreichelt?"
"Nein."
"Hast du was dagegen, wenn ich mich streichle?"
"Nein, weil das was Natürliches ist. Aber ich bin halt nicht dafür gemacht. Wenn ich mal sinnliche Empfindungen habe ..."
"Was?"
"Wenn ich mal sinnliche Empfindungen habe, dann in Träumen", erzähle ich. "Die hat ja auch jeder; das ist was ganz Normales, und da bin ich keine Ausnahme."
"Woher willst du das wissen, daß das die Realität ist?"
"Das ist die Realität, das ist eine Tatsache."
"Ach, so."
"Sowas hat doch jeder; das ist was ganz Normales. Damit bin ich absolut keine Ausnahme. Aus den Träumen weiß ich zumindest mal so ungefähr, was das ist, und die Träume sagen mir dann auch, daß Sex was Wichtiges und was Schönes ist."
Rafa will mich gerne besuchen, doch er meint, er könne nicht zu mir kommen.
"Warum?" möchte ich wissen.
"Ich habe Alkohol getrunken."
"Ach, stimmt ja", erinnere ich mich. "Ja, sicher, wenn man Alkohol getrunken hat, darf man ja auch nicht fahren. Das geht ja auch nicht."
"Nein."
"Wenn du nüchtern wärst, könntest du jetzt kommen."
"Nein."
"Aber du hast doch ein Auto."
"Das Auto gibt's nicht mehr."
"Was ist denn damit passiert?"
"Es ist kaputt."
"Na, ja ... es war ja auch abzusehen, daß es irgendwann kaputtgehen würde. Es war ja ein ziemlich altes Auto."
"Das ist aber anders kaputtgegangen."
"Wie denn?"
"Durch einen Unfall."
"Du hast einen Unfall gebaut?" frage ich besorgt. "Wie ist denn das passiert?"
"Ich bin besoffen mit einem Freund gegen so 'nen alten Baum gefahren."
"Da hast du ja ganz schönen Unfug gemacht", tadele ich. "Du hast dich und andere gefährdet. Du weißt doch, daß man nicht Auto fahren darf, wenn man Alkohol getrunken hat."
"Ja, wenn ich nüchtern bin, weiß ich das auch."
"Ach, aber wenn du besoffen bist, weißt du das nicht."
"Nö."
"Ein Autounfall ist nicht ohne", warne ich. "Ich meine, es ist in diesem Fall ja noch glimpflich abgegangen. Aber du hättest verletzt werden können. Das macht mir ja richtig Angst."
"Ich mache dir Angst?" fragt Rafa voller Staunen.
"Ja, sicher macht mir das Angst, wenn ich mir vorstelle, daß dir dabei was zugestoßen sein könnte", erkläre ich. "Ich habe immer so schreckliche Angst, daß dir was zustoßen könnte."
"Was? Daß mir was zustoßen könnte?"
"Ja, ja, auf jeden Fall! Diese Vorstellung ist für mich absolut un-er-träglich. Das ist unvorstellbar, das ist unfaßbar, das ist entsetzlich."
"Warum ist das denn für dich unerträglich?"
"Für mich ist einfach die Vorstellung unerträglich, daß dein Körper verletzt wird."
"Würdest du zu mir nach SHG. kommen?"
"Ich will gerne nach SHG. kommen."
"Heute geht es nicht", schränkt Rafa ein. "Da bekomme ich noch Besuch."
"Besuch von einer Dame?"
"Nein, von einem Freund."
"Na, das ist ja schon was anderes - wenn du mit dem nicht schläfst. Du tust das doch manchmal."
"Ja, mit wem habe ich den jetzt schon wieder geschlafen?"
"Neuere Informationen habe ich nicht. Ich habe lediglich einmal von dir gehört, daß du mit Dolf geschlafen hast, und einmal von dir gehört, daß du dich mit Kappa befriedigt hast. Aber das habe ich alles nur von dir selbst gehört, und durch Dritte habe ich in der Hinsicht nichts gehört. - Ich hätte da noch was anderes Kleines, nichts Großes, nur was Kleines", füge ich an. "Du bist doch im März '94 bei mir gewesen, und da hast du mich gefragt:
'Was heißt 'Streß im Kopf'?'"
"Was?"
"Du hast mich gefragt:
'Was heißt 'Streß im Kopf'?'
Und du hast auf die Wand gezeigt. Und da bin ich dann ganz verwirrt gewesen und bin dann hingegangen und habe geguckt, und dann stand da auf die Wand geschrieben:
'Streß im Kopf'.
Und dann habe ich erst den armen Ortfried Brinkus beschuldigt, es gemacht zu haben, aber inzwischen weiß ich, wer es in Wirklichkeit gewesen sein muß."
"Ja, wer denn?"
"Na ja, es war ja so, nachdem du im Februar bei mir warst, stand da wieder ein Graffiti an der Wand, und wieder unter einem Bild von dir, und zwar stand da:
'Miau miih!'
Und jetzt weiß ich natürlich, daß es du gewesen sein mußt."
"Wieso soll ich 'Miau miih!' schreiben?"
"Das mußtest du gewesen sein, weil, 'Streß im Kopf' ist ja auch ein Songtitel von dir, und du hast das in einer Zeit geschrieben, als deine CD gerade veröffentlicht wurde, und den Titel konnte eigentlich kaum einer kennen, nur jemand, der von der CD irgendwie gehört hat. - Wie ist das, warst du das denn mit dem Graffiti?"
"Jetzt fragst nicht du mich was, jetzt frag' ich dich mal was", bestimmt Rafa. "Wenn du dich mit fünf Eigenschaften charakterisieren sollst, welche würdest du dann nennen?"
"Fünf Eigenschaften, ja. Also, Punkt eins - Liebe ist für mich das Wichtigste. Es gibt für mich nichts Wichtigeres. Punkt zwei - ich bin willensstark. Punkt drei - ich bin konsequent. Punkt vier - ich möchte anderen etwas geben."
"Was gibst du mir denn?"
"Ich liebe dich. Das ist ganz einfach. Ich liebe dich."
"Davon habe ich im Moment gar nichts."
"Na, doch", widerspreche ich. "Ich gebe dir doch etwas. Sonst hättest du mich doch nicht angerufen. Oder hast du mich nur angerufen, um mir mitzuteilen, daß du Vater wirst und demnächst heiratest?"
"Nein."
"Und du bist wirklich solo?" frage ich nach.
"Ich bin wirklich solo", versichert Rafa. "Würdest du zu mir kommen?"
"Ja, sicher würde ich zu dir kommen."
"Wie willst du denn nach SHG. kommen?"
"Mit dem Zug."
"Mit dem Zug? Das kannst du vergessen", meint Rafa. "Der erste geht um sechs."
"Das ist ja auch in Ordnung. Einen eheren schaffe ich ja sowieso nicht. Ich muß mich ja erstmal fertigmachen ... und bis dahin wird das auch sechs. Das ist eben nicht so einfach, wie wenn man mal eben mit dem Auto eine Dreiviertelstunde durch die Nacht fährt. Mit dem Zug fahren, das ist schon etwas anderes."
"Hast du nicht eine Freundin, die jetzt auch frei hat?"
"Nein, nein", wehre ich ab. "Wenn ich zu dir komme, dann komme ich alleine zu dir. Dann möchte ich nur alleine kommen."
"Würdest du mich wirklich heute besuchen? Echt?"
"Ja. Ich habe echt Lust, zu dir zu kommen. Ich habe wirklich richtig, echt Lust, nach SHG. zu fahren."
"Heute geht es aber nicht; da habe ich noch was zu erledigen."
"Wann geht es denn dann?"
Das will Rafa mit seinem Kumpel besprechen. Er sieht unter Umständen doch eine Möglichkeit, mich heute einzuladen. Er möchte sich gleich wieder bei mir melden, wenn es geht.
"Ich rufe noch meinem Kumpel an und frage, ob er noch Lust hat, zu kommen", macht er mit mir ab. "Und wenn nicht, dann nicht. O.k. Ciao!"
"Ciao."
Es ist kurz vor drei Uhr.
Ich bin mir von vornherein nicht sicher, ob es Rafa gelingt, mich ein zweites Mal anzurufen. Es gelingt ihm wirklich nicht, und ich glaube nicht so sehr, daß es an seinem Kumpel liegt, sondern vielmehr, daß es an seiner neu hochkeimenden Angst liegt. Rafa hat sich mühsam überwinden müssen zu dem Anruf bei mir, und dann hat er auch noch seiner Sehnsucht nach mir Ausdruck verliehen. Das hat ihn wohl so viel Kraft gekostet, daß es für einen weiteren Anruf nicht mehr gereicht hat.
Ich schlief nach dem Telefonat nicht mehr richtig ein. Ich hatte nur kurze Träume im Sekundenschlaf. Unter anderem träumte ich Folgendes:

Im Kriege wird ein Pärchen erschossen. Ihre Leiche fällt oben auf einen Hang, seine fällt unten an den Hang. Man will ihre Leiche auf seine werfen und beide in einem Sarg begraben. Da sagt jemand:
"Halt, wollt ihr, daß sie erfahren, wie grausam verstümmelt sie sind? Laßt ihnen doch ihre Ruhe!"

In einem anderen Traum sah ich nur, wie ein Mann eine Frau aus dem Wasser hob, die ertrunken war.

Dann träumte ich noch, mit einem Mal in einer außerirdische Welt versetzt zu werden.

Und ich erinnerte mich an ein melancholisches Ambient-Stück, "Plainsong" von Seefeel. Diese "elektronische Ballade" paßte zu der Stimmung, in der ich mich befand.
Rafa läßt sich liegen wie ein Leichnam am Wegesrand. Er scheint sich auflösen zu wollen. Er scheint sich selbst nicht mehr zu merken. Nun soll er in sich selbst wieder zurückkehren. Er soll sich selbst lieben lernen. Er soll lernen, um sich zu trauern. Er soll lernen, zu leben.
Constri ist froh, daß Derek kein Auto hat. Sie müßte sonst immer Angst haben, daß Derek mit dem Auto Unsinn macht. Vielleicht ist es auch besser, daß Rafa jetzt kein Auto mehr hat; anscheinend ist er damit ebenso überfordert wie Derek.
In der Hochschule habe ich einen Epileptiker-Witz gehört:
"Was ist der Unterschied zwischen Milchreis und einem Epileptiker? - Auf dem Milchreis liegt Zucker und Zimt, der Epileptiker liegt im Zimmer und zuckt."
Eine Rollstuhlfahrerin hat erzählt:
"Was sagt ein Kannibale, wenn er einen Rollstuhlfahrer sieht? - Mh, lecker, Essen auf Rädern!"
Außerdem hat sie erzählt:
"Steht ein Rollifahrer vor einer roten Ampel. Hält neben ihm ein Porschefahrer und fragt:
'Na, was hat denn dein Karren so drauf?'
'Oh, der schafft schon seine sechs Stundenkilometer.'
'Ou, Mann, da kannst du doch gleich zu Fuß gehen.'"
Carl hatte in den letzten Tagen zwei Träume von Rafa und mir:

Im ersten war ich mit Rafa in der Stadt verabredet. Carl begleitete mich zu dem Ort, wo wir uns treffen wollten. Rafa war wirklich da und wartete auf mich. Ich sagte zu Carl:
"Er liebt mich."
Dann ging Carl, und ich ging zu Rafa.

Im zweiten Traum saß Carl in einem Waggon, und ein Stück weiter vorne saßen Rafa und ich. Über unseren Köpfen lag ein Koffer auf der Gepäckablage. Der Koffer fiel herunter und erwischte Rafa. Rafa legte ihn wieder auf die Ablage. Wenig später fiel der Koffer noch einmal herunter. Rafa nahm den Koffer und legte ihn weiter weg, damit er ihn nicht mehr treffen konnte.

Mitte August feierten wir in Folters dreißigsten Geburtstag hinein. Die Jungen tranken viel Bier. Derek fuchtelte mit der Klobürste herum, weil er wußte, daß er mich damit ärgern konnte. Constri und Rikka mußten mich vor ihm schützen. Sie schlossen die Zimmertür, und dahinter ging es rund. Sie erzählten mir später, daß Folter und Derek beide sehr aufgekratzt waren. Folter rief, er habe keine Angst vor der Klobürste; schließlich sei sie desinfiziert, und er würde sich sogar damit die Zähne putzen. Derek schlug die Bürste gegen die Deckenlampe und die Wände und wedelte der armen Rikka mit der Bürste von dem Gesicht herum. Die anderen Jungen taten nichts, um ihn zu bremsen, und da griff Rikka in höchster Not zur Selbsthilfe. Sie riß Derek die Klobürste aus der Hand und warf sie durch die offene Balkontür in den Garten hinaus. Ich hatte unterdessen einen Heulanfall und mußte getröstet werden.
Dag konnte nicht hinnehmen, daß Menschen Phobien, Schwächen und wunde Punkte haben. Er vertrat den Standpunkt, daß jeder für sich selbst sorgen müsse, und wenn er das nicht in jedem Fall könne, sei das sein Problem. Im Widerspruch dazu steht Dags angebliche Opferwilligkeit. Dag meinte, es sei recht, wenn er sich für jemanden opfere, den er für wertvoller halte als sich selbst. Der andere käme dann weiter. Ich wies Dag darauf hin, daß er einem Menschen, der ihn liebt, das Wichtigste wegnimmt, wenn er sich selbst aufgibt. Außerdem erklärte ich, daß jeder Mensch gleichviel wert sei. Constri, Rikka und ich vermuteten, daß Dag sich aufgrund eines verminderten Selbstwertgefühls nichts gönnen mag und deshalb anderen auch nichts gönnt; gleichzeitig will er aber gern Zuwendung haben, und weil er sich das nicht zugestehen kann, verwandelt er diesen Wunsch in den Wunsch, anderen Zuwendung zu schenken. Wir vermuteten, daß Dags vermindertes Selbstwertgefühl daher rührt, daß er in der Kindheit nicht genug Zuwendung bekommen hat. Dag protestierte. Er behauptete, seine Kindheit sei vollkommen einwandfrei gewesen. Dazu paßt aber nicht, daß Dag schon mit vierzehn Jahren zu Hause ausgezogen ist.
Derek gab noch mehr Vorstellungen, die man als "filmreif" einstufen könnte. Zum Beispiel öffnete er schwankend die Zimmertür, knipste das Flurlicht ganz schnell an, aus, an und aus und schloß die Tür dann wieder. Nach einer Weile kam er ins Zimmer und warf eine Coladose aus dem offenen Fenster. Er setzte sich auf die Fensterbank, immer noch schwankend, und Constri holte ihn da weg und stellte das Fenster auf Kipp. Derek legte sich aufs Bett und schlief ein. Am Vormittag suchten Constri und Folter nach der Klobürste und entdeckten sie auf dem Dach eines Schuppens im Nachbargarten. Dort konnten sie sie nicht herunterholen. Nach einiger Zeit war die Bürste verschwunden; wahrscheinlich hatten die Nachbarn sie entfernt.
Heulanfälle kommen bei mir seit dem letzten Jahr häufiger vor. Gewöhnlich ist eine unübersehbare Situation die Ursache, der ich mich hilflos ausgesetzt fühle. Meistens habe ich solche Zustände nachts und kann deswegen schlecht einschlafen. Es kommt auch vor, daß ich tagsüber in Tränen aufgelöst durch die Wohnung schleiche. Ursachen, die diese Zustände auslösten, waren der Ärger mit den Türstehern vom "Nachtlicht", die Furcht vor der Schwangerschaft der Sängerin, die Erleichterung darüber, daß dieses Kind doch nicht zur Welt kam, die Furcht, von Kollegen gehaßt zu werden und auch die Äußerungen von Rafa in unserem vorletzten Telefonat Ende Juli.
Was das Institut betrifft, so finden Constri und ich dort Verständnis für unsere Geldsorgen. Constri hilft bei den Projekten ein wenig mit. Wir sollen auch bald neue Gutachten zum Tippen bekommen.
"Jetzt muß ich am Wochenende ordentlich was tun, damit unsere Schwarzen wieder was zu fressen haben", hat der Professor zu Constri gesagt.
Constri und ich sind wirklich malerisch gekleidet, verglichen mit dem bunten Einerlei um uns herum. Wir tragen dabei keineswegs nur Schwarz. In der Sommerhitze habe ich meistens ein kurzes Blüschen mit schwarzweißem Blumenmuster an und um die Taille eine glitzernde Schärpe mit silberner Perlenborte. Constri hat eine ärmellose graue Bluse mit langem Reißverschluß vorn.

In einem Traum sagte der Professor zu mir, er hätte in seinem Zimmer mit mir zu reden. Dort schenkte er mir ein Überraschungsei mit einem Puzzle darin. Puzzles gibt es nur in ganz wenigen Überraschungseiern.

