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Ein paar Tage nach meinem Besuch in SHG. rief ich Rafa an. Er wurde von seiner Mutter ans Telefon geholt.
"Ach - du bist das", sagte er, als ich mich meldete.
"Ich habe doch den Sampler vergessen", erklärte ich. "Den Sampler, den du mir geschenkt hast. Den will ich unbedingt haben."
"Das nächste Mal bringe ich ihn dir mit."
"Du - willst du mich besuchen, oder willst du mich nicht besuchen?"
"Ich will", sagt Rafa. "Aber erst nach dem 19."
"Dann war da noch etwas ... Da war noch etwas, das ich sagen wollte. Einmal war das der Sampler, und dann ... Mein Gedächtnis ist so schwach."
"Ja, ja, ich merk' das schon."
"Was war das nur ... Ach! Venus-Fliegenfalle! Das Tape von dir, hast du das schon fertig?"
"Bringe ich mit."
"Bist du am Freitag in der 'Halle'?"
"Nnein."
"Bist du am Samstag im 'Elizium'?"
"Jja."
"Fein, dann sieht man sich ja."
"Ich ... muß aber jetzt auch Schluß machen, weil, ich habe nicht viel Zeit."
In der "Halle" gab es am Freitag wieder eine EBM-Nacht. Die "Halle" ist eine ehemalige Fabrikhalle. Dort ist es nicht so eng wie im "Elizium". Es ist auch schicker; der Boden glänzt silbern, und alles ist in blaues Licht getaucht. Viele von meinen Bekannten waren da. Constri sagte mir, in der "Halle", wo es so gesellig wäre und die Musik so gut, würde sich nach langer Zeit wieder ihr ganzer Körper amüsieren.
Ich hatte die neuen schwarzen Satinhandschuhe an, die bis über die Ellenbogen reichen. Eitel zupfte ich an meinem Taftrock herum. Constri findet dieses "Laufstegverhalten" ziemlich albern. Wenn sie es beobachtet, schüttelt sie sanft lächelnd den Kopf.
"Jetzt bin ich schon siebenundzwanzig, ist das nicht schrecklich?" sagte ich zu dem etwas jüngeren Derek.
"Nicht, wenn man so aussieht wie du!" erwiderte er und betrachtete mich dabei.
Es wirkte aufrichtig. Ich will es mir nur gestatten, mich von Komplimenten beweihräuchern zu lassen, wenn sie ernst gemeint sind.
Am Samstag im "Elizium" vermied ich es, nach Rafa Ausschau zu halten. Ich ging auf die Tanzfläche. Ich fühlte mich nicht wohl, und ich glaubte auch nicht, daß Rafa wirklich da sei. Er war aber da. Als ich gerade nicht tanzte, erschien er vor mir und streckte mir die Hand hin. Ich schüttelte seine Hand erheblich länger, als man das gewöhnlich tut. Rafa griff prüfend nach meiner naßgeschwitzten Schulter und bemerkte:
"Trocken ist das ja grade nich'."
"Ich habe doch auch getanzt."
"Wie geht's?"
"Ach, ja ... Und wie geht's dir?" lenkte ich ab. "Alles blendend?"
"Na, eigentlich nicht so blendend ... Na, es geht so."
"Bist du nicht mitten in den Vorbereitungen für das Konzert?"
Rafa nickte und erzählte ein wenig von seiner musikalischen Arbeit. Ich fragte ihn nach dem Sampler, den er mir schenken wollte. Er hatte ihn nicht mitgebracht.
"Wo hast du eigentlich die Grabkreuze her, die in deinem Zimmer stehen?" wollte ich wissen. "Richtig vom Friedhof?"
"Vom Friedhof."
"Wie wäre es denn für dich, wenn jemand deinen Grabstein mitnehmen würde?"
"Die Gräber waren kurz vor der Einebnung", erklärte Rafa. "Ich würde nie von einem frischen Grab den Grabstein wegklauen."
"Ach, das wollte ich nur wissen."
"Sag' doch, fändest du es besser, wenn dein Grabstein auf den Müllhaufen käme, oder wäre es dir lieber, daß sich einer den ins Zimmer holt und ihn pflegt?"
"Das Letztere. Ich habe auch eine Gedenktafel, die verschrottet werden sollte."
"Na, siehst du."
"Weshalb ist eigentlich Dracula dein Vorbild?"
"Na, weil er der Beste ist", meint Rafa. "Er ist unsterblich."
"Aber er ernährt sich von Blut."
"Ja, und?"
"Schmeckt dir Blut?"
"Ja. Darf ich dich beißen?"
"So, du willst mich beißen und mein Blut trinken?"
"Ja", sagt er frech und verlangend. "Darf ich?"
Er vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge.
"Wenn du willst ... also ...", zögere ich.
"He, aber nicht hier", bestimmt Rafa. "Das machen wir woanders."
"Beißen ruiniert die Schönheit."
"Ist doch schick, so zwei Bißstellen ... oder auch nur eine."
Er ist wieder mit meiner Halsbeuge beschäftigt.
"Also, darf ich?" fragt er erwartungsvoll. "Ich darf doch."
"Das ruiniert das Decolleté."
"Kannst dir doch ein Seidentuch umbinden."
"Nicht, wenn ich tanzen will. Was glaubst du, wie warm Seide ist. Du kannst dir vielleicht ein Seidentuch umbinden - aber nicht ich."
Ihm scheint wirklich nie warm zu sein. Er trägt immer Hemden mit einem engen Stehkragen.
"Hast du schon mehr Leute gebissen?" erkundige ich mich.
"Ja, schon mehrere."
"Sind die jetzt nicht auch alle unsterblich - und machen dir Konkurrenz?"
"Doch nicht von einem Mal ... Willst du dich wirklich nicht beißen lassen? Ich beiß' auch nicht in die Halsschlagader 'rein."
"Ach, erstmal nicht."
"Hm?"
"Erstmal nicht."
Für einen Vampir ist Rafa ausnehmend höflich. Meines Wissens fragen Vampire in der Regel nicht um Erlaubnis, bevor sie zubeißen.
Als ich wieder zu meinen Leuten gehe, fährt eine Hand an meinem Rücken entlang. Der Charmeur Till macht solche Sachen auch; diesmal ist es aber Rafa, der nach Hause muß, weil seine Leute fahren. Er zieht Fotos aus seiner Innentasche, von dem Auftritt mit dem erhängten Dolf. Ich lege einen Arm um Rafas Schultern und schaue mir die Fotos an.
"Du läßt dich doch beißen?" geht es wieder los.
Rafa steht im Gegenlicht. Ich erkenne seine Züge dennoch recht gut. Sein Gesichtsausdruck ist fast bittend.
"Wollten sich deine Opfer denn beißen lassen?" frage ich nach.
"Opfer sind das doch nur, wenn sie es nicht wollen."
"Also, wollten sie?"
"Jja."
"Weshalb wollten die das denn?"
"Ist doch schick."
"Ich frage mich, wie das ist, sich beißen zu lassen."
"Also, du willst", folgert Rafa. "Gut."
"Ich habe nicht gesagt, daß ich will."
"Mensch, komm', du machst doch sonst alles mit."
"Eben nicht."
"Echt, ich mach' das auch so, daß das ... daß man das nicht sieht."
"Nein."
"Was ist nun, darf ich dich beißen?"
"Eigentlich wollte ich mich nicht beißen lassen."
"Nich'?"
"Nich'."
Rafa seufzt.
"Jetzt kommen meine Überredungskünste", sagt er. "Nur ist jetzt keine Zeit mehr. Wir kommen noch darauf zurück!"
Als er weg ist, sage ich zu Constri:
"Er macht einen auf Vampir. Übrigens sind wir ihn für heute los; er muß wieder nach SHG."
"Ist die drauf", kichert Constri. "'Sind wir ihn los', sagt die."
"Er ist aber wohl auch gut breit, daß er so einen Unsinn redet."
"Ja, dann sinkt der IQ."
Dereks Freund Lenni zieht ein Gesicht, weil seine Freundin Lena sich angeregt mit dem Sockenschuß unterhält. Lena ist ein blondes, noch kindlich wirkendes Mädchen. Sie scheint recht beeinflußbar zu sein. Offenbar findet sie den Sockenschuß interessant und glaubt, was er erzählt. Er hat sie schon einmal losgeschickt mit einem Brief, den sie mir überbringen sollte.
"Zurück ohne Kommentar", habe ich zu Lena gesagt.
Sie wollte sich nicht abweisen lassen.
"Ohne Kommentar zurück", wiederholte ich ungerührt.
Da ging sie endlich.
Lenni ist sicher, daß Lenas Verehrung für den Sockenschuß nicht von Dauer sein wird.
"Sockenschuß ist der Mann im Sarg", hat er siegesgewiß verkündet.
Mir ist aufgefallen, daß der Sockenschuß neuerdings versucht, Stirnband und Pferdeschwanz so anzuordnen, wie Rafa das macht. Vielleicht hat er mitbekommen, daß zwischen Rafa und mir etwas läuft. Wenn das wirklich der Fall ist, hat er es überraschend schnell erfaßt.
Der frühe Sonntagmorgen gehört dem "Trauma". Dort ist die Musik betonhart, denn Joël legt auf. Er ist der DJ, der mit Abstand den härtesten Techno spielt, den ich je irgendwo gehört habe. Die Stücke haben wilde, entfesselte, sich überschlagende Rhythmen. Die Geschwindigkeit liegt meistens bei 144 beats per minute und darüber. Ich kann dazu so tanzen, wie ich schon vor Jahren tanzen wollte - nur gab es damals die entsprechenden Läden und die entsprechende Musik noch nicht.
Ein Bewunderer spricht mich an. Ich klage ihm mein Leid:
"Ich finde einfach keinen, der so tanzt wie ich."
"Den findest du nie", sagt er voller Überzeugung.
"Schrecklich", seufze ich. "Ich würde mir das so wünschen."
Ich versuche, anhand der Äußerungen anderer Menschen herauszufinden, ob ich wirklich etwas kann oder ob ich lediglich auffalle, ohne etwas Hochwertiges zu leisten. Wenn es jemanden geben würde, der so ähnlich tanzt wie ich, könnte ich meinen eigenen Stil besser beurteilen. Und wir könnten ein Pas de deux entwickeln.
Ich hoffe, daß Constri und ich eines Tages Videoaufnahmen machen können; dann weiß ich wenigstens, wie es aussieht und was ich verbessern kann.
Am besten wäre es, wenn Rafa und ich eines Tages ein Pas de deux tanzen könnten, wie das auch immer gestaltet würde.
Rafas blutdürstende Annäherungsversuche machen mich nachdenklich. Vielleicht kann er nicht offen über seine Absichten reden. Er hat sich hinter einer Bildersprache versteckt. Ich habe mit ihm kostümierte Gespräche geführt, wobei die Kostümierung ein Schutz war vor allzuviel Entblößung.
An die Möglichkeit, unter einem Deckmantel, der einem Schutz und Rückzug bietet, über heikle Themen zu sprechen, hatte ich noch gar nicht gedacht. Ein solcher Schutz hilft auch mir. Durch sein Versteckspiel ebnet Rafa mir den Weg, ihm Geheimnisse anzuvertrauen, die ich nicht unmittelbar aussprechen kann. Ist ihm das bewußt? Geht es ihm nur darum, seine eigene Unsicherheit zu verbergen, oder handelt es sich bei seiner Annäherung um das gezielte, gekonnte Überschreiten einer Barriere zwischen uns? Wie planvoll handelt Rafa? Wie baut er seine Gedanken auf? Wie vielschichtig denkt er? Gibt es überhaupt einen Menschen, der den Wunsch hat, mich zu durchschauen?
In der kommenden Samstagnacht - der Nacht zum Valentinstag - wirkte Rafa kühl und unzugänglich. Ich fand ihn im "Elizium" vor einer Säule. Er begrüßte mich kurz und abwesend.
"Ich habe für dich ein Stück gemacht", kam dann.
