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Auf meiner Geburtstagsfeier schlug Ray sich mit Gewissensbissen herum, und ich riet ihm dringend, sein Gewissen zu erleichtern. Sogleich stürmte er auf Constri zu, als hätte er nur auf den Startschuß gewartet, und erzählte ihr von dem Doppelleben, das Derek mit Constri und Virginia führt. Derek liebe Constri wahrhaftig, habe sich allerdings keineswegs von Virginia getrennt. Wie ein gespaltener Mensch führe er beide Beziehungen nebeneinander. Constri machte daraufhin Derek zur Auflage, daß er mit ihr gemeinsam ausgehen und sich zu ihr bekennen solle. Da sträubte sich Derek mit Händen und Füßen und suchte nach Ausreden.
Anfang Februar habe ich bei Cyra zu Abend gegessen, und dann sind wir beide nach BS. gefahren und haben uns im "Reentry" ein Festival angesehen, wo auch Noisex und L'âme immortelle aufgetreten sind. Cyra hat von den Auseinandersetzungen der DJ's im "Reentry" erzählt. Es gab da einen Sidney, der eigentlich nur als Aushilfe geplant war und dann versucht hat, durch böses Blut andere DJ's von ihren Plätzen zu verdrängen. Er ging dabei so vor, daß er dem Chef erzählte, ein DJ würde über einen anderen herziehen, während er selbst es war, der über diesen DJ herzog. In diese Verwicklungen sollte Ordnung gebracht werden, indem bei einem DJ-Treffen Klärung gesucht wurde. Sidney erschien zu diesem Treffen nicht. Das hatte zur Folge, daß Sidney mit der Begründung "Mobbing" hinausgeworfen wurde.
Bei dem Festival traf ich Mauro und Norman. Norman trug einen geflochtenen Zopf, was ich niedlich fand; es machte sich gut zu der dürren Figur und dem kindlich-frechen Gesicht.
Am Mittwoch war ich mit Zoë im "Zone". Berenice war dort auch und hatte ihre Freundin mitgebracht, die mir damals "Sieh' dir ruhig den Mann an, den du nie kriegst!" ins Genick gesäuselt hat. Die Freundin hat sich die Haare inzwischen rot gefärbt, war aber an ihrem hämischen Gesichtsausdruck für mich gut wiederzuerkennen. Berenice hatte ein schlichtes langes schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern an und schlichte Schuhe mit Absätzen, wie sie schon vor drei Jahren meistens herumlief, und sie hatte auch schon fast wieder dieselbe Frisur, überschulterlange schwarz gefärbte Haare. Weshalb sie ohne Rafa ausging, weiß ich nicht; ich erinnere mich nur daran, daß sie schon im letzten Herbst ohne Rafa im "Zone" war.
Berenice stand meistens mit ihrer Freundin beim DJ-Pult. Sie ging auch nur in Begleitung der Freundin auf die Tanzfläche und löste sich selbst dort nicht von ihr. Beim Tanzen unterhielt sie sich viel mit der Freundin. Als "Wir wollen keine Menschen sein" von Rafa lief, tanzte Berenice deutlich lebhafter; entweder gefällt ihr die Musik von Rafa wirklich außerordentlich gut, oder es ging ihr eher darum, zu zeigen, wie hervorragend das ist, was ihr Freund macht.
Die Stücke, zu denen ich im "Zone" tanzte, waren die, zu denen Berenice nicht tanzte - "Bite Dog bite!" von Sonar, "Physis" von MS Gentur, "Effects vs. sustainability" von Winterkälte, "Domination" von Converter, "Confusion (Pump panel reconstruction mix)" von New Order, "Starsign" von Apoptygma Berzerk, "Life will never be the same again" von L'âme immortelle und "Weg nach unten" von Knorkator. Zu "Weg nach unten" tanzte auch die Freundin von Berenice, und das war das einzige Mal, daß sie ohne Berenice auf die Tanzfläche ging.
Am Freitag erzählte mir Beatrice im "Lost Sounds", daß sie ihren Mann Miles verlassen hat und wieder zu Andras gezogen ist und auch wieder mit ihm zusammen ist. Von Miles lasse sie sich gerade scheiden. Viel verbinde sie nicht mehr mit ihm. Sie sei in der Ehe sehr unglücklich gewesen. Sie habe sich von Miles unverstanden und im Stich gelassen gefühlt. Sie habe gearbeitet, er habe auf dem Sofa gelegen und dann auch noch von ihr erwartet, daß sie sich um den Haushalt kümmerte.
Andras' und Aimées Kind Allister hat für Beatrice eine Bedeutung "wie ein eigenes Kind". Beatrice hatte schon mehrere Fehlgeburten und glaubt fast nicht mehr daran, eigene Kinder haben zu können.
Nach Ray hat nun auch Talis - auf Druck von Rikka und Janice - "ausgepackt" und sowohl Constri als auch Virginia erzählt, was er weiß. Derek halte Virginia ebenso zum Besten wie Constri und gaukle jeder vor, daß mit der anderen nichts sei. Daher habe inzwischen auch Virginia von ihm verlangt, daß er mit ihr ausgehen und sich zu ihr bekennen solle. Und auch dagegen habe er sich gesträubt.
Talis riet Constri und Virginia, sich miteinander auszutauschen und zu besprechen. Sie taten das und waren überrascht, mit welchen Ausreden Derek beide hingehalten hatte, wer wessen T-Shirt getragen, wer in wessen Bettwäsche geschlafen, wer wessen Duschgel benutzt hatte.
"Virginia ist rothaarig, hellhäutig und feminin, wie ich", meinte Constri, "und sie hat auch einen starken Mutterinstinkt. Da hat sich Derek denselben Typ ausgesucht, nur eben einen Ersatz-Schnuller."
Derek versucht, Constri mit Selbstmorddrohungen zu erpressen, weint ihr das heulende Elend auf den Anrufbeantworter und läuft ihr in die Straßenbahn oder nach Hause hinterher, um dort auch wieder zu weinen und sie zu umklammern. Virginia berichtete, daß Derek schon zweimal unvermittelt losgeweint hat, einmal, als sie mit ihm aus dem "Zone" kam, wo ihm Constri begegnet war, und einmal, als sie mit ihm ein Stück von Belcanto hörte, das er vor sieben Jahren für Constri aufgenommen hatte.
Virginia meinte, sie habe Derek wirklich sehr gern, aber daß er für sie die einzige wahre große Liebe sei, habe sie noch nicht gedacht.
Constri kann sich auch nicht daran erinnern, daß Derek schon einmal wegen Virginia so sehr geweint hat.
Constri und Virginia wollen weiter im Kontakt bleiben, um es Derek unmöglich zu machen, die eine mit der anderen zu betrügen.
Am Samstag waren wir im "Radiostern", wo eine Kommilitonin von Constri, Kostümdesignerin, an einem Verkaufsstand ihre Kollektion vorstellte: "Aeternitas". Die Sachen sind eleganter und aus hochwertigerem Material angefertigt, als es sonst bei Underground-Fashion üblich ist. Es gibt auch noch eine weitere Farbe außer Schwarz - einen mysteriösen, zugleich unaufdringlichen Brombeerton. Constri kaufte ein zierliches, durchsichtiges Oberteil in dieser Farbe, mit Blumenmuster. Besonders aufregend fand ich die Röcke für Herren, mit Schnürungen, Bändern, Schnallen, in Lack oder Baumwolle, als Überwurf für Hosen; sie sind wirklich so gemacht, daß sie nur Männern stehen.
Mitte Februar waren Constri und ich zum Abendessen bei Clara. Dort fanden wir eine Knautschpuppe aus der Serie "South Park", die Kenny darstellt. Kenny ist Außenseiter, kann nicht verständlich reden und hat die Besonderheit, in jeder Folge auf grausige Art ums Leben zu kommen. Es heißt dann immer:
"Oh my god, they killed Kenny."
Als Kenny einmal doch nicht umkam, hieß es:
"Ou, irgendwas fehlt doch heute?"
Constri nahm sich die Knautschpuppe und begann, gedankenverloren auf sie einzuhauen.
"Warum haust du die?" wollte ich wissen.
"Lädt doch dazu ein", entgegnete Constri und haute weiter:
"Bumm ... bumm ..."
"Wir vernichten den Außenseiter in uns", deutete ich. "Das wäre etwas - Selbsterfahrung mit Kenny. Eine Selbsterfahrungsgruppe mit dem Thema 'Kenny'."
Als Reesli seinen Geburtstag feierte, kam ich gleich nach der Arbeit zu ihm, als erster Gast. Wir konnten uns bei Kerzenlicht schön unterhalten. Ich brachte ihm die Geschenke mit, die er sich gewünscht hatte:
"Gesundheit, eine Frau, eine Therapie, einen Sarg, Röntgenbilder und Safran."
In einer Zellglastüte überreichte ich ihm ein mit Weltraum-Motiven bedrucktes Päckchen Taschentücher ("Gesundheit"), das Bild einer Barbiepuppe mit einer ausgeschnittenen Kontaktanzeige darunter ("Frau"), eine schön gearbeitete Fledermaus-Fingerpuppe ("Therapie"-Puppe), einen Bleistift in Form und Aussehen einer Zigarette ("Sarg"-Nagel), einen Aufkleber von Saverios "Treibkalb"-Projekt, der ein CT-Bild zeigt ("Röntgenbilder") und ein Döschen echten Safran.
Ich bin gespannt, was Reesli sich zu seinem nächsten Geburtstag wünscht.
Es kamen noch einige Gäste, die zum Teil merkwürdige Sachen erzählten. Da soll es eine Punkerin namens "Schwimmbadunfall" geben, die so genannt wird, seit sie in ein Schwimmbecken gefallen ist, wo, ich glaube doch, kein Wasser drin war. Sie soll "voll ätzend" und ziemlich brutal sein.
Über "Leonardo DiCabrio" wurde gelästert:
"Der hat doch ein Gesicht wie ein Gesundheitsschuh - 'reintreten und sich wohlfühlen."
Gegen Abend wurden Joints zusammengekrümelt, und es war Zeit für mich, zu gehen. Es ist immer am besten, wenn ich ganz früh zu Reesli komme, bevor seine Gäste kiffen; mir ist der Cannabisrauch widerlich.
Inzwischen entsteht ein weiterer Tanzfilm, für den Industrieanlagen als Kulisse dienen. Es ist uns gelungen, durch halb verschlossene Türöffnungen die Fabrikhalle zu betreten, in der sich früher die Location "Halle" befand sowie die Locations "Halle 1" und "RoseHip". Die Fabrikhalle ist inzwischen leergeräumt und soll keineswegs abgerissen, sondern von einer Spedition bezogen werden. Draußen wurden die alten Toilettenhäuschen weggeklopft, und die Halle wurde mit neuen Toren und einem frischen Estrich sowie silbern glänzenden Lampen ausgestattet. Das Bauwerk mit den Ausmaßen einer Kathedrale ist eine gewaltige Stahlkonstruktion und von dunkelroten Backsteinmauern umgeben. Wir konnten nun endlich hinaufsteigen zu den Fensterwänden, die mäanderförmig an der Dachkante entlanglaufen. Die Fensterwände sind gesäumt von Gitterrosten, auf denen man gehen kann, und unter diesen dünnen Rosten ist nichts als ein etwa zwanzig Meter tiefer Abgrund. Eine zierliche Stahltreppe führt nach oben, die nun endlich nicht mehr, wie noch von zwei Jahren, durch Gerümpel verbaut ist. Die Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster und malten lange Streifen auf den Estrich. Constri ließ durch die Kamera den Betrachter in die Tiefe der Halle hinabstürzen und filmte von oben, wie ich in der Ferne als graugekleidete Ballerina im transparenten Kleidchen durch die Lichtstreifen schwebte. Dann filmte sie mich unterm Hallendach; ich ging über die dünnen Gitterroste in schwindelnder Höhe zu der umlaufenden Fensterreihe und öffnete eines der Fenster, unter denen der Abgrund lauert. Es ist eine Art "Ausgang zum Himmel", im Film dann der Weg in ein neblig-weißes, verschwimmendes Nichts.
Als es in der Fabrikhalle noch Parties gab, müssen auch andere hier hinaufgeklettert sein. An den Stahlträgern und einem braungerosteten Gitterwerk, das sich auf halber Höhe inmitten der Halle befindet, sie aber nicht völlig unterteilt, gibt es weiße Graffitis, etwa steht dort zu lesen, daß der Großvater eines Bekannten hier in den Kriegsjahren gearbeitet habe. Man sieht die Zeichnung eines U-Bootes, wie sie früher hier einmal hergestellt werden sollten, und darunter steht "ZE NEU SUB".
Wir hatten nicht mehr daran geglaubt, jemals Aufnahmen in dieser Fabrikhalle machen zu können, und nun kam uns die Gelegenheit über den Weg gelaufen. Wir wollten die Halle nur von außen durch Öffnungen im Mauerwerk filmen und haben dabei entdeckt, wie dort hineinzukommen war.
Die Musik zu dem Filmprojekt soll sich unter anderem aus Teilen des "War Requiem" von Benjamin Britten zusammensetzen. Die Aufnahme, die wir vom "War Requiem" haben, stammt von einer Aufführung in der gotischen Backsteinkirche, wo Edaín und Kappa geheiratet haben. Die Aufführung fand 1983 statt, und sowohl ich als auch meine Mutter nahmen daran teil, in zwei unterschiedlichen Chören. Ich habe auf der Empore mit anderen Mädchen den Part der "Unschuldigen Kindlein" übernommen, meine Mutter sang in einem gemischten Chor vor dem Altar. Die düster-dramatische, teilweise atonale Musik unterstreicht die jenseitsnahe Stimmung des Films. Die Kreideschrift, die in den Filmbildern von der Fabrikhalle auftauchen soll, soll dem Text des Requiem entnommen werden, der Totenmesse. Constri möchte sie mit Hilfe der Tricktechnik über die Bilder legen.
Für die Aufführung des "War Requiem" wurde in jenem Saal im "Jugendhaus" geprobt, wo zehn Jahre später Rafa das erste Mal auf der Bühne stand. 1979 bis 1983 war ich - ebenso wie Constri - Mitglied eines Mädchenchors, der damals schon zahlreiche Preise gewonnen hatte, ein Erfolg, der geeignet war, die Chorsängerinnen unter Druck zu setzen. Die Chorleiterin, einst selbst ein Chormädchen, löste den alternden Chorleiter nach und nach vollständig ab. Sie verhielt sich ebenso arrogant wie er, wollte aber gern als freundlich gelten. Sie spielte die Mädchen gegeneinander aus und demütigte sie vor der Gruppe. Obwohl ich nicht zu ihren erklärten Opfern gehörte, fühlte ich mich in dem Chor mehr und mehr fehl am Platz. Constri ging es nicht anders. Die Aufführung des "War Requiem" im Sommer 1983 war das erste Konzert, das mir wirklich Spaß gemacht hat. Kurz danach sollte eine Singfreizeit in einem Kloster stattfinden, dorthin wollten Constri und ich aber nicht mitfahren, weil wir schon einen Ferienaufenthalt in England geplant hatten. In England hatte ich folgenden Traum:
In der Backsteinkirche, wo wir öfters Konzerte gaben, hatte der Chor eine Generalprobe. Wir standen vor dem Altar. Die Chorleiterin begann auf einmal, mich vor der Gruppe laut und ausdauernd zu beschimpfen. Einen Grund hierfür gab es nicht; anscheinend hatte sie nur jemanden gesucht, den sie demütigen konnte.
Als ich aufwachte, wußte ich, daß ich nie mehr zu dem Chor hingehen würde. Ich trat sofort aus und habe diese Entscheidung nie bereut. Dem Chor gegenüber gab ich als Begründung an, daß ich kurz vor dem Abitur stand und für den Chor keine Zeit mehr hatte. Und das war nicht einmal gelogen. Meine freie Zeit verbrachte ich von nun an mit Ballettstunden und in der Discothek, wo ich wirklich Ausgleich und Entspannung fand. Constri trat Anfang 1984 aus dem Chor aus, weil sie den Eindruck hatte, daß die Chorleiterin sie nicht leiden konnte.
Die Vorliebe für sakrale klassische Musik hat sich bei mir erhalten, auch wenn mir einige dieser Stücke, die wir gerade in der Backsteinkirche häufig sangen, zu steif und zu langweilig waren. Ich mag es, wenn Elemente daraus in der elektronischen Musik auftauchen. Die elektronische Musik, damals vor allem die Stücke "Jimmy Jimmy" von Ric Ocasek und "Under pressure" von David Bowie und Queen, bildete auch das nötige Gegengewicht zu der spießig-verklemmten Atmosphäre im Chor.
Ende Februar fand in der "Neuen Sachlichkeit" die Jubiläumsveranstaltung "10 Jahre New Wave Party" statt. Ich hatte das hauchdünne und durchsichtige dunkelrote Oberteil mit dem Rollkragen an und darunter tiefrotes Dessous mit Rankenmuster und schwarze Strapse. Ich trug ein sehr kurzes schwarzes Spitzen-Tutu und auch Handschuhe und Schnürsenkel aus schwarzer Spitze. Die Schuhe waren, wie ich sie immer trage, nadelspitze schwarze Ballerinen mit Ringen für eine Schnürung wie bei Ballettschuhen. Um den Hals trug ich feine schwarze Ketten mit Onyxen und einem Kreuz aus Onyxen. In den Zöpfchen hatte ich dunkelrote Samtklemmchen.