Sasch hat erzählt, daß Kappa im "RoseHip" vor einiger Zeit im Kokainrausch aufgelegt haben soll. Als Sasch zu ihm ans Pult kam, um sich etwas zu wünschen, sagte Kappa seltsam weggetreten:
"Ooh, das ist aber schön, daß du dir was wünschst! Was willst du dir denn wünschen?"
"Neon Judgement."
"Ooh, Neon Judgement! Das ist aber schön! Was soll ich denn spielen?"
"Na, ich dachte an 'TV treated'."
"Ooh, 'TV treated'! Das ist aber schön! Spiele ich sofort!"
Eine halbe Stunde später kam Sasch wieder zu Kappa und fragte nach "TV treated".
"Ooh, 'TV treated', das ist aber schön", sagte Kappa wieder. "Spiele ich sofort."
Kappa soll ganz hingerissen in die bunten, flackernden Lämpchen unter der Decke gestarrt haben. Er war so hingerissen, daß er einmal für zehn Minuten vergaß, die CD zu wechseln.
Im "Elizium" berichtete Sandro, Lara habe ihn angerufen und ihm mitgeteilt, daß sie seine Briefe vernichtet habe. Sandro wünscht sich, daß Lara ihn in Ruhe läßt, damit er sie vergessen kann.
"Von Rafa habe ich den Eindruck, daß er sich schämt für das, was er angestellt hat", erzählte ich. "Ich glaube, der weiß ganz gut, daß er Sch... gebaut hat. Ich glaube, der weiß das ganz genau."
"Hast du ihn etwa darauf angesprochen?"
"Nein, er wollte mit mir reden. Und da habe ich das vorsichtig einfließen lassen, daß da sowas war. Da hat er gleich gesagt, bitte, bitte, laß' uns das Thema wechseln. Ich glaube, der schämt sich ganz schön."
"Ja, der war auch ganz komisch, als ich im 'Exil' war. Was ich nicht verstehe, ist, daß der zu mir gesagt hat, ich sei sein Kumpel."
Sandro meinte, die Schuld liege gar nicht in erster Linie bei Rafa. Es sei hauptsächlich von Lara ausgegangen. Ich gab Sandro recht, froh darüber, daß seine Wut etwas von Rafa abgelenkt war.
Das Mädchen, das Sandro jetzt hat, ist auch wieder nicht richtig seine Freundin. Ich meinte, es sei doch zu hoffen, daß Sandro sich nicht schon wieder wegen eines Mädchens selbst kaputtmacht. Sandro zeigte etwas verlegen seine Arme. Er hatte seine Handgelenke verhüllt, wahrscheinlich damit man die Narben nicht sah.
"Das war nur der reine Haß", meinte Sandro, "und der mußte 'raus. Wenn Rafa damals im 'Exil' gewesen wäre, hätte ich ihn erschlagen. Aber er war nicht da, und deshalb ... Dafür, daß es mein erstes sexuelles Erlebnis war, war es ganz schön hart. Es hat weh getan, und es tut immer noch weh."
"Es war entmutigend."
"Und wie das entmutigend war."
Ich half Xentrix, wach zu bleiben, indem ich mir weniger schläfrige Musik wünschte. Er tat mir den Gefallen.
Gegen Morgen kifften Luca und Manitou im Torweg und riefen dauernd:
"Halleluja! Gelobt sei der Herr!"
Das schöne blonde Mädchen mit dem seitlich gebundenen Pferdeschwanz wünschte sich, eine Videokamera dabeizuhaben.

In einem Traum herrschte in meiner Wohnung eine Familienwirtschaft wie früher in unserem Haus, mit Platznot, Unordnung und viel zu wenig Ruhe und Freiheit. Ich wollte Milch in ein Müsli rühren, das ich mir ausgedacht hatte. Es bestand aus Milupagrieß, Haferflocken, Kleie, gemahlenen Mandeln, Honig, Kakaopulver, Vanillinzucker und eben Milch. Leider mußte ich feststellen, daß die Milch sauer war. Meine Mutter wollte nur saure Milch für die Küche. Ich war wütend, denn es war abends um acht, und alle Geschäfte bis auf den Bahnhofssupermarkt hatten geschlossen. Meine Mutter sagte, sie würde mich durchaus zu einem Laden fahren, damit ich einkaufen könnte, aber der Bahnhofsmarkt sei ihr zu weit weg.
"Es gibt da eine Regel", sagte ich. "Wisse alles vorher! Es ist sowieso keiner da, der einem hilft. Keiner!"

Mit diesem traurigen Gedanken wachte ich auf. Weil ich so erleichtert darüber war, daß es in meinem Haushalt diese "Familienwirtschaft" nicht gibt, bereitete ich mir das Müsli zu, das ich mir ausgedacht hatte - mit frischer Milch.

In einem Traum machte mir ein "Bazibua" den Hof, der angeblich "nur a bisserl Zärtlichkeit" wollte. In einem Zimmer legte er sich aufs Bett und ließ den Kopf über die Kante hängen. Er bat mich, mich auf ihn zu legen, und ich tat das in einer recht unverfänglichen Art.
"He, du mußt dich aber schon anders auf mich drauflegen, weißt du", sagte der Mann.
Da merkte ich, was es auf sich hatte mit dem "bisserl Zärtlichkeit".
"Ich werde nicht mit Ihnen schlafen", sagte ich und stand auf. "Es gibt nur einen Mann, mit dem ich das mache. Suchen Sie sich eine andere. Sie werden sie finden. Nebenan sind genug Frauen."
"Na, dann werde ich mal ... 'rübergehen", verabschiedete sich der Bazibua.

In HH. habe ich Lisa und Kevin besucht, und ich war in der Kinopremiere von "Nur über meine Leiche". Darin wird mit viel schwarzem Humor von der Läuterung eines Frauenhelden erzählt. Das war erfrischend; es traf genau meine Gedanken und Sorgen.
Lisa weiß nicht, ob sie mit Kevin Kinder haben will. Seine Alkoholkrankheit läßt sie an der Beziehung zweifeln.

In einem Traum hat Rafa eine CD herausgebracht mit dem Titel "Wege". Das gefiel mir schon besser als "Frontalaufprall", der Titel seines ersten Albums. Es klang ernster, ernstzunehmender und zurückhaltender.

In einem anderen Traum saß ich auf der Rückbank eines großen Autos, zusammen mit anderen Leuten. Rafas Vater saß am Steuer. Er war recht schick gekleidet und hatte angegraute Haare. Wir fuhren durch eine Allee. Der Vater hatte einen ebenso ausgelassenen Fahrstil wie Rafa.

In einem Traum Anfang September meinte die Sängerin, daß es zwischen ihr und Rafa nie etwas Dauerhaftes hätte werden können. Jeder neue Versuch barg das Scheitern bereits in sich.
Die Sängerin erzählte ganz sachlich von dieser Erkenntnis, ohne Haß oder Groll. Sie gab sich geschlagen, und sie sah auch ein, weshalb.

Malda hat Ivo Fechtner inzwischen den Verlobungsring zurückgegeben. Ich glaube, es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie sich von ihm trennt.
Talis und Ellen haben schon wieder Einweihung gefeiert. Sie sind in den Anbau von Talis' Elternhaus gezogen. Die Wohnung geht über zwei Etagen und ist nett eingerichtet, in Blau und Schwarz. Es gibt jedoch außer dem Bad keine abgeteilten Räume, so daß die Privatsphäre auf der Strecke bleibt. Talis und Ellen meinen, sie finden das nicht so schlimm.
Scarlett soll ihre Tochter inzwischen annehmen und versuchen, ihr jetzt die Zuwendung zu schenken, die sie ihr anfangs verwehrt hat. Ich fürchte, daß dennoch schon viel zerstört worden ist.

In einem Traum hatte ich einen sehr langweiligen Job. Ich mußte Waren zählen, Babysachen. Dann saß ich auf einem Sofa und hatte ein Baby im Arm. Ich war traurig, weil es nicht meins war.
Später in dem Traum ging es um eine Leiche, die nicht beerdigt werden konnte, weil ein Sarg fehlte. In den trockenen Wüstenboden wurde ein tiefes Loch gegraben, und die Leiche wurde erst einmal ohne Sarg hineingelegt, damit sie aus dem Weg war.

Elaine hat jetzt ein Laufwägelchen mit elektronischem Armaturenbrett, und sie soll in dem Wägelchen auch schon laufen können. Als Constri und ich bei Merle zum Kaffee waren, schlief Elaine friedlich.
Merle erzählte, daß sie in ihrer Kindheit von ihrem Cousin sexuell genötigt worden ist. Der Cousin soll später dem Alkohol verfallen sein und inzwischen nicht mehr am Leben sein.

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Im "Elizium" lief am Samstag leichte synthetische Musik aus den Achtzigern. Xentrix hatte oben bei sich vorübergehend einen "DJ-Schutz", einen etwas rauhbeinig wirkenden Herrn, der die Wünsche des Publikums an Xentrix weitergeben sollte. Ich trug dem Herrn auf, auch mein charmantes Lächeln an Xentrix weiterzugeben, da dies ein Teil meiner Wünsche sei. Da rief der "DJ-Schutz" Xentrix her und sagte ihm, ich müßte ihm mein Lächeln selbst geben, da er nicht so lächeln könne wie ich.
Xentrix ist inzwischen mit dem hübschen Mädchen mit den langen blonden Haaren zusammen. Kürzlich war sie auch schon mit ihm im "Elizium".
Gegen zwei Uhr entdeckte ich Dolf beim Podest. Während ich zu einem Stück von New Order tanzte, sah ich Rafa oben bei Xentrix.
Ich hatte ein neues Kleidchen an, sehr kurz, aus schwarzem Leinen, mit einer breiten Spitze am Saum. Ein Leinenband hatte ich um die Taille geknotet.
Xentrix spielte sein Lieblingsstück von den Sparks, "When do I get to sing 'My Way'". Rafa tanzte dazu, und er stellte sich ausgiebig zur Schau. Er zappelte und warf die Arme zur Seite und den Kopf ins Genick, als gelte es sein Leben. Seine Haare standen hoch. Sein Gesicht war mit Strähnen zugehängt. Er trug die Jacke mit den unzähligen Schnallen auf den Ärmeln und ein weißes Hemd mit breiten Spitzenmanschetten. Dazu trug er die schmal geschnittene schwarze Hose und spitze Stiefel. Ich stand mit Lena in "unserer" Ecke vor der Treppe, und von dort aus konnte ich Rafa gut sehen. Er tanzte mir abgekehrt. Ich lief ein Stück weit um die Tanzfläche herum, um ihn auch von vorn zu betrachten. Dann ging ich in "unsere" Ecke zurück. Marilene und Sanna zogen an mir vorbei. Wie sie mich eben erreichten, rief Sanna mit schriller Stimme:
"Oh, ich kotz' gleich!"
Das kam mir bekannt vor.
"Voll zum Kotzen, die Frau!" hat vor zwei Jahren die Sängerin Tessa einer Freundin zugerufen, so laut, daß ich es hören mußte.
Damals fühlte sich die Sängerin von mir gestört und bedroht in ihren Absichten mit Rafa.
Sanna kennt mich so gut wie gar nicht. Daß sie jetzt solche Aggressionen gegen mich hat, kann ich mir nur durch Eifersucht erklären. Ich schloß aus Sannas Verhalten, daß sie mit Rafa zusammen ist und mich in dieser Sache als Bedrohung erlebt.
Sanna ist eng befreundet mit Marilene. Lena erzählte mir, daß Marilene tatsächlich so aggressiv sein soll, wie ich sie einschätze. Marilene soll unter anderem gern und ausgiebig lästern.
Nach dem Stück von den Sparks ging Rafa in Richtung Bar und verschwand im Nebel. Wenig später erschien er wieder auf der Tanzfläche. Er sprach mit diesem und jenem und näherte sich immer mehr der Ecke vor der Treppe, wo ich stand. Begleitet von Marilene und Sanna kam er heran und blieb einen halben Meter von mir entfernt stehen. Er hatte Sanna bei der Hand genommen und sagte ihr etwas ins Ohr. Es sah aus, als wenn er sie besänftigen wollte, weil ihr irgendetwas nicht paßte. Ich schaute Rafa unbewegt ins Gesicht. Schließlich entfernten sich Sanna und Marilene. Rafa reichte mir die Hand. Ich barg sie in meinen Händen. Rafa kam mir nicht so nahe, daß ich ihn umarmen konnte. Er neigte sich nur über meine Schulter, um zu hören, was ich zu sagen hätte. Ich fragte ihn ruhig und sehr deutlich:
"Ist man solo?"
"Nnein!"
"Dann -"
Ich ließ seine Hand los und machte ein kurze, angedeutete Geste des Wegschiebens. Rafa begriff sofort. Er ging die Treppe hinauf. Ich ging auf die Tanzfläche, wo auch Dolf war. Ich sah Rafa nur noch einmal kurz im Seitengang und dann nicht mehr. Es dauerte weniger als eine Viertelstunde, bis er das "Elizium" verlassen hatte. Er scheint es wirklich nicht ertragen zu können, wenn er mich im "Elizium" sieht und nicht mit mir sprechen darf.
Sanna blieb etwas länger da als Rafa und kam gegen halb fünf auch noch einmal kurz herein und holte Marilene ab. Dolf war ähnlich lange im "Elizium" wie Marilene. Bei "Soylent Green" von :wumpscut: trat Dolf seltsam zielsicher vor mich und tanzte mit mir.
Rafa war noch nicht lange fort, da erschien Constri, um nach ihrem Derek zu sehen. Sie hatte daheim kein Bier mehr in Dereks Kühlschrank gefunden und zwei und zwei zusammengezählt. Sie zog sich um und kam ins "Elizium". Derek spielte den ungezogenen Bengel. Constri vollführte mit ihm ein heftiges Scheingefecht. Als er schließlich tanzen ging, sagte Constri seufzend zu mir: "Echt, der Typ, der da vorne so komisch auf der Tanzfläche herumhampelt - mit dem bin ich zusammen!"
"Genau das habe ich vorhin auch gedacht!" rief ich. "'Der Kerl, der da so komisch auf der Tanzfläche herumzappelt - den liebe ich!'"
Wenigstens kann ich Rafa seine Albernheiten gönnen, auch wenn ich sie manchmal recht peinlich finde. Constri leidet mehr unter Dereks kindischem Verhalten. Sie findet, daß Derek sie und sich blamiert. Vor allen Dingen verletzt es sie, daß Derek im "Elizium" so tut, als sei zwischen ihr und ihm gar nichts weiter. Laura soll ihre helle Freude daran gehabt haben. Sie soll gelästert haben, was das Zeug hielt.
Cyrus übernahm das Pult und spielte in Vergessenheit geratene Stücke, "The Blind love the Blind" von Syntec, "The Walk" von The Cure und "Love under Will" von den Fields of the Nephilim.
Elsa erzählte traurig, mit Simon und ihr sei es aus.
"Den Rafa habe ich vorhin gleich wieder weggeschickt", berichtete ich. "Der kam an und wollte mit mir reden, aber der war nicht solo, und da mußte er wieder gehen, und er hat gleich das 'Elizium' verlassen. So ist das recht. Der hat hier nichts verloren, wenn er nicht solo ist, und das weiß der."
Über die Sängerin konnte Elsa berichten, daß sie inzwischen ganz von der Bildfläche verschwunden sein soll. Sie soll sich auf Techno-Parties herumtreiben.
"Von der habe ich geträumt, daß sie sich offiziell geschlagen gegeben hat", erzählte ich. "Dann ist das wohl auch so. Ich wollte sie nicht mehr sehen. Ich konnte sie einfach nicht mehr sehen. Es stand mir bis hier. Und jetzt ist das passiert, was ich wollte. Ich wollte, daß sie verschwindet, und sie ist verschwunden. Hat zwar ein bißchen gedauert ..."
"Na ja, steter Tropfen höhlt den Stein."
Ich verließ das "Elizium" um zwanzig nach fünf. Gegen sechs Uhr waren Constri und Carl gerade draußen im Hof, da sahen sie Rafa und Kappa ins "Elizium" kommen, ohne Sanna. Rafa hatte seinen Haarturm ausgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebändigt.
Constri und Carl setzten sich auf zwei Stühle auf dem Podest. Rafa kam zu ihnen und gab Carl artig die Pfote. Dann blieb er ein Stück entfernt von ihnen stehen. Carl bat ihn um eine Zigarette. Rafa gab ihm die und sagte etwas zickig:
"Wenn du 'bitte' sagst, kriegst du auch zwei."
Constri bat Rafa ebenfalls um eine Zigarette und sagte auch "bitte" dazu.
"Da müßte sie ja eigentlich zwei kriegen", meinte Carl.
"Nein, das ist nur bei dir so", entgegnete Rafa und unterstrich damit die Sonderstellung, die Carl bei ihm hat.
Rafa gab zuerst Constri Feuer und dann Carl. Er hatte das Feuerzeug so eingestellt, daß eine rechte Stichflamme daraus hervorschoß. Rafa ließ sich immer noch die langen Ponysträhnen übers Gesicht hängen, und Carl meinte, daß das doch ziemlich gefährlich sei, wenn man so eine Frisur habe und die Flamme vom Feuerzeug so groß einstellte.
"Ach, nö ... andere machen Bungee-Springen, und ich habe halt so ein Feuerzeug", erwiderte Rafa.
Carl bekam Lust, mit Rafa, "diesem Menschen", ein wenig zu plaudern, aber der schien nicht bereit dafür zu sein. Rafa lief dauernd im "Elizium" auf und ab und sprach mit vielen Leuten. Seine Stimmung war eher heiter, zumindest vordergründig. Er wirkte kontaktfreudig und aufgedreht. Mit Laura soll er sich besonders lange unterhalten haben. Als er dann ging, kam er noch einmal zu Carl und gab ihm die Hand.
Carl glaubt, daß Rafa ihn als Ersatz brauchte für mich, die ich für ihn nicht ansprechbar war. Carl hat den Eindruck, daß Rafa ihm dankbar ist, weil er ihn annimmt und offen ist für ihn.