Rafa hatte mir auf seinem neuen Tape ein Stück mit dem Titel "Schneemann" gewidmet, angeblich ein Industrial-Stück. Er versprach, mir auch von diesem neuen Tape eine Kopie mitzubringen. Freilich hatte er den Sampler schon wieder nicht dabei - und ebensowenig eine Kopie von seiner ersten Kassette.
"Hast du eigentlich mal wieder Weihrauchzigaretten gehabt?" erkundigte ich mich.
"Nein."
Rafa schien sein Begehren abgelegt zu haben wie eine Verkleidung. Daraus folgerte ich, daß dieses Begehren nicht echt gewesen sein konnte. Ich wollte schauen, inwiefern überhaupt noch ein Gespräch möglich war.
"Gehen dir eigentlich nie die Ideen aus, wenn du Musik machst?" fragte ich.
"Nein", antwortet Rafa. "Mir fällt immer mehr ein, als ich verarbeiten kann."
"Das geht mir auch so. Mir fallen auch dauernd Sachen ein."
Mein Bekannter Adi geht an uns vorbei und grüßt mich.
"Das ist Adi", stelle ich ihn Rafa vor.
Adi kenne ich seit dem letzten Sommer. Er hat mir im "Trauma" ein Glas Sekt auf den Hocker gestellt. So kamen wir ins Gespräch.
Rafa gibt Adi sogleich formvollendet die Hand. Ich empfinde diese Geste als unecht und aufgesetzt.
Für einen Augenblick steht Rafa noch schweigend neben mir, dann entfernt er sich. Ich begegne ihm nach einiger Zeit vor der Treppe.
"So, jetzt kommt ein Wunsch von mir", kündigt er an und befiehlt:
"Los, tanzen!"
"Dieses Stück ist ein Wunsch von Rafa!" ruft Kappa durchs Mikrophon.
Rafa tanzt selber nicht. Ich tanze auch nicht, als ich erkenne, daß es sich um "19" von Paul Hardcastle handelt, ein Stück, das ich mit neunzehn einmal gut fand.
"Oh, Gott", sage ich zu Rafa.
Er stellt sich vor die Seitenwand, gerade, als wollte er mir ausweichen. Ich frage mich, ob es recht ist, wenn ich auf ihn zugehe, denn sein abweisendes Verhalten bringt mich in Rage. Schließlich gehe ich doch hin, um mir von diesem Verhalten ein klareres Bild zu machen.
Rafa sagt mir, daß das Stück, das gerade beginnt, von ihm stammt. Er hat "Ganz in Weiß" von Roy Black gecovert. Abgesehen vom Text kann diese Version mit dem Original kaum etwas gemein haben. Dafür klingt das Stück zu elektronisch und zu dunkel. Rafas Version finde ich nicht schlecht; sie gefällt mir immer besser, je länger ich sie höre.
Rafa singt mit. Ich beuge mich zu ihm, um die Worte zu verstehen.
"Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß,
so siehst du in meinen schönsten Träumen aus ..."
Mitten im Lied hält er inne. Er schaut mich an mit einem seltsamen Blick. Nicht viel später ist er aus dem Tanzraum verschwunden. Ich nehme an, daß er gegangen ist - ohne Abschied. Ich versuche, mir vorzustellen, Rafa hätte es nie gegeben und alles wäre wie damals, als ich ihn noch nicht kannte. Ich fühle aber, daß es nicht mehr anders wird. Und Rafa ist auch noch nicht gegangen. Er steht mit Dolf an der Theke.
"Ihr seid noch hier!" äußere ich mein Erstaunen.
"Das sind nur unsere Astralleiber", sagt Rafa.
"Ach, ihr seid Wiedergänger! Und die Coke? Ist das Astralcoke?"
Ich greife nach Rafas Glas. Er zieht es weg.
"Nein, nein", wehrt er ab. "Du bildest dir dann halt ein, du trinkst Coke; das ist aber keine."
"Saltarello" von Dead can dance beginnt, und ich gehe auf die Tanzfläche. Rafa und Dolf verlassen das "Elizium" nun wirklich - ohne Abschied.
Am nächsten Samstag im "Elizium" setzte ich mich oben beim DJ auf einen Tisch. Rafa stand dort nämlich, und ich wartete, bis er sich umdrehte. Er wollte schon an mir vorbeigehen, da sprach ich ihn an. Er erzählte vom "Volvox":
Sie hätten bei dem gestrigen Konzert keine Gelegenheit gehabt, Dolf aufzuknüpfen. Den Haken an der Decke hätten andere für sich beansprucht. Nein, das Konzert sei nicht so besonders gewesen, und mit einem Bus sei man nun doch nicht hingefahren. Aber ein Vertrag für eine CD zeichne sich ab. Und das sei ein schöner Erfolg für eine Vorgruppe.
Dolf trug ein T-Shirt über dem Arm, und ich ließ es mir zeigen. Das Bild von der Venus-Fliegenfalle war darauf gedruckt. Ich wollte ein solches T-Shirt auch gern haben.
"Kost' aber", warnte Rafa.
Er hatte weder die Kassetten für mich noch den Sampler.
"Du kriegst alles, Mädchen", versicherte er theatralisch, "alles, was du willst."
Das schien ein Spruch zu sein, den Rafa zu jeder sagt, der er etwas verspricht, was er nicht zu halten beabsichtigt.
Wie das nun mit Besuchen wäre, wollte ich wissen. Der 19. Februar sei schließlich schon vorbei.
Rafa zögerte und wand sich.
"Feigling", dachte ich. "Wie geht man bloß mit sowas um? Wegwerfen kann ich ihn nicht; ich bin an ihn gebunden. Also muß ich etwas anderes mit ihm machen."
"Ich möchte schon ganz gerne wissen, wie bald das etwa sein soll, damit ich mich auf etwas einstellen kann", wollte ich ihn festlegen.
"Nach dem 02. April", verschob er den Termin.
"Aach. Nach dem 02. April. Und weshalb nicht eher?"
"Weil wir am 02. April einen Auftritt haben, in der 'Halle' bei der EBM-Nacht."
Ich ging wieder zu den anderen. Toro begrüßte mich.
"Wie geht's?" fragte ich.
"Ohne meinen Lichtblick ginge es mir nicht so gut", antwortete er.
Sein "Lichtblick" heißt Cilly. Vor zwei Wochen haben sich Cilly und Toro in der "Halle" gefunden. Sie verabredeten sich und sind seither zusammen.
Rafa hält sich wie zufällig in meiner Nähe auf. Ich frage ihn, ob er den "Dracula" von Coppola inzwischen gesehen hätte.
"Ja."
"Und, wie fandst du's?"
"Ich find's gut, daß jetzt überall Vampire in Mode sind", meint Rafa. "Ich find's nicht gut, daß Hopkins den Van Helsing spielt. In 'Schweigen der Lämmer' hatte er den Plan, den Durchblick ... und jetzt spielt er Van Helsing."
"Van Helsing hat doch auch den Durchblick."
"Ich hasse Van Helsing", sagt Rafa leidenschaftlich. "Ich habe ihn immer gehaßt."
"Und warum?"
"Weil er Dracula umbringt. Ich identifiziere mich mit Dracula."
"Blut trinken macht gar nicht unsterblich", teile ich ihm mein neuerworbenes Wissen mit, das aus einem Sonderheft über Dracula stammt.
"Sag' das bloß nicht zu laut!" warnt Rafa.
"Da sind kaum Nährstoffe drin", fahre ich fort. "Dreißig Tage kann man davon vielleicht leben, dann kriegt man Mangelerscheinungen."
"Man muß ja auch ... vorher ... infiziert sein."
"Von einem Vampir gebissen worden sein? Dann müßte dich auch ein Vampir gebissen haben."
"Eine Vampirin. Ich ... also ... ich kenne die schon lange."
"Und die lebt immer noch. Das kann als Beweis für ihre Unsterblichkeit gelten."
Rafa verdreht die Augen.
"Du trinkst öfter Blut?" erkundige ich mich.
"Ja. Darf ich dich beißen?"
"Willst du mich immer noch beißen?" frage ich mit Erstaunen in der Stimme.
"Ja."
"Warum denn?"
"Mein Gefühl sagt mir das."
"Was für ein Gefühl?"
"Das Gefühl, dich beißen zu wollen", redet Rafa sich heraus.
Ich fühle ihm auf die spitzen Zähne:
"Wieviele willst du denn so gleichzeitig beißen?"
"Wie?"
"Na - der Dracula hat doch die Lucy ... die Mina ... und seine drei Bräute ... Wieviele sind es bei dir?"
Mit seiner Hand formt Rafa eine Eins.
"Nur ich."
Er nickt.
"Wieviele hast du denn überhaupt schon gebissen? Waren es fünf oder sechs?"
"Mehr."
"Sieben oder acht?"
"Mehr."
"Neun, zehn, elf oder zwölf?"
"Eher."
Rafa deutet auf die schwarze Schleife, die ich mir ins Haar gebunden habe.
"Die Schleife ist schick", lobt er; ich glaube, er will, daß wir endlich von etwas anderem reden als von seinen Liebschaften.
"Ist sie dir noch nicht aufgefallen?" frage ich. "Ich habe sie öfters drin."
Rafa hat sich einige Ponysträhnen blondiert. Das läßt ihn unverfroren, frech und dreist aussehen. Gleichzeitig wirkt er scheu und vorsichtig.
Xentrix hat von Rafa eine Kassette bekommen, die er auch spielt. Stolz rennt Rafa zu mir auf die Tanzfläche und ruft:
"Hier, was da läuft, ist die Endfassung von 'Auf nach Golgatha'!"
"Warum hat er dem Xentrix eine Kassette mitgebracht, mir aber nicht?" denke ich. "Fällt es ihm leichter, Xentrix etwas zu geben, als mir etwas zu geben?"
Beim Tanzen singt Rafa wieder sein Stück mit. Etwas später kommt er an und gibt mir artig die Hand.
"Ich muß weg", sagt er.
"Man fährt wieder nach SHG.?" frage ich.
"Ja."
"Ist das traurig. Ist man denn nächsten Samstag wieder im 'Elizium'?"
"Ja."
"Ich habe bei dir doch den Sampler vergessen, dieses Vinyl. Mitbringen oder nicht mitbringen?"
"Mitbringen."
Von den Kassetten rede ich gar nicht erst. Etwas anderes liegt mir auf der Seele:
"Hast du meine Adresse denn wieder verloren?"
"Nein", erwidert er. "Die hab' ich noch."
"Oh!" staune ich. "Wirklich! Also ... nicht vergessen ..."
Als er gegangen ist, sagt meine Freundin Merle trocken:
"Ich hätte dir einen Schöneren gewünscht."
Als wenn ich auf diesem Gebiet nicht äußerst schwer zufriedenzustellen wäre!
"Dieses Gesicht hat eine Besonderheit", erkläre ich ihr. "Ich kann es stundenlang ansehen, ohne daß es mir langweilig wird. Das kommt nur ganz selten vor."
"Guck' doch mal den ... guck' doch mal den ... da ist einer, der sieht gut aus."
Der Junge, den Merle mir zeigt, entspricht durchaus den herrschenden Schönheitsvorstellungen. Ich finde ihn langweilig. Er wirft mir öfter Blicke herüber und fragt mich auch nach dem Titel eines Liedes, das gerade läuft. Ich bin nicht in der Stimmung, den Faden weiterzuspinnen und schlage Merle vor, doch auch ein wenig mit dem Jungen zu plaudern, wenn er ihr so gefällt. Merle wagt es nicht. Sie findet, sie ist noch nicht oft genug im "Elizium" gewesen, um sich so etwas erlauben zu können.
"Wirklich, der und du, ihr wärt ein schönes Paar", meint sie.
Merle schlägt mir noch mehr Männer vor, die sie schön findet. Dann möchte sie zur Toilette gehen, traut sich aber nicht, sie allein zu suchen. Ich ziehe sie am Ärmel hinter mir her und bringe sie hin. Rafa läuft mir über den Weg.
"Hi, Astralleib!" rufe ich ihm zu.
Als ich wieder im Tanzraum bin, kommt Rafa noch einmal an.
"Tschüß", sagt er.
"Tschüß", sage auch ich.