Die Gäste drängten sich bis an die Schwingtür zum Vorraum. Rafa wollte sich in den Vorraum zurückziehen und ging so dicht und langsam an mir vorbei, daß ich ihm in Ruhe die Schulter kraulen konnte. Er hatte die graue Jacke mit den Schnörkeln an.
Dolf hielt sich dicht bei Rafa während der ganzen Nacht. Rafa stand lange im Vorraum und redete mit Dolf. Ich stand drinnen, schaute durch die Türfenster zu ihm hinaus und wartete ab. Ivco begegnete mir und freute sich, als ich ihm die nächsten Termine für das "Lost Sounds" nannte:
"Schon deswegen hat sich der Abend hier gelohnt!"
Als Rafa endlich wieder in den Saal zurückkam, stand er noch für einen Augenblick in der geöffneten Tür, als überlege er etwas. Dann ging er rasch, aber doch so dicht an mir vorbei, daß ich ihn wieder an der Schulter fassen konnte. Wenig später erschien Rafa hinterm DJ-Pult und blieb dort für den Rest der Zeit. Er hatte Dolf bei sich und trank viel Bier und rauchte viel, und immer wieder schleuderte er sich seine Ponysträhnen aus der Stirn. Einige Male kam Berenice zu ihm hinauf, um ihn zu küssen. Sie hatte die Haare hochgesteckt und trug ein tailliertes schwarzes ärmelloses Oberteil mit Stehkragen und schwarze Shorts. Die Augen waren effektvoll geschminkt.
"Sie bleibt immer bei ihm, auch wenn er sie demütigt", erzählte ich einem Jungen namens Claude, "denn wenn sie ihn aufgeben würde, könnte sie sich nicht mehr als 'seine Freundin' bezeichnen. Sie meint aber, nur dadurch, daß sie mit ihm zusammen ist, wichtig und besonders zu sein."
Claude meinte:
"An wen erinnert man sich nachher?"
Wenn jemand nur als "seine Freundin" oder "seine Frau" gilt, wird der Mensch selber kaum noch gesehen.
Claude betrachtet auch die Ehe von Kappa und Edaín nicht als Verbindung zweier unabhängiger Individuen. Er sieht Edaín vor allem in ihrer Rolle als Ehefrau, nicht als eigenständige Persönlichkeit.
Rafa übernahm irgendwann das DJ-Pult. Auf der Tanzfläche war häufig ein großer, verwegen zurechtgemachter Junge namens Todd, und wir tanzten miteinander. Todd meinte, ich würde gut tanzen, und ich sagte das auch über ihn. Er berichtete, mal für ein Jahr in Kingston behandelt worden zu sein, da er mit seinem Leben nicht zurechtgekommen sei.
Rafa und Dolf verschwanden schließlich, Berenice blieb da.
Velroe und ich unterhielten uns kurz an der Bar.
"Ich hätte ja gar nichts gegen ihn, wenn er nur nicht so ekelhaft arrogant wäre", sagte Velroe über Rafa.
"Stimmt, er benimmt sich daneben", bestätigte ich. "Er sorgt dafür, daß ihn keiner mag."
"Daß ihn keiner mag?"
"Er will nicht gemocht werden, weil ihn das verunsichert."
"Ach, und ich dachte, er ist der große Messaia."
"Er wär's gern", meinte ich. "Er wär's gern."
Berenice schien von dem Gespräch etwas mitzubekommen und machte große Augen.
Kürzlich habe ich einen Märchenfilm aufgenommen mit dem Titel "Das Zauberbildnis". Er handelt von einem jungen chinesischen Mädchen, das von seinen Eltern an einen erheblich älteren, sehr reichen Mann verkauft wird. Er schließt es in seinem Palais ein und versucht, es zu vergewaltigen. In diesem Augenblick passiert das, was viele mißbrauchte Mädchen oder Folteropfer als einzige Möglichkeit zur Flucht beschreiben: die sogenannte Dissoziation. Die Opfer entfernen sich vom Geschehen, indem sie sich auflösen oder abspalten. Im Märchen entweicht die Seele des Mädchens und läßt einen leblosen Körper zurück, auf den der reiche Chinese keine Lust mehr hat; er läßt von dem Mädchen ab und sucht nach Möglichkeiten, das Spielzeug wieder "ganz zu machen". Die Seele des Mädchens ist in ein Bild geflüchtet, das ihr jüngerer Bruder gemalt hat. Das Bild gerät in die Hände eines braven russischen Bauernjungen, und der macht sich auf den Weg, das Mädchen aus der Gewalt des Mißbrauchers zu befreien. Am Ende gelingt ihm das auch, und das Mädchen wird erlöst und heiratet den Bauernjungen.
Kindesmißbrauch hat es zu allen Zeiten gegeben, auch in der Form, daß kleine Mädchen an pädophile Männer verheiratet wurden. Das Märchen zeichnet ein Bild von den Folgen, und das Besondere ist, daß auch ein Ausweg gezeigt wird, ein Weg zu Rettung und Erlösung.
Anfang März war ich HH. und erstellte bei Darien die ersten Dateien für meine neu erworbene Internet-Domain. Bis vor Kurzem hatte ich nur eine kostenlose Homepage mit Werbebannern und einem langen, schlecht zu merkenden Namen gehabt. Auf der neuen Domain gibt es keine störenden Pop-up-Fenster oder Werbebanner, und der Name ist kurz und leicht zu merken.
Darien hatte mir gar nicht angekündigt, daß er um Mitternacht dreißig wurde. Auf mein Nachfragen teilte er mir das mit, etwas verschämt. Alte Freunde von ihm waren zu Besuch, und Darien machte Hotdogs.
Darien hat inzwischen alle seine Rechner bei sich zu Hause, und die Wohnung ist in erster Linie ein Büro, eingerichtet mit hohen Stahlregalen, verziert mit Metallteilen aus der Industrie und mit schwarzgelbem Warn-Markierungs-Band.
Abends traten Apoptygma Berzerk im "Megamarkt" auf, und ich traf dort Cyra. Sie hatte ihren Freund dabei; er heißt Denny, und ich finde, er sieht niedlich aus mit seinen kurzgeschorenen weiß blondierten Haaren. Denny zeigte stolz seinen langen schmalen Rock aus schwarzem Lack. Cyra meinte, sie könne ihren früheren Freund noch nicht vergessen. Ich erzählte ihr, daß es mir eine Woche zuvor wieder einmal gelungen ist, nach Rafas Schulter zu greifen.
"Eigentlich ist das gar nichts Besonderes", meinte ich, "aber seltsamerweise ist es für mich wieder einmal das Ereignis. Man könnte sagen, das ist albern, aber ich empfinde es eben so."
"Es spricht für dich", fand Cyra. "Es wirkt jugendlich, wenn du dir das erhältst, diese Faszination für die scheinbar unwichtigen Dinge."
Wir tanzten viel auf dem Konzert. Später ging es oben auf dem geräumigen Dachboden weiter bei "Stahlwerk". Auch Darien kam noch zu "Stahlwerk", und ich konnte ihm zum Geburtstag gratulieren.
Frühmorgens gegen halb vier machte ich mich auf den Heimweg. Es hatte geschneit, und ich mußte langsam fahren. Auf halber Strecke machte ich Rast, weil mir die Augen zufielen. Kaum stand der Audi in der Parklücke, wickelte ich mich in mein Kaschmirtuch und war eingeschlafen. Als ich wieder aufwachte, sprang der Wagen an, das Gaspedal wollte jedoch nicht. Erst nach etwa zwei Minuten war alles wieder aufgetaut.
Auf Talis' Geburtstagsfeier ging es um makabren bis sehr makabren Humor, von dem einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Ich suchte nach einem Namen für eine Fernsehshow, in der es um ein "Wettsterben auf dem elektrischen Stuhl" geht. Es wird auf eine Minutenzahl gesetzt und auf einen Todeskandidaten: wer stirbt zuerst, und in welcher Zeit? Revil hatte eine Idee, wie man die Show nennen könnte: "Die 10.000-Volt-Show".
In einer Fernsehcomedy ist das Spiel inzwischen auch erfunden worden, in ähnlicher Form:
"Die Lust zu leben" wartet auf mit zwei deutschen, in den USA wegen Mordes zum Tode Verurteilten. Zunächst sieht man nur zwei elektrische Stühle auf der Bühne, die Moderatorin nimmt lässig in einem der beiden Platz, mit übereinandergeschlagenen Beinen. Das Publikum soll entscheiden, ob die Hinrichtung stattfindet, indem es entweder die Nummer von George Bush oder Amnesty International anwählt. Aus dem Off dröhnt eine Stimme:
"Diese Hinrichtung wird Ihnen präsentiert von ..."
Es werden die Logos einer Grillimbißkette und einer Lebensversicherung eingeblendet.
Anschließend betreten die Verurteilten die Bühne, in T-Shirts, die mit den Logos der genannten Sponsoren bedruckt sind. Sie werden auf den elektrischen Stühlen festgeschnallt.
"Ja, Sie haben entschieden", ruft die Moderatorin. "92 % für die Hinrichtung, 8 % dagegen. Und während jetzt die Todeskandidaten ihr grausames Schicksal erleiden, erklingt eine Hymne, die aufrütteln soll ..."
Die Stühle werden eingeschaltet, und eine Wunderkerzen schwingende, in wallende Gewänder gehüllte Truppe tanzt zu Schlagermelodien um sie herum.
Giulietta schaut sich zur Zeit häufig "Don Carlos" an, weil sie in den Darsteller des Philipp verliebt ist; sie trifft sich auch gelegentlich mit ihm. Früher habe ich ebenfalls häufig "Don Carlos" geguckt; mir gefiel der Darsteller des Marquis Posa; es ging allerdings nicht so weit, daß ich mich mit ihm treffen wollte. Ich hatte inzwischen sogar vergessen, daß der Marquis Posa ums Leben kommt, wenngleich auch nicht durchs Autodafé. Mit dem Autodafé hatte man es übrigens damals so gelöst, daß die an Pfähle gefesselten Ketzer in den Boden versenkt wurden, und aus der Vertiefung quoll dann roter Kunstnebel hervor. Als ich mit Giulietta über weitere mögliche Umsetzungen des Autodafé nachdachte, fiel mir die Sache mit dem Toaster ein. Man konnte die Ketzer doch im Boden versenken, und am Ende kamen die Pfähle mit einem "Klack!" wieder hochgeschossen, und statt der Ketzer waren nur noch Aschereste an den Fesseln.
"Philipp!" ahmte Giulietta die Elisabeth nach. "Jetzt sind sie schon wieder verkohlt! Ich hatte dir doch gesagt, auf Stufe 'eins' reicht!"
Virginia und Constri halten nach wie vor Kontakt. Constri ist in erster Linie damit beschäftigt, Derek klarzumachen, daß sie nicht ununterbrochen anwesend sein kann und daß er lernen muß, auch alleine mit sich klarzukommen, ohne sich gleich eine "Ersatz-Constri" für "constrifreie" Tage zu suchen. Als Constri ihm endlich erzählte, daß sie ein Kind von ihm will, war Derek außer sich vor Freude, wollte gar nicht glauben, daß sie wirklich von ihm Nachwuchs haben will und meinte sogleich, jetzt werde es wohl Zeit, daß er von seinen Schulden herunterkomme, denn man müsse sich dann ja eine größere Wohnung nehmen, mit einem großen Zimmer für das Kind. Er steckte Constri ein Überraschungs-Ei in den Ausschnitt und meinte, damit könne sie schon mal üben. Wenn sie dann schwanger sei, müsse er sie immer ganz besonders gut zudecken.
Im "Lost Sounds" begegnete mir Saverio in einem knöchellangen schwarzen Kilt mit Sicherheitsnadel.
"Hallo, Verräterin", begrüßte er mich.
"Dein Rock sieht voll scharf aus", meinte ich.
Saverio bezeichnete mich als "Verräterin", weil ich nicht in die dumpfe, staubige Location "Nowhere" gehen mag, die sich überdies in einem verwinkelten Hinterhof befindet, in unmittelbarer Nachbarschaft des Ghettos "Uferpark" und anderer zweifelhafter Bezirke. Saverio legt ab und zu im "Nowhere" auf und hätte mich dort gerne als Gast.
Seraf erzählte, er arbeite in M., wolle aber lieber nach B., wo Chantal wohnt. Er hat ihre Nummer nicht, bat mich jedoch, sie zu grüßen, wenn ich sie sehe.
Auf meine Nachfrage, wie er sich verhalten habe, als Berenice ihn beim vorletzten Silvester gebeten habe, mit ihr ins Bett zu gehen, erzählte Seraf, er habe ihr behutsam vermittelt, daß die Situation für dieses Unterfangen nicht ganz passend sei. Sie sei wohl auch etwas betrunken gewesen.
Janet trug ein langes schwarzes Lackkleid, das man vorn mit einem Reißverschluß von unten nach oben aufziehen kann. Sie ließ sich auf der Tanzfläche von den Industrial-Rhythmen anstecken.
Janet erzählte, sie habe zur Zeit keine Arbeit. Das Abitur hat sie im letzten Jahr gemacht und sich beruflich noch nicht entschieden.
Cyd rief kürzlich an und erzählte, daß er den Sockenschuß in HB. gesehen hat, vor einer Bar. Der Sockenschuß soll ziemlich verwahrlost ausgesehen haben und immer noch dieselben Sachen angehabt haben wie vor sieben Jahren.
Constri und Derek sehen den Sockenschuß nach wie vor gelegentlich bei "Kaufwelt", wo er sich zwischen den Regalen bewegt, als wenn er nichts kaufen, sondern sich nur dort aufhalten will.
In unserer Psychotherapie-Fortbildung habe ich das Thema "Sockenschuß" angesprochen und wollte die Diagnose herausfinden:
"Ist das nun eine Psychose oder nicht?"
Als ich die Lebens- und Krankengeschichte des Sockenschuß möglichst genau erzählt hatte - einschließlich der Trunksucht, der Verwahrlosung und des sozialen Abstiegs, der Belagerung von Parkbänken, Bushaltestellen und der Hochschule, wo ich studierte, sowie der Behauptung des Sockenschuß, ich würde morgens um sechs vor seiner Haustür stehen -, meinte der unterrichtende Psychiater:
"Da gibt es keinen Zweifel, der ist verrückt. Dem geben wir ein 'F' mit einer '2' dahinter, und über den Rest können wir uns noch unterhalten. Wenn jemand über Jahre ein so stabiles, systematisches und gezieltes Wahnsystem aufrechterhält, dann steht die Alkoholsucht nicht mehr im Vordergrund."
"F2..." ist die Internationale Klassifikations-Nummer für Psychosen vom schizophrenen Formenkreis. "F20.0" heißt zum Beispiel, daß jemand eine paranoid-halluzinatorische Psychose hat und etwa glaubt, er werde durch den Fernseher vom Geheimdienst beobachtet, die ganze Menschheit sei verrückt, nur er selbst nicht, und er höre jeden Tag Gottes Stimme und könne Gedanken lesen.
Der Psychiater vermutete, die Tatsache, daß der Sockenschuß mich nicht mehr behelligt hat, seit Rafa ihn verdroschen hat, sei wahrscheinlich darauf zurückzuführen, daß der Sockenschuß im Zusammenhang mit diesem Ereignis einen Arzt aufgesucht hat, welcher ihn dann mit einigen Tropfen Haldol versorgte, einem bewährten Antipsychotikum.
"Denn Haldol hilft ja auch gegen Kopfschmerzen", meinte der Pychiater, "wenn auch im weitesten Sinne: man verhält sich nicht mehr so, daß es Auseinandersetzungen gibt, von denen man Kopfschmerzen bekommt."
Einen weiteren möglichen Grund dafür, daß der Sockenschuß seine Angriffe gegen mich einstellte, sieht der Psychiater in einer Art "mechanischen mentalen Defibrillation" durch die Schläge gegen die Säule, mit denen Rafa ihn "behandelt" hat. Schon in der Steinzeit habe man kein Feuer mehr angefaßt, wenn man sich einmal daran verbrannt habe.
Die Hilflosigkeit gegenüber dem unbremsbaren Irren, der von nichts als seinem Wahn angetrieben und gelenkt wird, führe letztendlich zu "unpopulären" Methoden wie dem Zusammenschlagen.
"Damals habe ich noch studiert und wußte noch nichts über Haldol", erzählte ich. "Die Polizei wollte den Sockenschuß nicht zwangseinweisen, da er mich ja nur belästigt, nicht aber bereits tätlich angegriffen habe. Belästigung als solche sei kein Grund für eine Zwangseinweisung."
"Das wäre für mich ein Grund für einen Brief an den Innenminister gewesen", meinte der Psychiater. "Wenn jemand, der augenscheinlich geisteskrank ist, Sie dermaßen belästigt und belagert, daß Sie sich bedroht fühlen müssen, ist die Polizei verpflichtet, Ihnen zu helfen."
Er gab mir noch einen wichtigen Rat, auf den ich damals nie gekommen wäre:
"In einem solchen Fall können Sie den Sozialpsychiatrischen Dienst einschalten, damit der zu dem hinfährt und mal nach dem Rechten sieht. Eine so verwahrloste Wohnung hätte deutliche Hinweise darauf gegeben, daß der Herr Sockenschuß nicht mehr im Alltag zurechtkommt. Und was er dem Sozialpsychiatrischen Dienst erzählt hätte, hätte vielleicht schon für ein PsychKG ausgereicht."