In einem Traum war die Rede von jemandem, der in einer Beziehung lebte, die ihm nicht bekam. Ich glaubte, daß die beiden nur zusammen waren, doch jemand stellte richtig:
"Die sind seit sechs Wochen verheiratet!"
Ich weiß leider nicht mehr, ob Rafa derjenige war, der geheiratet hatte, oder ob er derjenige war, der betonte, daß das Paar verheiratet sei.

In der Hochschule hörten zwei junge Patientinnen Rafas Stück gegen Videospiele. Ich frage mich, wo sie das herhaben. Es scheint über die Grenzen der Szene-Clubs hinaus bekannt zu sein.



Mitte September waren Carl und ich im "Exil". Rafa verbarg sich im Nebel am DJ-Pult. Er trug sein kinnlanges Haar offen. An der rechten Seite war es zurückgestreift. Rafa hatte eine schwarze Jacke mit Silberknöpfen an und darunter ein weißes Rüschenhemd. Ein Mädchen sah ich nicht bei ihm, auch nicht Sanna, die übrigens gar nicht im "Exil" war. Dafür waren Kappa und Ace da, die öfters zu Rafa gingen und mit ihm redeten. Überm DJ-Pult lief neben den Ansagen der Spruch vorbei:
"Hallo ... ich liebe dich!!!!! ... Hä? Wer?"
Daphne bat mich, Malda von ihr zu grüßen. Sie hat Malda schon seit Monaten nicht mehr gesehen, weil Malda kaum noch weggeht.
Zwei Jungen lernten mich kennen, Dimitri und Velroe. Sie freuten sich darüber, daß ich wie sie seit den Achtzigern in der Szene bin. Die Jungen fand ich nett und nicht unhübsch. Sie schienen mich ein bißchen zu verehren. Dimitri und ich redeten auch mit Kappa über die "alten Zeiten".
"Im 'Flash' warst du immer die Erste auf der Tanzfläche", erzählte mir Kappa. "Da hat noch kein Schwein getanzt, aber du warst schon da."
"Daß du dich daran noch erinnern kannst!" staunte ich.
"Ja, klar", lächelte Kappa. "Du hast damals viel Weiß getragen."
"Ja, und immer solche weiten Hosen."
Neun Jahre ist das jetzt her.
Kappa machte Werbung für seine CD-Release-Party, die demnächst stattfinden soll.
"Da kann ich aber nicht hin", merkte ich an. "Ich habe keine Clubkarte."
"Ach, natürlich kannst du kommen!" rief Kappa. "Du bist herzlich eingeladen."
"Ja, wenn du mich einlädst, dann muß ich ja zumindest mal vorbeischauen."
Rafa spielte einige Sachen, zu denen ich gern tanze, darunter "Being boiled" von Human League, "Love in Chains" von Call, "Love Missile" von Sigue Sigue Sputnik und "Eine neue Zeit" vom Liederkranz. Zu "Love Missile" und "Eine neue Zeit" hat Rafa früher selbst gern getanzt. Jetzt tanzte er gar nicht, nicht einmal zu "Ich lieb sie" von Grauzone.
Gegen drei Uhr standen Carl und ich mit Daphne, Dimitri und Velroe an einem Tisch am Durchgang zur Treppe, vor dem Türlein zur Bar. Dimitri schlug vor, ich könnte mir doch von Rafa ein Stück wünschen.
"Das geht nicht", erwiderte ich. "Wir haben ein besonderes Verhältnis."
"Erfüllt er dir keine Wünsche?" fragte Velroe.
"Doch", antwortete ich. "Aber wir haben so eine Regelung. Er muß immer zu mir kommen. Ich gehe nie zu ihm."
Gegen halb vier kam Rafa herunter und ging eilig und sehr dicht an uns vorbei. Er hielt kurz inne in seinem Schritt, als er bei mir angekommen war, und ich streckte die Hände nach ihm aus. Er machte eine abwehrende Geste und ging weiter. Als er zurückkam, achtete er auf einen Sicherheitsabstand.
"Er will sich wohl rächen", dachte ich.

In einem Traum waren Rafa und ich auswärts in einer fremden Wohnung. Wir redeten zwar miteinander, doch Rafa hielt einen gewissen Abstand zu mir ein. Er sah so niedlich aus wie in der letzten Nacht im "Exil", mit offenen Haaren, schwarzer Jacke und weißem Hemd.
Ich hatte geschlafen und war noch nicht geschminkt; ich hatte nur die Grundierung aufgelegt. Als meine Mutter in die Wohnung kam, sagte ich zu ihr:
"Jetzt kann ich dir ja gleich meinen Flirt vorstellen."
Ich nahm sie mit in die Stube zu Rafa. Der war sehr artig, und wir konnten uns schön unterhalten. Meine Mutter blieb nicht lange. Als sie wieder fort war, war Rafa eine Weile recht schweigsam. Dann stellte er sich vor mich hin, sah mir offen ins Gesicht und sagte:
"Ist ganz schön anstrengend, nett zu sein."
"Ja?"
"Aber ich wollte deiner Mutter gefallen", gestand Rafa mit einem verlegenen Lächeln. "Ich weiß auch nicht, weshalb."
Da nahm ich ihn in die Arme und sagte zärtlich:
"Das ist aber schön, daß du ihr gefallen wolltest. Das ist aber schön."
Ich war nahe daran, ihm zu sagen, daß ich seiner Mutter auch gefallen will und daß ich mir auch Mühe geben würde, ihr gegenüber nett zu sein. Ich sagte es ihm aber nicht; stattdessen umarmte ich ihn weiter und streichelte ihn auch. Seltsamerweise wehrte er sich gar nicht. Wir konnten reden, und ich konnte ihn in den Armen halten. Ich konnte mich sogar auf ihn setzen, auch als einige Bekannte vorübergehend in den Raum kamen. Unter diesen Bekannten waren Dimitri und Velroe in der Gestalt von Punks.
Rafa erzählte mir, daß er am heutigen Tage für mehrere Stunden allein in der Wohnung von Constris Ex-Freund Cyd gewesen war. Er empfand dieses Alleinsein wie das Leben in einer Einsiedelei. Er hatte das Gefühl, daß einem dabei gute Gedanken kamen. Er sprach von seinem Verlangen nach Abgeschiedenheit und innerer Einkehr. Er suchte nach Wegen, um sich auf sich selbst zu besinnen. Ich hörte das gerne. In meinen Augen war es ein Zeichen dafür, daß Rafa lernte, für sich zu sein und über sich nachzudenken. Er machte einen wichtigen Schritt weg vom Vergessen und Verdrängen, weg von der Selbstablehnung und Selbstverleugnung, hin zur Annahme seiner selbst, hin auch zur Annahme von Zuwendung.
Am frühen Abend schminkte ich mich fertig und fuhr nach Hause. Die Punks Dimitri und Velroe wollten zu einem Konzert und baten mich, auch hinzugehen. Dazu hatte ich aber keine Zeit. Unten kam ich an dem Eingang zur Konzerthalle vorbei, und dort wurde ich wieder angehalten und gebeten, doch hineinzukommen.
"Ich muß leider heim", sagte ich bedauernd. "Ich würde sonst kommen. Aber ich muß nach Hause."
Ich ging unter Baugerüsten hindurch, die waren gleichzeitig Kunstwerke und so tief heruntergezogen, daß ich mich arg bücken mußte. Irgendwo lief ein Radio. Ich hörte ein deutsches Lied, ein unerträglich süßliches Liedermacher-Stück, in das Industrial-Klänge eingearbeitet waren. Das war jetzt schon der neue Trend. Erst waren Techno-Rhythmen in die kommerzielle Musik eingerührt worden, und jetzt war es der Industrial.

Spätabends träumte ich die Fortsetzung:

Ich wollte einen bestimmten Zug bekommen und verlief mich in der fremden Großstadt. Ich wußte nicht einmal mehr, wo die WG lag, in der ich Rafa getroffen hatte, und ich wußte auch nicht, was auf dem Klingelschild stand. Ich war immer nur mit anderen Leuten zu dieser Wohnung gegangen, und ich war in schwarzes Tuch gehüllt hinter ihnen hergetrottet, ohne auf die Straßenamen zu achten. Ich hatte mich zu sehr auf andere verlassen. Den Bahnhof fand ich wenigstens. Ich ging aber nicht gleich zum Gleis, sondern erst in einen Imbiß, weil ich Hunger und Durst hatte. Es dauerte ein wenig, ehe das Essen fertig war, und als ich es endlich bekam, blieben mir noch zwei Minuten, um es zu mir zu nehmen. Ich wollte mich schon wieder abhetzen, wie ich mich im Alltag fast immer abhetze, da entdeckte ich Constri in der Imbißstube, und das war für mich ein Wink des Himmels. Ich entschied mich, den nächsten Zug zu nehmen, und unterhielt mich mit Constri. Dabei fiel mir ein, daß ich noch einen Schlüssel bei mir hatte, den ich den Leuten in der WG zurückgeben mußte. Ich war nun froh, noch nicht weggefahren zu sein. Ich fragte Constri nach der Adresse der WG.



Gegen elf Uhr abends kam Ortfried zu mir. Er holte von der Tankstelle die Cola, die ich in dem Traum vor lauter Hast nicht hatte austrinken können. Jetzt setzte ich mich mit Ortfried an den Tisch und trank in Ruhe die Cola.
Kurz vor eins kamen wir ins "Elizium", wo Luie auflegte.
Rafa kam gegen zwei Uhr für etwa zehn Minuten ins "Elizium". Ich sah ihn nicht, weil ich tanzte, aber Carl sah ihn. Rafa soll sich so zurechtgemacht haben wie in der Nacht zuvor. Er hielt sich nur an der Bar auf und redete mit irgendwelchen Leuten. Carl sagte ihm "Hallo", und er erwiderte den Gruß.
Carl erzählte mir, daß er sich in der vorherigen Nacht im "Exil" noch von Rafa verabschiedet hat; das habe ich gar nicht mitbekommen. Carl ging vors DJ-Pult, winkte Rafa her, gab ihm die Hand und sagte ihm "Tschüß".
Siddra war auch im "Elizium" und erzählte, daß sie neulich von Sator angerufen wurde. Am letzten Samstag ist sie ins "Read Only Memory" gekommen, wo er aufgelegt hat. Er hat sie hinterm DJ-Pult umarmt, wo alle Leute es sehen konnten - außer seiner Freundin, denn die war nicht da. Später fuhr Sator Siddra nach Hause, und bevor sie ausstieg, umarmte und küßte er sie. Er behauptete, mit seiner neuen Freundin nicht glücklich zu sein.
Onno und Revil haben eine gemeinsame Wohnung bezogen, und ich war zum Kaffee bei ihnen. Onno zeigte mir die Fotos, die auf seiner mitternächtlichen Geburtstagsfeier gemacht worden sind. Es sind auch gestellte Bilder dabei, auf denen Revil und ich wie ein verheiratetes Pärchen dasitzen.
"Wie eine treusorgende Ehefrau", fand Onno.
Auf den Fotos bin ich ganz in Silbergrau gekleidet; sogar der Haarschmuck auf meinem Kopf ist silbergrau. Ich habe ein zierliches, recht kurzes Kleidchen aus schimmerndem Nickistoff an. Die hellen, glänzenden Stoffe, die violette Schminke und das Blitzlicht lassen mich ganz besonders weiß erscheinen, pudrig weiß wie mattes Porzellan.
"Wie eine Puppe", meinte Onno.
Sasch soll neulich zu Carl über mich gesagt haben, ich sei "voll faszinierend". Es hatte ihn begeistert, daß ich ihm riet, sich seine Wunschgarderobe anfertigen zu lassen, wenn er im Laden oder beim Versand nichts Geeignetes findet. Was daran faszinierend sein soll - ich weiß nicht ...
In der Nacht zum Samstag klingelte um halb eins das Telefon, aber nur einmal. Wer soll da meine Nummer gewählt haben? Es ist meistens nachts, wenn Rafa mich anruft. Das würde passen. Aber ich werde wohl nie die Wahrheit erfahren.
Am Abend hatte ich Gäste, und es gab etwas zu feiern. Jane hatte eine Zwischenprüfung hinter sich gebracht und ich mein Praktisches Jahr. Wir stießen mit Saurem an und hatten noch mehr Leckereien, auch Zimtsterne. Es gab Kerzenlicht und Schwarzlicht. Ich ließ schwarzgoldenen Weihrauch verdampfen; das mache ich zur Zeit fast jeden Tag.
Bislang habe ich in meinem Zimmer keinen Couchtisch. Ich decke auf Schlackensteinen, einem Schalstein und verschiedenen Betonsteinen.
Adi - der Busfahrer - erzählte, daß er den Sockenschuß manchmal im Bus fährt: "Im Einundzwanziger habe ich ihn schon öfter drin gehabt, aber auch im Neununddreißiger ..."
Im "Elizium" war Dolf, und er blieb recht lange. Es kam oft vor, daß er sich auf der Tanzfläche einen Platz neben mir oder mir gegenüber suchte. Er stand auch meistens so, daß er mich im Blickfeld hatte. Zeitweise beobachtete er mich ganz offensichtlich. Als er sich mit zwei anderen Jungen setzte, suchte er sich einen echten Beobachtungsposten aus. Er setzte sich mit seinem Stuhl ans obere Ende der Treppe und konnte zugleich die Galerie mit dem DJ-Pult und den Tanzraum überblicken.
In der Toilette sah ich Marilene. Als ihr ein Mädchen berichtete, daß Dolf da sei, war sie erfreut und meinte, das sei ja schon mal gut.
Xentrix klopfte sich selbst ordentlich auf die Schulter, als ich ihn lobte. Als ich später von seiner Konkurrenz Kappa sprach, der mich bei seiner Release-Party zu Gast haben will, sagte Xentrix nur: "Ich kenne diesen Mann nicht."
Ein Mädchen im "Elizium" trug einen bodenlangen Brautschleier, eines hatte sich einen sehr langen blauen Zopf ins Haar geflochten, und es waren auch noch andere verspielte Kostüme zu sehen. Sandro kam prächtig bestickt. Er erzählte mir, daß er mit Deva, die er nach der häßlichen Geschichte mit Lara kennengelernt hat, sehr glücklich ist.
Terry hat von Chantal einen neuen Haarschnitt und eine Tönung bekommen. Sie sieht damit viel frischer und hübscher aus. Als ich einmal durch den Vorraum ging, sagte Terry gerade:
"Ich habe schon so viele komische CD's im Regal, da kann ich auch noch eine von W.E dazwischen stehen haben."
Gegen Morgen spielte Xentrix Zarah Leander.
"Ich glaube, da hat einer keine Lust mehr", vermutete seine Freundin.
Ich erzählte Xentrix' Freundin, daß Xentrix 1991 fast jeden Samstag "Weiße Rosen aus Athen" von Nana Mouskouri gespielt hat.
"1991? Da war ich gerade mal in der Achten", sagte die Freundin.
Sie ist erst siebzehn und damit zwölf Jahre jünger als Xentrix Ein Junge fragte sie, ob sie denn überhaupt schon einen LBS habe, einen Lebens-Berechtigungs-Schein.
Auf dem Weg von der Bahn nach Hause mußte ich einen Verfolger abhängen. Es war gegen halb sechs Uhr morgens und wurde schon hell. Ich hörte Schritte hinter mir, in gleichmäßigem Abstand. Daß es sich hier um einen Verfolger handelte, mußte ich sichern, ohne mich umzudrehen oder mein Tempo zu verändern. Also wechselte ich die Straßenseite und ging nicht auf dem Bürgersteig weiter, sondern auf der Fahrbahn. Der Unbekannte tat es mir nach – ein Hinweis darauf, daß es wirklich ein Verfolger war.
Ich wollte nicht vorn durch den Park zu meiner Wohnung gehen, sondern erst weiter hinten, in der Hoffnung, den Verfolger schon vorher abzuhängen. Ich wählte eine Straßenseite ohne Häuser, denn wenn der Verfolger keiner war und nur heimwollte, würde er die Straßenseite mit den Häusern wählen. Er ging aber hinter mir her und verringerte auch den Abstand. Also mußte ich mir etwas einfallen lassen. Wenn ich sofort und ohne Ankündigung zu rennen anfing, zeigte ich Opferverhalten, und der Verfolger würde hinter mir herhetzen wie hinter einem Karnickel. Also ging ich ruhig und rasch weiter und beschloß, den Verfolger ein wenig in die Irre zu führen. Ich näherte mich dem hinterem Weg durch den Park, den ich unbedingt nehmen mußte, um nach Hause zu kommen. Ich ging aber noch nicht diesen Weg hinunter, weil Parks die Verfolger zum Zuschlagen reizen. Ich bog stattdessen in ein Wohnsträßchen ein, eine Sackgasse. Der Verfolger mußte denken, daß ich dort wohnte. Er würde versuchen, mich vor der Haustür zu erwischen. Ich überlegte, ob ich bei irgendjemandem klingeln sollte, aber um diese Stunde würde mir schwerlich geöffnet, und wenn, dann viel zu spät; außerdem war es nicht gesagt, daß man mir zur Hilfe kam. Ich mußte mir schon selbst helfen. Am Ende der Sackgasse ging es wieder in die Grünanlagen, und das konnte nicht recht sein für mich; außerdem kam ich dann noch weiter weg von der rettenden Haustür. Also blieb ich stehen, drehte mich um und sah der Gefahr ins Gesicht. Keine zwei Meter von mir entfernt stand da ein verstaubt wirkender Typ in kariertem Hemd und Jeans, der sehr wahrscheinlich Alkohol oder Drogen oder beides zu sich genommen hatte. Demnach war er verlangsamt und mir im Denk- und Handlungstempo unterlegen. Das mußte ich ausnutzen.
"Nein danke!" rief ich ihm zu, freundlich, aber bestimmt.
"Was ist denn? Was ist denn los?" fragte er mit der sanften, verwaschenen Stimme eines Triebtäters.
"Gar nichts!" rief ich gleichbleibend freundlich. "Tschü-hüß!"
Und ich nahm die Beine in die Hand. Ich lief in ausreichendem Abstand um den verwirrt dastehenden Verfolger herum und hinaus aus dem Sträßchen und durch den Park zu meinem Wohnblock. Ich hatte einen Haken geschlagen und dadurch die nötige Zeit für einen Vorsprung gewonnen. Im Laufen wühlte ich nach meinen Schlüsseln, fand am Bund den richtigen, stürzte zur Haustür und öffnete sie. Von innen knallte ich dann die Tür zu. Ich sah noch den Verfolger draußen auf dem Rasen stehen; er hatte mir den Weg abschneiden wollen. Als er erkannte, daß er mich nicht mehr erreichen würde, hatte er aufgegeben. Ich schloß zur Sicherheit die Haustür ab und auch die Wohnungstür. In der Wohnung machte ich zunächst kein Licht, damit der Verfolger von außen nicht sehen konnte, welches meine war. Nach einer Weile lugte ich durch die chinesische Jalousie. Vorm Hause war niemand mehr zu sehen, und es war alles still. Das stützte meine Vermutung, daß es sich um einen Triebtäter handelte, der nachts in der Straßenbahn seine Opfer auswählt und sie von der Haltestelle bis vor die Haustür verfolgt. Wenn der Täter sein Opfer nicht erwischt, zieht er sich zurück, vergißt das Opfer und sucht sich ein anderes. Ich muß also nicht davon ausgehen, daß der Täter hier in meinem Viertel wohnt. Ich muß lediglich feststellen, daß es eben nicht ungefährlich ist, am Sonntagmorgen zwischen fünf und sechs Uhr mit der Bahn zu fahren. Ich werde in Zukunft die Nachttaxi-Angebote des Nahverkehrs nutzen, wenn ich ohne Begleitung am Wochenende nachts und morgens unterwegs bin. Völlig sicher ist man freilich nirgends und nie.
Dieses Gesindel, das die Straßen unsicher macht - das sind die Zombies in Wirklichkeit, die eigentlichen Zombies, und daher hat Romero wohl auch die Idee mit den Zombies. Die Zombies sind vergammelt, hirnlos und schluren und taumeln wie unter Drogen herum, nur auf der Suche nach Opfern, und sie haben nur das Programm "Vernichten, Töten". Daß es sich bei nächtlichen Wegelagerern, Dealern und Verfolgern eigentlich um Menschen handelt, ist nicht mehr erkennbar.