Er nimmt meine Hand und küßt sie. Ich umschließe seine Hand mit beiden Händen. Er umarmt mich und küßt rechts und links meine Halsbeuge.
"Wenn sie dich gebissen hat, müssen die Bißwunden zu sehen sein", komme ich wieder auf unser Thema zurück.
"Die sind verheilt", behauptet Rafa.
"Da sind Narben", entgegne ich. "Ich weiß, das gibt Narben."
"Die sind überschminkt."
"Ich will die aber unbedingt mal sehen."
"Machen wir noch."
"Unbedingt. Ich bin übrigens selbst untot. Ich bin eine Attrappe. Ich sehe lebendig aus, bin es aber nicht."
"Was, und es ist kein Tropfen Blut mehr in dir?"
"Kein echtes."
Ich lehne mich an die Box und sehe ihm nach. Ich streiche mir das Kleid zurecht. Rafa dreht sich um und lächelt. Ich lächle zurück.
Wie lange behält er wohl sein "Gefühl", mich und nur mich beißen zu wollen?
Carl war schon ein wenig erstaunt, als ich ihm erzählte, daß Rafa meine körperliche Nähe sucht.
"Vielleicht spielt er auch nur", mutmaßte ich. "Das ist keine Kiste, was Rafa und ich miteinander haben. Das ist eine Sandkiste. Wir führen darin ein schräges Theaterstück auf, in dem jeder sich austobt. Man darf nicht den Fehler machen, es zu ernst zu nehmen."
In einem Traum sah ich Rafas Schlafzimmer. Die ganze Einrichtung und Verzierung war ausgebaut. Nur die rosa Tapete klebte noch an den Wänden. Plastikfolie lag herum, zwischen Resten von dem, was dem Zimmer einst Gestalt gegeben hatte. Das Fenster war mit Pappe vernagelt, aber nicht vollständig. Tageslicht schimmerte durch die Ritzen.
Verändert sich etwas in Rafas Welt?
Der Gedanke an den Tod seines Vaters läßt mich nicht mehr los. Constri und ich haben über die Frage gesprochen, wie man mit Trauer und mit Trauernden umgehen kann. Wir sind zu folgendem Schluß gekommen:
"Man kann für einen Trauernden etwas tun, wenn man ihm zuhört und ihm vorbehaltlos glaubt. Man kann ihm helfen, wenn man in seine Welt taucht und sich dem aussetzt, was er erzählt."
Das, was sich zwischen Rafa und mir abspielt, scheint Constri und Rikka sehr zu beschäftigen. Im "Elizium" alberten sie herum wie Schulkinder.
"Endlich kommst du unter die Haube", neckte mich Rikka. "Die Haube wartet schon."
Rikka und Constri sind Mitte zwanzig, und ich finde es etwas peinlich, daß sie sich in diesem Alter noch auf einer solchen Ebene bewegen müssen.
Auf dem fast leeren Tanzboden des "Elizium" gingen Rafa und ich uns lächelnd entgegen. Ich hängte meine Arme über seine Schultern. Die Kassetten hatte er wieder nicht dabei und den Sampler auch nicht. Angeblich hat er so wenig Zeit ... und vergessen kann er auch einmal etwas ...
Im "Elizium" werden zur Zeit dauernd Rafas Stücke gespielt. Er muß den DJ's ganz schön auf die Nerven fallen.
Als ich zu dem schnellen "Thieves" von Ministry tanzte, setzte Rafa sich hinter mir auf die Heizung. Ein Bein zog er hoch. Ich stützte mich auf seine Fessel, um nicht hintenüber zu kippen. Auf der Tanzfläche war es ziemlich eng geworden. Rafa spielte mit meiner Taille. Mein Arm legte sich wieder um seine Schultern. Nach dem Tanzen ließ ich mich neben ihm auf die Heizung fallen. Ich war aus dem Gleichgewicht geraten und brauchte das nicht einmal zu verbergen.
"Valeria fand 'Dracula' beeindruckend", erzählte ich. "Ich fand ihn kitschig."
"Hopkins als Van Helsing kam ätzend."
"Wie kannst du ohne Fangzähne beißen?"
"Wirst du sehen."
"Zeig' mir deine Fangzähne."
Rafa zögert und sagt schließlich:
"Ich kann's ohne."
"Zeig' mir, wie."
"Mensch, du sollst das nicht sehen, du sollst das fühlen", sagt er geheimnisvoll. "Das ist geil, wenn ich dich beiße."
"Du bist doch unsterblich?"
"Ich hoff's."
"Wo ist dein Grab?"
"Auf dem Friedhof in SHG. Ich bin seit dreihundert Jahren tot."
"Dann gab es dich in deiner Familie gar nicht als Kind."
"Wir sind umgezogen, dabei bin ich ausgetauscht und adoptiert worden", behauptet er. "Keiner hat was gemerkt. Das auf meinen Kinderfotos, das bin nicht ich. Ich sehe dem ähnlich, sicher, aber dieser Junge mit den weißblonden Haaren ... das bin nicht ich. Ich zeig' dir die Fotos mal."
"Zeig' mir die mal. - Wie willst du mir die denn zeigen?"
"Ich wollte dich doch besuchen."
"Wann denn?"
"Nach dem 02. April."
"So, so."
"Du kriegst alles", verspricht Rafa. "Zeit spielt keine Rolle."
Für einen Augenblick sitzen wir schweigend da.
"Du hast doch schon so einige gebissen", fahre ich fort mit dem Interview. "Sind die auch unsterblich?"
"Wahrscheinlich."
"Dann hast du die ja auch alle unter die Erde gebracht."
"Nein! Dreimal", sagt Rafa und streckt drei Finger aus. "Dreimal muß ich beißen, dann wird man unsterblich."
"Wie oft brauchst du Blut?"
"Selten."
"In Abständen von wievielen Jahren?"
"Es ist wie ... ein sexuelles Bedürfnis."
"In Abständen von wievielen Jahren?"
"Wie oft verliebst du dich in ... sagen wir ... zehn Jahren?" fragt Rafa.
"Einmal", antworte ich wahrheitsgemäß.
"Ich mich einmal in hundert Jahren", erwidert er, der mir nicht zu glauben scheint. "Wer war dein Letzter?"
"Mein Friseur. Er ist leider vom anderen Ufer."
Als ich wieder in die Ecke gegangen bin, wo meine Freunde und Bekannten stehen, klärt Talis mich auf:
"Du hast dich eben mit unserem Todfeind unterhalten. Mit dem hätten Kuhn und ich uns einmal fast geprügelt. Er tanzt da so auf der Tanzfläche 'rum, so 'die Tanzfläche ist meine', und rempelt uns da so voll an. Und du kennst Kuhn! Der ist auf den los. Na, das Stirnband hat er erbeutet. Seitdem haben wir den gefressen."
"Nun ... ich kann über deinen Todfeind noch nicht urteilen", sage ich dazu. "Ich kenne ihn kaum."
"Das mit der Tanzfläche ist auch schon über ein Jahr her. Vielleicht hat er sich inzwischen geändert?"
Der "Todfeind" kommt die Treppe herunter. Das Gespräch geht weiter. Es wird unterbrochen von Umarmungen und von Rafas eigenartigen Blicken, die er mir zuwirft, wenn er auf eine Frage nicht antworten will.
"Was guckst du?" frage ich dann.
"Ich gucke", kommt es jedesmal von Rafa.
Ich wiederhole seine Behauptung:
"Du bist schon dreihundert Jahre tot."
"Ich bin nicht tot", entgegnet er.
"Eben hast du gesagt, du wärst es. Du widersprichst dir."
"Stimmt, ich widerspreche mir."
"Und wie soll ich wissen, was die Wahrheit ist?"
"Das mußt du raten."
"Dann bist du ein Puzzle, das man zusammensetzen muß", folgere ich.
Rafa guckt.
"Die Vampirin, die dich gebissen hat, hat die vor dreihundert Jahren schon gelebt?" erkundige ich mich.
"Die war das nicht", meint er. "Das war ein Vampir. Ich war früher schwul."
"Das wollte ich dich überhaupt fragen. Beißt du nur Frauen oder auch Männer?"
Rafa schweigt und zögert und schweigt.
"Erst Männer, dann Frauen", sagt er schließlich.
Er will seine Opfer nicht als Opfer verstanden wissen, auch nicht als Kunden. Er bezeichnet sie als "Geliebte". Will er mich zu einer von diesen "Geliebten" machen?
"Ich habe Zeit", sagt er unvermittelt.
"Ich auch", meine ich.
"Zeit spielt keine Rolle."
Wenn mir jemand zusichern könnte, daß ich Rafa bekommen und nie mehr verlieren soll, dann hätte ich tatsächlich Zeit. Dann könnte ich abwarten, weil es für mich einen Sinn ergeben würde. Nur sieht die Wirklichkeit anders aus. Und die Zeit ist nicht nur mein Freund, sie ist auch mein Feind.
"Die Zeit ist für mich ein Auto, an dem ich mit einem Strick angebunden bin, den ich nicht durchschneiden kann", fasse ich es in Bilder. "Und das Auto fährt. Und es schleift mich mit. Die Zeit vergeht schneller, als ich leben kann."
"Wird Zeit, daß einer den Strick durchschneidet", spricht Rafa mir aus der Seele. "Woher kommt eigentlich dein Verhältnis zur Zeit?"
"Es ist ein Programm auf der Festplatte."
"Ist das erst draufgekommen, oder war das von vornherein da?"
"Teils, teils."
Ich möchte ihm erklären, was ich mit ihm anstelle:
"Ich zerlege alle Menschen. Ich will alle durchschauen. Ich durchschaue mich selbst nicht richtig."
"Einer muß es ja machen."
"Es ist nicht einfach, mich zu durchschauen. Man muß sich für mich interessieren. Interessierst du dich für mich?"
"Ja."
"Man muß es wollen."
"Man muß die Motivation haben; ohne die läuft nichts", bestätigt Rafa.
Er bleibt noch kurz neben mir stehen, dann geht er fort. Als ich nach einer Weile von der Tanzfläche komme, sehe ich ihn auf der Treppe sitzen. Ich stelle mich zu ihm. Ich bin eingeklemmt zwischen ihm und dem Geländer, an dem ich mich festhalte.
"Trägst du deine Uhr immer nach innen?" möchte ich wissen.
"Ja", antwortet er. "Du weißt, was das für eine Uhr ..."
"Ja, ich weiß."
Als wieder einmal "Fade to Grey" von Visage gespielt wird, sagt Rafa:
"Das Lied ist schick."
"Tanz'!"
"Nein ... ich sitze jetzt hier."
"Dann tanzen wir beide", schlage ich vor.
Er entgegnet etwas, spricht aber sehr undeutlich.
"Was ist?" frage ich nach.
"Ist egal", meint er und sieht weg.
"Ist nicht egal."
Er zögert. Dann wendet er sich mir wieder zu.
"Ich bleibe lieber hier", gesteht er. "Da bin ich dir näher."
"Stimmt. Hier ist man sich näher als auf der Tanzfläche."
Ich erzähle vom Tanzen:
"Tanzen ist einer meiner Lebensinhalte. Die Musik muß dabei wie Beton sein, möglichst kalt, hart und düster."
"Wie du von außen", sagt Rafa.
"Richtig", nicke ich.
"Und wie bist du von innen?"
"Das Gegenteil."
"Hoffentlich", seufzt Rafa, der mir anscheinend mißtraut.
"Nicht hoffentlich", erwidere ich bestimmt. "Ich bin von innen das Gegenteil."
"Hoffentlich."
"Nicht hoffentlich. Ich bin so."
"Hoffentlich."
"Ich bin so. Nicht hoffentlich. - Kannst du eigentlich meinen Tanzstil interpretieren?"
Er nickt angedeutet.
"Totentanz", beschreibe ich. "Inferno. Tanzen ist ja einer meiner Lebensinhalte. Wenn mir jemand anbieten würde, zum Mond zu fliegen, würde ich nicht mitkommen, weil es da nicht die richtige Disco gibt."
"Ach, da machen wir einfach unsere eigene Disco auf."