Dann wäre der Sockenschuß mit richterlichem Beschluß in die Psychiatrie gekommen und hätte mit Haldol behandelt werden können, so daß das Zusammenschlagen überflüssig gewesen wäre.
Der Psychiater hat uns im Kurs schon einige bizarre Geschichten erzählt. Da gab es mal einen Chinesen, der an einer Psychose litt und fernöstliche Kampfkünste beherrschte. Wenn man ihn einfangen wollte, um ihm seine Medikamente zu geben, konnte es vorkommen, daß der kleine, zierliche Chinese in die Luft sprang und die Deckenlampe austrat. Es wurden sechs Leute gebraucht, um ihn zu bändigen.
Ende März war Rafa nicht in der "Neuen Sachlichkeit". Berenice war da, doch sie bediente nicht. Sie lief unter den Gästen herum. Anscheinend hatte sie frei, verbrachte den Abend aber nicht mit Rafa. Sarolyn beobachtete, daß Berenice mich ihren Freundinnen zeigte und tuschelte und daß sie mich mit giftigen Blicken musterte.
Janet hatte gehört, daß Darius - einer von Hytanias Partygästen - am heutigen Abend zuerst nach BI. zu seiner Ex-Freundin wollte und danach zu Rafa, um diesem einen Computer zu verkaufen. Darius kenne ich aus dem "Zone"; er macht sich immer sehr kunstvoll zurecht, mit viel Schminke und hochgetürmten Frisuren.
Am Mittwoch waren wir im "Zone". Les spielte "Starfighter F-104G" von der neuen MaxiCD, die Rafa nun endlich herausgebracht hat.
"Immer noch dasselbe Gedudel", stellte ich nach den ersten Takten fest. "Was lange währt, wird nicht unbedingt gut."
Ein dünner, recht bieder wirkender Junge, der mir aufmerksam gelauscht hatte, ging an mir vorbei zur Tanzfläche und warf mir ein Lächeln zu, das soviel zu heißen schien wie:
"Hab' alles gehört, das gibt erstmal Gesprächsstoff."
Ein Stück auf der CD heißt "Ich bin nicht von dieser Welt".
"Er will sich immer außerhalb stellen", sagte ich zu Terry. "Er ist immer nur allein, und keiner kann ihn erreichen. Und eigentlich ist er gar nicht da, sondern irgendwo im Weltraum."
"Der Mann spinnt", meinte Terry.
In einem Szenemagazin aus HB. gibt es ein Interview mit Rafa anläßlich seines Auftritts in HB. im Februar. Der Auftritt fand mit Verspätung statt, so daß das Interview brieflich nachgeholt wurde. Rafa siezte den Interviewer, seiner neuen Angewohnheit zufolge und entgegen den Gewohnheiten der Szene.
Rafa erzählt in dem Interview, er habe sich schon 1992 über Feindsender informiert und sei auf den Namen "W.E" gestoßen, der deckungsgleich mit seiner Vorstellung des Musikmachens gewesen sei, da man sich mehr als Radiosender betrachte denn als Band. Richtig ist, daß er sich Anfang 1993 immer noch "Feindsender" nannte und sich unter dem Druck eines Labels auf die Schnelle umgenannt hat.
Das Emblem hat Rafa in der Tat von den "Sachsenring"-Autowerken abgeschaut - das hochgestellte "Sachsenring"-Emblem in Form einer Welle. Die Rückkehr zu überholter Technik und Ästhetik - wie sie in der DDR zu finden war und bei uns in den Fünfziger Jahren - ist für ihn erstrebenswert:
"Die 'W.E-Zeitmaschine' steht allen Hörern bereit ... Und wir würden uns in einer Zeit wiederfinden, wo VW-Käfer und Trabanten fahren, W-38 Telefone klingeln, wir von Nierentischen essen ... dort, wo wunderschöne Frauen und charmante Männer denken und schaffen und Politiker wie Konrad Adenauer und Dr. Ludwig Ehrhard ein Land voller Ästhetik regieren."
Die unkritische Idealisierung vergangener Jahrzehnte, die Rafa niemals selbst erlebt hat und umso weniger beurteilen kann, erinnert mich an die Idole, die Heranwachsende sich als Orientierungshilfen suchen, "Stars" und "Helden". Wahrscheinlich sind die "wunderschönen Frauen" und "charmanten Männer" in Wirklichkeit Rafas Eltern, deren "Denken und Schaffen" von ihm in gottgleiche Höhen erhoben wird.
Manchmal wünsche ich mir, daß Rafa tatsächlich einmal in eine Zeitmaschine gerät und sich in den Fünfziger Jahren durchschlagen muß. Vielleicht begegnet ihm dann die Idealisierung noch ganz anderer Jahrzehnte:
"Als wir den Adolf noch hatten ..."
Neonazis gab es in den Fünfziger Jahren noch nicht, weil damals die "echten" noch am Werke waren, in Amt und Würden. Und die Idealisierung der "Adolf-Ära" mitsamt dem Verdrängen der Nazi-Greuel war damals durchaus salonfähig, wenn ich mich nicht ganz irre.
Was damals bestimmt nicht salonfähig war, war selbstgewählte Arbeitslosigkeit, und ich glaube, Rafa weiß das.
Auf die Frage des Interviewers:
"Könnt ihr von der Musik leben, oder geht ihr bürgerlichen Berufen nach? Welchen?"
antwortet Rafa denn auch reichlich aggressiv:
"Wir glauben, daß das bestimmt keinen Ihrer Leser interessiert. Und falls doch, hat es niemanden zu interessieren. Darüber hinaus ist der Beruf eines Radiomoderators doch sehr 'bürgerlich'. Andere unserer Aktivitäten, mit denen wir unter anderem den Sender finanzieren, haben nichts mit W.E zu tun und in diesem Interview auch nichts verloren."
Daß Rafa Musiker und kein Radiomoderator ist, ist bekannt. Was er sonst noch macht, soll anscheinend keiner wissen. Er glaubt wohl, daß seine Berufstätigkeit - oder Berufsuntätigkeit - ihn in ein ungünstiges Licht setzt. Für mich hört sich das Ganze so an, daß Rafa mietfrei in seinem Kinderzimmer wohnt und sich mit Konzerten und CD's und mit Gelegenheitsjobs als DJ oder Anstreicher das Geld für die Band und das Taschengeld verdient. Wenn man ihn dann fragt, ob er überhaupt arbeitet, kann er kurz angebunden mit "Ja" antworten.
Im Folgenden läßt Rafa sich über Details im Zusammenhang mit seiner Musik und seinen Texten aus und vergißt dabei auch nicht, sich selber gehörig herauszustreichen:
"Wir kritisieren nicht. Wir halten uns nur einen Spiegel vor das Gesicht und informieren den Hörer, der daraufhin vielleicht den Denkanstoß bekommt, etwas zu ändern, und die Summe dieser Anstöße würde wohl den Rahmen dieses Interviews und den Ihres Magazins bei Weitem sprengen."
Auf die Frage, ob er sich die Zukunft kalt und unpersönlich vorstelle, antwortet er:
"Wir beschreiben nicht die Zukunft, sondern die Gegenwart, und genau dort sollte man sich nichts vormachen. Mit 'persönlich' hat das nicht viel zu tun. Aber 'kalt' ist doch eigentlich nicht nur ein schönes Wort ..."
Auf die Frage, wie die Lieder von W.E entstehen, antwortet er:
"Damit kratzen Sie ja schon an firmeninternen Geheimnissen. Vielleicht ist es eben so, daß alle Lieder schon fertig sind und wir uns nur selbst 'covern'? Hmmm?! Könnte doch sein, oder?"
Richtig ist, daß Rafa die Lieder ausnahmslos selbst herstellt und lediglich die eine oder andere Frauenstimme einfügt.
Auf die Frage, ob die C64-Stücke wirklich ausschließlich mit dem C64 gemacht wurden, antwortet Rafa:
"Vielleicht unterschätzen Sie auch nur ein perfektes Produkt."
Am Ende wünscht Rafa allen Lesern "ein glückliches, erfolgreiches und resignationsfreies Leben".
Wie sagte ich noch in dem Psychiatrie-Kurs über Narzißmus?
"Der Narzißt erschlägt einen mit seiner Überheblichkeit. Er zeigt eine aggressive Arroganz, bei mangelnder Fähigkeit zur Selbstreflexion."
Chantal findet Rafas Antwort auf die Interview-Frage nach seiner Berufstätigkeit "peinlich".
"Ich glaube, er wird zunehmend einsam", vermutete ich.
"War er das nicht schon immer?"
"Stimmt, eigentlich ..."
"Es ist ja ein Unterschied, ob man ein paar richtig gute Freunde hat oder jede Menge Zweckbekanntschaften."
Saverio sagte im "Untergang" über Rafas Musik:
"Er hat einen guten Sound-Chip, aber zu behaupten,der C64 sei ein perfektes Gerät, ist schlicht falsch."
Saverio und ich führten eigenartige Gespräche.
"Du hast überhaupt keine Laster?" fragte Saverio. "Dann leg' dir mal eins zu."
"Was für eines empfiehlst du mir denn?"
"Kleine arische Babies."
Er meinte, er werde zwar meine Kinder nicht töten, aber doch unterstützen, daß sie getötet würden. Das liege daran, daß ich nur von Rafa Kinder will. Und er könne Rafa nicht ausstehen.
Saverio scheint nach wie vor zu glauben, mit Nazi-Begriffen "schocken" zu müssen. Dabei ist er in seinem Wesen alles andere als "rechtsaußen". Er ist ein skurriler Außenseiter und toleriert andere Außenseiter, wenn man von seinem Unmut gegen Rafa absieht.
Als ich zum Parkplatz ging, sagte ein Junge, der einige Meter entfernt auf dem Fahrradständer saß:
"He!"
"Ja, was gibt's?" fragte ich.
"Wie alt bist du?" wollte der Junge wissen.
"Ich bin vierunddreißig", gab ich wahrheitsgemäß Auskunft und setzte meinen Weg fort.
Es kam mir vor, als wenn der Junge mit seinen Bekannten Spekulationen angestellt hatte.
Anfang April besuchte ich Verwandte in S., auch Lisa, die inzwischen mit Ida und Chandra dorthin zurückgekehrt ist. Sie wohnt in dem von Weinbergen, Gärten und Wäldern umgebenen Stadtteil Rh. in einem Bachtal im Obergeschoß eines Hauses, das zwei Schwestern gehört, deren Vorfahren mit uns verwandt sind. Sie heißen Friederike und Margarethe. Margarethe ist die Patentante meines Vaters. Sie ist zweiundneunzig Jahre alt und sehr gebrechlich. Friederike ist achtzig Jahre alt und noch sehr rüstig. Sie hat ihren Mann im Krieg verloren und lebt seither mit ihrer Schwester, die keine Familie hat. Friederikes Sohn lebt nebenan mit seiner Frau in einem eigenen Haus. Er hat einen Malerbetrieb. Friederike hat zwei Enkelinnen und vier Urenkel.
Lisa macht ihr Referendariat. Ida wird tagsüber von Lisas Mutter und von Chandra betreut.
Mitte April fuhren Constri, Derek und ich freitags nach Ht., um Ted und Blanca zu besuchen und in Teds Fabrikhalle zu filmen. Wir setzten die Fahrt auch fort, nachdem Constri den Audi auf einer Leitplanke niedergemacht hatte. Der ADAC stellte uns einen fabrikneuen Automatik-Wagen zur Verfügung. Alles war heile geblieben, mit Ausnahme des Audi, und von einer Raststätte aus durfte Constri mit meinem Handy beiden Eltern ausgiebig ihr Leid klagen. Außerdem mußte sie unseren Vater darauf hinweisen, daß morgen die Autos in der Zeitung stehen würden und er für mich einen Automatik-Wagen aussuchen solle. Dann mußte Constri mit dem neuen Wagen weiterfahren, damit sie sich gar nicht erst einbildete, nicht Auto fahren zu können.
In Teds Fabrikhalle bestand unser Filmteam aus Ted, Blanca, Derek, Constri und mir. Ted bediente den Gabelstapler, Blanca ließ sich in die Höhe fahren und filmte von oben, Constri filmte von unten, Derek half mal hier, mal dort, und ich beschriftete eine etwa vier Quadratmeter große Stahlwaage mit dem Text des Requiem; mit der linken Hand schrieb ich lateinisch, mit der rechten deutsch, und das wurde gefilmt. Als Hintergrund wurden Dias von den hohen Fenstern der Fabrikhalle an die Mauer geworfen, in der Constri und ich vor Kurzem gefilmt haben.
"Ex audi orationem meam ..."
Constri will unserem Vater eine Abbildung des Schriftzuges "Ex audi" als Computerausdruck schenken, zusammen mit dem Audi-Schlüssel.
Ted meinte, es sei ein Zeichen für ihn, daß wir von unseren Plänen nicht abrückten, trotz eines verlorengegangenen Audi. Er wolle nun von seinen Plänen mit Marvin auch nicht abrücken, trotz dessen aggressiver Freundin.
Am Sonntag war ich mit meinem Vater handelseinig geworden. Es wurde ein Mercedes besorgt, auch Automatik und viel jünger als der Audi, und mein Vater bezahlte ihn erst einmal. Der Wagen ist grau - meine Lieblingsfarbe -, und dank seiner fünf Zylinder fährt er nach Tacho schneller als hundertachtzig Stundenkilometer, obwohl er einen Dieselmotor hat.
"Und ich hatte schon gedacht, du kriegst vom ADAC einen Schaltwagen und bist damit auch zufrieden", seufzte mein Vater.
"Die Chance ist vorbei", gab ich zurück. "Schaltwagen habe ich in der Fahrschule ausgiebig kennengelernt, und ich weiß, warum ich die nicht will."
Als ich in der Woche Nachtdienst hatte und lange nicht zu Hause war, kümmerte Constri sich um den gegenwärtig kranken Bisat und entdeckte dabei eine riesige Dose mit Bockwürsten, für die ich bisher noch keine Verwendung gefunden hatte. Sie schrieb mir einen Zettel:
"H., den ... (siehe Wurstdose)
Hi Gustl!
Bisat hat brav sein lecker-lecker-Antibiotikum gefressen. À propos lecker: Schau' doch mal auf's Verfalldatum der Würste ... hihi ... was lange währt / steht, wird endlich schlecht.
Guten Hunger wünscht Constri"
Ich beerdigte die Dose samt Inhalt im Mülleimer und stellte fest, daß auf meinem Kühlschrank noch eine zweite riesige Bockwurstdose stand, allerdings mit noch nicht abgelaufenem Verfalldatum. Es gelang mir einige Wochen später, sie immer noch innerhalb der Verfallfrist gemeinsam mit Merle im Laufe zweier Tage zu verspeisen.
Bei der nächsten Fahrt ins "Zone" vertrieb Sazar sich die Zeit, indem er über sein Handy telefonierte. Unter anderem rief er bei Rafa an - die Nummer konnte ich ihm auswendig sagen - und fragte ihn, ob er ihm für sein Internet-Magazin ein kurzes Interview gewähren würde. Rafa erklärte atemlos, er habe es sehr eilig, und bat um schriftliche Zusendung der Fragen.
Sazar will von Dolf gehört haben, daß Rafa versuche, eine Sängerin namens Kitty zu gewinnen; die könne jedoch nicht singen, sondern sehe nur gut aus.
Im "Zone" liefen unter anderem "Picklenash" von Synapscape und "Engine crash" von Sona Eact ... und ausgerechnet zwischen zwei Industrial-Stücke setzte Les die neue "Starfighter"-Hymne von Rafa.
Auf dem Heimweg bekam ich Fieber und Übelkeit, und ich schaffte es gerade noch, nach Hause zu fahren. Den Karfreitag verbrachte ich im Bett, und der kranke Bisat wirkte noch munterer als ich. Constri kaufte für mich Cola und Traubenzucker, und ich fühlte mich in meiner Ansicht bestätigt, daß es sich auszahlt, die Familienangehörigen in der Nähe wohnen zu haben. Am Samstag besuchte ich Henk im Friseursalon. Er fand, daß ich ziemlich hohlwangig aussah, und ich konnte ihm auch erklären, warum.
In zwei Szenezeitschriften gibt es neue Interviews von Rafa. In einem nahm Rafa Bezug auf die Kriegführung im Kosowo unter marktwirtschaftlichen Aspekten:
"In der NEUEN WELT wird sowas nicht passieren."
Es könnte sein, daß Rafa mit der "NEUEN WELT" eine Art Utopie meint, die er allerdings nicht näher beschreibt (oder nicht näher beschreiben kann). Ich vermute, daß Rafa sich gerne möglichst weit von der wirklichen Welt entfernen will und jene "NEUE WELT" als Fluchtziel betrachtet. Der Wunsch nach Flucht kommt in vielen seiner Texte zum Ausdruck; auch in diesem Interview zeigt sich das in seiner Aussage:
"Als Computer würde ich nicht abstürzen, sondern lieber abhauen."
Ich nehme an, daß Rafa gar nicht weiß, wie die "NEUE WELT", in die er fliehen will, eigentlich aussehen soll. Vielleicht darf man da für immer zu Hause wohnen bleiben und muß nie arbeiten gehen, und das Geld kommt auch so aufs Konto und wird nie alle. Vielleicht handelt es sich um eine vollkommene Versorgung ohne jede Verantwortung.