In einem Traum war ich in einer Altbauwohnung zu Besuch. Ein Zoid lief über den Couchtisch. Xentrix bat mich um drei CD's, die ich mir ausgeliehen hatte und an ihn weiterleihen sollte. Zu Mehreren alberten wir herum und neckten uns. In einem der Zimmer war Rafa. Er ließ sich nicht sehen. Ich konnte nicht herausfinden, ob er allein in dem Zimmer war.

In einem anderen Traum war Rafa sehr abweisend und biestig zu mir, weil ich ihn daran hindern wollte, Drogen zu nehmen. Rafa wollte sich selbst bestrafen, weil er etwas getan, gedacht oder gefühlt hatte, das in seinem eigenen Zensursystem als "Sünde" galt. Außerdem fand er sich selbst zu intelligent und zu gesund. Das paßte nicht in sein Weltbild. Und ich paßte erst recht nicht hinein, weil ich mich um ihn sorgte.

Ende September waren Malda und ich im Kino. Sie will sich von Ivo Fechtner trennen, doch so recht kann sie sich nicht dazu durchringen.
Mit Constri und Derek war ich bei "Crucifiction". Abends tranken wir Kaffee mit Folter und Dag. Folter stellte eine CD der Band Synapscape vor - avantgardistischer Ambient-Industrial und abstrakte Rhythmen. Besonders gern mag ich die Stücke "My race", "My turn" und "Inner Strategy". In "My turn" sind Kirchenglocken unter abgründige, fremdweltliche Klänge gemischt.
Folter hat im Keller des Pflegeheims, in dem er arbeitet, ein Fotoalbum gefunden mit Bildern, die noch aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg stammen. Folter fasziniert es, durch dieses Album in der Zeit so weit zurückwandern zu können.
"Echt, die Leute, die du hier siehst - da lebt keiner mehr von", sagte er beeindruckt.
Folter zeigte mir auch eine illegale Porno-Version von Lucky Luke. Er fragte mich, ob er mir das Druckwerk schon jetzt oder erst zu Weihnachten schenken sollte. Ich bat darum, es erst zu Weihnachten zu bekommen, weil ich Geschenke nicht gern vorwegnehme.
Auf dem Weg zu "Crucifiction" erzählte mir Dag, daß Geraldine und er nicht zusammensein können, weil er glaubt, daß sie beide nicht stark genug sind für eine Beziehung. Ich hielt dagegen, daß ich eher glaube, daß Geraldine und er sich einfach nicht trauen, sich auf eine Beziehung einzulassen.
Bei "Crucifiction" liefen "Whips & Kisses" von Call, "Sacrosancts bleed" von In Slaughter Natives, "Thank your lucky Stars" von Whitehouse und andere, und ich konnte unbehelligt tanzen; Ivo Fechtner ließ mich in Ruhe. Er war ohne Malda bei "Crucifiction".
Sareth hatte Schluß gemacht mit Siri, die sich von Rys ein wenig trösten ließ. Sareth soll sich durch Siri eingeengt gefühlt haben.
Maleen berichtete, von Dag inzwischen nur noch Freundschaft zu wollen.



Am Samstagabend bügelte ich meine langen Handschuhe kaputt und dachte angestrengt darüber nach, wie ich mir in der Eile noch helfen konnte. Die Trägercorsage schied nun aus. Es mußte etwas für die kurzen Handschuhe sein. Also nahm ich das Stretch-Oberteil mit dem durchbrochenen Rücken und dazu das breite Samthalsband mit dem silbernen Kreuz. Ich hatte einen sehr weiten, starren, kurzen schwarzen Taftrock mit eingenähtem Tüllunterrock vom Dachboden geholt. Es ist Constris Rock, doch sie trägt ihn nicht. Ich zog noch meinen Petticoat darunter, und jetzt stand der Rock richtig ab. Ich brauchte aber noch etwas zum Schnüren für die Taille. Meine Taftschärpe war bei der Schneiderin, und das Mieder paßte nicht zum Oberteil. Was tun? Als ich mir gar keinen Rat mehr wußte, schnitt ich eine schlauchförmige Stretch-Corsage an der Seitennaht auseinander und knotete sie mir als Schärpe fest um die Taille. Das saß endlich. Die behelfsmäßige Kostümierung gefiel mir - sah sie doch gar nicht behelfsmäßig aus.
Wegen der Scherereien mit der Garderobe kam ich ziemlich spät zu Rocco, der seine Wohnung einweihte. Ortfried hatte Cyd mit auf die Feier geschleppt, und er schleppte auch noch Laura her. Und einen Jungen im weißen Piratenhemd hatte er hergeschleppt, Janssen. Der war mit einem Mädchen namens Clarice gekommen, das erst siebzehn ist und aus der Szene kaum jemanden kennt. Clarice wird noch von ihren Eltern bewacht und hat nur begrenzt Auslauf. Ich freue mich darüber, daß Constri und ich schon mit sechzehn Jahren ausgehen durften, so lange und so oft wir wollten.
Clarice kennt einen, der ihr kürzlich das Lächeln zu verbieten versuchte, weil dies nicht in die Szene passe. Mit dem will sie jetzt nichts mehr zu tun haben. Ich denke, die Leute, die anderen erzählen wollen, was besonders cool und angesagt ist, sind die ärgsten Pseudos.
Übrigens ist die Freundin von Xentrix jetzt achtzehn geworden. Sie heißt Gabrielle und ist die Tante von Janssen, der ebenfalls achtzehn ist.
Janssen legte für Rocco auf. Als ich mit Janssen zu "Intense blue" von Die Form tanzte, mußte ich eigentlich schon weg, weil ich noch fürs "Exil" verabredet war. Ich hing aber in dem Rhythmus fest und konnte nicht aufhören zu tanzen. Da schaltete Janssen die Musik ab, und ich konnte gehen.
Im "Exil" war viel los, und es gab auch seltene Gäste. Till begrüßte mich. Ich erkannte ihn zuerst gar nicht. Er trägt seine echte Haarfarbe, dunkelblond, und beschäftigt sich inzwischen ausschließlich mit Musik.
Till wollte wissen, was aus den Leuten geworden ist, die er schon so lange nicht mehr gesehen hat. Sehr neugierig war er darauf, was sich zwischen Rafa und mir ereignet hat. Er fand es cool, daß Rafa und ich nachts zur Nordsee gefahren sind und vorher wieder umkehrten, weil Rafa Hunger bekam.
"Das wird auch noch was mit euch", war Till sicher. "Auch wenn es wohl noch ein paar Jährchen dauert. Du schaffst das."
Er tastete meine Taille ab.
"Du hast echt eine hübsche Figur", meinte er. "Ist echt ein Wunder, daß du noch nicht vom Markt bist."
"Ja, ich liebe halt nur einen."
"Das finde ich richtig schön. Ich habe mich schon so lange nicht mehr richtig verliebt."
"Ich liebe Rafa von Tag zu Tag mehr. Aber er glaubt mir das nicht."
"Dann zeig' ihm deine Liebe."
"Das tue ich ja schon immer."
"Schnapp' ihn dir doch einfach mal."
"So einfach ist das nicht."
Rafa hat Till erzählt, daß er bald sein Album "Alles ist möglich" herausbringt. Ich fragte Till, ob Rafa wieder eine Sängerin hat. Till wußte davon nichts.
"Sag' mal, warum machst du das denn eigentlich nicht?" fragte mich Till.
"Rafa müßte mich darum bitten", erwiderte ich.
"Oh, das macht man ganz anders", meinte Till. "Da gehst du hin und sagst, Rafa, ich singe für dich."
"Nein. Das mache ich auf keinen Fall. Er muß ankommen, wenn er was will."
Außerdem singe ich keine Liedchen von rosa Zeiten. Und ich will nicht mit einer Band in Verbindung gebracht werden, die ein solches Konzept hat und die schon eine solche Sängerin hatte. Rafa legte auf. Er hatte sich so zurechtgemacht wie vor drei Wochen, als ich ihn im "Elizium" wegschickte. Seine Haare standen steil in die Höhe, bis auf die Ponysträhnen, die das Gesicht zuhängten. Er trug die schwarze Jacke mit den vielen Schnallen auf den Ärmeln. Sanna sah ich nicht. Doch kurz vor dem Beginn von Kappas Release-Konzert sah ich ein schlicht gekleidetes und frisiertes Mädchen bei Rafa hinterm Pult stehen. Es stand nicht sehr lange da, nicht einmal eine halbe Stunde; dennoch war ich voller Argwohn. Von mir aus dürfte sich Rafa so viele Mädchen hinters Pult stellen, wie er mag - wenn nicht immer die Gefahr bestünde, daß er mit ihnen etwas anfängt.
Rafa trank Bier, viel Bier. Ich würde gern wissen, wieviel er jede Woche trinkt.
Einige Stimmen wollen von Kappa gehört haben, daß er seit sechs Wochen auf Kokain verzichtet.
Saara war gespannt auf das Konzert von Kappa und Lexx. Saara mag Synthi-Pop und geht erst seit Kurzem in die "Halle" und ins "Exil". Sie hat langes, dichtes, naturblondes Haar und trägt Schwarz eher als Modefarbe, ohne Spitzen und Rüschen.
Das Konzert erinnerte an Hausmusik. Zwei schüchterne Herren sangen tapfer neben einem von innen beleuchteten Skelett, das wie Kappa zurechtgemacht war. Eine technische Panne folgte der nächsten - ob es das Feuerzeug war, das Kappa in seinen Taschen vermißte, ob es die Zigarette war, die kurz nach dem Anzünden wieder ausging - oder die Tatsache, daß die CD, deren Release gefeiert werden sollte, noch gar nicht released werden konnte, weil sich das Release-Date kurzfristig verschoben hatte ... an allen Ecken und Enden ging etwas schief. Die Texte wurden mühsam vom Blatt gelesen, Rafa am Mischpult schnitt Kappa mit einem Intro das Wort ab - ob das Absicht war? -, und ein anderes Intro wurde von Kappas lautem Rufen gestört, Rafa solle das Stück bloß wieder ausblenden; er, Kappa, wisse gar nicht, um welches von seinen eigenen Stücken es sich handle.
Da hatte Kappa die Lacher auf seiner Seite.
Gut vorbereitet hatte sich nur die siebzehnjährige Sängerin Vanessa. Sie konnte ihren Text, und sie konnte auch singen. Allerdings trat sie nur in einem Stück als Gast auf.
Rafa und Kappa hatten übers Mikrophon einige Auseinandersetzungen, die die Technik betrafen. Rafa erklärte, daß "die Keyboards viel, viel lauter" geregelt werden müßten und "die Stimmen viel, viel leiser". Kappas Mischpult schien ihn nicht zu überzeugen; er gab der Allgemeinheit zu verstehen, daß er bessere kannte.
"Nichts gegen das gute W.E-Mischpult", konnte Rafa aus reicher Erfahrung sprechen. "Damit habe ich schon fünfzig Auftritte gemacht, und die sind alle gut geworden."
Rafa kehrte seine Expertise hervor. Er scheint sich als Profi zu fühlen, und als solcher scheint er sich auch darstellen zu wollen. Er hätte in der heutigen Nacht wohl lieber selbst auf der Bühne gestanden, an der Stelle von Kappa.
Der Applaus für Kappa und Lexx war nicht überwältigend, und das Publikum tat sich schwer damit, um eine Zugabe zu bitten. Durchs Mikrophon kam Rafa Kappa zur Hilfe:
"Also, einen müssen sie noch; wer weiß, wann wir die mal wieder sehen."
Er versprach sogar, daß all diejenigen, die "Zugabe" riefen, an der Bar einen Sauren bekamen. Das hatte einen gewissen Erfolg.
Ein Fotograf nahm aufs Bild, wie Kappa mit seinem Skelett posierte. Nach den Konzert wurden auch die Gäste abgelichtet.
Vom Pult aus erinnerte Rafa daran, daß er ebenfalls eine CD zu releasen hat. Anfang Oktober soll in BO. im "Fall" die Release-Party stattfinden, fern der Heimat.
Zu Rafas DJ-Programm zählten "Critical Stage" von Suicide Commando, "Join a Line" von Scapa Flow und "Das zweite Leben" von den Serpents. Es gefiel mir im "Exil", und ich blieb dort, anstatt, wie eigentlich geplant, noch ins "Elizium" zu gehen.
Chantal kam spät ins "Exil", gekleidet in roten Samt, begleitet von einem hübschen, schlanken Blonden mit Tolle und runder Sonnenbrille. Der Junge heißt Seraf. Chantal beteuerte, sie habe niemals vorgehabt, ins "Exil" zu gehen; ihr Begleiter habe sie mitgelockt.
"Das darf bloß keiner wissen, daß ich hier bin", sagte Chantal. "Wenn das Violet erfährt ..."
"Wieso, Violet kann dir doch nicht verbieten, ins 'Exil' zu gehen", meinte ich.
"Nein - aber Violet und ich haben uns geschworen, daß wir nie in diesen Laden gehen werden", erklärte Chantal.
"Dann hast du den Schwur eben gebrochen", sagte ich. "Da ist doch nichts dabei. Ich meine - ich werde es Violet nicht erzählen."
Chantal und ihr Begleiter tanzten häufig. Es sah so aus, als wenn Seraf und Chantal ein Paar waren. Sie turtelten viel herum. Als Carl einmal mit Chantal und Seraf auf der Bühne saß, scheuchte Rafa sie durchs Mikrophon weg:
"Die drei, die da auf der Bühne sitzen, müssen verschwinden. Das ist wichtig."
Rafa wurde zwischendurch von einem DJ abgelöst, der in seinem Sinne das Programm fortsetzte. Rafa lief nun viel im "Exil" herum. Er stand eine Weile an einem Tisch vor dem Türchen zur Bar; dort standen auch Cyrus, dessen Freundin Deirdre, Kappa und Dolf. Ich setzte mich neben Daphne auf das Geländer, das das Podest zum Flur hin abgrenzt. Nun trennte Rafa und mich nur der Flur. Ich drehte mich öfters zu Rafa um. Er tat ein Gleiches. Schließlich löste er sich von der Gruppe am Tisch und kam mit dem Bierglas in der Hand wie beiläufig auf mich zu.
"'n Abend!" rief er.
Meine Hand tastete nach seiner Schulter. Mit gespieltem Entsetzen wich Rafa zur Seite und rannte aus dem Tanzraum. Ich sah ihn längere Zeit oben im Flur stehen; er unterhielt sich mit Kappa und Dolf.
Seraf unterhielt sich mit mir über Rafas Release-Party in BO. Er fragte mich, seit wann es W.E gibt und wie die Band entstanden ist. Ich erzählte ein bißchen aus der Band-Geschichte, ohne freilich die Sängerin zu erwähnen. Seraf erkundigte sich danach, wie es zu dem Namen der Band gekommen ist. Ich sagte ihm, daß das der Name eines sogenannten Feindsenders war, und "Feindsender" war auch der ursprüngliche Name der Band. Ich meinte, Rafa fühle sich als Missionar der Menschheit; deshalb die Benennung nach Radiosendern.
Carl erzählte mir von einem Mitschüler, der aus SHG. stammt. Der Mitschüler kennt Rafa, Luisa und die Sängerin. Luisa macht wie der Mitschüler in H. eine Erzieherausbildung. Das war also der Grund, weshalb Luisa vor zwei Jahren in Erwägung zog, nach H. überzusiedeln.
Clara erzählte mir, daß Velroe dafür berüchtigt ist, mit vielen Frauen zugleich und kurz nacheinander ungeschützten Verkehr zu haben. Wenn man ihn so sieht, tut Velroe ganz unschuldig.
Es ging auf vier Uhr zu, da sah ich auf einmal Laura in dem schmalen Flur stehen, der von der Bar zur Treppe führt. Laura riß an Rafa herum und schrie ihn recht wüst an. Rafa nahm sie mit hoch um die Ecke. Etwas später kamen er und Laura getrennt zurück. Rafa schlüpfte hinter die Bar, und Kappa folgte ihm. Er legte den Arm um Rafa und tröstete ihn.
Carl hat beobachtet, daß Laura mit Sanna ins "Exil" gekommen ist. Er vermutet, daß Laura für Sanna mit Rafa sprechen wollte.
"Wenn Laura schon für Sanna vermitteln muß, dann muß es zwischen Sanna und Rafa mindestens krachen - wenn es nicht schon gekracht ist", meinte ich.
"Oh, ich glaube, das hat schon gekracht", sagte Carl.
Es schien auch nicht so, als wenn Rafa und Sanna noch viel miteinander zu schaffen hatten. Ich sah Rafa einmal über die Theke hinweg mit Sanna reden, und später stand er auch noch einmal kurz bei ihr, umgeben von anderen Leuten. Mehr sah ich nicht.
Als Rafa wieder am Pult stand, ging es mit Industrial weiter. Dazwischen spielte Rafa auch ein Stück von ihm selbst, etwas Experimentelles, das an "Schneemann" erinnerte.
Als "Love in Chains" von Call zuende war, kehrte Stille ein.
"So, was jetzt?" fragte Rafa durchs Mikrophon, der in irgendwelchen Gedanken versunken gewesen sein mußte und darüber vergessen hatte, die nächste CD einzulegen.
"Erstmal was Blödes", half er sich aus der Situation und wählte einen beliebigen Titel.
Kurz vor halb fünf war es im "Exil" leer genug zum Gehen. Ich suchte meine Sachen zusammen. Als ich so über die Bank gebeugt war, wo alles lag, bemerkte ich, wie jemand vom Flur her ans Geländer kam, neben dem die Bank steht. Ich sah hoch und erblickte Rafa, der sich weit zu mir herüberneigte und mich aufmerksam musterte. Freudestrahlend wandte ich mich zu ihm hin und streckte die Arme nach ihm aus. Er ergriff die Flucht. Ich schaffte es aber noch, seine Schulter zu streicheln. Er lief um das Geländer herum und kam vor die Bank, ganz in meine Nähe. Dort griff er sich eines von den Mädchen, die ebenfalls aufbrechen wollten. Er legte den Arm um das Mädchen und lief mit ihm in die Ecke vorm DJ-Pult, wo auch Sanna und Laura standen. Vielleicht wollte er dadurch seine Annäherung an mich ungeschehen machen.
Rafa ließ sein Spielzeug freilich schon bald wieder fallen. Er rannte um die Bar herum, zurück ans Pult, weil er die CD wechseln mußte. Er suchte "08.15 to Nowhere" von Vicious Pink aus, und dazu mußte ich tanzen. Ich war gezwungen, mein Jäckchen wieder abzustreifen. Nach dem Stück ging ich mit meinen Sachen über dem Arm zu dem berüchtigten Velroe und einem seiner Freunde hinüber, die vor der Bar in der Nähe des DJ-Pults standen, und gab ihnen mit einem freundlichen Lächeln die Hand. Dann rannte ich Carl nach, der vor der Treppe auf mich wartete.
Anfang Oktober träumte ich Folgendes:

Die Polizei gab mir als Zeugin einen getippten Zettel zur Unterschrift, auf dem die Worte vorkamen:
"Mein Freund Herr Devin ..."
"Die Polizeibeamten hätten mich auch fragen können, wie sich der Nachname von Rafa schreibt", dachte ich. "Außerdem fällt es Rafa schwer, mich und sich als Freunde zu bezeichnen."
Es gab Geld für die Zeugenaussage. Der Zettel fiel Rafa später in die Hände; er vertrank das Geld und warf ihn weg.

In einem anderen Traum gab Rafa im "Exil" ein Buch herum, das er selbst gestaltet und gebunden hatte. Es enthielt Geschichten über das, was er mit seinen Texten aussagen möchte. Das Buch war mit viel Phantasie und Können geschrieben und illustriert, und hinter der Kreativität standen wie ein Schatten immer Rafas Sendungsbewußtsein und sein erhobener Zeigefinger.

Später träumte ich, die Patienten, die ich betreut habe, würden mir die Hand schütteln, mich umarmen und mir in bewegenden Worten danken und mir alles Gute wünschen. So etwas hat es auch in Wirklichkeit gegeben. Mir fehlt nur ein wenig der Blick für die Dankbarkeit und Zuneigung, die man mir schenkt.

Der Professor hat gesagt, er hätte reichlich Arbeit für mich, solange ich Lust und Zeit habe. Er meinte, es sei sekundär, ob ich für das Geld, daß die Pharmafirma mir überweist, auch arbeite.
"Die werden sich schon melden, wenn die kein Geld mehr haben", sagte er.
Ich soll nehmen, was mir gegeben wird.
Als ich mich nach der Zukunft des Forschungsprojekts erkundigte, an dem ich mitarbeite, fragte ich auch, wer den Platz der Psychologin Antoinette einnehmen soll, wenn sie nach Australien auswandert:
"Wer macht weiter, was Antoinette jetzt macht?"
Da schloß der Professor bedeutungsvoll die Tür und bat mich:
"Jetzt verraten Sie mir mal eins - was macht Antoinette denn überhaupt?"
"Na, ihre Dis."
Antoinette schreibt seit Jahr und Tag ihre Dissertation fertig. Um das Projekt kümmert sie sich so gut wie gar nicht mehr.
"Was für ein Stil", dachte ich. "Machen das hier alle so?"
Der Professor scheint sich inzwischen wieder etwas mehr um das Projekt zu kümmern. Letztes Jahr äußerte er noch die Ansicht, daß es zu den Eigenschaften von Leitern gehört, von dem, was sie leiten, keine Ahnung zu haben:
"Man läßt sich bis zur Inkompetenz befördern."

In einem Traum wurde ich morgens um halb sechs von Rafa angerufen. Ich weiß aber nicht mehr, worüber wir gesprochen haben.

Bevor ich am Samstagnachmittag nach HH. fuhr, schaute ich mir in einem Geschäft das Coverbooklet von Rafas neuem Album an. Rafa und Dolf sind derzeit die einzigen Bandmitglieder. Sie sind zweimal abgebildet, sogar ohne ihre Sonnenbrillen. Rafa ist maskenhaft geschminkt und guckt recht freundlich. Man kann aber das Hinterhältige, Durchtriebene in seinem Gesicht sehen.
Rafa und Dolf stehen jetzt allein hinterm Radio, ohne Tessa. Als Gastsängerin ist Zinnia angegeben, und das beruhigt mich. Erstens kann sie singen, zweitens scheint sie mit Rafa nichts anfangen zu wollen.
"Nimm' Zinnia", hatte ich Rafa im September letzten Jahres gebeten.
Jetzt hat er sie tatsächlich als Sängerin eingesetzt. Allerdings ließ Rafa es sich nicht nehmen, seine ehemalige Sängerin Tessa im Booklet zu grüßen. Ich vermute, daß Rafa auch nach neun Trennungen noch behauptet, Tessa zu lieben. Ob er ihr jemals zu verstehen gegeben hat, daß sie nicht singen kann?
Zinnia darf anteilsmäßig in mehr Stücken singen als Tessa. Ich denke, es ist Rafa bewußt, daß sich dies bei Zinnia auch lohnt, im Gegensatz zu Tessa.
Auf der CD befindet sich der Titel "Auf nach Golgatha". Dieses Stück hat Rafa am 01.02.1993 gemacht, dem Tag, an dem ich ihn besucht habe. Und er hat es auch für mich gesungen und aufgenommen. Als ich das Textblatt las, stand da die Zeile "Schickt ihn zum Altar ...". Ich sagte zu Rafa, daß ich erst "Schleppt ihn zum Altar ..." verstanden hätte und daß das auch noch besser klingen würde. Jetzt, im Jahre 1995, steht im Textheft "Schleppt ihn zum Altar ...".
Rafas Texte haben die vertrauten Themen - Fortschrittsfaszination und -kritik, Computer als Feind und Sexualobjekt, der Flug durchs Weltall mit irgendeinem imaginären, anonymen Partner. Andauernd will Rafa mit irgendwem durchs Universum fliegen, durch Raum und Zeit und möglichst auch Ewigkeit. Sind das Fluchtwünsche aus der wirklichen Welt? Sucht Rafa die Geborgenheit im schwarzen Nichts? Fehlt ihm der Kontakt zum Erdboden?
Und was die Computer angeht ... Rafa hat mich häufig mit einem Computer verglichen. Bin ich deshalb für ihn ebenso bedrohlich wie anziehend?
In HH. erwarteten mich Sofie und Rega am Bahnsteig, und Hendrik kam einige Minuten später hinzu. Gemeinsam fuhren wir in Hendriks Wagen zu einem Festival. Hendrik erzählte von seiner Freundin, die vielleicht bald aus Südafrika zurückkommt. Hendrik hatte schon befürchtet, daß sie für immer dort in der Ferne bleibt.
Auf dem Festival traf ich Sareth, Edit und Bias. Edit und Bias sind mit Sareth verstritten. Sie haben einst alle bei demselben Szenemagazin mitgearbeitet, jedoch gab es Meinungsverschiedenheiten. Es handelt sich um dasselbe Magazin, für das auch Ivo Fechtner einst gearbeitet hat.
Ace traf ich ebenfalls; er bestätigte meine Vermutung, daß Kappas Freund Lexx es ist, der für das gemeinsame Projekt der beiden die Musik macht. Kappa trägt lediglich seinen Namen dazu bei.
In der Toilette unterhielt ich mich mit Sofie über Männer. Sofie ist einunddreißig und wird erheblich jünger geschätzt. Mit ihrem lockigen Dutt und ihren Kajalstrichen, ihrer glatten Haut und ihrer schlanken Figur sieht sie aus wie Anfang zwanzig. Ähnlich geht es ihrer Schwester Dedis, die neunundzwanzig ist. Beide haben erheblich jüngere Freunde; Rega ist acht Jahre jünger als Sofie, Mal ist vier Jahre jünger als Dedis. Ich erzählte Sofie, daß der Mann, den ich liebe, fünf Jahre jünger ist als ich.
Auf dem Festival gab es für uns viel Langeweile und viel Grund zum Lästern. Die Armageddon Dildos kannten Rega, Sofie und ich noch aus besseren Zeiten, als sie tanzbare Elektronik machten. Jetzt ertranken ihre Stücke in einem Metal-Gitarren-Brei. Nicht anders verhielt es sich mit Cubanate.
Frontline Assembly machten denselben Fehler wie die vorherigen Bands; sie bauten einen Metal-Gitarristen und Percussion-Elemente ein. Die Schönheit ihrer Klassiker ging dadurch beinahe unter. Ich fragte Bill Leeb nach dem Konzert, ob er beim nächsten Mal ohne Gitarren spielen könnte. Er meinte, er würde sich jedes Jahr etwas Neues ausdenken, und es könnte durchaus sein, daß er wieder ohne Gitarren spielt. Ich sagte auch zu Bill, daß neuerdings fast alle Elektro-Bands sich mit Gitarren ausstatten und daß das auf Dauer doch etwas eintönig ist.
Es beruhigt mich, daß auf der neuen Box von Frontline Assembly eine Reihe von Stücken ohne Gitarre eingespielt worden ist.
In HH. gingen Rega, Sofie und ich noch in den "Megamarkt", wo es eine "Undead"-Party gab. Mal erzählte, daß er sich nach Jahren im Tape-Sektor mit der CD angefreundet hat. Er legt seine Stücke jetzt so an, daß sie nur auf CD und vergleichbaren Tonträgern ihr Klangspektrum voll entfalten.
Für die nächsten CD's hat Mal das Konzept im Kopf. Sorgen bereitet ihm jedoch Sängerin Cindy; sie soll unzuverlässig sein.
Mal, Dedis, Rega und Sofie brachten mich morgens zum Bahnsteig. Auf dem Weg sangen wir die Melodie von Spielautomaten nach. Mal bemerkte, es sei keine neue Idee, daraus ein Stück zu machen. Das Yellow Magic Orchestra habe schon vor langer Zeit Computerspiele zu Musik verarbeitet. "Es war schön, weil du da warst", faßte Sofie zusammen, als wir uns verabschiedeten.

In einem Traum war ich in der Gewalt von Feinden und konnte nur gerettet werden, wenn Rafa bis zu einem bestimmten Zeitpunkt mit mir ins Bett ging. Rafa und einer von meinen Bekannten arrangierten es, daß ein Zimmer leer und abschließbar für das Unterfangen zur Verfügung stand. Etwa eine Stunde Zeit sollte uns bleiben. Rafa und ich konnten allerdings nichts mehr bewerkstelligen; der Traum war vorher zuende.

In einem anderen Traum sah ich der Entwicklung von Fraktalen und fraktalen Layouts und Videos am Computerbildschirm zu, während ein Stück lief wie "Hydrogen" von Frontline Assembly aus der "Hard Wired"-Box, klassische Electronic Body Music mit Zumischung aktuellerer Sounds. Ich war so begeistert von den Fraktalen, daß ich entschlossen war, viel Geld auszugeben für so eine technische Ausstattung. Dann erinnerte ich mich, daß es mir noch viel, viel wichtiger ist, Rafa zu küssen ... und das kann mit Geld nicht bezahlt werden.

In einem anderen Traum wollte ich vor Feinden in ein Grab fliehen. Dort unten, auf der anderen Seite, wollte ich im Tode mit Rafa vereint sein, wenn uns das Leben schon nicht zueinander führte. Ich rannte in der Dunkelheit über den Friedhof. Das Grab lag weit hinten in einer Ecke. Ich hatte es fast erreicht, da wurde ich von Rafa aufgehalten. Wir umarmten uns. Ich dachte, nun wären wir verloren, aber das Schicksal wollte es, daß wir im Leben vereint waren und nicht im Tode.