"Die Leute würden fehlen."
"Die nehmen wir mit."
"Die können wir nicht alle mitnehmen und sie entwurzeln. Ich ziehe es vor, hierzubleiben."
Als ich Rafa erzähle, daß ich lieber ernste Gespräche führe, als nur herumzuschwatzen, zieht er als Folgeschluß:
"Und mit mir kann man kein ernstes Gespräch führen."
"Doch, man kann", erwidere ich. "Im 'Elizium' geht das aber nicht. Es liegt also am 'Elizium', nicht an dir. - Die Gespräche mit dir wurden interessant in genau dem Augenblick, in dem ich dir erzählt habe, was für Gespräche ich mit meinen Leuten so führe ... Hier stimmt die Atmosphäre nicht. In SHG. stimmte sie. Hier kann man 'rumtalken', wie du es nennst. Man kann kein ernstes Gespräch führen."
"Richtig", bestätigt er. "Ich will dich ja besuchen. Können wir das auf einen Freitag legen?"
"Ja. Auf welchen Freitag?"
"Das sage ich dir noch rechtzeitig. Können wir das von vornherein so festlegen, daß ich die Nacht bei dir verbringe?"
"Ja, können wir", bin ich einverstanden. "Ich war ja damals auch über Nacht da. Wirklich, ich verpasse nie Züge."
Rafa steht auf. Ich gehe mit ihm zum Fuß der Treppe.
"Ich wollte die Nacht mit dir verbringen, deshalb habe ich alle Uhren vorgestellt", behauptet er.
"Nach."
"Vor."
"Nach."
"Vor."
"Es war nett von dir, mir die Gästematratze zu geben", sage ich dankbar.
"Es war nicht nett, es war selbst-ver-ständ-lich", regt Rafa sich auf über die bloße Vorstellung von Ungastlichkeit. "Das wäre ja ... wenn ... also ..."
Er kann sich kaum beruhigen.
Nach einer Weile sagt er in den Raum hinein:
"Es war ein sicherer Schlaf."
"Was hätte dir denn passieren können ohne mich?"
"Da hätten Dämonen kommen können", meint er. "Einbrecher ... Vergewaltiger ..."
"Weshalb hätte ich dich davor schützen können?"
"Warum nicht?"
"Hattest du schon öfter nachts Besuch von Dämonen und so?"
"Ja ... du weißt doch ... die Alpträume ..."
"Was hat dich eigentlich dazu gebracht, mir im Januar ein frohes neues Jahr zu wünschen?" will ich endlich wissen.
Rafa legt einen Finger auf den Mund.
"Was heißt das?" frage ich.
"Scht."
Die Welt des "Elizium" kenne ich bisher nur von außen, obwohl ich schon so oft dagewesen bin. Das hängt damit zusammen, daß ich dort nur wenige Leute kenne. Rafa hingegen scheint alle Cliquen zu kennen und teilweise auch unter Kontrolle zu haben.
"Ist es so, daß man im 'Elizium' keine besonders hohe Meinung von mir hat?" frage ich ihn in der Hoffnung, daß er mir etwas über das Wesen der vielen fremden Leute erzählt.
"Die Leute, die ich kenne, haben von dir gar keine Meinung, weil sie dich nicht kennen", antwortet er. "Das wäre doch sonst ... das geht doch gar nicht."
"Es wären Vorurteile."
Rafa nickt.
Merle, die im Kaufhaus als Kantinenfee arbeitet, bringt mir eine Kleinigkeit zu essen. Ich frage Rafa, ob er als Vampir Sonnenlicht und Essen verträgt.
"Essen ja", ist die Antwort. "Sonnenlicht kann ich nicht ab."
"Ich muß draußen immer eine Sonnenbrille tragen, wenn es hell ist."
"Warte mal ...", sagt Rafa. "Ein Griff. Ein Griff."
Er langt in seine Tasche und zieht eine Sonnenbrille heraus.
"Du auch?" staune ich.
"Ich auch. Bei Sonnenlicht tränen mir die Augen, und das tut voll weh und ..."
"Ich seh' dann nichts mehr ..."
Die Brille hat eine Metallfassung und runde Gläser. Ich mag solche Brillen nicht besonders, weil der Sockenschuß auch so eine hat. Ich habe eine Sonnenbrille im Stil der fünfziger Jahre, deren Fassung mit Straßsteinen besetzt ist. Adi findet, daß ich unnahbar wirke, wenn ich damit herumlaufe.
"Wie ist das eigentlich", frage ich Rafa weiter aus, "du verknallst dich doch alle hundert Jahre ... waren das dann Männer oder Frauen, in die du dich verknallt hast?"
"Das Erste war ein Mann, das andere Frauen."
"Und du bist fünfzehn."
"Fünfzehn."
"Und welches Alter steht auf deinem Perso?"
Rafa zieht seinen Personalausweis hervor, hält ihn aber zu.
"Nun zeig' schon", fordere ich ihn auf.
"Aber erstmal nur das Bild", sagt er.
Er hält den Ausweis halb zu. Ich sehe ein kindliches Gesicht und aufgetürmte Haare. Ich greife nach dem Ausweis. Rafa läßt ihn hinter seinem Rücken verschwinden. Ich hasche nach seinen Händen und fasse schließlich eine; darin hält er nur einen Zwanzigmarkschein, und der Personalausweis ist fort.
"Sag' mal ... wie konnte das mit Luisa eigentlich zuendegehen?" stelle ich ihm eine Frage, die mich schon lange beschäftigt.
"Soll ich dir das sagen?" ist er unsicher.
"Ja."
"Soll ich dir das wirklich sagen?"
"Ja."
"Also", beginnt er. "Das war so. Ihr Vater ist früh abgehauen, da war sie noch ganz klein. Und ich sollte ihr den Vater ersetzen. Die Verantwortung wollte ich nicht übernehmen."
"Du wolltest die Verantwortung nicht übernehmen."
"Die Verantwortung war mir zu groß. Die wollte ich nicht übernehmen."
"Das klingt schlüssig", sage ich zögernd und denke bei mir:
"Er mag eine überlegte Entscheidung getroffen haben. Aber zu jeder Beziehung gehört eine große Verantwortung. Wenn zwei Menschen sich viel bedeuten, können sie sich gegenseitig auch besonders schlimm verletzen. Einer hält das Wohlergehen des anderen in der Hand. Wenn Rafa Verantwortung scheut, ist er nicht beziehungsfähig."
"Und wie konnte das mit Inya zuendegehen?" möchte ich als Nächstes wissen.
"Ich dachte erst, der Altersunterschied wär's", antwortet Rafa sogleich. "Aber der war es nicht. So viel sind wir ja auch nicht auseinander. Sie hatte aber so lange alleine gelebt, da war in ihrer Welt für mich kein Platz mehr. Sicher - sie braucht einen. Aber ich konnte das nicht sein."
"Auch das klingt schlüssig ..."
"Sicher. Ich bin nicht so ein ... denk' nicht, ich sei ... Ich meine - auch diesmal habe ich Schluß gemacht", gesteht er.
"Vielleicht hat immer er Schluß gemacht", denke ich. "Vielleicht gehört es zu seinen Grundsätzen, stets derjenige zu sein, der Schluß macht. Vielleicht achtet er sorgsam darauf, nie so viel für jemanden zu empfinden, daß er nicht mehr Schluß machen kann. Vielleicht ist er imstande, seine Gefühle zu unterdrücken und abzutöten."
"Ich finde es wichtig, das zu wissen mit deinen ehemaligen Freundinnen", sage ich. "Ich erfahre so etwas über die Konstanz deiner Gefühle."
"Gefühle sind nicht konstant. Sie verändern sich dauernd."
Die Antwort erscheint mir ausweichend.
Ich frage Rafa, ob er weiter mit mir um eine Ecke kommen kann.
"Ich will nicht immer, wenn ich dich ansehe, diesen widerlichen Sockenschuß mit ansehen, der da hinten steht", erkläre ich. "So. Jetzt kann ich dich in Ruhe ansehen."
"Bist du eigentlich nächsten Samstag auch im 'Elizium'?"
"Sicher."
"Das ist gut", freut sich Rafa. "Es baut mich nämlich jedesmal voll auf. Wir reden da so ganz anders ..."
"Mir geht es ähnlich. Allerdings kann ich auch mit meinen Freunden sehr schöne persönliche Gespräche führen."
"Das meine ich nicht ... ich habe auch Freunde ... dies hier ist etwas ganz anderes."
"Stimmt. Für mich ist es wie ein Stein in einem Mosaik, der bisher fehlte."
"Für mich ist das nochmal anders", sagt er. "Wie ist die Mehrzahl von 'Mosaik'?"
"'Mosaiken'."
"Du paßt in keins von den Mosaiken in mir; du bist ein Mosaik, das bisher noch gar nicht da war."
Ich ziehe ihn oft am Kragen. Mein Mund ist dicht an seinem, während wir miteinander sprechen. Umarmung folgt auf Umarmung. Es sind vorsichtige Umarmungen.
"Immer küssen wir uns fast", denke ich. "Vielleicht wagt er es nicht, mich zu küssen."
In seinen Kleidern hängt immer ein Geruch nach Patchouli; ich glaube doch, es ist Patchouli. Der seltsame Geruch bleibt an mir und in mir, auch später, als Rafa längst fort ist. Er läßt mir etwas da, das mich mit ihm verbindet. Ich kann ihn nicht mehr vergessen. Mir fällt ein, daß man sagt, "die Chemie stimmt", wenn zwei Menschen sich gefunden haben.
"Du meinst, Zeit spielt für dich keine Rolle", komme ich auf Rafas frühere Äußerung zurück. "Warum hast du dann immer deine Uhr um? Das ist paradox."
"Ich trage die Uhr aus einem anderen Grund. Den müßtest du eigentlich kennen."
"Ich kenne ihn."
"Es ist ein Erinnerungsstück."
"Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Du kannst mich abfragen."
"Lieber nicht."
"Es gibt Sachen, die vergesse ich nicht", sage ich ernst. "Und ich habe nichts vergessen."
"Das will ich erwartet haben."
"Warte ab, was ich noch alles so von dir erwarte."
"In welcher Hinsicht?"
"In Sachen Merkfähigkeit."
"Ich merke mir alles", behauptet er. "Ich merke mir jeden Pinselstrich an dem Bild von dir."
"Wie deutlich ist das denn schon?"
"Die Linien, die ich habe, sind deutlich. Es könnte nur noch mehr Farbe 'rein. Die Zwischenräume müssen noch ausgefüllt werden."
"Dann mach' mal so weiter. Irgendwann mußt du dann die Karten auf den Tisch legen und mir sagen, was du von mir hältst."
"Wenn wir uns weiter so schnell näherkommen, kann es eigentlich nur immer besser werden", sagt Rafa mit einer Zuversicht, die ich unangebracht finde.
"Du machst mich wirklich neugierig", gestehe ich. "Du sprichst eine Bildersprache. Ich setze sie um. Ich übersetze sie nicht; ich glaube, das kann man nicht. Ich arbeite damit."
Rafa schaut zu Constri hinüber.
"Deine Schwester ... ist die eigentlich älter als du oder jünger?" fragt er.
"Jünger. Aber nur ein Jahr."
Rafas Abschiedsumarmung ist schon etwas inniger als die vorangegangenen. Ehe er heimfährt, geht er noch einmal zum DJ hinauf. Ich setze mich neben Constri aufs Podest, dicht bei der Treppe. Als Rafa herunterkommt, streift er von hinten an mir entlang und küßt meine Halsbeuge. Er sieht sich aber nicht mehr um und entfernt sich rasch.
"Hier, hast du das eben mitgekriegt?" frage ich Constri.
Sie hat.
Während ich die zärtlich getönte Unterhaltung mit Rafa führte, führte Constri ein trübes Gespräch mit Derek. Nach Constris vorsichtiger Befragung meinte Derek, es sei ihm egal, ob er lebe oder tot sei.
"Und ... deine Freunde, was sollen die sagen?" gab sie zu Bedenken.
"Ich habe keine Freunde."
"Und Lenni?"
"Das ist auch keiner."