Rafa bezeichnet sich als Radiosender oder Radiomoderator, ohne einer zu sein. Er macht aus diesem Widerspruch Wortspiele, die auf mich sehr verdreht wirken, allerdings wohl phantasievoll sein sollen: "interessant, flott und vielseitig wie immer", wie es in der Eigenwerbung heißt.
In den Wortspielen tauchen zwischendurch Selbstmordandeutungen auf:
"Mit der Annahme, keine Ausnahme zu sein, kann man ausnahmslos annehmen, daß wir uns ausnahmlos aus diesem Leben nehmen würden."
Gleichzeitig will Rafa sich mit allen Mitteln verteidigen:
"Wir stellen uns mit allen Waffen gegen jede Verschmelzung mit 08/15-Trendmusik ... und wir sind sehr gut bewaffnet."
Das Leben als Kriegsschauplatz ... Rafa scheint sich insgesamt angegriffen zu fühlen, ohne daß er deutlich macht, wodurch. Seine Aggressivität, seine Verteidigungshaltung, seine zur Schau gestellte Arroganz und die dichte Fassade sind mir auch in dem Interview in dem Magazin aus HB. aufgefallen. Die Selbstmordandeutungen macht Rafa im Zusammenhang mit der Vorstellung, nicht mehr etwas anderes sein zu können als "gewöhnliche" Menschen oder "gewöhnliche" Musiker. Er will sich in jeder Hinsicht abgrenzen und gegen "Verschmelzung" wehren. Sein Selbstwertgefühl steht und fällt anscheinend mit der Rolle der "Ausnahme", des unerreichbaren Besonderen, Unantastbaren und Unverletzbaren. Dementsprechend kann er gar keinem "bürgerlichen Beruf" nachgehen, wie der Interviewer gefragt hat. Dann wäre er ja "verschmolzen" mit der Masse der "gewöhnlichen" Menschen und könnte sich nicht "mehr" oder "besser" fühlen. Er muß sich also weiter durch Gelegenheitsjobs am DJ-Pult, durch CD-Verkauf und Konzerte Taschengeld verdienen und im Kinderzimmer wohnen.
Rafa ist wieder einmal damit beschäftigt, die Menschheit zu erziehen, mit der er eigentlich gar nichts zu tun haben will und mit der er nicht auf eine Stufe gestellt werden will. Er erklärt, er habe über den Starfighter deshalb ein Lied gemacht, weil man "von Dingen, von denen man keine Ahnung hat, doch lieber die Finger lassen sollte". Daß er von Starfightern Ahnung hat, dokumentiert er in seinem CD-Booklet durch die Auflistung technischer Daten und historischer Fakten.
Rafa kokettiert nicht nur in seinen Wortspielen mit seiner verbalen Intelligenz, auch sonst läßt er sich ganze Textabsätze lang nur in verschlungenen Satzgebilden aus. Die Interviewerin zeigt sich davon schwer beeindruckt:
"Kann nicht mehr denken, weil der Kopf raucht."
Rafa hat auf diese Weise Bewunderung geerntet, ohne etwas Wesentliches gesagt zu haben, etwa über sich selber, seine Alltagswirklichkeit und sein Gefühlsleben. Herauszubekommen waren lediglich äußerliche Details - daß ihm etwa der Film "23" gefällt und der Film "Tron". "Tron" gefällt mir auch sehr, und "23" werde ich mir anschauen, wenn ich die Gelegenheit habe; wahrscheinlich gefällt mir dieser Film auch sehr.
In Rezensionen erntet Rafa ein begeistertes Echo; seine Stücke "Starfighter F 104-G" und "23" werden als "Kult!" bezeichnet, die MCD "Starfighter F 104-G" als "phantastische Elektronik-Scheibe".
In einem Traum lagen Rafa und ich in meinem Bett und sprachen uns ab, was wer wem ausziehen durfte.
In einem anderen Traum ging es um einen Nachbarschaftstreit. Ein Ehepaar stand mit einem Nachbarn draußen vorm Balkongeländer über dem Abgrund, und das wurde in einer Fernsehshow übertragen. Erst versuchten die beiden Männer, sich gegenseitig hinunterzuwerfen, dann wurden sie einsichtig und halfen sich alle drei gegenseitig über das Balkongeländer auf die sichere Seite, um sich in Ruhe zu unterhalten.
Henk hat mir geschrieben, und das ist das erste Mal, daß er mir einen Brief geschickt hat. Er schrieb, daß er kürzlich nachts von mehreren rechtsradikalen Jugendlichen angegriffen worden sei, und das verschlimmere noch seine allgemeine Niedergeschlagenheit. Er fühle sich in H. nicht wohl, wolle aber auch nicht wieder weg, weil er nicht wisse, wie lange er seine Eltern, die hier leben, noch habe. Er ist ein dankbarer Sohn und nach Mareks Tod auch der einzige, der noch übrig ist.
"Ich fühle mich wie eine Ruine", schrieb er. "Jetzt höre ich aber auf, so wehleidig zu sein. Anderen geht's noch viel schlechter. Ich habe mich schon gefreut, als du im Laden standest. Wenn es mir etwas besser geht, komme ich dich auch wieder besuchen. Mein Balkon wird wohl wieder so schön. Habe schon Etliches gepflanzt. Vielleicht können wir ja mal wieder grillen ... Bin bestimmt schon ein Jahr nicht mehr ausgegangen, nun passiert mir gleich so etwas. Könnte langsam mal etwas Glück brauchen. So, meine Liebe, ich hoffe, du hast etwas mehr davon. Auf bald."
Weil er immer noch kein Telefon hat, habe ich ihm sogleich wieder geschrieben und erzählt, wie ich mich vor nächtlichen Straftätern schütze. Ich hoffe, daß er mal mitkommt, wenn ich nachts weggehe; mit dem Auto kann ich ihn dann auch nach Hause fahren.
Anfang Mai gab es eine Tanzveranstaltung in einer ehemaligen Fabrikhalle in HI., wo ich vor einem Jahr Terminal Choice gesehen habe und wo jetzt Cyra auflegte. Unter anderem lief mit "Rebirth" ein abstraktes Newcomer-Stück von Tilan, karg und subtil, das für eine volle Tanzfläche sorgte, obwohl es bisher niemand kannte. Tilan war anwesend, ein langbeiniger, gutaussehender Junge mit ausrasierten Haaren und Brille, der einen aufregend schmalen, hochgeschlitzten Rock trug - wieder einer von denen, die es sich trauen. Tilan kennt Reesli und Norman, die ebenfalls da waren, und wir kamen etwas ins Gespräch.
Constri und Derek hatten während der Tanzveranstaltung ein Schäferstündchen hinter der Location, neben den Bahngeleisen.
"Wir haben endlich draußen", erzählte Constri, "das wollte ich schon immer."
Mitte Mai eröffnete Kappa das "Exil" wieder, aber nicht wie früher als eigenen Laden, sondern er gab dort nur eine Veranstaltung unter dem Namen "Exil". Abraxas hatte mir auf dem Anrufbeantworter mitgeteilt, daß es dort zwei Areas geben werde. Auf seiner Area solle auch Industrial laufen; wir sollten also auf jeden Fall zahlreich erscheinen. Ich kam hin mit Constri und Sarolyn. Die Area von Abraxas war dort, wo früher der gesamte "Exil"-Betrieb stattgefunden hatte. Hinsichtlich des Industrial-Angebots wurden wir nicht enttäuscht, sondern angenehm überrascht.
Im Laufe der Nacht durchquerte Rafa nur dreimal die Area von Abraxas. Rafa war ganz in Schwarz gekleidet, trug seine Lokomotivführer-Mütze, die Jacke mit den vielen Schnallen auf den Ärmeln und eine enge schwarze Hose. Zuerst hatte er noch seine blaugetönte Brille auf; die setzte er später ab. Ich hatte mein graues Minikleid mit dem Tüllüberkleid mit Samtblümchen an. Die Haare hatte ich mit grauen Samtklemmchen zurückgerafft.
Als ich zu "Confusion (Pump panel reconstruction mix)" von New Order tanzte und Rafa durch die Area kam, ging er dicht hinter mir vorbei, und ich konnte eine Schnalle an seinem Ärmel fassen und ordentlich daran ziehen, ohne im Tanzen innezuhalten. Später ging er noch einmal dicht hinter mir vorbei, das sah ich aber nicht rechtzeitig und erwischte ihn nicht noch ein zweites Mal.
Rafa stand meistens am DJ-Pult in Area 1. Diese Area ist größer, hat jedoch die ungünstigere Tanzfläche: rutschiges Glas mit blauem Licht darunter. Die Tanzfläche in Area 2 ist größer, hat einen einigermaßen rutschsicheren Steinboden und schöne große Spiegel, in denen ich mich ausgiebig bewundern konnte. Ich lief häufig zwischen Area 1 und Area 2 hin und her.
Berenice stand meistens vor dem DJ-Pult oder dahinter bei Rafa. Rafa und Berenice turtelten deutlich sichtbar miteinander herum, und Rafa hob sie in die Höhe. Wenn ich zu Rafa hinübersah, konnte ich davon ausgehen, daß Berenice mich beobachtete. Sie schaute nicht nur andauernd nach Rafa, sondern auch andauernd nach mir; ich sah sie fast nur von vorne. Es kam auch vor, daß sie mich betrachtete und anschließend mit Rafa tuschelte. Rafa selbst schaute mich unverwandt an, wenn ich nach ihm sah, einfach geradeaus.
Edaín zog sich im "Exil" nicht so zurück, wie sie es in der "Neuen Sachlichkeit" tut. Sie unterhielt sich mit vielen Leuten. Zu mir sagte sie, vielleicht würde ich im "Exil" meine neue Liebe finden.
"Meine große Liebe kenne ich schon seit 1993", erzählte ich. "Aber er sagt, daß er sich vor mir fürchtet."
"Na, dann hast du wohl Einiges mit ihm vor?"
Hagan meinte, Rafa fürchtet sich wohl vor mir, weil ich mehr verdiene als er und weil er glaubt, daß mir der Beruf immer wichtiger ist als er und daß er deswegen zu kurz kommt. Über die Beziehung von Rafa und Berenice sagte Hagan:
"Außer im Bett klappt nichts."
Hagan schlug vor, ich sollte ihm Berenice zuschieben, die würde er übernehmen, und ich könnte Rafa dann haben.
"Was einem wichtig ist, soll man nicht aufgeben", riet er, und ich nickte.
"Ich gebe Rafa auch nicht auf", sagte ich.
"Paßt das denn überhaupt, du und der?" fragte Roman.
"Das paßt", sagte ich mit einem Blick auf Rafa. "Die Chemie stimmt. Das ist es."
Rafa lockte mich mit "Capital Punishment" von :wumpscut: auf die Tanzfläche. Außerdem spielte er Stücke von VNV Nation und Apoptygma Berzerk und auch "Confusion (Pump panel reconstruction mix)" von New Order. Zwischendurch legte Rafa zwei eigene Stücke auf.
Virginia ging zaghaft auf Constri zu und beichtete ihr nach mehrmaligem Nachfragen, daß sie versäumt habe, Constri schon letzte Woche anzurufen und die neue Schurkerei von Derek auszuheben. Derek habe Virginia nämlich wieder einmal erzählt, von Constri getrennt zu sein, und sie habe sich erfreut auf ihn eingelassen. Sie nehme sich selbst übel, daß sie so nachgiebig sei. Constri und Virginia haben beschlossen, Derek mit seinem Doppelspiel unmißverständlich zu konfrontieren. Constri hat sich für den Sonntagabend mit Derek verabredet, und wenn er kommt, soll er außer Constri auch Virginia vorfinden.
Sarolyn wurde im "Exil" von Rafa gegrüßt. Er hob die Hand und lächelte ihr mit großen Augen zu. Sarolyn hat ihn vor einer Woche in H. auf dem Flohmarkt gesehen, er hat sie aber nicht gesehen. Rafa war mit Berenice da. Sie soll ein rotes Kleid angehabt haben und einen braunen Teddybär-Rucksack. Es war noch ein Dritter dabei, der ein Fahrrad schob. Rafa beschloß:
"Ich fahre jetzt Fahrrad!"
Mit lauter Stimme rief er seine Freundin, befehlend und fordernd:
"Berenice! Berenice!"
Sie stolperte müde hinter ihm her. Rafa versuchte, auf das Herrenrad zu steigen; es wurde aber ein unsicheres Gekipple und Gewackle daraus, und er fiel beinahe um. Rafa soll sehr hektisch, nervös und ängstlich gewirkt haben.
Als wir spätnachts aus dem "Exil" kamen, hörte Constri, wie ein Junge hinter mir zu jemand anderem sagte:
"Das ist Elektro-Betty!"
- gerade, als wäre irgendein VIP an ihm vorbeigelaufen.
Derek schien zu ahnen, was Constri mit ihm am Sonntagabend vorhatte. Er rief mehrfach an, und Constri teilte ihm mit, daß ihn bei ihr jemand erwarte. Dennoch wagte er sich her. Virginia und Constri setzten sich ihm gegenüber und forderten ihn auf, sich zu seinem Verhalten zu äußern. Er wand sich und sagte fast nichts, ging schließlich ins Bad und schloß sich ein. Virginia verabschiedete sich. Erst danach kam Derek wieder aus dem Bad heraus, mit einem stumpfen Küchenmesser. Er hatte einen Selbstmordversuch unternommen, freilich nur im Ansatz; auf seinen Armen waren feine Linien zu sehen, ohne daß die Haut verletzt war. Constri zog ihn mit seiner Inszenierung den ganzen Abend hindurch ordentlich auf.
In der Tagespresse erschien ein Bericht über die Wiedereröffnung des "Exil". Auf einem Foto waren nebeneinander Rafa, Berenice, Kappa und Edaín abgebildet. Rafa hatte sich in Pose geworfen, die rechte Hand ausgestreckt und mit der linken die blaue Sonnenbrille ein Stück heruntergezogen, so daß man die geheimnisvoll blickenden Augen sehen konnte. Die vollen, geschwungenen Lippen waren sauber geschminkt und umrandet. Zwischen Rafa und Kappa drängelte sich Berenice, nur halb zu sehen und angestrengt lächelnd, unvorteilhaft in der Ausleuchtung, von den beiden Herren nicht weiter beachtet, die mit ihren Posen beschäftigt waren. Kappa posierte mit Edaín im Arm, Edaín posierte in Kappas Arm, wie ineinandergreifende Puzzleteile.
"Die Freundin von Rafa wirkt irgendwie hilflos", meinte Cyra zu dem Bild.
"Rafa paßt nicht zu den drei anderen", meinte Carl. "Er wirkt nachdenklicher und weniger naiv. Es fällt auch auf, daß Kappa und Edaín als Pärchen posieren und daß Rafa nur für sich allein posiert. Berenice posiert im Grunde gar nicht, sie wirkt unsicher und ungeübt."
In der Homepage von Rafas Fanclub wird mehrfach darauf hingewiesen, daß Rafa selbst gar keinen Internet-Anschluß habe und daß man über die E-Mail-Adresse und das Gästebuch immer nur den Fanclub, nie aber ihn selbst erreiche. Rafa meldet sich in der Fanpage nach wie vor nicht zu Wort; er stellt sich nicht vor, spricht seine Fans nicht an und wird auch nicht interviewt. Es wird lediglich auf Interviews in der Szenepresse hingewiesen. Rafas Wortspielereien im Interview scheinen die Fans schwer beeindruckt zu haben. Es wird berichtet, man habe die Sätze mehrfach lesen müssen, ehe man sie endlich verstanden habe. Vor lauter Faszination geht die Frage nach dem Inhalt dieser Wortspielereien hilflos unter. Ich vermute, Rafa hat das auch nicht anderes beabsichtigt:
"Zerbrecht euch den Kopf über meine Fassade, aber um Himmels Willen nicht über mich!"
Die Fans scheinen glatt übersehen zu haben, daß in dem besagten Textabschnitt Selbstmordgedanken anklingen:
"... uns ohne Ausnahme aus diesem Leben nehmen würden ..."
Im Gästebuch der Fanpage gibt es nicht nur Einträge von Verehrern, sondern auch von Kritikern. Die Kritik richtete sich unter anderem gegen einzelne Auftritte, in denen Rafa leicht bekleidete Mädchen auf der Bühne vorführte.
"Schick' die Mädchen von der Bühne oder gib sie uns zum Poppen", lautete die Empfehlung.
Meine Internet-Domain nimmt mit Dariens Hilfe mehr und mehr Gestalt an. Sie ähnelt einem Film, der endlich entwickelt wird, nachdem er lange Zeit belichtet in der Schublade gelegen hat. Die Bilder, die alle schon fertig gestaltet waren, werden jetzt erst sichtbar.
Telgart, mit dem ich bis Anfang letzten Jahres an meiner Internet-Präsenz gearbeitet habe, ist wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte im Februar 1999 auf meinem Anrufbeantworter versprochen, sich wieder zu melden, hatte dies aber - in der für ihn typischen Art - nicht getan. Zudem befand er sich wieder einmal in einer Phase, in der er alle Telefonanschlüsse ab- oder ummeldete und vielleicht sogar umzog. Wenn man ihm in einer solchen Phase nicht zufällig über den Weg läuft, verliert man ihn unweigerlich aus den Augen.