Zinnia singt wirklich hübsch. Auf Rafas Album ist ein Liedchen, das sie schon bei der Eröffnung des "Nachtlicht" gesungen hat, damals noch als Mitglied von Rafas Sideprojekt Screech. Es ist "Traum der Einsamkeit", in dem es heißt:
"Meine Gefühle schon zu oft verletzt."
und:
"Laß' niemanden mehr in dein Herz."
und:
"Meine Gefühle werden abgestellt."
und:
"Hinter der Maske bin ich sicher vor dir."
Es ist für mich nicht ganz durchsichtig, inwiefern Rafa hier sein eigenes Schicksal verarbeitet und inwiefern ein Bezug zu seiner Bekanntschaft mit mir besteht. Rafa würde es wahrscheinlich ableugnen, in seinen Texten auf mich Bezug zu nehmen.
Neuerdings schreit Rafa weniger; es kommt häufig vor, daß er singt, mal eher hoch und klagend, mal eher tief und mit einer gewissen Anlehnung an den Stil von Heppner oder Huss.
Nach Kinderplatte klingen Rafas Versionen des Liedes "Laterne", das von Zinnia gesungen wird. Auf dem Album gibt es sonst überwiegend die vertrauten, sehr leichten Synthesizer-Melodien und dazwischen gewollt wirkende Dramatik und unbeholfen wirkende Effekte. Auch der erhobene Zeigefinger darf nicht fehlen. In einem Stück warnt Rafa vor der Werbung im Fernsehen. Als wenn er nicht selbst die Zeit vor dem Fernseher totschlagen würde ...
In dem Text kommt einmal das Wort "out" vor, und dieses wird in einer Fußnote wie folgt erläutert:
"out (englisch) = aus, in diesem Zusammenhang = nicht modern."
Als ich Constri diese Stelle im Booklet zeigte, vermutete sie:
"Das meint der nicht ernst."
Ich glaube, Rafa meint das ernst. Ich würde sogar wetten darum. Auf mich wirkt das nicht wie unbefangene Albernheit, sondern eher wie ungewollte Peinlichkeit.
Mitte Oktober war ich bei "Stahlwerk" im "Megamarkt". Dort traf ich Dedis, Mal und Rega. Laura und Sanna waren ebenfalls anwesend. Rafa legte im "Exil" auf.
Dedis sagte zu mir, es gefalle ihr, daß ich stets meinen eigenen Stil bewahre. Ich würde immer wie eine Puppe aussehen. Die anderen würden den wechselnden Moden folgen, nur ich hätte immer meine Puppenkleider an.
Dedis erzählte, daß sie gern jemand anders sein würde. Sie kann sich selbst nicht so annehmen, wie sie ist. Ich erzählte ihr, daß ich sein will, was ich bin, weil ich das geworden bin, was ich sein wollte. Dedis meinte, daß sie nicht werden kann, was sie sein will. Sie meinte, um sich lieben zu lassen, müßte man sich erst einmal selbst lieben können, und eben das könne sie nicht.
Bei "Stahlwerk" spielte DJ Delan einen neuen Clubhit von P.A.L, "Gelöbnis", in dem ein Original-DDR-Kind das Gelöbnis der jungen Pioniere aufsagt. Melancholisch-romantisch waren "We deserve it all" von Leæther Strip und "My Animosity" von Mainesthai, industriell waren "Automatique" von Dive und "Comisario de la Luz I" und "Muerte al Escala Industrial" von Esplendor Geometrico, düster war "Gewalt" von De Fabriek und Notstandskomitee.
Mal und Dedis gingen um zwei Uhr heim. Sie trugen Rega auf, bei mir zu bleiben, bis mein Zug fuhr, und der tat das gern. Um vier Uhr endete die Tanznacht. Das letzte Stück war wirklich und wahrhaftig "Laterne", das Kinderlied auf Rafas neuem Album. Es hat durchaus die Qualitäten eines "letzten Stücks" - es ist stilfremd, eigenartig und ruhig, ähnlich wie "Tausendfuß" aus der Sesamstraße.
Am Samstag traf ich im "Elizium" viele Leute. Rafa war freilich nicht darunter, weil er auswärts auftrat.
Siddra kam mit Brinkus und Janssen ins "Elizium". Sie sah sehr niedlich aus. Ihr Body war aus schwarzem Samt und hatte Spitzenträger, und Röckchen, Strumpfhose und Haarschleife waren ebenfalls aus schwarzer Spitze. Charlene hat sich die Haare abschneiden lassen - leider -, doch der Pagenkopf steht ihr so gut, daß man es hinnehmen kann. Marilene trägt ihr Haar jetzt auch kurz, aber es ist fransig geschnitten, wie abgekaut, und es ist flaschengrün. Ich finde das bei ihr nicht schön. Ich finde, daß sie im letzten Jahr eleganter ausgesehen hat.
Marilene war mit Sanna im "Elizium". Beide gingen in weißem Hemd und Frack. Vielleicht schweißt es sie verstärkt aneinander, daß Sanna mit Rafa zerstritten ist.
Als ich zu Xentrix ans DJ-Pult kam, tadelte er mich, weil ich in den letzten Wochen nicht im "Elizium" war:
"Hast dich 'rumgetrieben! 'Exil', wa'?"
Cyrus war bei Xentrix am Pult und flüsterte mir die Bitte in die Halsbeuge, bei offenen Wünschen wieder nach oben zu kommen.
Was ich wollte und was auch erfüllt wurde, waren Musikwünsche.
Gegen Morgen holte Xentrix zwei fast vergessene Stücke hervor, die Duran Duran 1984 gemacht haben, "Save a Prayer" und "Secret October". Sie klingen melancholisch, wie von weit her. Xentrix spielte noch ein anderes fremdweltliches Stück aus jener Zeit, "Loving the Alien" von David Bowie, eine Version mit Streicher-Samples, die ich schon damals sehr mochte.
Taylor begrüßte mich, ein alter Punk. Ich erzählte ihm, daß ich früher auch Pogo getanzt habe. Taylor gab mir Cola aus und meinte, er und seine Kumpels hätten immer gedacht, ich sei völlig unerreichbar. Sie hätten mich als Barbiepuppe bezeichnet, weil ich wie eine Barbiepuppe auf der Tanzfläche aussehen würde.
"Ich bewundere das, wie du völlig nüchtern so abdancen kannst", sagte Taylor. "Ich kann das nur, wenn ich besoffen bin."
"Ich kann es nicht, wenn ich etwas getrunken habe", erklärte ich. "Das geht nur ohne Alkohol." Taylor würde mich gern auch mal treffen, wenn er nüchtern ist. Ich bot ihm an, zu unserem nächsten samstagabendlichen Treffen zu kommen.
Ted, Marvin und Cyan kamen überraschend auch noch ins "Elizium". In der Nacht zuvor sind die drei Herren im "Exil" gewesen. Rafa soll seine Sache gut gemacht haben. Unter anderem soll er Teds Wunsch "Mother" von :wumpscut: gespielt haben. Rafa hatte "so eine Art Anzug" an, und seine Haare waren hochgestellt.
Am Sonntagnachmittag kamen Ted, Marvin, Derek und Carl zum Kaffee. Ted und Marvin konnten berichten, daß Marvin sich von seiner Freundin getrennt hat und von Ted zum Prokuristen herangezüchtet wird.
Mitte Oktober hatte ich folgenden Traum:

Time Tunnel
Drei Menschen mit besonderen Fähigkeiten und besonderem Wissen und Können wurden durch einen Zeittunnel in die Zukunft entsandt, um dort etwas in Ordnung zu bringen. Einer von diesen Menschen war ich. Die anderen beiden waren ein treuer Gefährte und ein Mann namens Sean. Wir erfüllten unseren Auftrag ohne besondere Zwischenfälle. Der Auftrag selbst war auch nicht das Gefährlichste an dem Unterfangen. Das Gefährlichste war die Rückreise in die Gegenwart. Wir reisten jeder für sich auf kleinen Fahrzeugen mit rasender Geschwindigkeit durch den Tunnel. Vor dieser Reise ins schwarze Nichts sprach ich mit meinem Gefährten über das, was auf uns zukam - Splitter, Trennung, Dunkelheit, Kälte, Einsamkeit, Ungewißheit, Angst. Man mußte innerlich sehr gefestigt sein, um die Fahrt unbeschadet zu überstehen.
Ich wußte noch nicht, wer der Mann meines Lebens war. Ich hoffte, daß es sich bald herausstellen würde - vielleicht nach der Fahrt, vielleicht durch die Fahrt.
Als die Reise beginnen sollte, hatte ich große Angst um Sean, der vor mir fuhr. Ich kannte Sean kaum, doch gut genug, um ihn als empfindlich und anfällig einzuschätzen.
"Auf dieser Reise passiert's", dachte ich. "Er vergißt etwas, und wenn er es vergessen hat, auf der anderen Seite, dann ist er weit, weit weg, und es ist ihm etwas Schreckliches zugestoßen. Wie kann ich ihm nur helfen? Wie kann ich ihm nur helfen?"
Mein Gefährte und ich kamen heil in der Gegenwart an. Über Sean jedoch wurde erzählt, daß dieser sich in der Gegenwart gar nicht mehr zurechtfinden konnte. Sean lebte mit Frau und Kind in einem schönen Haus mit großem Garten. Nun konnte er das alles nicht mehr genießen, weil er befürchtete, krebskrank zu sein.
Als ich meinen Gefährten einige Zeit später nach Sean fragte, anwortete er:
"Der ist tot."
"Das glaube ich nicht", entgegnete ich ruhig. "Los, zeig' mir, wo er ist. Komm', zeig' mir, wo er ist. Zeig' mir - wo liegt der?"
Mit meinem Gefährten eilte ich zu Seans Haus. Wir fanden Sean bleich und reglos auf der Bahre liegen, in Frack und weißem Hemd. Ich stellte mich neben das Kopfende, beugte mich über Sean und sagte zu ihm:
"So, komm', jetzt wollen wir mal aufstehen. Los, jetzt stehen wir mal auf."
Da raschelte es. Sean versuchte mühsam, sich aufzurichten. Ich legte den Arm um seine Schultern und half ihm.
"Komm', jetzt wollen wir mal aufstehen ...", redete ich weiter auf ihn ein.
Als er sich hingesetzt hatte, entkleidete ich ihn. Ich streifte ihm die Leichenwäsche ab. Als ich das Mulltuch zerschnitt, mit dem man Seans Beine umwickelt hatte, sagte ich:
"Ja, die wickeln ihre Leichen immer so ein. Aber das machen wir auf."
Dann schließlich stand er ohne Kleider vor der Bahre, und ich legte wieder den Arm um ihn und führte ihn hinaus auf den Rasen, ins helle Sonnenlicht.
"Jetzt ziehst du dir erstmal ein T-Shirt an", sagte ich zu ihm.
An Seans Rücken und an der Rückseite seiner Beine war die Haut schwarz verfärbt, und ich wußte auch, weshalb. Sean hatte eine Krankheit, die man leicht im Time Tunnel bekommen konnte, wenn man sich fürchtete. Es war der Schwarze Frost. Der Schwarze Frost sah zwar böse aus, war an sich aber harmlos und heilte ab, ohne Spuren zu hinterlassen. Das hatte Sean nicht gewußt, und die Angst davor, Krebs zu haben, hatte ihn so gelähmt, daß alle ihn für tot hielten. Die Angst allein hätte ihn beinahe ins Grab gebracht.
"Ich bin ein krebskranker Mann", sagte Sean verzweifelt, als ich ihm das T-Shirt überzog.
"Nein, du mußt nicht sterben", beruhigte ich ihn. "Und dir tut auch nie wieder etwas weh."
Ich hielt Sean weiterhin umarmt. Er wirkte hilflos und schwach; ohne meine Nähe schien er zusammenbrechen zu müssen. Sean beanspruchte meine Aufmerksamkeit in solchem Maße, daß ich gar nicht mehr nach meinem Gefährten schauen konnte. Ich konnte nur kurze Blicke um mich werfen, und ich stellte fest, daß Sean lediglich eine Dienerin bei sich hatte. Von der Frau und dem Kind sah ich nichts; es standen aber Pantoffeln auf dem Rasen, die waren bestickt mit dem Namen "Lucy Sean". Sie gehörten wahrscheinlich der Ehefrau. Ich half Sean in seine eigenen Pantoffeln, und er war so tapsig und taumelig, daß er beinahe links und rechts verwechselte.
Ich hatte Mitleid mit meinem Gefährten, der mir so treu gefolgt war und nun zur Seite treten mußte, weil Sean mich ganz und gar forderte. Der Gefährte fügte sich still darein, doch er hatte mich immer ein wenig verehrt und würde mir jetzt nachtrauern. Und ich konnte ihm nicht helfen, weil ich alle Kraft brauchte, um Sean zu stützen. Ich ahnte, daß Sean der Mann - und die Aufgabe - meines Lebens war. Und ich war mir sicher, daß mein Gefährte auch ohne mich überleben konnte, im Gegensatz zu Sean.
Sean wirkte sehr einsam und verloren auf mich. Vielleicht waren seine Frau und sein Kind gar nicht mehr am Leben. Ich wollte Licht in das Dunkel bringen. Zuvorderst aber wollte ich Sean erklären, weshalb er nicht sterben mußte und weshalb er krank geworden war. Ehe ich dazu kam, teilte mir die Dienerin noch etwas Wissenswertes über Sean mit:
"Er hat die Hausaufgaben nicht gemacht, die er machen mußte. Und deswegen hat er nicht mehr gelernt ... er hat gedacht, daß er es nicht mehr nötig hat, alle vier Tage ins Krankenhaus zu gehen."
Sean hatte sich vernachlässigt. Wahrscheinlich hatte er sich für gesünder gehalten, als er war. Das Ergebnis jedenfalls war, daß er beinahe lebendig begraben worden wäre. Ich hatte ihn gerettet, weil ich ihn nicht aufgab.
Als ich eben ansetzte, Sean seine Krankheit zu erklären und ihn nach seiner Familie zu fragen, wurde ich wach.

Der "Time Tunnel" - Trennung, Verlieren und Wiederfinden, die vermeintliche Ausweglosigkeit und die Rettung durch Vertrauen und Zuversicht, die Lähmung durch Angst, die Aufgabe, den sinkenden Lebensmut eines Menschen durch viel Zuwendung wieder aufzubauen ... all das erinnert mich an Rafa. Ich legte Sean auch genauso den Arm um die Schultern, wie ich das bei Rafa mache, und ich redete auch genauso auf ihn ein, wie ich auf Rafa einrede, wenn er sich fürchtet. Und nicht zuletzt - stehen auch immer wieder irgendwelche Frauen und Kinder zwischen Rafa und mir, wie sie auch zwischen Sean und mir standen. Als Sean aber in Not war, war seine Frau nicht da, um ihm zu helfen; ich mußte es tun.

Anschließend sah ich in einem kurzen Traum drei Menschen, die mich zu Rafa bringen wollten, und das waren Kappa, Rafas Bruder und Rafas Vater. Der Vater hielt sich schweigend im Hintergrund, und ich konnte ihn nicht ansprechen.

Der 16. Oktober ist Constris und Dereks zweiter Jahrestag. Sie haben zuerst "Einmonatiges", "Zweimonatiges" und so weiter gefeiert. Inzwischen wird das Zählen der vielen Monate schwierig, und sie gehen dazu über, jährlich zu feiern.
Der Tag, den sie als Beginn ihrer Beziehung ausgewählt haben, ist eigentlich das Ende einer Entwicklung. Es begann im September 1993, als Derek Constri jenen Liebesbrief schrieb, in dem er sich ihr zu offenbaren begann. Der Brief war auf rotem Papier geschrieben. Worum es ihm eigentlich ging, sparte Derek zunächst aus. Sie verabredeten sich von da an häufig und sprachen viel miteinander, berührten sich jedoch kaum. Constri fragte Derek, weshalb er sie so gern anschaute. Er meinte, er habe das Gefühl, sie könne durch ihn hindurchsehen.
Am 16. Oktober verabschiedeten sie sich an einer Stadtbahnhaltestelle. Constri stand in der Bahn, Derek auf dem Bahnsteig. Kurz bevor sich die Türen schlossen, küßte Constri Derek auf den Mund. Seither gilt dieses Datum als Jahrestag.

In einem Traum fand ich in Carls ehemaligem Zimmer eine gewaltige Grünpflanze, die ohne Erde in einem Bottich steckte. Ich wollte die Pflanze schon wegwerfen, da schaute ich sie mir noch einmal genau an, und sie sah noch recht gesund aus. Ich gab sie Carl, damit er sie topfte und pflegte. Dann entdeckte ich auf der Anrichte in der Küche eine Pflanze, die neu austrieb. Die hatte ich vor längerer Zeit schon fast aufgegeben und vergessen. Ich fragte Carl, was er zu der Pflanze meinte, und er meinte auch, daß sie schön nachgetrieben hatte. Ich ließ sie an ihrem Standort, der ihr offensichtlich bekam.
Etwas später wurde ich zum Tode verurteilt, obwohl ich nichts verbrochen hatte und alle Zeugen für mich aussagten. Ich dachte mir, daß das für meine Mutter ein Schock sein mußte. Ich aber, das Opfer, blieb kühl und gelassen. Die Vollstreckung des Todesurteils bestand darin, daß ich Gift schlucken und dann schlafen gehen sollte. Ich wachte sehr bald schon wieder auf und verließ unbehelligt das Gefängnis, weil ich als tot galt. Ich fühlte mich allerdings sehr lebendig. Es tat mir leid um meinen Körper, den ich verlassen hatte; jung und frisch, sollte er doch schon wie Abfall entsorgt werden. Gewiß - der Körper, in dem ich mich jetzt befand, sah nicht anders aus als der sterbliche, und ich empfand ihn auch nicht anders. Ich fragte mich, ob die Menschen um mich herum mich wahrnahmen und ob ich jetzt durch Wände gehen konnte. Ich wollte zu Rafa und mich zu ihm ins Bett legen. Ich hoffte sehr, daß er mich sah und fühlte. Meine Anwesenheit konnte ich dadurch entschuldigen, daß ich tot war und daß für mich andere Regeln galten als für die Lebenden. Während ich so darüber nachdachte, wie ich meine Sehnsucht nach Rafa erfüllen konnte, kam mir der Gedanke, daß ich vielleicht doch nicht so tot war, wie ich glaubte. Ich hatte den Verdacht, daß es sich hier nur um eine Scheinhinrichtung handelte. Opfer von Scheinhinrichtungen macht man bisweilen glauben, sie seien im Jenseits.