"Wie sollte ein Freund denn sein?"
"Das weiß ich nicht", sagte Derek. "Ich hatte noch nie einen."
Angeblich ist seine Hifi-Anlage das Einzige, was ihn am Leben hängen läßt.
"Er meint, wenn man ihn begräbt, müßte man ihm nur seine Anlage mit in den Sarg geben, und er wäre zufrieden", erzählte mir Constri. "Ich meine, wenn einer so redet, dann ist der schwer depressiv."
Derek warf uns vor, wir fänden es lustig, wenn einer sich umbringen wolle.
"Nein", widersprach Constri bestimmt. "Wir finden es nur merkwürdig, wenn einer behauptet, er sei vor einem Selbstmordversuch nicht verzweifelt gewesen."
Laut Derek hatte sein Versuch damals einen sachlichen Grund. Ihm fehlte eine Bleibe, und ihm fehlte Geld. Auch Constri und ich sind einmal ohne Bleibe und ohne Geld gewesen. An Selbstmord haben wir deswegen nie gedacht.
So ganz ohne Bedeutung können andere Menschen für Derek allerdings nicht sein. Unsere Gesellschaft im "Elizium" lenke ihn angenehm ab, findet er. Nur halte das nicht lange vor.
Übrigens hat Derek nicht nur selbstzerstörerische Neigungen, sondern auch fremdzerstörerische. Einstmals hat er mit seinen Kumpanen ein Zugabteil demoliert.
"Wie habt ihr die Sitze denn da 'rausgekriegt?" wollte ich wissen. "Die sind doch festgemacht."
"Das war ein Eilzug ... Raucherabteil. Das sind nur zwölf Bänke. Die haben wir mit den Händen herausgerissen. Wir haben die Sitzflächen weggebrochen und die Vorhänge abgerissen. Die Sitze gehen ab, wenn man die nach oben haut. Die Ohrenlehnen kann man wegtreten. Wir haben das alles aus dem Fenster geworfen. Als der Schaffner kam, war das Abteil nackt. He, dafür hab' ich auch eine Woche im Jugendknast gesessen."
Constri meinte dazu:
"Der ist echt kaputt, der Derek."
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Am Samstag war im "Elizium" von Rafa und seinen Leuten nichts zu sehen. Derek war da, weniger niedergeschlagen als sonst. Cilly saß auf einer Bank, Toros Kopf im Schoß. Ein Junge mit schwarz gefärbter Strahlenkranzfrisur, der Sasch heißt, trug seine Freundin Hennike durch den Tanzraum. Und ich hatte ihn immer noch nicht, den Mann, der seinen Kopf auf meinen Schoß kuschelt und mich herumträgt ...
Wenigstens brauchte ich mir nicht den Vorwurf zu machen, nicht hübsch genug aufgeputzt zu sein. Ich trug ein "Kleines Schwarzes" aus dem Second-Hand-Geschäft "Ehemals". Es hat eine hohe Taille und einen Rock aus Samt. Das Oberteil ist ganz aus schwarzer Spitze und bis auf die Ärmel mit Taft hinterlegt. Passend zum Kleid trug ich eine Haarschleife und Schnürbänder aus schwarzer Spitze.
"Was hast denn du da Niedliches an?" fragte Constri, als sie mich in dem Kleid sah. "Das paßt zu dir. Das sieht so puppenhaft aus."
Gegen halb drei wurde es leer im "Elizium". Jemand faßte nach meinem Rücken. Ich drehte mich um und sah ein vertrautes Geschöpf. Es stand schweigend vor mir.
"Sag' mal ...", staunte ich.
Ich griff unter seine Schulterklappen und zog daran.
"... bist du echt?" fragte ich. "Oder aus Plastik?"
"Echt."
"Ich habe nicht mehr mit dir gerechnet. Warum kommst du jetzt erst? Wo warst du?"
"Hm."
"Irgendwo zwischen Zeit und Raum?"
"Hm."
"Wie war die Woche?"
"Stressig", erzählt Rafa, der Übeltäter. "Ich habe viel Musik gemacht."
"Bist du in Arbeit ertrunken?"
"Ich habe für die Arbeit getrunken."
"Jetzt bist du hier; das ist in Ordnung."
Ich versuche, Rafas Züge zu deuten. Das Gesicht ist ungeschminkt, und dunkle Haarsträhnen hängen hinein. Der blonde Pony ist wieder überfärbt.
Ich schiebe meine Hand unter eine Schulterklappe und lasse sie dort, ohne Rafa weiter anzusehen - gerade so, als hielte ich ein Tier am Halsband. Die Behandlung scheint ihm nicht zu gefallen. Er geht woanders hin.
Als "Der Zauberstab" von Zaza kommt, rennt Rafa zur Tanzfläche. Das Stück hat einen Text, den ich als ekelerregend und entwürdigend empfinde.
"Deine Beine sind grade wie für mich gemacht", heißt es darin. "Alles an dir ist reiner Sex. Wenn ich dich kriege, zeigt dir mein Zauberstab die Liebe."
In diesem Stil hat auch der Sockenschuß geredet, als er mir schmeicheln wollte. Ich beschloß damals, mir weder von ihm etwas zeigen zu lassen noch ihm etwas zu zeigen.
Als eine ähnliche Geschmacklosigkeit läuft und Rafa wieder tanzen will, frage ich ihn:
"Hast du das etwa verbrochen?"
"Nein, das ist nicht von mir."
Ich stelle mich hinter ihn und schaue ihm beim Tanzen zu.
"Eigentlich ist er nichts Besonderes", denke ich. "Er ist nicht mehr als einer von Vielen."
Rafas Coverversion von "Ganz in Weiß" beginnt. Ich tanze ihm gegenüber und kann sein Gesicht sehen.
"Nein", denke ich jetzt, "er ist nicht einer von Vielen. Das Gesicht. Er hat dieses Gesicht, das Gesicht."
Rafa erzählt von der CD, die er herausbringen möchte. Ein Instrumentalstück läuft. Dolf sagt zu mir:
"Hier, das ist Rafa. Warum Kappa das jetzt spielt, weiß ich nicht. Das sollte eigentlich gar nicht ... das war gar nicht geplant, daß er das ..."
Rafa sagt, dies sei "Schneemann", sein Industrial-Stück.
"So richtig nach Industrial klingt das nicht", urteile ich.
"Ich hatte Samples, die konnte ich nicht in andere Stücke einbauen, da habe ich ein Stück gemacht nur mit den Samples, und das ist das", erklärt er.
"Wo warst du denn nun eigentlich vorhin?" will ich wissen.
"Im 'Limited'."
"Gut?"
"Gut."
Weshalb er nicht im "Limited" geblieben sei, wenn es so gut war?
Da sei eben am Schluß nichts mehr losgewesen. Die machten immer sehr früh zu.
"Hast du die Tapes mit?" frage ich wieder einmal.
"Nein", antwortet Rafa. "Wir haben uns sehr kurzfristig entschlossen, noch ins 'Elizium' zu fahren."
"Kurzfristig?" wiederhole ich aufgebracht. "Letzte Woche wolltest du noch wissen, ob ich denn auch komme, und dann bist du selber nicht da!"
"Ich bin da", sagt er ungehalten. "Ist das genug?"
"Weshalb wart ihr überhaupt im 'Limited'?"
"Wir hatten das kurzfristig ausgemacht."
"Stand das 'Elizium' nicht schon eher fest?"
"Das stand nicht fest", behauptet Rafa. "Ich habe dich nur gefragt, ob du da bist."
"Und bist dann selber nicht da."
"Ich bin da. Ja? Ich bin da. Alles andere ist egal."
"Ach, zeig' mir doch nochmal deinen Personalausweis", bitte ich Rafa. "Das war letztes Mal so lustig."
Er geht nicht darauf ein. Er macht große Telleraugen, redet dann mit Dolf und mit seinen anderen Leuten und ist eine ganze Weile nicht zu sehen. Wie ich dieses Verhalten einordnen soll, weiß ich nicht. Schließlich kommt Rafa wieder zur Treppe.
"Du hattest doch gesagt, du wolltest mich an einem Freitag besuchen", erinnere ich ihn.
"Ja."
"Welchen Freitag willst du, den ersten nach dem 02.04. oder den zweiten nach dem 02.04.?"
"Das sage ich dir noch rechtzeitig, wann ich komme."
"Ich möchte es jetzt schon in meinen Kalender schreiben, weil ich Monate vorher plane", erkläre ich. "Ich bin außerdem nächstes Wochenende im 'Helix'; da wollte ich das vorher klarmachen."
"Ich sage dir schon rechtzeitig, wann ich komme."
"Rechtzeitig ist jetzt, weil ich jetzt plane."
"Ich besuche dich auf jeden Fall irgendwann", verspricht er. "Zeit spielt doch keine Rolle."
"Für mich spielt Zeit sehr wohl eine Rolle", entgegne ich. "Ich habe nur ein Leben, und das ist kurz. Ich will jeden Tag sinnvoll nutzen."
"Für mich spielt Zeit keine Rolle."
"Freilich, du bist ja auch unsterblich. Ich bin es aber nicht."
Rafa schaut mich fortwährend an und grinst.
"Was hat das zu bedeuten, wenn du mich angrinst?" möchte ich wissen.
Rafa schweigt und grinst.
"Nun sag' schon", dränge ich.
"Das kann mehrere Bedeutungen haben", antwortet er geheimnisvoll.
"Und die wären?"
Ich zeige mit den Fingern "eins".
"Ich finde dich lächerlich", sagt er.
Ich zeige "zwei". Er sagt:
"Ich liebe dich."
Ich zeige "drei". Er sagt:
"Es geht mir gut."
Ich zeige "vier". Er sagt:
"Ich habe zuviel getrunken."
"Und welche von diesen Bedeutungen gilt jetzt?" frage ich.
"Streng' deine Kreativität an", fordert Rafa mich auf und grinst weiter.
"Neun von zehn Fragen beantwortest du mir nicht", werfe ich ihm vor.
"Was fragst du auch nur soviel?" gibt er zurück.
"Ich will dich analysieren, um dich einordnen zu können", begründe ich mein Verhalten. "So, wie ich dich jetzt sehe, bist du nicht mehr als eine Plastikpuppe. Du bist nur eine Hülle. Damit kann ich nichts anfangen. Ich will das Innere kennen."
"Was willst du? Willst du in die Kiste sehen, die offen ist? Oder willst du in die Kiste sehen, die verschlossen ist?"
"In die, die verschlossen ist."
"Na, eben."
Rafa grinst.
"Welchen Freitag?" frage ich.
"Laß' das doch auf dich zukommen."
"Du bist ein Mensch, der immer um den heißen Brei redet. Mach' doch mal Nägel mit Köpfen."
"Ich mach' Nägel mit Köpfen", meint er. "Wenn ich sage, ich komme, komme ich."
"Das ist nicht richtig. Erst hast du gemeint, nach dem 19. Februar. Dann hast du gesagt, nach dem 02. April."
"Nach dem 19. Februar hätte jeder Tag nach dem 19. Februar sein können, auch in fünf Jahren."
"Wenn einer sagt, er kommt, und er kommt nicht, ist der ganz schnell bei mir unten durch."
"Wenn ich sage, dann und dann komme ich, komme ich hundertprozentig."
"Das hoffe ich. Ich baue nicht gern auf Sand."
"Alles willst du so genau wissen", beschwert er sich. "Laß' mich doch so, wie ich bin."
"Wenn du mir völlig gleichgültig wärst, könnte ich das auch; dann wäre es mir egal. Ich will dich einordnen können. Ich kenne dich nicht. Auch du kennst mich nicht. Es geht mir auf den Geist, wenn ich nicht weiß, woran ich mit dir bin. Die Tapes wolltest du mir auch schon mehrmals mitbringen und hast es nicht getan."
"Die bringe ich dir nächsten Samstag mit."
"Da bin ich im 'Helix'", erinnere ich ihn. "Ich bin erst am 20. März wieder hier."
"Du wirst doch wohl noch eine Woche länger ohne die Tapes auskommen."
"Das ist doch nicht das. Ich will wissen, wie du zu mir stehst."