Im Zusammenhang mit der Erstellung meiner Domain habe ich Aufzeichnungen hervorgeholt, die ich vor zwanzig Jahren gemacht habe. Eine wesentliche, richtungsweisende Erfahrung war ein Traum im Spätherbst 1979, der mir bewußt machte, daß Männer fähig sein können, zu lieben. Das Gefühl, geliebt zu werden und zu lieben, erfuhr ich wie die Eingebung durch eine übergeordnete Macht, eine Macht jenseits irdischer Schranken. Ich erfuhr, daß mich jemand suchte und daß ich jemanden suchte. Und an dem unverwechselbaren, übermächtigen Gefühl sollte ich ihn erkennen.
Das Grundmuster des Traumes war bestimmt durch die Bedrängnis und Bedrohung in der Schule und durch eine Liebe in Gefahr, wie sie in dem Abenteuerfilm "Der Tiger von Malaysia" dargestellt wird, der auf einem Roman von Emilio Salgari beruht. Den Film hatte ich einige Monate zuvor gesehen, und er ließ mich nicht mehr los; er verbarg ein Stück meiner eigenen Wirklichkeit in sich.
Bis heute beschäftigt mich die Darstellung des Piraten Sandokan und des englisch-italienischen Teenagers Marianna durch Kabir Bedi und Carole André in "Der Tiger von Malaysia". Es ist nicht die Geschichte allein, die erzählt wird, es ist auch die Art der Darsteller, sie zu erzählen. Es kommt viel mehr dabei heraus, als was man von einem Kolonial-Epos erwartet. Es geht um das, was die beiden mit Blicken und Gesten erzählen. Es ist Sandokans Angewohnheit, schräg die Augen zu verdrehen, wenn ihm etwas querliegt, und Mariannas skeptischer Blick, wenn sie ihre eigene Meinung hat, diese jedoch lieber für sich behält.
Marianna setzt ein freches Gesicht auf und trägt provokante Garderobe; sie erscheint auf einem Ball in einem orientalischen Gewand, das sie auf einem Basar gekauft hat. Hier und heute würde sie wahrscheinlich Kaugummi kauen und in Girlie-Boutiquen einkaufen, wie andere Achtzehnjährige auch.
Marianna hat kein sehr enges Verhältnis zu Gleichaltrigen; sie grenzt sich ab, hält sich im Hintergrund. Sie bevorzugt die tiefgehenderen, ernsteren Gespräche mit ihrer älteren Freundin Lucy, die mehr auf ihrer Wellenlänge liegt. Marianna hatte in ihrer Schulzeit zwangsläufig viel Kontakt zu Gleichaltrigen. Den Aufenthalt im Orient erlebt sie als befreiend; sie hat das Gefühl, endlich dahin zu kommen, wohin sie schon immer wollte.
Sandokan wurde verletzt in das Haus ihres Onkels gebracht. Marianna kümmerte sich um ihn und hatte dadurch mehrere Wochen Zeit, um sich von dem etwa acht Jahre älteren Sandokan ein Bild zu machen. Es handelte sich um den Mann, nach dem sie insgeheim schon immer gesucht hatte, wie auch sie die Frau war, nach der er schon immer gesucht hatte. Daß weder er noch sie ihre Zuneigung verheimlichen, verleugnen oder verdrängen, ist in meinen Augen ein Geschenk des Schicksals und fast schon unglaubwürdig. Ich habe mir nie vorstellen können, daß der Mann, den ich liebe, auch zu mir steht, wenngleich ich selbst mir sicher bin, zu allem stehen zu können, was mir wichtig ist, unbegrenzt in jeder Hinsicht. Ich glaube an meine eigene Liebesfähigkeit und an meine Fähigkeit, zu geben, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ich das, was ich dem geliebten Mann gebe, von diesem zurückbekomme.
Marianna verteidigt gegen den Widerstand ihrer gesamten Herkunftsgesellschaft ihre Liebe zu Sandokan, und er kämpft um sie und setzt ohne Zögern sein Leben für sie ein. Beide können sich aufeinander verlassen und zeigen ihre gegenseitige Wertschätzung. Sandokan und Marianna haben keine eigenen Kinder, richten jedoch für die Ausgestoßenen und Verfolgten der Kolonialgesellschaft ein Gelobtes Land auf der Insel Mompracem ein, wo alle miteinander wie eine Familie leben. Durch ihr Selbstbewußtsein und ihr Zusammenhalten regen sich alsbald die Neider. Vor allem der selbsternannte Raja von Sarawak, der machtgierige Engländer Brooke, kann so viel Liebe und Achtung nicht ertragen. Er schickt Verräter los und Militärs, die den Garten Eden in ein Bild der Zerstörung verwandeln und Marianna ermorden.
Auch der Traum, den ich im Spätherbst 1979 hatte, handelte von Neid und Verrat:
In einem Schulgebäude aus dem vorigen Jahrhundert hatte sich ein ungewöhnlicher Gast eingefunden, der Pirat und Aufrührer Sandokan, ein vertriebener Prinz aus Borneo, dessen gesamte Familie von den Engländern ermordet worden war. Seine Frau Marianna begleitete ihn. Marianna war in dem Alter einer Abiturientin; sie hatte bereits mit achtzehn Jahren Sandokan geheiratet und dafür die behütete Welt einer englischen Kolonialvilla verlassen. Die Hochzeit lag inzwischen ein Jahr zurück. Sandokan und Marianna waren miteinander in die Wildnis auf der malayischen Insel Mompracem gezogen, um dort ein neues Reich zu erschaffen, in dem man sicher sein konnte vor Bedrohung und Zerstörung. Die Wildnis in der Schule jedoch war, trotz ihrer äußeren Friedlichkeit, noch weit gefährlicher als das von Unruhen zerrissene Malaysia. Die Gefahr lauerte im Verborgenen.
Sandokan wußte, daß sich die siebzehnjährige Anna Florence in der Schule aufhielt. Er wußte auch, daß Anna seine Marianna haßte, konnte sich jedoch nicht vorstellen, daß daraus ernstere Folgen entstehen würden. Anna und Marianna kannten sich aus einem englischen Internat. Marianna hatte eher von der Schule abgehen müssen, weil ihr Onkel sie zu sich nach Labuan holte.
Eine Sekretärin bemerkte im Vorbeigehen, wie Anna etwas von der kunstvoll aufgetürmten, mit Klemmchen besteckten Frisur einer Schaufensterpuppe herunterholte, die die Arbeitsgruppe Design in einer Nische ausgestellt hatte. Anna tat, als wäre nichts gewesen, und entging den forschenden Augen der Sekretärin.
Erfaßt von einer dunklen Vorahnung, ging Sandokan mit Marianna in einen leeren Klassenraum.
"Etwas stimmt nicht", sagte er.
"Ich weiß es", entgegnete sie leise, "und ich weiß auch, wo ich mich in meinem Leben befinde."
"Am Anfang."
"Nein, an der Grenze."
Sandokan blickte sie an. Er wollte ihr etwas sagen, da sank sie, von einem Schuß durch die geöffnete Tür getroffen, zu Boden. Noch immer hielt er sie in den Armen.
Sandokan schaute zur Tür und konnte dort niemanden sehen. Er war allein mit seiner toten Ehefrau. Er war sicher, daß Anna sie erschossen hatte.
Der Unterricht begann wieder nach der großen Pause, und Anna kam pünktlich. Die Ermittlungen wegen des Mordes wurden in aller Stille weitergeführt, damit die Schüler nicht beunruhigt wurden. Anna gehörte zu meiner Klasse. Ich wußte, daß sie eine Waffe auf dem Kopf der Schaufensterpuppe versteckt hatte. Als ich ihr ausdrucksloses Gesicht sah, ging ich auf sie zu und herrschte sie an:
"Ich weiß, was du getan hast und auch, daß du dich jetzt gut fühlst."
Meine Banknachbarin, die matronenhafte Thekla, drehte sich um und sagte mahnend:
"Hetty ...?"
Der Lehrer ordnete Papiere auf seinem Schreibtisch und sagte langsam:
"Marianna ..."
Er war selbst unlängst in den Kolonien gewesen und hatte Sandokan und Marianna herbestellt, um sie über die dortigen Verhältnisse zu befragen.
Als Sandokan allein kam, wurde der Lehrer etwas ungehalten:
"Nun, kommst du schon? Und wo ist Marianna, was ist mit ihr?"
"Nichts ist mehr. Tot."
Ich hatte einen Dialog aus einem Drama auf meinem Tisch liegen, und die vier Worte, die Sandokan geantwortet hatte, kamen dort auch vor und waren rot unterstrichen.
Anna zeigte sich unbeteiligt. Der Lehrer blieb gelassen.
"Schon seltsam, diese Jugend von heute", sinnierte er. "Nichts ist denen mehr recht. Erst wollte Marianna nach Mompracem. Und jetzt kommt sie hierher. Soll sie sich nicht wundern, wenn sie mal jemand ermordet."
Sandokan sagte nichts mehr und verließ den Klassenraum.
Ich saß an meinem Tisch und dachte über die Worte des Lehrers nach.
Liebe und Willensstärke werden auch im Film und in der Literatur nicht immer belohnt. Entweder zerstören Verräter und Neider die Beziehung der Liebenden, oder sie finden gar nicht erst zueinander. Die kleine Seejungfrau gerät immer mehr ins Abseits, als sie sich entschließt, ihrer Liebe zu folgen und das Meer zu verlassen. Am Ende will das Leben sie nicht mehr, auch der Tod will sie nicht, ins Meer will sie selbst nicht zurückkehren, weil sie dafür den geliebten Mann töten müßte, und der geliebte Mann schließlich hat ohnehin nie bemerkt, was sie für ihn empfindet. Sie wird zu Nebel und in alle Winde zerstreut, kein Grabstein erinnert an sie.
Die depressive Logik Andersens habe ich mit einem etwas sachlicheren Hintergrund zu füllen versucht. Die Seejungfrau hat sich in ihr Schicksal weitgehend kampflos ergeben; sie ist eine schüchterne Fünfzehnjährige, die nicht gelernt hat, sich zu wehren. Sie hätte jedoch eine ganze Reihe von Möglichkeiten gehabt, ihr Schicksal selbst mitzubestimmen. Sie hätte der Hexe vorschlagen können, statt ihrer Zunge die Muscheln zu behalten, die ihr in den Fischschwanz geklemmt worden sind. Und wenn die Hexe darauf bestanden hätte, die Zunge zu bekommen, hätte die Seejungfrau am Ufer den Prinzen ansprechen können und ihm ihre Sorgen mitteilen können. Er hätte ihr das Schreiben beibringen können, damit sie sich auch ohne Stimme äußern konnte. Sie hätten auch gleich am Meeresufer heiraten können, dann hätte die Hexe in jedem Fall das Nachsehen gehabt. Und wenn der Prinz ihr gesagt hätte, er liebe sie nicht und werde sie nicht heiraten, hätte sie gewußt, daß es sich nicht lohnen würde, den Handel mit der Hexe zu machen.
Wenn der Prinz eine ehrliche, tiefe Liebe zu der fremden Prinzessin empfindet, die er schließlich heiratet, ist es ohnehin fraglich, ob er die Seejungfrau geliebt hätte, wenn sie hätte reden können. Und dann wird es auch fraglich, ob die Seejungfrau wirklich den Prinzen liebt oder ob es ihr vor allem darum geht, aus dem Meer herauszukommen und unter den Menschen ihren Platz zu finden. Ihr Platz ist zwischen allen Stühlen; im Meer fühlt sie sich nicht heimisch, an Land gehört sie eigentlich auch nicht.
Ich finde viele Übereinstimmungen zwischen den Erfahrungen literarischer Figuren wie Marianna und der Seejungfrau und meinen eigenen Erfahrungen. Das uferlose Schicksal der Seejungfrau ist mir vertraut; sie wird in der Welt nicht angenommen, nicht aufgenommen, bleibt immer ausgeschlossen, kommt nie an, findet ihre Bestimmung und Erfüllung nicht. Marianna erlebt eine dauernde Bedrohung und Bedrängnis durch Neider und Verräter; sie hat immer damit zu tun, sich aufzulehnen und sich durchzusetzen. Das Schicksal schenkt ihr dafür Annahme und Bestätigung in der Beziehung mit Sandokan und in der "Gegen-Gesellschaft" auf Mompracem. Neider sind mir ebenso vertraut wie die Annahme und Bestätigung durch eine größere Gruppe von Menschen - meinen Bekanntenkreis und im weiteren Sinne die "Gegen-Gesellschaft" der Schwarzen Kulturszene. Was mir nicht zuteil wird, ist eine verläßliche Beziehung mit Rafa. Nur dieses Gefühl zwischen uns gibt es, das mir seit zwanzig Jahren vertraut ist und an dem ich Rafa auch erkannt habe - das Gefühl, zu lieben und geliebt zu werden. Ich sage deshalb:
"Ich habe Rafa schon geliebt, lange bevor ich ihn kannte."
Mitte Mai war ich im "Zone" mit Laurie, einem Bekannten von Clarice. Laurie trägt einen langen Pferdeschwanz und romantische Rüschenhemden und ist "vom anderen Ufer". Er fand im "Zone" einen Jungen "voll süß".
Laurie kennt das Booklet von Rafas Album "Tanzpalast 2000" und fragte mich, ob ich das Mädchen bin, mit dem Rafa auf seinem Bandfoto tanzt. Ich erklärte Laurie, daß es sich wahrscheinlich um Ivcos Freundin handelt. Rafa scheint sie wirklich so zurechtgemacht zu haben, daß sie mir ähnlich sieht.
Als ich wieder bei Henk zu Besuch war, machte er für uns Lasagne. Henk zeigte mir einen liebevoll verzierten Brief von Deon. Deon gratulierte Henk zum Geburtstag und äußerte wie ich die Ansicht, daß Henk sich endlich mal ein Telefon anschaffen sollte. Ich schlug Henk vor, daß wir Deon gemeinsam in BS. besuchen.
Am nächsten Abend war ich mit Cyra in einem Bistro in WOB., das schick und gemütlich eingerichtet ist. Wir hatten Pasta mit Lachs. Cyra wollte gern mit ins "Zone" kommen. Sie war dort schon lange nicht mehr, wegen der Baustellen auf der A2. Jetzt ist die Autobahn frei und durchgehend dreispurig.
Cyra zeigte mir in ihrem Wohnzimmer einen Ytong-Stein, den Denny durch Bildhauerkunst in eine Skulptur von "Cyberdog" verwandelt hat, dem überirdischen Wappentier einer Techno-Fashion-Marke. Das "Cyberdog"-Emblem befindet sich auch auf einem raffinierten dreidimensionalen Plakat, das Denny für Cyra gestaltet hat und das bei ihr überm Sofa hängt.
Cyra wollte am heutigen Abend noch ausgehen und rief deswegen Denny an.
"Übergeredet", freute sie sich.
Als Denny dann kam, waren die beiden doch zu müde zum Ausgehen.
Am Mittwoch traf Cyra im "Zone" einige Bekannte und Verehrer. Ich sah Asche wieder, der sich auch an Constri noch erinnern kann. Asche bringt gerade ein bemerkenswertes neues Album heraus, von dem Les auch etwas spielte.
Cyra kennt viele Musiker durch ihre Tätigkeit als DJ. Sie achte immer sorgsam darauf, sich nie wie ein Groupie zu verhalten. Sie habe feste Regeln aufgestellt, nach denen sich auch die Musiker richten müßten. Eine beispielhafte Erfahrung habe sie mit Steve N. von And One gemacht. Sie traf ihn dreimal auf Veranstaltungen und stellte erst beim dritten Mal fest, daß sie mit ihm tiefgehende und ergiebige Gespräche führen kann. Beim ersten Treffen stand Steves Ehefrau im Weg, die ihm auf Schritt und Tritt folgte und ihn bewachte, stets wähnend, daß andere Frauen ohnehin alle nur mit ihm ins Bett wollten. Beim zweiten Treffen hielt Steve Hof, die Fans umringen ihn, und Cyra wollte sich in diese Gemeinde nicht einreihen; das hätte gegen die Regel verstoßen, niemals wie ein Groupie zu wirken. Beim dritten Treffen kam Steve zu Cyra ans DJ-Pult und fragte sie, weshalb sie ihn beim letzten Mal nicht begrüßt hätte.
"Wärst du man 'raufgekommen zu mir", erklärte sie ihm.
Sie unterhielten sich lange, und Cyra lernte einen "anderen Steve" kennen, einen nachdenklichen Steve, der bei den vorherigen Treffen hinter seiner Fassade versteckt geblieben war.
In Kingston gibt es im Altbau langgestreckte Katakomben, die sich noch weitgehend in einem Zustand wie vor siebzig Jahren befinden. Da sind uralte Gemeinschaftsduschen mit blauen Zierkacheln zu sehen, und mit Tinte sind geschnörkelte Nummern an die Wände neben den verstaubten Holztüren geschrieben worden; einmal ist da auch zu lesen:
"Tür bitte leise schließen."
Vielleicht sind dort unten früher Patienten beherbergt worden, eine gruselige Vorstellung.
Oben auf dem Speicher sieht es auch verstaubt und altertümlich aus. Es gibt Räume, in denen sich vor mindestens vierzig Jahren mal eine Wohnung befunden haben muß; man sieht noch bedruckte Wände und Tapetenreste. In einem Speicherraum leuchtet der Himmel durch eine gotische Fensterrose. In einem anderen Kämmerlein hört man ein großes Uhrwerk ticken; der Raum ist aber nicht mit dem allgemeinen Schlüssel zu öffnen, wahrscheinlich soll nur zur Wartung der Uhr jemand hineinkommen.