Am Samstagabend weihten Onno und Revil ihre gemeinsame Wohnung ein. Auf der Feier lernte ich die siebzehnjährige Dana kennen. Sie kommt aus Jugoslawien und erzählte, wie frauenfeindlich die Gesellschaft dort noch ist. Ihre Verwandten sollen schon versucht haben, sie zu verschachern, und in diesem Zusammenhang soll auch die Frage gestellt worden sein, ob sie denn noch Jungfrau sei.
"Ist die Ware noch versiegelt?" deutete ich.
"Am liebsten hätte ich denen gesagt, daß sie da leider vier Jahre zu spät fragen", meinte Dana.
"Wenn das Siegel erbrochen ist, entfällt das Umtauschrecht", deutete ich.
Dana mußte sich mit ihrer Familie entzweien, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Sie berichtete, wenn ein Sohn abends lange ausblieb, würden die Eltern stolz sagen:
"Der hat an jedem Finger ein Mädel."
Und dann würden sie aber auch gleich fragen:
"Wo bleibt die Tochter? Die ist schon wieder fünf Minuten zu spät."
Diese Eltern messen mit zweierlei Maß. Der Junge darf und soll Erfahrungen sammeln, das Mädchen nicht.
"Die Eltern vergessen dabei, daß die Mädchen, die der Sohn an seinen Fingern hat, die Töchter von anderen Eltern sind", meinte ich. "Das ist eine doppelbödige Moral."
Im "Elizium" rutschte Xentrix früh in Psychobilly-Musik ab. Als ich ihn darauf ansprach, stellte er sich schon von selbst in die Ecke, mit dem Gesicht zur Wand. Ich befahl ihm, dort für die nächsten zwei Stunden stehenzubleiben und sich nicht zu rühren. Das wollte er aber nicht. Er zog seine Modern Talking-Single hervor, die er immer griffbereit hat wie andere die Knarre in der Schreibtischschublade. Xentrix hielt mir die Single vor die Augen und drohte:
"Ich kann auch noch anders!"
Als ich "Faith, hope and charity" von Fun Boy Three hören wollte, gestand Xentrix, daß er die Platte vor drei Jahren an Kappa verliehen und nicht mehr zurückbekommen hat. Xentrix und ich rezitierten wehmütig:
"Faith and hope and charity
One for you and one for me
Money doesn't grow on trees
But babies come from ladies."
Er fand auf die Elektro-Schiene zurück, mit "Memories" von Klinik, "Desolation" von X marks the Pedwalk, "We rule the World" von Dive und "Medinati" von Esplendor Geometrico. Endlich konnte ich wieder auf die Tanzfläche. Danach stieß Xentrix mit mir an und fragte mich:
"Kannst du dir vorstellen, daß ich dich manchmal würgen und an die Wand schlagen möchte?"
"Ja", antwortete ich. "Aber wenn ich mal nicht ins 'Elizium' komme, machst du einen Aufstand."
"That's life."
"Ich kann ja ins 'Elizium' kommen, damit du mich an die Wand schlagen kannst."
"Nein, hier ist schon genug Rot", meinte Xentrix und zeigte auf die rot gestrichenen Wände.
Am Sonntagmorgen habe ich Folgendes geträumt:

Dirk "Dive" I. trat in einem Opernhaus auf. Ich setzte mich weit vorne hin und dachte darüber nach, wie ich es in dem bestuhlten Haus anstellen konnte, trotzdem zu tanzen. Denn tanzen muß ich zu der Musik von Dive. Ich freute mich sehr, als ich links vorn einige Leute sah, die sich nicht hingesetzt hatten, weil sie auch tanzen wollten. Ich gesellte mich zu ihnen und tanzte mit. Nach dem Konzert gingen ich und ein paar andere Zuschauer auf die Bühne. Ich unterhielt mich ein wenig mit I., was zur Folge hatte, daß er mich in die Arme nahm und heftig an sich drückte. Er stieg alsdann mit mir von der Bühne herunter, zwischen die Zuschauer. Eng an mich gekuschelt sagte er, er könne jetzt immer so weitermachen. Ich hatte ihn richtiggehend in Erregung versetzt. Das tat mir leid, und es tat mir auch wegen Rafa leid.
"Aber du mußt fort", bremste ich I.
Ich nahm seine Schultern in die Hände und sagte freundlich zu ihm:
"Wir sehen uns."
Und ich entließ ihn. Er sollte dorthin gehen, wohin er gehörte - zu seiner Frau oder Freundin oder was immer.
Durch meine Sehnsucht nach Rafa schien ich eine besondere Form der Anziehungskraft entwickelt zu haben, und wenn mir ein hübscher Kerl in die Fänge kam, konnte er leicht entflammen. An mir war es, die Lage im Griff zu behalten und dem Mann, den ich verwirrt hatte, keine falschen Hoffnungen zu machen.

Lillien erzählte mir am Telefon, daß sie am letzten Freitag im "Exil" war. Dort traf sie Yasmin, die allein herumsaß. Yasmin hatte sich mit Rafa getroffen, um mit ihm "irgendwas zu machen". Dieses "Irgendwas" bestand darin, daß Rafa sie mit ins "Exil" nahm und sich dort hinters Pult stellte, um Kappa abzulösen. Angeblich war Yasmin nicht mit Rafa zusammen.
Lillien gefiel die Musik ganz gut, die Rafa spielte; dennoch hatte sie ein paar Wünsche. Sie schrieb die Wünsche auf einen Zettel, und unter die Wünsche schrieb sie:
"Grüß' bitte Hetty von mir."
Dann ließ sie Rafa den Zettel überbringen. Rafa spielte keinen von Lilliens Musikwünschen. Nach etwa zwanzig Minuten übergab er das DJ-Pult wieder an Kappa und zog sich die Jacke an zum Gehen. Lillien machte sich ebenfalls auf den Weg, weil sie nicht mehr darauf hoffte, daß ihre Wünsche noch gespielt wurden. Rafa war noch nicht fort, als Lillien ging. Das Letzte, was sie von Rafa sah, war, daß er mit Yasmin sprach.
In der November-Ausgabe des Stadtmagazins gibt es Bilders von Kappas Release-Party zu sehen. Ein Bild zeigt mich mit Onno und Rick, auf einem anderen sieht man, wie ich dastehe und mich kaputtlache. Wahrscheinlich habe ich über Kappas seltsamen Auftritt gelacht. Dieser Auftritt wurde im Stadtmagazin so gelobt, daß man an Ironie denken könnte.

In einem Traum waren Kappa, Gabrielle und Xentrix bei mir zu Besuch. Wir lagen oder saßen auf meinem Bett und alberten herum. Kappa wechselte seine Kleider. Dabei konnte man sehen, daß sein Körper nur aus einem Drahtgestell bestand, nicht aus Fleisch und Blut. Ich dachte an das Skelett, das Kappa auf der Bühne umarmt hat. Es war auch nur ein Gestell, ein gekleidetes und frisiertes Gestell.
Kappa legte sich wieder auf das Bett und warb für das "Exil". Er meinte, die Musik dort würde ich bestimmt mögen. Ich sagte ihm, daß ich ja auch gelegentlich hingehe.
Kappa wirkte auf eine unschuldig-naive Art verliebt. Er gab mir ein Küßchen auf den Mund. Das war für mich schon hart an der Grenze. Als Kappa anfing, mich richtig zu küssen, sagte ich ihm, daß ich das nicht wollte. Kappa schien das aber nicht so recht einsehen zu können.
Wir fuhren alle vier zu einem großen Jugendzentrum. Dort gab es einen Kiosk, wo man außer edlen Süßwaren auch CD's kaufen konnte. Es waren CD's aus dem Independent-Bereich; Sachen von Blackhouse waren darunter und Ähnliches. Das lag daran, daß die Kioskbesitzerin mit Ace bekannt war.
Ich blieb lange am Kiosk stehen und suchte in den CD's herum. Währenddessen verschwanden Xentrix, Gabrielle und Kappa. Ich suchte sie vergebens. Einmal nur hörte ich Gabrielle aus der Ferne rufen:
"Hetty!"
"Wo seid ihr?" rief ich. "Wo seid ihr denn?"
Ich fand sie nicht mehr.




Abends war Gabrielles Neffe Janssen bei mir zu Besuch, außerdem Brinkus, Arved und Carl. Janssen ging mit mir nach draußen und sammelte für mich an einer Straßenbaustelle vier anthrazitfarbene Pflastersteine und zwei Gossenwürfel ein.
Übrigens kennt er Tessa vom Sehen, und er findet sie "scheußlich" und "häßlich".
Carl hat erzählt, daß Saverio ihm vor langer Zeit einmal Fotos gezeigt hat, auf denen auch die Sängerin zu sehen war. Damals war sie noch nicht mit Rafa zusammen, und sie trug ihre Haare schwarz gefärbt.
"Weißt du, wer das ist?" fragte Saverio den Carl.
"Tessa", antwortete der.
"Irggh", machte Saverio angewidert.
Übrigens hat Carl Berichte gehört, die bestätigen, daß die Sängerin inzwischen in der Techno-Szene gelandet ist. Sie soll sich bevorzugt in "Halle 1" aufhalten.
Carl hat jetzt noch einen Mitschüler aus SHG. kennengelernt. Dieser Mitschüler kennt Rafa auch. Er sagte über ihn nur, daß er früher einmal "rechts drauf" gewesen sein soll. "Rechts drauf" paßt zu Rafa höchstens insofern, als er nach Helden und Führern sucht und selbst den Helden oder Führer spielt. So kommen auch Texte wie "Die deutsche Jugend" zustande. Das rechte Gedankengut und das sadomasochistische Wesen der Rechtsextremen sind Rafa jedoch fremd.
Gegen halb eins fuhren wir zum "Exil". Dort war es nicht sehr voll, aber die Leute gingen auf die Tanzfläche. Rafa spielte zwei Stücke von sich selbst, "Sinnlos" und "Wer hat uns umgebracht?" in der "C64er Version".
Das DJ-Pult befindet sich jetzt weiter unten an einer ehemaligen Bar. Dort ist der DJ für die Gäste besser erreichbar; außerdem kann er die Gäste besser im Auge behalten.
Wir waren noch nicht lange im "Exil", da sah ich Rafa an mir vorbei zur Treppe gehen. Er hielt zu mir einen Abstand von zwei Schritten ein. Er lächelte mir zu und machte Winkewinke. Ich hob die Hand. Als Rafa wieder zurück ans DJ-Pult ging, sah er mich nicht an. Er kam auch danach nicht mehr hinterm DJ-Pult hervor. Es war, als wenn er sich dort verkriechen wollte.
Ich sah kein Mädchen so lange und so weit in Rafas Nähe kommen, daß ich befürchten mußte, er könnte es als Freundin haben. Weder Sanna noch Laura waren da und ebensowenig Dolf und Kappa.
Zwei Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren saßen die meiste Zeit vorm DJ-Pult auf Barhockern. Es waren Viktoria und Lara. Lillien erzählte mir, daß Viktoria die Sängerin Tessa im Tanz- und Kleidungsstil nachahmt. Lillien hat von Velvet gehört, daß Viktoria Rafa sehr verehren soll. Sie soll ihr Auto über und über beklebt haben mit W.E-Aufklebern.
Velroe begrüßte mich. Außerdem waren Daphne, Sandro und dessen Freundin Deva da. Daphne und ihre Freundinnen haben das Stadtmagazin auch schon gelesen. Sie finden, daß ich auf den Fotos so weiß aussehe wie eine Badezimmerkachel.
Lillien fand, daß ich irgendwie niedergeschlagen aussah. Sie meinte, sie könne nicht mit ansehen, wie ich leide; ich solle doch endlich zu Rafa hingehen. Den Gefallen konnte ich ihr aber nicht tun. Ich konnte ihn auch Rafa nicht tun, sofern es für ihn einer war.
Ortfried wünschte sich von Rafa :wumpscut:. Er spielte es nicht. Janssen wünschte sich von Rafa "Killing Time" von Dive. Er spielte es ebensowenig. Als wir gehen wollten, bat ich Janssen, Rafa zu sagen, daß wir gleich gehen würden, und ihn zu fragen, ob er das Stück von Dive nicht noch spielen könnte. Er spielte es immer noch nicht. Da schlug ich Janssen vor, noch ein letztes Mal zu Rafa zu gehen und ihn zu fragen, wann er das Stück denn spielen wollte, wenn er es denn überhaupt spielen wollte. Rafa soll darauf unwirsch geantwortet haben:
"Nerv' mich nicht dauernd. Mal sehen, vielleicht, irgendwann."
Da gingen wir sofort.
Vielleicht wollte Rafa mir eins auswischen. Vielleicht störte es ihn, daß ich andere vorschickte, anstatt mir selbst etwas zu wünschen. Vielleicht hatte er auch einfach nur eine entsetzlich schlechte Laune, und die ließ er nun an allen Leuten aus, die ihm über den Weg liefen.
Ende Oktober kam Folter nach H. Ich traf Constri und Folter nachts am CITICEN und ging mit ihnen ins "Exil" zur Halloween-Party. Constri ist es leid, im "Elizium" das schlechte und abweisende Benehmen von Derek zu ertragen, und sie ist es auch leid, am Wochenende zu Hause sitzenzubleiben. Deshalb hat sie Derek allein ins "Elizium" gehen lassen. Es freut mich, daß Constri etwas unternimmt, anstatt vor sich hinzujammern.
Im "Exil" gab es Pernod mit Bitter Lemon zur Begrüßung, und der Tanzraum war geschmückt mit Spinnweben und Fledermäusen. Dies trug dazu bei, daß es Constri dort gefiel.
An der Kasse saß Blanda, die Mitinhaberin des "Exil". Sie war nett, aber sie war auch traurig, weil nicht genügend Gäste da waren.
Auch Rafa fehlte. Ich war neugierig darauf gewesen, als was er gehen würde, aber jetzt kam er gar nicht erst.
Im "Exil" waren einige Gäste hübsch zurechtgemacht, darunter ein Mädchen in einem fließenden langen Kleid mit Tütenärmeln. Richtig kostümiert hatten sich aber nur wenige, und so kam es, daß jeder Kostümierte von der Firma Pernod mit einem Preis bedacht wurde. Viktoria hatte sich mit Ketten aus Alufolie verziert. Das blonde Barmädchen ging als Sterntaler. Kappa teilte dem Publikum mit, daß das Mädchen Sharon heißt und daß er von ihr eins draufkriegen würde, wenn er sie "Barschlampe" nennen würde.
Ein Mädchen trug eine Hexenmaske. Kappa fragte sie durchs Mikrophon, wie sie denn hieße?
"Dorothea", antwortete sie.
Und die Maske wollte sie auf keinen Fall abnehmen.
Den ersten Preis gewannen schließlich Viktoria und Lara; es war eine Reise zu einer Pernod-Party.
Am DJ-Pult stand ein höflicher DJ namens Macro. Er erfüllte Constri und mir je einen Wunsch - "Capital Punishment" von :wumpscut: und "Critical Stage" von Suicide Commando.
Inzwischen gab es einen Gerichtstermin wegen der Straftat von Onnos ehemaligem Vermieter. Der Angeklagte erschien nicht, und das wird ihn in noch größere Schwierigkeiten bringen, als er ohnehin schon hat; er muß nämlich eine Geldstrafe von neunhundert Mark bezahlen. Wir Zeugen waren alle da; auch Constri war mitgekommen. Eveline bekam eine Verdienstausfall-Erstattung, und sie gab uns - Constri, Onno, Revil und mir - in einem Café einen aus.
Zu Allerheiligen habe ich Folgendes geträumt:

Man war allgemein der Auffassung, daß für Menschen mit wenig Geld oder bestimmten psychischen Störungen der Tod die einzige und beste Behandlungsmethode wäre. Wer in bestimmten Tests durchfiel, wurde unweigerlich getötet. In der Psychiatrie der Hochschule wurden somit ich und meine Getreuen festgesetzt, und wir warteten auf unsere Hinrichtung. Die Oberärztin plädierte für Menschlichkeit und richtete es ein, daß meine Gefährten und ich alle zur gleichen Zeit sterben sollten. Die Kollegen äußerten Bedauern über unsere bevorstehenden Hinrichtungen. Sie fanden uns amüsant, weil wir Außenseiter von der Electro- und Wave-Szene etwas Abwechslung in das angepaßte Einerlei des Kollegiums brachten. Sie sagten, daß sie uns vermissen würden und daß ihnen der Abschied von uns schwerfiele. Auf die Idee, zu hinterfragen, ob dieser Abschied überhaupt sein mußte, kamen sie nicht. Auf die Idee, die Tötungen an sich zu hinterfragen, kamen sie nicht.
Der Zeitpunkt der Hinrichtung rückte nah heran.
Ich wollte einem Kollegen meine Zweifel an dem Sinn der Hinrichtungen mitteilen. Es war sehr schwierig, mir Gehör zu verschaffen. Der Kollege ließ mich einfach nicht ausreden. Er schien nicht hören zu wollen, was ich zu sagen hatte. Ich versuchte, ihm die folgende Frage zu stellen:
"Und wenn ein Mensch noch so behindert ist - kann es nicht sein, daß er sein Leben trotzdem noch genießt? Kann es nicht sein, daß man ihm mit dem Tod gar keinen Gefallen tut?"
Bevor ich den Kollegen dazu bringen konnte, mir ordentlich zuzuhören, wachte ich auf.