"Das ist eine von den neun Fragen."
"Du redest dich immer heraus. Du kommst nie auf den Punkt. Du weichst aus."
"Laß' doch den Dingen ihren natürlichen emotionalen Verlauf", empfiehlt Rafa.
"Das kann ich nicht", sage ich eindringlich. "Es geht mir auf die Nerven, wenn ich nicht bescheid weiß. Ich habe nur ein Nervenkostüm, das kann ich nicht eben mal auswechseln. Es ist für mich auch eine Frage des Selbsterhaltungstriebs. Ich muß da an mich denken."
"Du bist nicht sehr geduldig, nicht?"
"Nein. Ich war bei anderen Leuten schon zu geduldig."
"Ich bin nicht andere Leute!" verwahrt er sich gegen derlei Vergleiche.
"Jetzt, was hat das Grinsen zu bedeuten?" frage ich noch einmal, nun ziemlich aufgebracht.
"Ich bin ein trockenes Brötchen, wa'?" fragt Rafa strahlend, voller Stolz.
"Trocken, hart und ungenießbar", bestätige ich. "Gefällst du dir in der Rolle des harten, trockenen, ungenießbaren Brötchens?"
"Das ist keine Rolle."
"Ach, das bist du."
"Also, der erste oder zweite Freitag nach dem 02. April ...", weicht er aus zu einem älteren Thema.
Als Rafa sich kurz darauf verabschiedet, mit Händedruck und vorsichtiger Umarmung, hat er anscheinend noch immer nicht begriffen, daß ich am nächsten Samstag nicht im "Elizium" sein werde. Ich rufe es ihm noch einmal ins Gedächtnis.
"Vielleicht ... rufe ich dich diese Woche mal an", sagt er.
Ich lege ihm meine Hände auf die Schultern.
"Hoffentlich tust du das nur auch wirklich."
"Ich sage, wenn ich in der Woche Zeit habe, rufe ich dich mal an."
"Kommst du am 20.?" frage ich.
Er nickt.
Im "Trauma" tanze ich an diesem Morgen vier Stunden lang fast ununterbrochen zu härtestem Hardcore-Techno. Zu den wildesten Stücken zählen "Sonar System - Speedy J. Mix" von Meng Syndicate, "Quest" von Sonic Solution, "99,9" von Koenig Cylinders, "White Girls on Dope" von Morpheus, "Star Dancer" von Red Planet und ein offenbar titelloses Stück aus Rotterdam.
"Rotterdam ...", sagt jemand in dem Stück. "Rotterdam ..."
Man hört ein helles elektronisches Geräusch, das sich wiederholt. Dazu kommt ein dumpfes, sehr schnelles Hämmern.
Nur selten erscheinen diese Sachen auf CD; meistens gibt es sie lediglich als streng limitierte Vinylplatten. Ich finde es schade, daß solche außergewöhnlichen Klang- und Rhythmuskunstwerke untergehen müssen in den Fluten der Veröffentlichungen, die zum größten Teil alles andere als anspruchsvoll sind.
"Rotterdam ... Rotterdam ...", dröhnt es durch den Tanzraum.
Rafas Gesicht, das Grinsen, das er mir zum Abschied herübergeworfen hat - ein Versprechen oder ein Scheinversprechen?
Er will sich auf nichts festlegen lassen. Dadurch entzieht er sich der Verantwortung für sein Denken und Handeln. Ich suche aber einen Menschen, der sich nach einer großen Verantwortung sehnt. Solche Menschen erlebe ich als stark. Jemanden, der Verantwortung ablehnt, erlebe ich als schwach und mir unterlegen.
"Rafa will keine Nägel mit Köpfen machen, damit ich ihn auf nichts festnageln kann, denn ich bin für ihn ein Kreuz, das er nicht tragen will", denke ich.
Auf nach Golgatha.
Am Freitag langweilte ich mich in der "Fabrik". Der Techno, den sie dort spielen, ist mit zu weich und gefällig. Ich schlief im Stehen ein und träumte Folgendes:
Rafa hat die Taschen voller Geldscheine. Jedesmal, wenn er mich küssen will, bezahlt er an der Kasse im "Elizium" zehn Mark.
Ich bin gespannt darauf, inwiefern solche Träume mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Ich frage mich, was Rafa zu geben bereit ist um meinetwillen.
Als wir aus der "Fabrik" kamen und Ivo mich heimbrachte, schlug ich vor, noch einen Umweg über eine Großbaustelle zu machen. Ivo war einverstanden.
"Da! Ich wußte es!" rief ich, als wir neben der Baustelle hielten.
Mehrere Paletten Betonsteine lagen am Straßenrand. Ich nahm einen Gossenwürfel mit und einen halben hantelförmigen Pflasterstein, der einem "T" ähnelt. Der Pflasterstein dient nun als Kerzenständer. Auf dem Balken des "T" brenne ich Teelichte ab. Die flackernden Schatten und das unregelmäßige Grau des unebenen Betons bilden ein Gegenstück zu der kühlen, strengen Schlichtheit des Aufbaus. Für den Steinsetzer ist Beton ein Werkstoff, für mich bildet der Stein einen Altar. Ich will eine Last vor mich hinlegen und darauf etwas verbrennen, damit sie von mir genommen werde. Vielleicht ist ein solches Verhalten uns Menschen eigen, seit wir wissen, daß es den Tod gibt und daß wir von allem, was wir haben, Abschied nehmen müssen.
Am Samstag habe ich Folgendes geträumt:
Ich tauschte gründlich und vorgreifend mit Rafa die Rollen. Ich habe mit ihm das gemacht, was Henk einst mit mir gemacht hat: ich habe ihn vor den Kopf gestoßen.
Das Telefon klingelte. Constri ging hin.
"Issers? Issers?" fragte ich aufgekratzt und süchtig.
"Es ist Rafa", sagte Constri.
Ich griff nach dem Hörer.
"Ja?" meldete ich mich.
"Hi!" grüßte Rafa.
"Hi ... du, ich habe jetzt im Moment keine Zeit - bis später", heuchelte ich Bedauern und legte auf.
Ich wollte nur diese Stimme hören; um mehr ging es mir nicht. Erst längere Zeit danach wurde mir bewußt, daß mein Verhalten einen Menschen verletzen konnte.
Ich glaube, ich wollte ein "Quitt" zwischen Rafa und mir.
In Wirklichkeit bin ich zu solcher Fiesheit wahrscheinlich nur imstande, wenn ein Mensch für mich eine fragwürdige Bedeutung hat. Meine Bedeutung für Rafa scheint allerdings fragwürdig zu sein ...
Er "greift" nie wirklich "zu". Er "geht" nie "aufs Ganze". Holt er sich seine Befriedigung bei einer anderen, vielleicht auch einem anderen? Gibt es da jemanden, von dem ich nichts weiß?
Er hat mit Luisa ein schlimmes Spiel getrieben.
"Das ging hin und her", erzählte Carl. "Sie waren auseinander, dann wieder nicht, dann wieder auseinander, dann ist Rafa wieder zu ihr gekommen ..."
Ich frage mich, ob Rafa schon einmal auf Granit gebissen hat oder ob immer williges Fleisch für ihn da war.
"Der sieht gar nicht nach Vampir aus", findet Merle. "Der sieht ganz gewöhnlich aus. Der hat nichts Besonderes, Verführerisches. Und die Schminke wirkt auch gekünstelt."
Ich finde, Rafa ist etwas sehr Besonderes, ob er nun schlecht ist oder nicht. Seine Persönlichkeit ist ein Labyrinth, das mich dazu verführt, mich in ihm zu verlaufen. Nach und nach steige ich in Tiefen hinab, die sich mir öffnen wie fremde Welten. Ich forsche mit Begeisterung in diesem Menschen herum, ungeachtetdessen, was sich für mich daraus ergibt.
Meine Leute sind von Rafa weit weniger begeistert, dafür umso mehr von mir.
"Dich kann man nicht so durch die Gegend laufen lassen", sagte Merle. "Wir machen da noch was. Mit dir muß man Fotos machen ... eine Werbung für ein Parfum namens 'Vampire' ..."
Ich lasse mich gerne fotografieren, aber inzwischen ist es mir noch viel wichtiger, Rafa endlich fotografieren zu können. Ich hoffe, er läßt sich überhaupt von mir fotografieren. Wie er auch daherkommen mag - die Hauptsache ist, es handelt sich um ihn. Ich will ihn so fotografieren, daß das Eigentliche, das Wesentliche an ihm in den Vordergrund rückt, unabhängig von seiner Verkleidung.
Ivo weiß nicht, was ich für Rafa empfinde. Ich möchte es ihm auch nicht zu bald sagen; es ist mir lieber, wenn er mir unbefangen seine Lästerreden hält. Dadurch komme ich an mehr ungefilterte Informationen. Und Informationen hat Ivo; er bietet sie an wie ein fliegender Händler. Carl bezeichnet Ivo als "wandelnden Informationsträger". Ein Teil der Informationen sei in Ivos Kopf unter der Flat-Frisur gespeichert, ein Teil sei im Koffer aufbewahrt. Den Koffer hat Ivo immer dabei. Er enthält Flugzettel und CD's.
"Koffer und Mensch bilden eine Einheit", sagt Carl. "Immense Mengen an Information sind in der kleinen Gestalt untergebracht."
Ivo ist ungefähr so klein wie der zwergenhafte Dolf.
Am Samstagnachmittag kam Ivo, und wir fuhren zum Industrial-EBM-Tanz im "Helix" in OS. Cillys Freundin Valeria kam auch mit. Zuerst ging es nach Bad S., das auf dem Weg liegt. Dort wollten wir Ivos Freund Timo abholen. Während der Fahrt stellten Ivo und ich fest, daß wir über den Sockenschuß beide die gleiche Meinung haben:
"Der könnte eines Tages zum Mörder werden."
"Er läuft mit einem Messer herum", erzählte ich. "Letzten Sommer im 'Trauma' fiel ihm so ein längliches Ding auf die Tanzfläche - ein Klappmesser. Hastig hat er es wieder eingesteckt."
Es gibt noch mehr Leute, auf die es der Sockenschuß abgesehen hat. Zu ihnen gehört ein Mädchen namens Siddra.
"Der Sockenschuß hat genau heraus, wann jemand besonders labil ist", meinte Ivo. "Siddra war depressiv. Der Sockenschuß hat ihr eingeredet, sie müsse ins Hospital gehen und sich in die geschlossene Abteilung einweisen lassen. Da hat sie sich erstmal mit mir besprochen, weil sie mich schon lange kennt. Ich habe ihr gesagt, mach' das bloß nicht, der erzählt das allen und müßte selber in die Geschlossene. Da hat sie sich von ihm distanziert. Dann ist da noch Inya, die auch mal mit Rafa zusammen war. Sockenschuß hat behauptet, mit Inya zusammengewesen zu sein; das stimmte aber nicht. Sie war wohl mit dem befreundet, wollte den aber schon bald loswerden. Da waren auf einmal die Reifen von ihrem Auto zerstochen. Und das kann nur der gewesen sein. Ich sage, wenn eines Tages die Reifen von meinem Auto zerstochen sind, dann weiß ich, wer es war. Das kann dann nur der gewesen sein. Der ist dann dran. Ich hatte schon öfter Lust, den ins Jenseits zu befördern."
Ivo war ein halbes Jahr lang mit dem Sockenschuß befreundet.
"Der unmöglich benommen", erzählt er aus dieser Zeit. "Der hat in einem Plattenladen herumkrakeelt und laut über die CD's geschimpft, die die hatten. Und als ich ihm gesagt habe, daß ich zum Bund gehe, hat er mir prophezeit, daß ich in zwei Jahren die Alzheimersche Krankheit bekommen würde und daß die mich beim Bund fertigmachen würden. Als ich dem Sockenschuß eröffnet habe, daß ich vier Jahre draus mache, hat er geschrien, ich wäre ein potentieller Mörder. Er selber hat sich eine Geisteskrankheit bescheinigen lassen, um nicht zum Bund zu müssen."