Es gibt eine unbekannte Zahl von Sprüchen über Irrenhäuser. Einen kennt Henk aus seiner Kindheit in GF.:
"Henk, Telefon, Kingston wartet schon, der Arzt hat verschrieben: Gummizelle sieben!"
Eine Kollegin soll Kingston als "Hotel zur lockeren Schraube" bezeichnet haben. Und der Elektro-Schaltraum hat den Namen "Zentrale Schaltstelle des Wahnsinns".
Der Pförtner hat erzählt, daß es einen unterirdischen Gang geben soll, der vom Altbau über einen Kilometer weit bis hinunter zu den Kalkbergwerken reichen soll, wo früher die Geisteskranken arbeiteten. Man wollte sie nicht Tag für Tag durch die Innenstadt führen. Die Patienten sollen damals bestimmte Anzüge getragen haben, an denen man sie leicht erkennen konnte, wenn sie entliefen.
Im Nachtdienst erlebt man, wie bekannt, seltsame Dinge. Morgens um sechs brachten zwei Rettungssanitäter eine ältere Dame. In der Nacht war aufgefallen, daß sie Geschirr aus dem Fenster warf, wobei eine Scheibe zu Bruch gegangen war. Als dann die Polizei zu ihr kam, unterhielt sie sich mit den Plüschbären auf ihrem Sofa und war einem Gespräch nicht zugänglich. Erst als ein Polizist auch begann, mit den Plüschbären zu reden, faßte sie Vertrauen und folgte ihm. Über diese Vorfälle erzählte sie bei der Aufnahme, sie sei jetzt wohl "wegen Bärenallergie" im Krankenhaus. Die Bären hätten bei ihr zu Hause den Fernseher und den Videorecorder kaputtgemacht und sie auch angegriffen. Deshalb habe sie überlegt, welche Vasen sie opfern konnte, und sie habe diese Gegenstände nach den Bären geworfen.
"Alle habe ich nicht totgekriegt", meinte sie. "Und dann kam ein Polizist, das war aber auch ein Bär, der sich als Polizist verkleidet hatte. Und meine Nachbarin war in Wirklichkeit auch ein verkleideter Bär."
Ein anderer Patient hatte kurz nach seiner letzten Entlassung, die gegen ärztlichen Rat erfolgt war, damit begonnen, seine verstorbene Mutter wieder auszugraben. Er sehe sie immer und wolle nachschauen, ob sie auch wirklich tot sei und in dem Sarg liege. Er hatte sogar jemanden darum gebeten, ihm bei Ausgraben zu helfen. Daraufhin erfolgte dann die Einweisung.
Eine Nachtschwester erzählte eine zynisch-tragische Geschichte aus einer Inneren Abteilung:
"Es ging einem alten Herrn schon viel besser, und er sollte vor Weihnachten entlassen werden. Als den Angehörigen das mitgeteilt wurde, haben die gefragt:
'Ach, könnten Sie Opa nicht bis nach Weihnachten hierbehalten? Da nämlich, wo sonst immer sein Lehnstuhl steht, steht jetzt der Tannenbaum.'"
Im "Lost Sounds" klagte Reesli, er würde immer soviel reden und bekomme kein Feedback. Norman vermutete, Reesli habe seine Kindheit nicht bewältigt. Reesli erzählte, er sei von seinen Eltern geschlagen worden, der Vater habe auch die Mutter geschlagen, und Geborgenheit habe es nicht gegeben. Er habe sich unverstanden gefühlt.
Shirley berichtete Neues über das Verhalten von Sasch, ihres Ehemaligen. Sasch ist vor mehr als einem Jahr mit einem Mädchen namens Helena zusammengekommen und zog auch mit ihr zusammen. Vorletzte Woche soll er beiläufig zu Helena gesagt haben:
"Ich ziehe in den nächsten Tagen nach HH., ich habe da einen Job, und ich will nicht, daß du mitkommst."
Helena, vor den Kopf gestoßen, mußte die gemeinsame Wohnung aufgeben und zog fürs Erste zu Janice und Talis, um sich auszuweinen.
Sasch hatte sich bereits im Vorfeld in HH. eingerichtet; nicht nur der Job war herbeigeschafft, sondern auch eine neue Freundin, die es wahrscheinlich schon vor dem Job gegeben hat.
"Er hat immer mehrere in der Warteschleife", erzählte Shirley. "Ich habe damals gerade noch rechtzeitig den Absprung geschafft, bevor er mich betrogen hat."
Sanina ist beinahe fertig mit ihrer Ausbildung zur PTA und wird wahrscheinlich ebenso wie Sarolyn in einer Apotheke arbeiten. Sie hat in den letzten Wochen zum Bedienen in der "Neuen Sachlichkeit" keine Zeit mehr gehabt und auch nicht gewagt, als Gast zu erscheinen, weil sie befürchtete, dann hinter die Theke beordert zu werden.
Am Mittwoch begegnete mir Ivco im "Zone", in einer Parade-Militärjacke aus dem neunzehnten Jahrhundert. Die Jacke ist kunstvoll bestickt. Ivco hat sie als Antiquität für teures Geld erworben. Er trug dazu ein weißes Hemd mit Halsbinde und Jabot. Ivco stellte mir einen blonden Jungen mit toupierten Haaren und schwarzen Kajalstrichen vor. Der Junge heißt Gavin und hat die "Exil"-Wiedereröffnung mitgefilmt. Er möchte mir eine Kopie des Videos geben, auf dem auch Constri und ich zu sehen sind. Wenn ich das Video bekomme, habe ich auch erstmalig Filmaufnahmen von Rafa.
Zum Geburtstag bekam Constri von Elaine ein Bild in Lila. Erdnußkopf beschäftigte sich viel mit Elaine. Sie hat einen neuen Rufnamen für ihn: "Midri". Sie spielte mit ihm "Mutter und Kind", und er mußte das Baby spielen. Dabei schlief er ein, und Elaine umwickelte ihn mit Kleenexpapier.
Terry trug ein Rokokokleid mit Schnürcorsage. Sie saß mit Linus, Clara und Ray auf dem Sofa, und die Damen wetteiferten darin, wer sich die zweideutigsten Sprüche ausdachte.
Clarice war endlich wieder einmal bei uns. Ihr Freund Leander mußte des Studiums wegen nach OS. ziehen, und die beiden leben jetzt zusammen dort. Clarice fühlt sich in OS.außen vor und wäre lieber wieder in H.
Sadia schilderte das seltsame Verhalten ihres Ehemaligen, Kasim, der sie immer noch telefonisch belästigt. Das hat mich an den Sockenschuß erinnert.
Giulietta, Constri und ich haben den Zungenbrecher mit den Flitzefischen noch erweitert. Giulietta findet es nicht so gut, wenn Fischers Nietzsche niedliche Flitzefische frittiert. Lieber wäre ihr:
"Niedliche Flitzefische frittieren Fischers Nietzsche."
Sie stellte sich das bildlich vor:
"Da stehen die alle um die Fritteuse herum und flösseln."
Weil Constri das Wort "Spritzenbeschriftungsstift" einbrachte, ging es weiter mit:
"Niedliche Flitzefische bekritzeln spitze Spritzen mit Spritzenbeschriftungsstiften."
Constris Geburtstagsfeier ging bis zum Morgengrauen. Kurt erzählte eine "Morgengeschichte" von seiner Geburtstagsfeier im Mai und gestaltete sie dramatisch und gestenreich aus:
"Es war nach unserer Party. Ich hatte die ganze Nacht getrunken und zwei Stunden geschlafen. Ich konnte kein Essen mehr sehen. Meine Eltern kamen zum Geburtstagsbesuch, und meine Mutter brachte eine riesige Sahnetorte mit. Ich dachte nur:
'Die Schlacht mußt du jetzt schlagen.'
Ich habe mein Tortenstück angeguckt:
'Sahne, komm' zu mir!'
Und dann habe ich das ganze Tortenstück aufgegessen - ohne zu kotzen! Es ist wirklich dringeblieben, ich habe nicht gekotzt!"
"Aber nachher dann, auf dem Klo", setzte Cecile hinzu.
"Hättest du deiner Mutter nicht auch sagen können, daß du das Stück lieber später ißt?" fragte ich.
"Unmöglich!" rief Kurt wissend. "Das ist vollkommen unmöglich, meiner Mutter so etwas zu erklären. Nein, das Tortenstück mußte ich essen."
Als Kurt auf Constris Feier schon seinen "Pegel" erreicht hatte, versuchte er die anderen Gäste zum Weitertrinken zu überreden, obwohl die längst bei Kaffee angekommen waren. Sein Kollege Marco war auch da; er hilft Constri dabei, ihren Rechner internetfähig zu machen. Kurt wollte wohl ein gutes Werk tun und fing in Dereks Anwesenheit mit dem Kuppeln an. Marco scheint sich für Constri zu interessieren, und Kurt findet vielleicht, daß Marco für Constri eine bessere Partie wäre als Derek. Freilich kam Kurt nicht auf den Gedanken, Constri nach ihrer Meinung zu fragen. Derek machte Constri später eine heftige Szene, in der er sich selbst als Unschuldsengel darstellte und Constri als Verräterin.
"Gelassenheit ist alles", sagte ich zu Constri.
Sarolyn hat Rafa zu Pfingsten in L. kurz gesehen, wie er mit seiner Freundin herumschlenderte. Er soll sehr brav angezogen gewesen sein, mit Sakko. Berenice soll etwas Schwarzes angehabt haben und ihren braunen Teddybär-Rucksack getragen haben; sie wirkte auf Sarolyn recht unscheinbar.
Intenationale Gäste sollen Rafas Auftritt recht überzeugend gefunden haben.
Mitte Juni war ich auf Ferrys Geburtstagsfeier. Dort begrüßte mich Alienne, die inzwischen einen neuen Freund hat, Roy. Alienne berichtete, Ivo Fechtner habe sie mal zudringlich angefaßt, deshalb habe sie sich mit ihm heftig gestritten. Sie sei vor längerer Zeit mal an einen Stuhl gefesselt worden, deshalb fühle sie sich schnell bedrängt. Aber sie sei jetzt nicht mehr so aggressiv wie früher. Ihre Arbeitsgeber lobte sie sehr; die beiden Praxisinhaber, für die sie als Arzthelferin arbeitet, seien "wie Eltern" für sie. Sie wüßten sie zu nehmen.
Wie ich mir gedacht hatte, hat Alienne ihren Bekanntenkreis schon wieder nach dem Freund-Feind-Prinzip umsortiert. Aimée mußte jetzt auf die Feind-Seite überwechseln. Mit Beatrice verstehe sie sich hingegen "sehr gut".
Ferry hat viele alte Bekannte, die sich im Rechtsaußen-Bereich tummeln. Er kennt sie seit etlichen Jahren, hat sich aber nicht mit ihnen nach rechts entwickelt. Lediglich die Musik der Neonazis findet sich auch in seinem CD-Regal, darunter Bands wie die "Zillertaler Türkenjäger".
Nachts war ich noch im "Exil". Dort kam mir Gavin entgegen und gab mir die versprochene Videokassette. Er wollte nicht mehr dafür haben als ein Bier von der Theke.
Ein Junge riet mir eindringlich, Rafa endlich zu den Akten zu legen. Der verdiene mich gar nicht.
"Und ich bin sicher, hier gibt es ... mindestens zwanzig Jungen, die auf dich stehen", setzte er hinzu.
Abraxas spielte außer Industrial-Clubhits wie "Effects vs. sustainability" von Winterkälte, "Threshold" von Eisengrau und "Engine crash" von Sona Eact auch eine schräge Coverversion von "Bitterkeit" von L'âme immortelle. Statt "Tief in einer Welt, wo Gefühle nichtig sind ..." heißt es:
Tief in meinem Zelt,
irgendwo und nirgendwo,
hab ich mich eingesperrt,
denn ich muß ganz stark aufs Klo.
Ich unterdrück' den Pißreflex,
so gut es nur gelingt,
doch es ist wie verhext,
was mich hier dazu zwingt.
Dann kommt der Refrain; statt "Überall ist Bitterkeit, Verzweiflung und der Tod ..." heißt es:
Überall nur "Dixi"-Klos,
Scheiße, kein Papier,
fäkaler Duft überall,
ich wünschte, ich wär' nicht mehr hier.
Ungefähr so geht das Stück dann auch weiter.
Kurz bevor ich heimfuhr, sprach mich ein Mädchen an, das mich vom Sehen kennt. Es heißt Doro und erzählte von einer Bekannten, die in der Psychiatrie von Snd. arbeitet; Doro weiß daher über die dortigen Verhältnisse bescheid.
Gavins Video finde ich für ein Amateurvideo gar nicht schlecht. Constri und ich sind mehrmals zu sehen, auch Rafa, wie er am DJ-Pult steht und "Fade to grey" von Visage mitsingt. Hinter ihm sitzt Berenice mit einem übellaunigen "Bewacher-Blick". Edaín winkt in die Kamera. Man sieht Rafa und Berenice nicht beim Austausch von Zärtlichkeiten.
In einem Traum sah ich Rafa mit Berenice an einer Theke sitzen. Sie entdeckte die Kamera, beugte sich sogleich zu Rafa und ließ sich von ihm küssen. Er konnte die Kamera nicht sehen, weil er ihr den Rücken zukehrte.
Als ich aufwachte, wußte ich zuerst nicht, ob ich wirklich nur geträumt hatte. Ich dachte, ich hätte mich geirrt, und Rafa ist in Gavins Video doch mit Berenice beim Küssen zu sehen.
Während eines Wochenend-Blockseminars schlief ich kurz ein und träumte, ich hätte in dem Wald auf einer Nordseeinsel, der sich auf dem ehemaligen Rollfeld eines Militärflughafens befindet, 30.000,- DM versteckt. Ich wollte durch den Wald gehen und das Geld suchen.
Mittags war ich mit vier Kollegen in einem türkischen Imbiß, und wir waren sehr albern. Ein Kollege würgte mich, weil ich noch mehr Patienten auf seine Station verlegen wollte.
Nachts waren Constri, Laurie und ich bei "Stahlwerk". Darien berichtete, er habe die gerade erworbene Selbständigkeit als Webdesigner mit einer gut bezahlten Stelle in der Branche vertauscht, da er noch nicht über ein ausreichendes finanzielles Volumen verfügt habe. Steffen ist immer noch nicht in Los Angeles, wohin er sich eigentlich versetzen lassen wollte. Er arbeitet nach wie vor in M. Mal und Dedis sind weiterhin zusammen. Sofie hat einen neuen Freund, den ich nicht näher kennenlernen möchte. Es handelt sich um einen verwahrlost wirkenden Herrn, der einer von unseren Patienten auf der Suchtstation sein könnte. Er meint, vieles besser zu wissen als andere, vor allem was Politik betrifft.
Bei "Stahlwerk" lief dieses Mal eine schräge Variante von "Feierabend in Kiew", "Am Ende" von KiEw, wo die abgebrühte Moderatorinnenstimme, die in "Feierabend in Kiew" zu hören ist, in einen sakral anmutenden Chorgesang umgewandelt wird und in verschiedenen Tonhöhen mit daruntergesetzten Akkorden dauernd wiederholt:
"Danach ist der Gegner am Ende ... wenn der Schiedsrichter dann nicht dazwischengeht ... na, dann muß der Junge halt sterben."
In den Szene-Magazinen gibt es weitere begeisterte Rezensionen für Rafa. In einer wird Rafas "Starfighter"-Stück als "hochelektronisches Schnellfeuer" beschrieben, passend zu Rafas Kriegerjargon. Es wird von "treibenden, hämmernden Beats" gesprochen. Ich erlebe die Rhythmen, die Rafa verwendet, als zahm und verklemmt.
"Der nimmt immer dieselben Beats", meinte Cyra fachkundig, "da kommt einfach nichts Neues."
Auch Laurie meinte, unabhängig davon:
"Der sollte mal die Beats auswechseln."
In der Rezension werden für Rafas Musik Begriffe wie "spielerisch", "poppig-leicht", "locker-flockig", "gekonnt" und "überzeugend illustriert" verwendet. Daraus läßt sich ableiten, wie Rafa wahrscheinlich gerne wirken möchte - lustig, professionell und ausreichend oberflächlich. Auf mich wirkt seine Inszenierung jedoch prahlerisch, angespannt und unsicher.
Rafa soll es bis auf Platz 4 in den Alternativ-Charts geschafft haben. Die auf 3000 limitierte MaxiCD "Starfighter F-104G" sei fast vergriffen.
Seltsamerweise finden sich in den Rezensionen unterschiedlicher Zeitschriften ähnliche oder gar wortgleiche Beschreibungen von Rafas Musik, so daß der Verdacht entsteht, Rafa könnte nachgeholfen haben, etwa durch Eigenwerbung, die den Promo-Exemplaren beigelegt wurde. Die Rezensenten mußten dann nur noch entscheiden, ob ihnen die CD einigermaßen gefiel und konnten in diesem Fall Rafas eigene Werbetexte unmittelbar in die Rezension übernehmen. Das erleichtert den Rezensenten die Arbeit, und Rafa kann auf diese Weise sein eigenes Vokabular erschaffen und verbreiten, so daß sich in Fankreisen eine "Rafa-Kultsprache" bildet, an der die Jünger sich gegenseitig erkennen können. Die typische "Rafa-Freundin" wird begeistert diese Sprache zu ihrer eigenen machen und stolz darauf sein, in einer so "elitären" Sprache mitreden zu dürfen. Rafa wird sich ausrechnen, daß er von mir genau das nicht erwarten kann. Ich bezeichne seine Alben nicht als "Radiosendung", ihn selbst nicht als "Moderator", die Auftritte nicht als "funken". Rafa betont immer wieder die Tanzflächen-Tauglichkeit seiner Musik, und ich gehöre zu denen, die stets die Tanzfläche verlassen, wenn eines seiner Stücke anfängt. Eine der wenigen Ausnahmen ist "Ganz in Weiß", und das wird seit Jahren nicht mehr gespielt.