Wenn es so wäre, wie es in dem Traum beschrieben wurde, dann ist das Verhältnis der Psychiatrie-Kollegen zu mir dergestalt, daß sie mich amüsant finden und als angenehme Gesellschaft schätzen, daß sie mich aber andererseits für "lebensuntauglich" halten und mich als ernstzunehmende Kollegin von vornherein abgeschrieben haben. Keiner von ihnen würde sich hinter mich stellen. Keiner würde mich annehmen und aufnehmen im Kollegium. Ich bin für die Kollegen ein Fabeltier, eine eigenartige Mutation, die im Grab besser aufgehoben ist als im Arbeitsleben. Ein Mensch wie andere Menschen bin ich für sie nicht. Ein Recht auf Leben und ein Recht auf eine Chance habe ich in ihren Augen nicht.
Am Abend waren Constri, Malda, Ortfried und ich auf dem Friedhof. Ortfried führte uns über einen Friedhof, den wir bis dahin noch gar nicht kannten. Der Friedhof ist auch nachts offen, und er ist recht groß. Es gab dort sehr viele schöne rote Ewigkeitslämpchen zu sehen. Der Mond schien hell auf die Grabsteine. Constri fotografierte mich ohne Blitz im Schein eines Grablichts; sie meinte, ich würde wie eine trauernde Witwe aussehen. Wegen der Kälte hatte ich mir meinen schwarzen Schal um den Kopf geschlungen.
Wir machten auch Fotos vor der Kapelle, die sehr alt zu sein scheint, vielleicht noch aus dem Mittelalter stammt.
Nach dem Spaziergang im Dunkeln gingen wir essen, wie wir es jedes Jahr tun. Auf dem Weg zum Restaurant sprach Malda mit Constri über Ivo Fechtner, von dem sie zur Zeit getrennt ist.
Am Samstag hatte Carl im "Elizium" einen Disput mit Saverio. Taylor und ich tauschten Adressen aus. Taylor kennt im "Elizium" vorwiegend die Leute von der Theke, die mich kaum kennen. Die Thekenleute sollen es sein, die für mich solche Namen wie "Püppchen" gebrauchen.
Saara kam gegen vier Uhr aus dem "Exil" ins "Elizium" herüber. Saara war diejenige, die sich auf der Halloween-Party als Hexe verkleidet hatte. Sie hatte Kappa einen falschen Namen gesagt, weil sie nicht erkannt werden wollte. Sie hat den Eindruck, daß Kappa sie verehrt. Er soll ihr seine Kinderfotos gezeigt haben.
Laura soll Brinkus einreden, die Beziehung von Constri sei morsch, und es werde Zeit, daß sie, Laura, an Constris Stelle tritt. Brinkus versucht nun, Derek und Laura einander näherzubringen, in einer Art Kuppler-Automatismus. Er betont dabei, nie vorgehabt zu haben, Constri und Derek auseinanderbringen zu wollen.
Derek hört viel den Volksmusik-Kanal. Ich habe ihn gebeten, Volksmusik-Samples und atonale Industrie-Sounds zusammenzurühren.
In einer aktuellen Szenezeitschrift und im Coverbooklet von Rafas erstem Album finden sich Bilder, die auf dem ehemaligen Fabrikgelände um die "Halle" aufgenommen wurden. Dort steht eine gewaltige Bauruine, jenes stählerne Gerüst einer nie fertiggestellten Fabrikhalle. Vor fünf Jahren habe ich sie schon begeistert fotografiert, als ich Rafa noch nicht kannte. Jetzt habe ich ein Bild aus der Szenezeitschrift an die Wand gehängt, das Rafa vor der Bauruine zeigt. Er trägt keine Brille und läßt sich eine Strähne ins Gesicht hängen. Sein Blick ist offen und harmlos. Rafa blinzelt ein bißchen, vielleicht wegen der Sonne.
Dolf und die Sängerin Tessa habe ich weggeschnitten. Tessa ist auf dem Bandfoto noch abgebildet, und Rafa bedauert in dem zugehörigen Interview ihren Verlust. Sie soll den Text zu "Tanz dich in mein Herz" geschrieben haben. Mir ist dieser Text aufgefallen, weil er noch klischeehafter klingt als die meisten anderen.
Immerhin beschreibt Rafa die Texte seiner Band selbst als "naiv". Er sieht die Naivität sozusagen als Teil des Konzepts.
Im Interview schwärmt Rafa von "schönen Cybertec-Frauen". Was das für Frauen sein sollen, weiß ich nicht; vielleicht handelt es sich um zweibeinige Computer ohne eigenen Charakter, die sich beliebig formen und benutzen lassen. Auffallend finde ich den Plural; es hört sich an, als wenn Rafa gar nicht nach einem Menschen sucht, sondern nach vielen Gegenständen.
Rafa vermeidet es im Interview sorgsam, allzu Persönliches zu erzählen. Auf die Frage, weshalb das Album "Alles ist möglich" entgegen der Ankündigung so spät erschienen sei, antwortet er:
"Tja, alles ist möglich. Aber nun ist es ja soweit!"
Dem Rezensenten gefällt das neue Album. Er findet, daß der "St. Martin-Hit 'Laterne'" so recht ein Stück zum Mitsingen ist. Er betrachtet die CD als Gute-Laune-Pop-Platte und faßt sie nicht als tiefgründige Botschaft an die Menschheit auf.
Rick hat in dem neuen Katalog von "IndiRec" über "Alles ist möglich" geschrieben:
"Scheinbar ist alles möglich. Neues Album des 1-Mann-Duos."
Ist es für Rafa wichtig, als "Gruppe" aufzutreten und nicht als einzelner Musiker, wie Rudy Ratzinger und Dive es mit Erfolg tun? Fühlt er sich nicht so sicher wie Rudy und Dirk I.?
Am Wochenende erzählte mir Sarolyn im "Elizium", daß sie sich viel mit Laura streitet, fast immer wegen Kleinigkeiten. Außerdem findet Sarolyn es langweilig, Laura zu besuchen. Vieles von dem, was Laura erzählt, interessiert sie nicht. Ich fragte Sarolyn, ob sie denn kein Häkelzeug hätte. Das würde mir in solchen Fällen helfen.
Malda weiß nicht so recht, ob sie noch mit Ivo Fechtner zusammen ist. Sie findet Janssen "süß".
Siddra weiß nicht so recht, ob sie noch in Sator verliebt ist.
Frühmorgens ging ich noch ins "Exil". DJ Macro spielte das, was Spheric im "Elizium" nicht zuwege gebracht hatte. Dazu gehörten "Koslow" von :wumpscut:, "Alle gegen alle" von Laibach und "Aufprall" von Calva y Nada.
Saara erzählte, daß sich der Pfortenskin vom "Nachtlicht" - Lennart Brehler - gelegentlich im "Exil" sehen läßt. Er soll der Halbbruder einer Freundin von Saara sein. Saara kann ihn nicht leiden; es soll aber einige Mädchen geben, die ihn anhimmeln.
Saara weiß von Lexx, daß er wie ich Medizin studiert und Psychiater werden will. Lexx soll vorher in der Krankenpflege gearbeitet haben, und er soll erst vor Kurzem mit dem Studium begonnen haben.

In einem Traum sah ich Rafa mit einer Gruppe von Jungen in der "Halle" stehen. Er hob sein Glas mit den Worten:
"Auf Hetty!"
"Warum auf Hetty?" fragte einer der Jungen.
"Aach, nein!" wehrte Rafa ärgerlich ab.
Da hatte er schon wieder etwas getan, aus dem man schließen konnte, daß ich ihm wichtig war.

Clara hat erzählt, daß Rafa hin und wieder in SHG. auflegt, in einem Laden namens "Contrast". Bei einem Konzert in HF. soll er Viktoria auf der Bühne eingesetzt haben. Sie soll etwas gesungen haben.
Clara hat auch erzählt, daß eine Gruppe von Mädchen - darunter Daphne - bei Rafa einen Telefonstreich gemacht hat. Ein Mädchen telefonierte mit ihm, die anderen hörten über den Raumlautsprecher zu.
"Hier ist Sabine", seufzte das Mädchen in den Hörer. "Ich finde dich so toll."
Die Zuhörerinnen lachten. Rafa soll nicht begriffen haben, worum es ging.



Mitte November waren wir abends bei Merle. Rikka hatte "keine Lust" auf das Treffen. Sie zieht sich mit ihrem Seth weitgehend zurück und geht fast nicht mehr weg.
Elaine saß bei Constri auf dem Schoß und kaute an Constris Ankh. Merle schenkte mir eine künstliche Rose mit samtiger Blüte, welche sich wie ein Froschmaul aufklappen läßt. In dem Hohlraum ist ein Schlitz für einen Ring. Das Ganze soll eine Schatulle sein.
Nachts waren wir im "Exil", ohne Merle, die nicht mehr weggeht, weil sie keinen geeigneten Babysitter für Elaine findet.
Rafa stand allein am Pult; es war kein Mädchen zu sehen, das als seine Freundin erkennbar war. Er spielte elektronische Stücke wie "Shithammer" von Numb und "No Fate" von Zyon. Einmal kam er zum Tanzen herunter.
Lillien fragte mich, ob ich wegen Rafa alle ernsthaften Verehrer abweisen würde.
"Alle", antwortete ich. "Das liegt daran, daß ich die Leute nicht belüge."
Ein Junge sprach mich an, der mich aus dem "Elizium" kennt. Er heißt Jesco. Früher war er Punk; heute, so sagt er, ist er nur noch Mensch.
Mir fiel auf, daß die Toilettentüren außen mit den stilisierten "Exil"-Männchen bemalt sind. Auf der Tür der Damentoilette hat dieses Geschöpf Brüste. Das erinnert mich an den schrägen Humor von Rafa. Wahrscheinlich hat er die Tür bemalt.
Während ich mich mit Saara vor der Bar unterhielt, kam Rafa noch einmal herunter und geradewegs auf uns zu. Ich streichelte seinen Hals und seine Schulter. Dann glitt meine Hand unter seinen Kragen. Rafa hatte es eilig, weiterzukommen. Ein Stück von uns entfernt, am Ende der Bar, redete er mit verschiedenen Leuten.
"Das muß er über sich ergehen lassen", sagte ich zu Saara. "Er weiß, daß ich ihn immer anfasse, wenn er in meine Nähe kommt."
"Woher weiß er das denn?"
"Ich habe es ihm gesagt. Wenn er nicht will, daß ich ihn anfasse, muß er Abstand halten."
Saara wollte wissen, ob ich Rafa gut finde.
"Mehr", antwortete ich.
Sie fragte mich, ob wir etwas miteinander hätten.
"Wenn man ihn fragt, sagt er 'nein'", erzählte ich. "Wenn man mich fragt - 'ja'. Er will es immer geheimhalten."
Saara meinte, sie kenne da auch so einen, mit dem sie etwas hätte, der das aber verleugne.
"Du magst Kappa, nicht?" vermutete ich.
"Woher weißt du denn das wieder?" war Saara überrascht.
Ich erklärte, das hätte ich der Art entnehmen können, in der sie über Kappa spricht.
Kappa war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im "Exil", sondern auf einer Party bei seiner Freundin Genna. Er soll ein echtes Doppelleben führen. Einerseits ist er mit Genna verlobt, andererseits macht er Saara den Hof. Er soll Saaras erster Mann gewesen sein. Sie ist zwanzig und damit sieben Jahre jünger als Kappa.
Als Saara mit Kappa über mich geredet hat, soll er gesagt haben, ich sei "voll nett".
Das laufende Stück endete. Rafa mußte wieder ans Pult. Er ging schnell und achtete darauf, daß er mir nicht zu nahe kam.
Saara konnte von Rafa allerlei erzählen. Im Frühjahr begegnete sie ihm im "Exil" und sagte zu ihm, daß er auf sie recht arrogant wirke.
"Das muß man auch in diesem Laden", entgegnete Rafa.
Er wünschte, daß sie ihn besuchte, doch sie wollte das nicht.
Vor einer Woche war Saara auch im "Contrast". Sie hatte ihr Haar dunkler getönt, und Rafa meinte, sie solle es doch wieder blond machen; das gefiele ihm besser.
"Das sieht so aus wie 'Komm' her, ich will dich'", bemerkte er frech.
"Dann färbe ich sie schwarz", drohte Saara.
"Oh nein, nicht schwarz", bettelte Rafa.
Nach der Veranstaltung fragte er sie, ob sie ihn nach Hause fahren könnte. Sie fuhr ihn, weil außer ihm auch noch ein paar Anstandsherren mitkamen. Bei Rafa gab es Kaffee. Rafa wäre es am liebsten gewesen, wenn die Anstandsherren gegangen wären und er mit Saara hätte allein bleiben können. Aber Saara ließ das nicht zu.
Rafa holte seine Fotoalben hervor. Saara erfuhr nun, wie Tessa aussieht. Rafa teilte Saara mit, daß im Frühjahr mit Tessa Schluß gewesen sei und daß er seither keinerlei Kontakt mehr zu ihr habe; sie sei jetzt in der Techno-Szene.
Rafa schlug ein Spiel vor, bei dem man reihum Pfänder abgeben mußte in Form von Kleidungsstücken, die man sich auszog. Saara ließ die Herren alleine spielen und legte sich schlafen in Rafas Bett. Als sie wieder aufstand, beguckte Rafa sie mit großen Telleraugen.
"Zieh' deine Hose aus", verlangte er.
"Nee ... also ... haha ..."
"Traust dich nicht?" fragte Rafa.
"Natürlich traue ich mir das", entgegnete Saara. "Aber ich bin doch nicht bescheuert."
Rafa soll Saara öfters umschmeicheln. Er hat gemeint, er hätte sie schon lange beobachtet ... und ... und ...
Als Saara mir von Rafas frechen Bemerkungen und intimen Wünschen berichtete, tanzten Saara und ich gerade zu "Being boiled" von Human League. Wir kicherten und schwatzen auf der Tanzfläche.
Saara ist auch auf dem Konzert gewesen, das Rafa in HF. gegeben hat. Viktoria mußte immer wieder dasselbe Wort singen, sonst nichts, doch schon das überforderte sie. Mal verpaßte sie ihren Einsatz, bald sang sie laut, bald leise ... Rafa lobte Viktorias "Leistung" auf der Bühne in seiner beschönigenden Art. Ich nehme an, er wollte Viktoria nicht verunsichern.
Auch die unbegabte Sängerin Tessa könnte von Rafa in dieser Weise gelobt worden sein.
Viktoria soll inzwischen von ihrem Freund getrennt sein; vielleicht macht sie sich Hoffnungen auf Rafa. Laut Saara soll es sehr viele Mädchen geben, die sich Hoffnungen auf Rafa machen. Und er treibt sein Spiel mit ihnen.
Gegen vier kündigte Rafa das letzte Stück an. Lillien und ich brachen auf. Als ich mir den Mantel überzog, sah ich, wie Rafa durch den schmalen Gang zur Treppe lief; dorthin, wo sich die Toiletten befinden. Diesen Weg mußte auch ich nehmen, wenn ich zum Ausgang wollte.
"Ich sage noch schnell dem Lexx 'Tschüß'", sagte ich zu Lillien. "Ich komme gleich."
Lillien ging schon nach oben und wartete dort auf mich. Ich verabschiedete mich von Lexx. Dann ging ich langsam durch den schmalen Flur zur Treppe. Rafa kam mir entgegen. Er schaute mich freundlich an und sagte:
"Tschüß ... Hetty."
"Du", sagte ich und wandte mich zu ihm.
Er drehte sich, und auch ich drehte mich, so daß er mit dem Rücken zum Tanzraum stand und ich mit dem Rücken zum Ausgang. Ich faßte seine Schultern.
"Nimmst du auch immer Präser bei deinen Frauengeschichten?" fragte ich ihn.
"Nein."
"Ich habe solche Angst, daß du dich mit HIV ansteckst", sagte ich atemlos. "Du mußt dich davor schützen."
"He - ich schlaf' gar nicht mit so vielen Frauen, wie du denkst."
"Du mußt dich aber trotzdem schützen", sage ich ernst. "Nimm' immer Präser, wenn du mit irgendwelchen Frauen schläfst. Das darf auf keinen Fall sein, daß du dich ansteckst. Ich will dich nämlich noch ein Weilchen haben."
Ich drücke ihn an mich.
"Hehe, ist gut, ist gut", bremst mich Rafa. "Ich schlaf' gar nicht mit so vielen Frauen, wie du glaubst."
"Und du sollst nicht so viel rauchen und nicht so viel trinken. Und du sollst mehr auf dich aufpassen."
Mit einem Seufzen lehne ich meinen Kopf an seine Schulter.
"Ja - ja - ist gut, ist gut", bremst er und wirkt recht verlegen.
Ich stehe vor ihm, die Hände auf seinen Schultern, und betrachte die Gemmen-Brosche am Stehkragen seines Hemdes. Dann hebe ich den Kopf und schaue in sein lächelndes, freundliches Gesicht. Ich fühle mich matt. Weil ich nichts mehr zu sagen weiß, schlinge ich noch einmal die Arme um Rafa, so heftig, wie ich kann.
"Ou ... ou ...", stöhnt er und lacht.
Er schiebt mich wieder ein Stück von sich weg, so daß ich ihm ins Gesicht sehe.
"Wir haben auch noch was mit Videokassetten klarzumachen", sagt er. "Paß' mal auf - ich würd' vorschlagen, du rufst mich an, wenn du das nächste Mal ins 'Exil' gehen willst, und du sagst:
'Hallo, ich bin Hetty, und du bist Rafa, und ich gehe dann und dann ins 'Exil'.'
Und dann bringe ich dir die nämlich mit."
Ich streiche ihm das Haar aus der Stirn, das dabei verwuschelt, und entgegne:
"Ja, du hast ja auch keine Lust, dich mit mir zu treffen."
"Is' gut, is' gut. Is' schon gut."
Er geht zurück in den Tanzraum. Ich treffe Lillien vor der großen Treppe nach oben wieder, in dem mit Schwarzlicht beleuchteten Eingangsflur. Wir gehen gemeinsam bis zur U-Bahn-Treppe, dann gehe ich allein hinunter zur Station. Ein vor sich hinlallender Betrunkener nähert sich mir, mit dem schleppenden Gang eines Zombies. Er spricht nur gebrochen deutsch. Ich erzähle ihm irgendwelchen Unsinn, den er doch nicht versteht, und schenke ihm eine Sicherheitsnadel als Wegezoll. Das hilft. Der Betrunkene torkelt brabbelnd davon.

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