Der Sockenschuß betrachtet sich selber nicht als geisteskrank, merkt aber wohl, daß seine Mitmenschen ihn dafür halten. Das hat er sich vermutlich zunutze machen wollen.
"Er ist mit gefälschtem Studentenausweis in einer Studentenbude untergekrochen", weiß Ivo. "Er zieht dauernd um, weil er überall wieder herausgeklagt wird."
In Bad S. wartet man schon auf uns.
Timo hat ein hellgrau eingerichtetes, sehr ordentliches kleines Zimmer voller Hard- und Software und Tonträger. Der Fernseher ist mit der Anlage verbunden. Es laufen die Videos zu dem Clock DVA-Album "Man-Amplified". Die Videos kenne ich von der Tour. Sie bestehen aus meditativen Computerbildern.
Die Sonne scheint durch einen weißgrauen Dunstvorhang. Die Luft ist mild. Vor dem Haus von Timos Eltern beginnt die Feldmark. Ich lege meinen Terminkalender auf die Fensterbank und schreibe den Traum hinein, in dem ich Rafa am Telefon vor den Kopf gestoßen habe.
Als es dunkel wird, empfangen uns Timos Freunde Rayko und Sorel in einem grau gestrichenen Kellerzimmer, wo Computer und Synthesizer stehen. Timo, Rayko, Sorel und Ivo verbindet das gemeinsame Musizieren.
Wir spielen ein makabres Computerspiel, in dem man sich in einen Rollstuhlfahrer hineinversetzen muß, der ein Hindernisrennen fährt. Während unserer Albereien habe ich zunehmend Aussetzer, in denen ich von Sehnsucht überwältigt in mir selbst versinke.
"Was is'?" fragt Ivo jedesmal.
Ich würde so abwesend dreinschauen, findet er.
"Das ist ein depressiver Anflug", behaupte ich.
Im "Helix" ist es nicht so lebendig und so gut besucht, wie es dort schon gewesen sein soll. Ich sitze wieder in mich selbst versunken am Tisch, und Valeria meint, so gut würde sie mich schon kennen, daß sie an meinem Gesichtsausdruck ablesen könne, daß der Abend nicht das halten würde, was ich mir davon versprochen hätte.
"Rafa", denke ich. "Rafa ..."
Wir bleiben nicht lange im "Helix", nur etwa bis halb drei. Das letzte Stück, zu dem ich tanze - und eines der wenigen - ist "Warm Leatherette" in der Version von Blok 57. Das lief auch früher im "Read Only Memory". Für mich ist es Teil einer Zeit, von der mich wenige Monate trennen und die doch schon in weiter Ferne liegt. Es war die Zeit, in der ich Rafa noch nicht kannte.
Obwohl Ivo und ich fast ausschließlich über Rafa sprechen, versucht Ivo gelegentlich auch, meine Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken. Er sucht gerne nach Gemeinsamkeiten zwischen uns. Die findet er in der von uns bevorzugten Musik und in unserem Sternzeichen.
"Und wir haben auch die Größe gemeinsam", ergänze ich zynisch. "Oder bist du nicht noch kleiner als ich?"
Auf der Rückfahrt ist Rafa wieder das Thema.
"Mit den Leuten aus SHG. bin ich fertig", sagt Ivo. "Ich kann diese Gesichter nicht mehr sehen. Dolf ist Rafas Lakai. Er redet ihm immer nach dem Mund. Und sobald einer Rafas Spiel durchschaut, macht Rafa mit dem kurzen Prozeß."
"Er plant", beschreibe ich. "Rafa verwendet oft Formulierungen wie 'ich werde' und 'es wird'. Er geht taktisch vor. Er macht sich die Leute für seine Zwecke dienlich und nutzt sie aus. Wenn er sie nicht mehr braucht, läßt er sie fallen. Mich will er ja beißen und mein Blut trinken. Alles Theater, alles Fassade ... Wenn da nicht bei unserem Gespräch in SHG. so ein Hauch von Menschlichkeit zu fühlen gewesen wäre ... und das nur, weil ich ihm erzählt habe, über was ich mit meinen Leuten so rede. Da wollte er wohl nicht zurückstehen ... und hat voll von ernsten Themen gesprochen, von dem Tod seines Vaters und so weiter. Ich finde, Rafa ist einer von den Kaputten. Sein Alter will er mir auch nicht verraten ..."
"Ich glaube, der hat Angst vorm Älterwerden."
"Ich glaube, der hat noch vor ganz anderen Sachen Angst - etwa vor der Wahrheit", vermutete ich. "Sonst würde er sich nicht so durchs Leben lügen. Er hat sich immerhin nach Kräften Feinde gemacht."
Ich widersprach Ivo entschieden, als er meinte, im Grunde sei Rafa genau wie der Sockenschuß.
"Also, hier hört es auf", sagte ich bestimmt. "Mit dem Sockenschuß kannst du Rafa wirklich nicht vergleichen. Der Sockenschuß ist widerlich. Rafa ist nicht widerlich. Der Sockenschuß ist aufdringlich. Das ist Rafa nicht. Der Sockenschuß ist ein Irrer. Rafa ist kein Irrer."
"Nein, Rafa ist kein Irrer", gab Ivo mir recht. "Trotzdem, mit Rafa habe ich nichts mehr zu tun. Der ist wirklich intrigant und hinterhältig. Er nutzt die Leute aus wie der Sockenschuß, nur sind die Modalitäten unterschiedlich: Sockenschuß macht es auf die primitive Tour, Rafa macht es auf die theatralische Tour. Ich weiß genug über Rafa Dawyne, genug, um von ihm nichts mehr wissen zu wollen. Er ist auch einer der Leute, die mitverantwortlich sind für die Lästeratmosphäre im 'Elizium'. Er schleimt sich bei den Leuten ein und spielt sie dann gegeneinander aus."
"Mit mir macht er's nicht", sagte ich überzeugt. "Ich will das Spiel nicht mit mir spielen lassen. Ich wollte dem vorgreifen. Ich habe Rafa gefragt, was er denn mit mir vorhat, und er hat nur ausweichende Antworten gehabt. Er hat gemeint, er sei ein trockenes Brötchen, wa'."
Ivo kicherte.
"Jaa, Rafa und die Mädchen", seufzte er. "Bei allen hat er's versucht. Es gibt keine, bei der er's nicht versucht hat."
Ivo weiß offenbar nicht, wie Rafas Nachname ausgesprochen wird. Immer sagt er "Davinne" statt "Devin". Das wundert mich, weil er doch mit Rafa gut befreundet gewesen sein will. Und Rafas Mutter meldet sich am Telefon mit dem Nachnamen.
Wahrscheinlich gibt es noch mehr Leute, die diesen Namen falsch aussprechen. Hat Rafa ihn deshalb für mich falsch auf den Zettel geschrieben, damit ich seinen Nachnamen von Anfang an richtig ausspreche?
Am frühen Sonntagmorgen brachte Ivo mich zum "Trauma". Dort war ausnahmsweise nichts los. Ich stand in dem kalten Tanzraum, weil ich nicht vor fünf Uhr durch die dunklen Straßen zur Bahn gehen wollte. Ich sah mich im Halbschlaf als Säule aus schwarzem Stein, gefüllt mit Blut, das oben herausschwappt. Ich hätte nur zu stürzen brauchen, und es wäre davongeflossen. Die Sehnsucht läßt mich starr, kalt, schwer und verletzbar werden. Sie kommt mich teuer zu stehen. Hoffentlich macht sie sich irgendwann bezahlt.
Ich will eine Last von meiner Seele wälzen und bekomme sie nicht recht zu fassen.
Ein Ausgehabend kann für mich gar nicht mehr fröhlich werden. Entweder ist Rafa nicht dabei - ich sollte erleichtert sein, quäle mich aber unter der Sehnsucht. Oder Rafa ist dabei - und mich quält die Tatsache, daß ich mit der Plastikfigur nichts anfangen kann. Mein Unterbewußtsein hat mich betrogen. Es hat mich verleimt mit einer Attrappe, der ich nun auf den Leim gehe, ohne das zu wollen. Mein Unterbewußtsein ist durch die andauernde Sehnsucht beeinträchtigt und baut Fehlschaltungen auf, die mich in Rafa einen liebenden Menschen sehen lassen. Vermutlich ist er eher eine gefühllose Puppe. Wer nicht treu sein kann, der kann nicht lieben, sagt ein Erfahrungswert.
Daran, daß Rafa mich besucht, glaube ich nicht mehr. Daß er mich anruft, glaube ich auch nicht. Ich glaube, daß er nie Sehnsucht nach mir hatte und daß es mit der Lust, die er auf mich gehabt hat, vorbei ist. Ich glaube, daß es am Samstag eine frostige Begrüßung gibt. Ich kann mir sogar vorstellen, daß Rafa gar nicht ins "Elizium" kommt.
Bei jedem meiner Leute finde ich einen höheren moralischen Anspruch als bei Rafa - und an Rafa binde ich mich, an einen der am übelsten beleumundeten Gäste des "Elizium". Mit jedem meiner Leute wäre ich besser gefahren. Aber meine Freunde sind nur als Freunde für mich geeignet. Ausgerechnet der hinterhältige, launenhafte Rafa besitzt jene verführerische Ausstrahlung, die meine Sinne reizt. Er geht auf mich zu, er faßt mich an, und ich verfalle ihm. Ich kann das nicht begreifen. Bin ich dazu verurteilt, Menschen zu begehren, die mich nicht verdient haben? Ich könnte an mir selbst zweifeln. Sicher - keinem einzigen von meinen Leuten traue ich die Stärke zu, die einer braucht, der sich mich auflädt. Auf Rafa würde ich auch nicht deshalb bedenkenlos alles abladen, weil ich ihn für stark halte. Ich halte ihn für sündig und finde es gerechtfertigt, ihn meinetwegen leiden zu lassen, was ich auch gerne so hätte. Ich glaube, er will mich ebenfalls quälen und tut das bereits auf eine hintergründige Art. Ihm gegenüber kommen alte Rachegedanken in mir wieder an die Oberfläche.
Während ich im "Helix" war, war Constri im "Elizium". Sie hat Rafa dort nicht gesehen. Ist er deshalb nicht gekommen, weil er wußte, daß ich nicht da sein würde?
Ich habe mich selten so ausgelaugt und ausgesaugt gefühlt wie an diesem Sonntag. Im Grunde hat Rafa sein Ziel, mich auszusaugen und nach ihm süchtig zu machen, längst erreicht und kann mich abstoßen. Meinen Zweck habe ich für ihn erfüllt. Etwas anderes wird er kaum gewollt haben, als sich auf Kosten anderer Befriedigung zu verschaffen. Da ich dies alles vorausahnen konnte, muß ich mich fragen, weshalb ich mir die Zuneigung von Rafa habe gefallen lassen. Ich wollte mir selbst etwas gönnen, muß aber teuer dafür bezahlen, weil ich körperliche Zuwendung nur annehmen kann von einem Menschen, an den ich gebunden bin.
Ich habe immer gern aufwendig gelebt und mich mein Wohlergehen etwas kosten lassen. Vor ungefähr drei Jahren hatte ich einen Traum, in dem ich teure Kleider mit Stücken von meinem Fleisch bezahlt habe. Ich fragte mich, ob mein Körper wohl wieder ganz werden würde. Es waren aber so gewaltige Stücke, die ich aus mir herausgeschnitten habe, daß es offensichtlich war, daß ich verstümmelt bleiben würde. Der Körper, den ich zieren wollte, war nun Opfer eines Zerstörungswerks.
Habe ich mir also mehr geschadet als genützt, als ich mich auf Rafa eingelassen habe? Hätte ich ihn wider das Verlangen in meinem Innern zurückstoßen sollen?
Ich frage mich, ob Ivo ahnt, wie es um mich steht. Wie sieht es aus mit seiner Fähigkeit, Menschen zu durchschauen? Unter Verhältnissen, die dem Vorschub leisten, scheinen Ivo und ich uns zu einer Allianz zusammenzufügen, die gemeinsame Fragestellungen gemeinsam bearbeitet. Daß wir vieles ähnlich beurteilen, vereinfacht das. Es war erleichternd, mit Ivo über Rafa sprechen zu können, ohne ihm alles über meine Gefühle zu verraten. Er nötigte mich auch in keiner Weise dazu.