Im Booklet von Rafas MCD "Starfighter F-104G" sieht man eine Bildfolge:
"W.E besichtigt die Starfighter F-104G im Luftfahrt-Museum H."
Wie kleine Jungen, die gern große Experten wären, bestaunen Rafa und Dolf das uralte Flugzeug. Ich kann mir vorstellen, daß Rafa mit seinem Vater auch schon dort war und daß in ihm Kindheitserinnerungen aufgewacht sind.
Rafa nennt eine "Soraya" und eine "Kitty", die in "23" gesungen - eher noch gesprochen - haben sollen; das Lied beginnt mit einem kurzen Dialog zwischen Rafa und einem Mädchen, in dem er dem Mädchen Zusammenhänge zwischen dem Hacker 23 und dem C64 vermitteln will. Das Mädchen redet mit einer unsicheren, gefügigen Stimme, die zu Berenice passen würde. Ich nehme an, daß sie mit "Soraya" gemeint ist, weil sie brünett ist. Letztes Mal hieß sie noch "Chakotay". "Kitty" kann jenes Mädchen sein, von dem ich kürzlich gehört habe, daß Rafa sie unbedingt als Sängerin haben wollte, obwohl sie nicht singen kann.
Am Sonntagabend hörte ich mir "Ich bin nicht von dieser Welt" auf der MCD "Starfighter F-104G" an, ein Stück, von dem ich noch am ehesten Aufschluß über Rafas derzeitige Verfassung erhoffte:
Ich bin gefangen in mir.
Mein Geist sehnt sich davon,
doch mein Körper ist gebunden im System.
Dies ist hier nicht mein Leben,
dies ist nicht mein Planet.
Ich seh' euch rennen, schreien, fliehen vor euch selbst.
Doch ich warte nicht erst auf ein Morgen,
die Flut kommt längst nicht mehr.
Und so ziehe ich die Konsequenzen,
denn es gibt nichts, was mich hier hält.
Ich bin nicht von dieser Welt,
ich will zurück auf meinen Stern.
Denn dort oben ist die Neue Welt so nah.
Ich bin nicht von dieser Welt,
ich will zurück auf meinen Stern.
Und wir könnten, wenn wir wollten, längst dort sein.
Komm' und flieg' mit mir davon.
Wann können wir endlich starten?
Ich stehe auf der Schwelle zu einer neuen Welt
und schau' noch einmal zurück.
Du sagst, du liebst nur mich.
Doch ich hab' dich noch nie gesehen.
Ich wasche meine Hände in Unschuld.
Das habe ich nicht getan.
Was ihr auch denkt und tut,
dem Erbrechen bin ich nah.
Jetzt steh' ich über allen Dingen.
Ich fang' von vorne an.
Und so schau' ich zurück
und sehe, wie ihr euch nun selbst zerstört.
Irgendwas stimmt hier nicht mehr.
Der Vers:
"Und so ziehe ich die Konsequenzen,
denn es gibt nichts, was mich hier hält."
- das könnte aus dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders stammen. Gibt es wirklich diese Verzweiflung in Rafas Leben? Oder ertränkt er seine Gefühle erfolgreich in Oberflächlichkeit?
Das "Gefangensein in mir selbst" ist ein häufiges Thema bei ihm. Schlimmstenfalls kann er den Selbstmord als einzige Flucht aus diesem Gefangensein erleben. Vor fünf Jahren hat er zu mir gesagt, er fühle sich ganz wohl in seinem Gefängnis.
Die Zeile:
"Das habe ich nicht getan."
gibt Hinweise auf Schuldgefühle. Was wirft er sich vor? Sollte er sich etwa doch anlasten, daß er dauernd Leute belügt, betrügt, wegstößt und verachtet? Bisher hatte ich eher den Eindruck, daß er die Verantwortung für diese Taten von sich weist. Ich kann mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, daß er sich Vorwürfe macht, weil er meine Liebe mißachtet und ablehnt. Er vertritt die Ansicht, daß ich selber schuld sei, wenn ich an ihm festhalte; er könne nichts dafür, daß er für mich nichts empfindet. Meine Liebe ist für ihn nichts wert. Er ist der Ansicht, nie darum gebeten zu haben.
Ich lauschte dicht am Lautsprecher, wie an einem Telefonhörer, und versuchte, die Musik zu überhören, die mir nicht gefällt, und nur auf Rafas Stimme zu achten. Dann ging ich schlafen und hatte folgenden Traum:
Es wurde Abend. Ich war auf dem Fernmeldeturm in unserem Stadtteil, den man von weither sehen kann. Es ist ein viereckiger Betonturm, erst acht Jahre alt, und nur einmal im Jahr kann man ihn besichtigen. Hoch oben in der "Kanzel" gibt es Räume, die sind ganz aus Beton und offen nach draußen, mit viereckigen Fensteröffnungen, die die gesamte Höhe des jeweiligen Stockwerks einnehmen. Einige Räume sind auch geschlossen. Es gibt mehrere Etagen, die Böden aus Stahlgittern haben, und man kann durch diese Stahlgitter den Blick in die Tiefe stürzen lassen. In dem Traum sah die Kanzel etwas anders aus; die Zimmer dort oben waren meine Wohnung, die sich in Wirklichkeit auch in einem Dachgeschoß befindet, aber nur im dritten Stock. In dem Traum hatte ich jedoch Weitsicht überall hin. Ich sah durch Stahlgitter eine Etage tiefer und schaute den Arbeitern zu, wie sie Aluminiumkisten ausräumten. Sie fragten mich, ob ich mitmachen wollte, aber dieses Arbeiten am Abgrund war mir doch zu gefährlich. Ich betrachtete eine Außentreppe aus Stahlgittern, die am Turm entlang nach unten führte, und stellte mir vor, wie ich darauf hinabstieg. Ein seltsames Geplauder ließ mich aufmerken. Ich entdeckte neben meinem Bett eine verwirrte alte Dame, die versehentlich auf den Turm gekommen war und mir nicht sagen konnte, in welchem Altenheim sie wohnte. Ich dachte mir, daß man sie wohl vergeblich suchen würde, wenn ich nichts unternahm. Die Dame konnte noch den Namen eines Altenheims nennen, wo sie vor fünfzehn Jahren mal gewohnt hatte, und dort würde man vielleicht wissen, wo sie jetzt lebte. Ich nahm mir vor, über mein Handy Verbindung zu dem Heim aufzunehmen.
Die nächste Entdeckung war Rafa, im weißen Piratenhemd, mit einem straff gebundenen Pferdeschwanz und hoch ausrasierten Haaren. Er stand mitten im Zimmer, dicht neben mir. Ich fühlte die Nähe seines Körpers, und ich fühlte Wärme und Innigkeit zwischen uns. Während wir miteinander sprachen, wurde Rafa zu einer Stimme am Telefon. Es gab viel, über das uns zu sprechen drängte. Was jedoch immer außen vor blieb, war die Frage, ob Rafa eine Freundin hatte. Ich dachte darüber gar nicht nach. Rafa wurde schließlich unruhig:
"Ich muß jetzt aufhören. Bitte, ruf' mich doch mal an."
Ein Stockwerk tiefer traf ich drei Kollegen, mit denen ich schon öfter in einem türkischen Imbiß zum Essen war. Wir alberten miteinander herum. Laute, quietschende Geräusche unterbrachen uns; wir drehten uns um und sahen die verwirrte alte Dame auf einem Tisch sitzen, die reichlich Unsinn von sich gab, Silben, Satzhälften, und nichts paßte zusammen. Sie wirkte dabei munter und immer fröhlich.
"Ich muß endlich in diesem Altenheim anrufen", fiel mir ein.
Wenn es mir gelungen ist, im Traum unmittelbaren Zugriff auf das Unbewußte zu nehmen, hat Rafa mir am Lautsprecher mit seiner Stimme sagen wollen:
"Bitte, ruf' mich doch mal an."
Ich will ihn ja gerne anrufen, aber eine Aufforderung im Traum genügt noch nicht. Rafa muß in der Wirklichkeit auf mich zukommen und mich darum bitten, und er muß sich vorher von Berenice getrennt haben.
Den Fernmeldeturm habe ich vor Kurzem erst besichtigt, ich war mit Merle und Elaine dort oben. Um den Turm gab es viele festliche Attraktionen, vor allem für Kinder.
Ende Juni war ich mit Laurie und Roman im "Zone". Les erzählte, Rafa sei letztes Mal dagewesen und irgendwann vorher auch. Als er letztes Mal da war, habe er einen Bekannten dabeigehabt, Berenice sei aber nicht dabeigewesen.
"Nie treffe ich ihn hier", seufzte ich.
Wen ich stattdessen traf, war Ivco. Er berichtete, er sei "mit Rafa und Dolf" beim Pfingstfestival in L. gewesen, weil die noch einen Helfer brauchten. Berenice erwähnte er mit keinem Wort, obwohl sie ebenfalls dabei war. Die meiste Zeit sei man in einer Konzerthalle zum Aufbauen gewesen; wegen organisatorischer Probleme habe man keine Zeit gehabt, sich die Verkaufsstände und die übrigen Veranstaltungen in L. in Ruhe anzusehen. Der Veranstalter habe sich am Sonntagmorgen mit der Kasse aus dem Staub gemacht und die Bands sich selbst überlassen. VNV Nation, Apoptygma Berzerk und Rafa gehörten zu denen, die sich bereiterklärten, auch ohne Gage aufzutreten, um die Fans nicht zu enttäuschen.
"Wenn ich an Rafas Stelle gewesen wäre, wäre ich auch aufgetreten", meinte ich, "allein schon, weil ich mich darauf eingestellt und alles vorbereitet hätte. Und ich denke, am Ende gewinnt man mehr, als man verliert, wenn man seinen Fans die Stange hält und darauf achtet, eine vernünftige Kundenwerbung zu betreiben."
"Den Gedanken haben And One nicht gehabt", erzählte Ivco. "Die haben gesagt, wenn nicht gezahlt wird, spielen wir nicht, und fertig."
"Das rächt sich", meinte ich. "Jetzt schwebt Steve N. noch auf sieben Wolken, aber der Absturz kann schnell kommen, gerade in dem Geschäft. Es ist so wichtig, außer der Musik auch eine sichere Einkommensquelle zu haben."
Ich wollte nicht zu Rafas beruflicher Situation überleiten und erzählte nur von der meinen:
"Von Kingston will ich nicht mehr weg."
Ivco hat es schwer; er wird als Berater für bestimmte Projekte eingesetzt, die alle befristet sind. Wenn gerade kein Projekt anliegt - wie derzeit -, arbeitet er nur seinen Kollegen zu, und das "nervt inzwischen voll an".
Im "Zone" traf ich ein Mädchen namens Nancy, das mich vom Sehen kennt.
"Meine Schwester wohnt in SHG.", erzählte Nancy, "die kannte Rafa auch, fand ihn aber schon bald nicht mehr so besonders sympathisch, weil er immer so getan hat, als wenn er was Besseres ist, wegen W.E und so."
Les spielte von Rafa dieses Mal "Verlieb' dich in mich".
Als ich Nachtdienst hatte und Constri sich um Bisat kümmerte, legte sie mir wieder eine ihrer frechen Botschaften hin:
"Hi Gustl,
ich war so frei, meinen wunderschönen Körper bei Dir zu duschen. Bisat hat heute 3 Tüten Weichfutter bekommen (gestern Abend hab ich es nicht hierher geschafft).
Schlaf schön
Bis morgen"
Kollegin Convy hat erzählt, daß die verwirrte siebzigjährige Mutter ihres Lebensgefährten ungern ihre Tabletten nimmt. Sie hält sie so lange in der Hand, bis sie zu Boden fallen, und dann schnappt der Hund die Tabletten im Flug auf.
"Eine Zeitlang bekam er Aricept", erzählte Convy über die medikamentöse Behandlung des Hundes, "und zur Zeit nimmt er, glaube ich, ein Magenmittel. Das kann er aber auch brauchen, denn er frißt auch das gesamte Essen von meiner Schwiegermutter."
Aricept ist eines der drei Medikamente gegen die Alzheimer-Demenz, die das Fortschreiten der Erkankung nachweislich bremsen. Im Falle von Convys Schwiegermutter würde nur der Hund etwas davon haben, vorausgesetzt, er wäre alzheimerkrank.
Kollege Den hat erzählt, daß er einen Patienten im Alkohol-Entzugsdelir aufgenommen hat, der auf seinem T-Shirt Landkarten gesehen hat und mit der U-Bahn über die Felder nach WOB. fahren wollte.
Wir bekamen einige Zeit danach im Dienst einen Unbekleideten, der sich auf dem Standstreifen der A2 aufgehalten hatte. Eine Nacht später gab es noch einen Unbekleideten, den ich im Dienst in Empfang nahm. Man hatte ihn in einer Bahnhofstoilette gefunden. Zunächst hatte man ihn ins Allgemeinkrankenhaus gebracht, wo der Versuch fehlschlug, ihm etwas anzuziehen. Er lief im eigenen Pelz quer durchs Krankenhaus, und es kostete viel Mühe, ihn einzufangen. Bei seiner Ankunft in der Psychiatrie warf man ihm notdürftig ein Flügelhemd über und geleitete ihn auf die geschlossene Akutstation. Als er Medikamente bekommen sollte, rief er:
"Ich danke ab!"
Mit Haldol und Valium löste sich der Wahn rasch auf. In der Folgezeit behielt der Patient seine Kleider an, und man konnte sich wieder mit ihm unterhalten. Er leidet an chronischer Schizophrenie und hat wahrscheinlich seine Medikamente nicht regelmäßig genommen.
Anfang Juni war ich im "Exil". Am Eingang stand Edaín und berichtete, ihr Tag sei ziemlich anstrengend; sie habe ihre Vollzeitstelle in Bad H. und übernehme auch noch die Organisation für Kappas Veranstaltungen.
"Und du legst mit ihm auf", ergänzte ich.
"Ach ... ich mach' halt für ihn die Pausenvertretung."
"Die Pausen sind aber ganz schön lange, ich hab' aufgepaßt."
Die "Exil"-Parties soll vielleicht nun doch nicht mehr stattfinden. Edaín erzählte, man habe ein ehemaliges Fabrikgelände aufgetan, das jetzt "Laser" heißt. Dort gibt es am nächsten Samstag eine Veranstaltung und zwei Wochen später noch eine. Auch dort soll auf zwei Areas aufgelegt werden.
In einem Szenemagazin gibt es einen Artikel über "Röcke für Männer", mit einem historischen Abriß und dem Portrait einer Firma, die vor allem solche Kleidungsstücke herstellt.
"Es wird bald nichts Ungewöhnliches mehr sein", ist man optimistisch.
Auf einem Foto kann man mehrere hübsche Kerle in Röcken besichtigen.
"Röcke für Männer sind sexy", heißt es.
Wahrheitsgemäß, wie ich finde.
In der Szenepresse gibt es mehrere Berichte über das Pfingstfestival in L. Auf einem Foto ist Rafa zu sehen, mit blaugetönter Brille, am Mikrophon. Im Hintergrund steht Berenice an einem Synthesizer, mit zusammengeknoteten Haaren, 50er-Jahre-Sonnenbrille und einem bodenlangen Corsagenkleid aus dunkelgrünem Satin. Diese Aufmachung ist von ihrem eigentlichen Stil weit entfernt. Ich nehme an, daß Rafa die Sachen ausgesucht hat.
In einem anderen Bericht klagt Ace über den diesjährigen Skandal beim Pfingstfestival, als der Veranstalter falsch gerechnet und einen Teil der Bands nicht bezahlt habe, schließlich sogar geflüchtet sei. Ace berichtet auch über eine Talkrunde im Rahmen des Pfingstfestivals, an der Rafa teilgenommen hat. Ace erwähnt Rafa als "Rafa Dawyne", nicht als "Honey". Rafa erzählt in den Interviews viel, macht aber keine Angaben über sich selbst und seine Lebensgeschichte.
Mit Laurie war ich am nächsten Samstag im "Radiostern". Laurie traf dort einen Bekannten namens Pete, der gegenüber von Rafa wohnt. Pete findet, Rafa zeigt ein elitäres und arrogantes Gehabe:
"In diese Clique kommt man wohl nur, wenn man bestimmte Aufnahmekriterien erfüllt."
"Ich erfülle die nicht und bin stolz darauf", sagte ich, als Laurie mir das erzählte. "Ich will gar nicht in diese Clique. Ich will nur Rafa."
Ein Juliwochenende verbrachte Constri mit unserer Mutter an der Nordsee. Sie schrieb mir eine Postkarte:
"Hi Gustl,
aufgrund deiner Beziehung zu Schiffen habe ich mit besonderer Liebe diese Karte gewählt. Strahlt dieser stolze Fischkutter nicht eine gewisse Form der Leichtigkeit aus? Ist dies nicht die Unbeschwertheit, nach der wir schon immer suchten? Ist sie nicht genau hier, in dem erhabenen Mast, in dem unerschrockenen Bug zu finden?"