Ich sehe in der Bekanntschaft mit Rafa einen Zynismus des Schicksals. Ich fühle mich vom Schicksal verhöhnt. Ich darf gar nichts für Rafa empfinden und tue es doch. Das Tier in mir spricht. Mein Verstand zählt nichts, mein Wissen und meine Erfahrung zählen auch nichts. Das Tier in mir bestimmt, wen ich aussuche - und wählt Menschen, die für mich ganz sicher nicht taugen. Es wählt einen der schlimmsten Giftmischer im "Elizium", einen Frauenhelden, Aufschneider und Betrüger, einen gefühlsarmen Egomanen mit Minderwertigkeitskomplex. Zufällig bietet der jene Mischung aus Sinnesreizen an, die mich um den Verstand bringt - eine fatale Mischung, "lethal compound". Rafa kann sich auf die Schulter klopfen. Er macht sich laufend Feinde und hat doch wieder jemanden gefunden, der sich unverdienterweise an ihn bindet, anstatt ihn von sich zu stoßen.
Als ich am Montag nach Hause kam, lag im Waschbecken mit dem Gesicht nach unten ein Zettel, der wohl von der Ablage gefallen war. Auf dem Zettel stand:
"Folter ist in H. bei Ortfried, aber mit Cyd."
Carl hatte das geschrieben. Cyd ist Constris ehemaliger Freund, dem sie nicht mehr begegnen will. Folter wollen wir immer unbedingt sehen, denn er ist einer unserer ältesten und besten Freunde. Ich wollte gleich Ortfried anrufen, um herauszufinden, ob Constri und ich unseren Folter nicht auch ohne Cyd treffen konnten. Leider erreichte ich Ortfried nicht.
Am Dienstag rief Constri aus der Stadt an. Sie teilte mir mit, sie sei mit Folter unterwegs und käme später.
"Also, also!" rief ich. "So geht das nicht. Wenn Folter da, ich Folter sehen."
Ich traf die beiden dann um fünf Uhr nachmittags im Café "Tangente". Sie hatten schon einiges getrunken. Folter trug ein Blümchenhemd mit Kapuze. Constri versuchte dauernd, Folter die Kapuze aufzusetzen und zuzuziehen. Sie schmückte seinen Kopf mit den Schildchen, die auf dem Tisch standen.
"Doo, ich hab' noch gar nicht geschlafen", eröffnete mir Folter. "Ich kann echt nichts mehr erzählen. Ich bin viel zu breit und viel zu fertig. Ich hab' alles Constri schon erzählt. Meine Erzählphase ist vorbei."
Constri und ich bestellten uns Bailey's, und ich nahm noch zweimal Eiskaffee und Tomatensuppe mit Gin und Sahne.
"Also, Folter. Nun erzähl' aber mal", forderte ich ihn auf.
"Ers'mal - zu Ortfried fahre ich wahrscheinlich nie wieder", begann er. "Der hatte keinen Kaffee, der hatte nichts zu essen, der hatte nur fünf Jahre alten Tee. 'Kokos'. Und er hatte dreckiges Bettzeug ... und weiter erzähl' ich nich', weil, du willst auch noch essen."
Folter meinte, nur die Tatsache, daß Cyd die Fahrt aus einer Laune heraus bezahlt habe, rechtfertige den Besuch in H.
"Echt, was ich hier versauf', ist Cyds Geld."
"Hör' mal, das Treffen mit uns war's doch wohl auch wert", sagten Constri und ich.
"Das mit euch ist heute", entgegnete Folter. "Eben hab' ich von gestern geredet."
"Vergiß' nicht, wir sind deine besten Freundinnen."
"Ja, und darum heiraten wir jetzt", beschloß Folter.
"Eine Dreierhochzeit", fiel Constri ein.
Ich pries uns an:
"Wir sind die interessantesten Frauen von H."
"Die interessantesten, die ich bis jetzt kenne."
"Nein - die interessantesten überhaupt."
Folter erzählt von seiner Chefin:
"Die hat mich voll böse angemacht.
'Wir sind hier kein Kasperltheater! 'rumkaspern könnense woanders! Hier wird nicht 'rumgekaspert!'"
Wie die Figur des Kasper ihn verfolgt! Für mich ist Folter Kasper. Er trägt bunt zusammengewürfeltes Zeug, hat strohiges rötliches Haar, ein breites Grinsen, eine Hakennase und eine helle Stimme, und er liefert entlarvende und schockierende Sprüche am laufenden Band. Seine Anwesenheit ist an sich schon eine Vorstellung. Überall ist seine Bühne. Er ist ein Schalk, eine lebende Antithese. Er kehrt alles um, was als selbstverständlich gilt.
"Das darf man ihm nicht sagen", mahnte Constri. "Aber auf seine Vietnam-Verkrampfung darf man ihn ansprechen."
Sie zwickte ihn in die Seite, so daß er sich krümmte und seine Arme an den Körper zog.
"Das ist die Vietnam-Verkrampfung", erklärte Constri mit sanfter Stimme. "Die hat er sich damals in Vietnam zugezogen; er war nämlich dabei. Die Verkrampfung muß man lockern ... lockern ... lockern ..."
Sie kitzelte und kitzelte ihn.
"Ou, laß' meine Vietnam-Verkrampfung in Frieden!" bat Folter.
Er ist freilich viel zu jung, um am Vietnam-Krieg teilgenommen zu haben.
Ich rezitierte im Stakkato einen Text von Maximal Brain Dysfunction:
"Laß' mich doch allein, laß' mich doch allein ... laß' mich jetzt allein, laß' mich jetzt allein ... laß' mich allein ... laß' mich allein ... laß' mich ... laß' mich ... laß' mich ... al-lein ... al-lein ... al-lein ..."
Ich habe den Text auswendiggelernt.
Der Bailey's verbesserte meine Stimmung. Ich mußte kichern, sobald ich einen Schluck getrunken hatte.
"Wie geil, daß bald ganz egal ist, wie alt man wird", sagte ich zu Constri.
"Ach, du meinst ..."
"... daß die, die von uns jetzt in der Musikszene sind ..."
"... auch drinbleiben."
"Sogar Ortfried ist noch dabei, und der ist fast dreißig."
"Ach, der ist wahrscheinlich bloß dabei, weil er sich nicht entscheiden kann, aufzuhören."
"Du, der kauft sich noch CD's."
Folter wollte unbedingt Essen kaufen bei "McGlutamat".
"Bei 'McGlutamat' sitzt man zwischen brusthohen Müllkübeln", erzählte ich.
"'Müllkübel' ist gut, da gehör' ich hin", meinte er.
In der Hauptpost ließen wir uns noch einmal an einem Tisch nieder, und Folter drehte für Constri und sich Zigaretten. Ich wog eine auf einer Briefwaage, aber die zeigte zu grob an.
Wir bestellten Lebkuchen fürs Osterfest. Ich redete von einem Trank, mit dem man sich für einen anderen erwärmen konnte und den anderen für sich einnehmen konnte.
"Bailey's", sagte Constri.
"Komm'", warf Folter ein, "beide haben wir Bailey's getrunken und uns nicht verliebt."
"Es ist zuende ... es ist aus ...", rezitierte ich. "Kein Weg führt weiter ... Kein Weg führt weiter ... Laß' mich doch allein ... Laß' mich jetzt allein ... Ich hör' deine Stimme ... jeder Satz wie ein Schlag ... Ich hör' dich reden ... und das Zimmer wird immer kleiner ... das Zimmer wird immer kleiner ... Faß' mich nicht an ... Faß' mich nicht an ... Ich hör' dich reden ... Aber ich glaub' kein Wort mehr ... Diese Worte können heilen ... irgendwann von dir ..."
Wir brachten Folter zum Zug. Auf dem gegenüberliegenden Gleis stand ein Nahverkehrszug nach SHG. Ich glaube nicht, daß ich da jemals wieder hinfahre.
"Und dieser Tag", heißt es weiter in dem Text, "ist das Ende der Schmerzen ... Laß' mich jetzt allein, laß' mich ganz allein ... Laß' mich jetzt allein, laß' mich ganz allein ... Laß' - mich - allein ... Ich hör' dich reden ... jeder Satz wie ein Schlag ... Ich hör' deine Stimme ... immer lauter ... immer lauter ... lauter, lauter, lauter, lauter, lauter ..."
Der Sprechgesang ist nur mit einem sich stetig wiederholenden maschinenhaften Geräusch unterlegt.
Vielleicht steht die Dreiheit "TERROR MACHT EROTIK" hinter dem Reiz, den Rafa wirken läßt. Vielleicht gewinnt seine Erotik ihre Macht durch den Terror, den er ausübt.
Lust im eigentlichen Sinn scheint Rafa auf mich nicht zu haben. Er läßt es darauf hinauslaufen, mich für sich zu erwärmen und dann selbst zu erkalten. Das verschafft ihm Lust. Er hat vieles nicht getan, was er hätte tun müssen, um mich als Mensch zu überzeugen. Er hätte nie unnahbar wirken dürfen, nie gleichgültig. Er hätte nie am Telefon behaupten dürfen, im Augenblick gar keine Zeit zu haben. Er hätte mir viel mehr Aufmerksamkeit widmen müssen. Er hätte der Sehnsucht nach mir Ausdruck verleihen müssen. Er hätte mich anrufen müssen. Er hätte den Wunsch äußern müssen, sich möglichst bald mit mir zu treffen. Er hätte mich nach mir ausfragen müssen.
Am Freitagnachmittag hatte ich folgenden Traum:
Ich war in einem mehrstöckigen Veranstaltungsszentrum. Auf dem Dachboden wurde getanzt. Es war ein "Tanzboden", im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei sah der Speicher eher nach einem Trockenraum aus. Er war durchzogen mit Wäscheleinen. Daran hingen weiße Laken, die den Raum in mehrere Abschnitte unterteilten. Man konnte ihn also nicht ganz überblicken.
Ich kam in ein kleines "Zimmer", das nur Wände aus Laken von dem übrigen Speicherraum abteilten. Die Laken verbargen mich vor der Menge der Tanzenden, und sie verbargen mich auch vor meinen Zweifeln und meinem Gewissen. Kaum war ich in dem Zimmer, da stand auch schon Rafa in der Mitte, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht. Er hatte sein anklagendes "Und, was ist mit mir?" im Blick.
"Eigentlich wollte ich nicht ...", dachte ich und legte, noch während Rafa "Hallo" sagte, die Arme um ihn.
Was haben wir nur alles miteinander angestellt ...
Zuletzt lag Rafa mit dem Gesicht nach unten vor mir, ohne daß unser Gespräch deswegen unterbrochen wurde, und ich streichelte sein Gesicht, so selbstverständlich, wie andere Wäsche aufhängen. Wir redeten über Themen, die weit entfernt waren von dem, was wir taten. Ganz für uns waren wir freilich nicht zwischen den Laken. Doch wir ließen uns von den wenigen Anwesenden nicht stören.
Rafa erzählte mir, er ginge gewöhnlich um zwei Uhr heim; es war allerdings schon später.
Am Abend gab es bei mir wieder ein Treffen in größerer Runde. Adi war auch da, mit seinem Freund Steini. Steini ist von Beruf Steinsetzer; deshalb nennen wir ihn so. Er verlegt die Betonplatten, die mir so gefallen. Er hat mir auch ein Buch über Straßenbau geliehen und eins über Betonfertigteile. Er ist Straßenbauer in der vierten Generation. Statt "Moment!" ruft er "Zement!"
Steini baute mit Adis Hilfe das Videoregal aus Beton auf, das er mir zum Geburtstag versprochen hatte. Es hat zwei Böden; das sind Gehwegplatten in den Maßen 75 x 50 cm. Die Seiten des Regals bestehen aus Randsteinen. Mein Fernseher kam auf den oberen Boden, und auf den Fernseher stellte ich den "T"-förmigen Pflasterstein, der mir als Kerzenhalter dient.
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