Damit spielt sie auf ein Wochenende in B. vor dreizehn Jahren an, als ich in einem Überraschungs-Ei einen Bausatz für ein Plastikschiffchen gefunden habe. Während ich damit beschäftigt war, das Schiff zusammenzubauen, sagte ich in Gedanken:
"Eigentlich habe ich zu Schiffen gar keine Beziehung."
Constri hat damals tagelang darüber gelacht.
Mit der Postkarte spielt Constri auch auf unsere Comics an, die wir Anfang der Achtziger Jahre gemacht haben. Es begann damit, daß wir ein beliebiges Bild aus einem Comic ausgeschnitten und oben auf eine DIN A4-Seite geklebt haben. Nun ging es darum, zu diesem Bild einen möglichst tiefsinnigen Text zu schreiben, der das Bild als besonderes Kunstwerk darstellte und die Geschichte, die darin erzählt wurde, möglichst abenteuerlich verdrehte. In der Folge habe wir dann den gesamten Rest des Comics zerschnitten und zu neuen Geschichten und mehreren Psychotests verarbeitet. Es handelte sich genau genommen um zwei Comics, die wir auch miteinander vermischt haben: "Heidi" und "Der Schatz im Silbersee". Jahre zuvor, als ich sieben war, hatte ich bei meiner Tante diese Comics schon fasziniert gelesen, und mit vierzehn fand ich sie bei ihr wieder und durfte sie mitnehmen.
Am 22.07. um 22.18 klingelte das Telefon. Ich nahm ab und meldete mich:
"Ja?"
Ich hörte nur Techno-Mainstream-Musik im Hintergrund, zwischendurch Rauschen, wie bei ungenügendem Handyempfang.
"Ja?" sagte ich noch einmal, es blieb aber dabei.
Das Telefon schien irgendwo abgelegt oder auch eingesteckt worden zu sein.
Man hörte gedämpft die Stimme eines Mannes und einer Frau. Was sie sagten, was kaum zu verstehen. Die Frauenstimme konnte durchaus die von Berenice sein, die Männerstimme paßte durchaus zu Rafa. Der Mann sagte irgendetwas über einen Ferienort an der Nordsee, St. P. O., und auch die Zahl "23" wurde genannt, vielleicht auch nur als Hausnummer und nicht als Anspielung auf den Film oder das Lied, das Rafa daraus gemacht hat.
Zwischendurch herrschte Schweigen, dann sagte der Mann:
"Hättst mal den Motorroller nehmen sollen."
"Nee-hee", lachte die Frau etwas unbeholfen.
Sie war wohl nicht passend für einen Motorroller angezogen.
Kurz danach schien sie dem Mann ihre Abendgarderobe vorzuführen.
"Gut, ne?" fragte sie.
"Geht, ja", bestätigte er.
Dann, etwas unsicher, fragte sie nach:
"Geht so?"
"Ja!" bestätigte er noch einmal, als wollte er sagen:
"Dann können wir doch jetzt los."
Das "Nee-hee" der Frau hätte von Verona Feldbusch stammen können, so naiv und kieksig hörte es sich an. Mir fällt dazu ein, daß Sazar schon 1997 berichtet hat, die Stimme von Berenice klinge so wie die von Verona Feldbusch.
Die Technomusik im Hintergrund ging immer mehr in ein Rauschen über und löste sich darin schließlich auf. Man hörte jemanden vor sich hinpfeifen, dann ging jemand eine lange Strecke mit harten Sohlen auf hartem Boden, und man hörte das immer gleichmäßig, die Schritte entfernten sich nicht, so daß davon auszugehen ist, daß der Anrufer das Handy bei sich trug, von dem aus er meine Nummer gewählt hatte. Die Frau wußte wahrscheinlich nicht, daß die Leitung offen war. Erst nach zehn Minuten war die Verbindung beendet, vielleicht automatisch, weil kein Gespräch stattgefunden hatte.
"So", dachte ich, "Rafa macht also wieder Telefonstreiche."
Durch Saara weiß ich, daß Berenice einen Motorroller hat, mit dem sie oft nach SHG. fährt. Und außer Saara, höchstens noch Velvet, kenne ich sonst niemanden, der einen Motorroller hat. Auch die Zahl derer, die meine Nummer haben und gleichzeitig einen Grund, bei mir anonym anzurufen, ist eng begrenzt.
Zweieinhalb Stunden später kam ich mit Constri, Derek, Sarolyn und Victor ins "Laser", wo Kappa eine Tanzveranstaltung gab. Als ich durch einen Flur ging, sah ich Rafa im schwarzweißen Hahnentritt-Sakko, der seine Freundin an der Hand führte. Ich schaute ihm ins Gesicht, lächelte und sagte "Hi", so schnell und flüchtig, daß er keine Zeit hatte zum Reagieren. Er wird meine Stimme bei der Lautstärke wohl auch nicht gehört haben.
Die Freundin hatte ein schwarzweiß gestreiftes rückenfreies Top an und dazu einen langen, schmalen, hoch geschlitzten schwarzen Rock, der sichtlich ungeeignet war für das Fahren mit einem Motorroller. Die Haare hingen ordentlich gekämmt herunter. So brav und angepaßt, wie sie aussah, wäre sie in einer beliebigen anderen Discothek auch nicht aufgefallen.
Rafa trug Ohrringe und die gewohnte brave Frisur, zu brav für sein Naturell.
Ich hatte das silbergraue durchsichtige Kleid mit den langen Ärmeln und dem kurzen, weiten Rock an, dazu graues Dessous, graue und perlmuttfarbene Ketten und ein graues, perlenbesticktes Haarband. Das Kleid leuchtete im Schwarzlicht.
Im Bad traf ich Alienne, die mir erzählte, Rafa habe sie soeben begrüßt, "aber so schleimig, daß ich mich gar nicht weiter mit ihm unterhalten wollte. Ich kann ihn nicht ausstehen."
Rafa blieb von nun an hinterm DJ-Pult und beschäftigte sich mit den CD's. Zeitweise war Berenice bei ihm und guckte mit wachsamen Augen um sich. Zärtlichkeiten haben weder Sarolyn noch Victor zwischen Rafa und Berenice beobachtet. Überwiegend stand Berenice neben dem DJ-Pult, immer noch mit wachsamen Augen, und machte galanten Smalltalk mit Dolf und einigen anderen Jungs. Sarolyn hat beobachtet, daß Kappa Berenices Hintern beklopfte.
Auf der Area von Kappa und Rafa liefen "Solitary" von VNV Nation und "Charlotte sometimes" von The Cure, so daß es für mich auch etwas zum Tanzen gab; sonst gefiel mir dort aber fast nichts. Auf der Area von Abraxas, hinten und etwas abseits, gefiel mir die Musik wesentlich besser, deshalb war ich meistens dort und tanzte.
Erst als die Veranstaltung beinahe zuende war, kam Rafa mit Berenice händchenhaltend in diese hintere Area. Er blieb am Rand der Tanzfläche stehen und eng bei Berenice, die wachsam um sich guckte. Sie steckten die Köpfe zusammen und entfernten sich nach wenigen Augenblicken wieder, als könnten sie es da nicht aushalten.
Auf dem Weg zum Bad kam ich an einem Tisch vorbei, wo Rafa mit Berenice und anderen Leuten saß. Auf dem Rückweg sah ich Rafa mit der ganzen Gruppe neben dem Tisch stehen, aufbruchsbereit, Berenice dicht bei ihm; sie standen aber mit dem Rücken zu mir. Es gelang mir deshalb, im Vorbeigehen kurz Rafas Arm zu fassen. Ich gehe davon aus, daß er es bemerkt hat.
Kappa erklärte mir, wie die Angel-Lämpchen funktionieren, die er sich entlang der Knopfleiste an der Jacke befestigt hatte:
"Die mußt du an einer Stelle brechen, dann leuchten sie, etwa fünfzehn Stunden lang; danach ist dann aber auch Schluß."
Abraxas ließ sich Cyras Nummer geben, damit er mit ihr eine Industrial-Veranstaltung planen kann.
Ein Junge erzählte mir Witze:
"Der jüngere Bruder wird immer bevorzugt. Zu Weihnachten kriegt der ältere Bruder eine Eisenbahn, der jüngere gleich zehn teure Geschenke.
'Siehst du, ich habe viel mehr gekriegt als du', sagt der Jüngere stolz nach der Bescherung.
'Ja, und?' meint der Ältere leichthin, 'daran kann man erkennen, wer von uns beiden Krebs hat.'"
... und ...
"Was ist weiß und stört beim Essen? - Eine Lawine - haha."
Clara hat von einem Computerspiel namens "Pipi-Prinz" erzählt, das sie übers Internet erworben hat. Es befaßt sich mit dem ungebührlichen Verhalten des alkoholkranken Prinzen von H. In dem Spiel muß Prinz Ernst "Haugust" durch die Barockgärten von H. laufen. Er schafft sich Energie durch die Biergläser, die überall herumstehen. Wenn er zwei Gläser leergetrunken hat, ist der oben angezeigte "Blasenstand" voll, und der Prinz muß sich einen Platz fürs kleine Geschäft suchen, in die Rabatte, an einen Blumenkübel oder in einen Blumenkübel. Wenn zufällig ein Reporter vorbeikommt, muß er dem innerhalb von zehn Sekunden mit dem Regenschirm eins überziehen, sonst ist das Spiel verloren, und man sieht die Titelseite der "Wild-Zeitung" mit dem Aufmacher "Prinz beim Pinkeln erwischt!".
Es gibt auch ein Computerspiel mit den Frottee-Fernseh-Figuren "Teletubbies", in dem es darum geht, Teletubby Po zu erschießen.
In einem interaktiven Radiospiel kann man per Telefon Deichschafe erschießen. Den läutenden Kirchturm sollte man nicht treffen, sonst gibt es Punktabzug.
Ende Juli tanzten Reesli und ich im "Lost Sounds" synchron zu "Skudrinka" von Corvus Corax.
"Nochmal mach' ich dir mein Angebot nicht", sagte Reesli und meinte wahrscheinlich seinen Heiratsantrag.
In einem Traum war ich gerade beim Umzug aus meiner früheren Wohnung in meine jetzige. Rafa kam in meine ehemalige Wohnung gestürmt, wo ich Sachen zusammenräumte.
"Du ziehst um?" fragte er angstvoll.
"Doch nur ein paar Straßen weiter", beruhigte ich ihn. "Und meine Telefonnummer nehme ich auch mit."
Mitte August fand bei mir die alljährliche Grillparty auf dem Balkon statt. Wir stießen mit Muskateller an. Carl erschien in einer aufregenden weißen Lackhose. Ich lief in einer Schürze herum und hatte die Idee, daß Schürzen und Kittelschürzen doch langsam in die Teenie-Mode integriert werden könnten, ebenso wie Lätzchen aus Frottee oder Satin. Man könnte ein Lack-Lätzchen erfinden, außerdem warte ich noch auf das Dirndlkleid in Tarnfarben. Man könnte auch Strampelanzüge und Lätzchen in Tarnfarben erfinden oder Teletubbies im Tarnfarben-Look, mit Patronengürtel.
Als ich zwanzig war, nähte ich mir ein schwarzes Satinlätzchen mit schwarzer Bommelborte, auf das malte ich mit Glitzerkleber das Motiv eines Dias, das die Virgin Prunes bei einem Konzert an die Wand projiziert hatten. Es war ein lose gezeichnetes Haus mit einem Baum daneben, zu dem Stück "Sweet home under white clouds" in der hinreißend-mystischen Live-Version, die nur auf einer Maxisingle erhältlich ist.
In einem Traum war ich in einer Discothek und bemerkte, daß Dolf sich nah bei mir aufhielt; ich zeigte mich ihm gegenüber allerdings wenig zugewandt und schaute ihn auch nicht an, als er mit mir redete. Dolf klagte, daß es so schlimm sei, ungebunden zu sein; augenscheinlich suchte er nach einer neuen Gefährtin.
"Wie geht es eigentlich deinem Herzen?" erkundigte er sich schließlich.
"Ich liebe Rafa noch immer", erzählte ich ihm. "Ich liebe ihn seit 1993, seit wir uns kennen."
Ich fragte mich, weshalb Dolf so etwas von mir wissen wollte; vielleicht setzte er Hoffnungen in mich. Ich hoffte meinerseits, durch Dolf mehr über Rafas derzeitige Verfassung zu erfahren.
Als Folter Geburtstag hatte, fuhren wir nachmittags zu ihm nach HB. In der Nähe seiner Wohnung steht ein Bunker, und wir machten dort in der Sommersonne Fotos, vor wild wuchernden Rankenpflanzen. Folter hatte reichlich aufgedeckt, Süßes, Knabberzeug, Getränke, Spießchen, und das, obwohl er jedesmal erzählt, er habe "gar nichts da". Derek stellte uns die CD's mit seiner Musik vor, die er in den letzten Tagen aufgenommen hat. Die Musik, die er macht, gewinnt in meinen Augen zunehmend an Tanzbarkeit.
Derek hat wieder Arbeit und wird immer gelöster, besser gestimmt, zugänglicher und kreativer. Constri und er halten es so, daß jeder sich in sein Zimmer zurückzieht, sie an den Rechner, er an seine Geräte. Irgendwann ruft er sie:
"So, mein Liedchen ist fertig!"
Sie hört sich das "Liedchen" an und führt ihm am Rechner ihre neuesten Filmsequenzen vor.
Folter zeigte uns eine Box voller Tabulosigkeiten, die er kürzlich erworben hat. Auch eine gefolterte Barbiepuppe liegt darin. Der begabte Künstler, von dem die Box stammt, hat sich den unappetitlichen und makabren Namen "Pissen mit Blut" zugelegt. Die Musik gefällt mir ausgesprochen gut, und ich finde, daß der Künstler sich auch einen hübscheren, weniger makabren Namen hätte aussuchen können. Er macht sehr schrägen, dumpfen und rhythmischen Industrial. Zunächst war er nur im Vertrieb tätig, jetzt bringt er eigene Erzeugnisse heraus.
Folter hatte etwa zehn Leute zu Gast, darunter auch Rufus und Rowena. Rowena erzählte, daß Dag sich sehr in sich selber zurückzieht und daß Sareth jetzt endlich einer geregelten Arbeit nachgeht. Sareth und Stephane seien insgesamt eher oberflächlich und an dauerhaften Freundschaften nicht besonders interessiert. Ciril rutsche immer mehr in die Alkoholsucht ab, verleugne das aber beharrlich.
"Wenn er sich das nicht eingesteht, kommt er da nie 'raus", meinte ich.
Rowena hat sich - wie vor ihr Marianna - von Ciril getrennt, weil ihr sein Alkoholkonsum zuviel wurde und weil Ciril im betrunkenen Zustand außerordentlich aggressiv wird und vor Tätlichkeiten nicht zurückschreckt.
Drees arbeitet vielleicht bald in demselben Altenheim wie Folter. Folter hat eine seiner Bart-Simpson-Puppen mit einem Trachealtubus ausgestattet.
Wie immer sagte Folter zu mir:
"So, wie du aussiehst, machst du nicht mehr lange! Du gehst bestimmt noch vor mir ab!"
Er zeigte mir einen Totenschädel aus Plastik.
"Das bist du, wenn du so weitermachst!" meinte er und betätigte einen Schalter.
Sogleich begann in einem wilden Stakkato das Gebiß zu klappern, und mit einer ebensolchen Geschwindigkeit ließ der Geisterkopf seine rotunterlaufenen Augen rollen. Dazu ertönte ein grausiges Lachen.
Ich beschäftigte mich von nun an damit, den Geisterkopf, der einen Wackelkontakt hatte, dazu zu bringen, möglichst lange mit den Augen zu rollen und mit den Zähnen zu klappern.
Während der Rückfahrt, gegen halb zwei Uhr nachts, fiel eine Sternschnuppe vom Himmel. Constri und ich dachten schnell an unsere Wünsche, sagten sie aber nicht, da man sie nicht verraten soll, damit sie auch in Erfüllung gehen.
Talis rief in den folgenden Tagen bei mir an und erzählte, er sei nach Belgien gefahren zu einem großen Festival. Für mich hätten die vielen Industrial-Acts interessant sein können.
"Aber Ivo Stechschritt war auch da", ergänzte er. "Da gab es eine Menge Industrienazis."
Wer mit "Ivo Stechschritt" gemeint war, konnte ich unschwer ableiten.
"Wenn Industrial abrutscht in Heldengesänge und mit Noisecore vermischte Hitler-Samples, ist die Grenze erreicht", meinte ich. "Dann gefällt es mir nicht mehr. Aber die Rechtsaußen-Fraktion ist bei Industrial ohnehin in der Minderheit."
Danielle war mit ihrem Freund Mike auf dem diesjährigen Open Air Festival in HI. und ist dort Rafa begegnet. Er hatte ein T-Shirt mit seinem eigenen Bandschriftzug samt Foto an, was Danielle peinlich fand. Danielle hat Rafa schon Anfang Juli getroffen, im "Laser", wo er sich an sie noch erinnern konnte, obwohl er sie zum letzten Mal vor fast drei Jahren gesehen hatte, als er in der "Halle" mit ihr anstieß, um mich zu ärgern. Ich denke, er vergißt sie auch deshalb nicht, weil sie ihm vor vier Jahren in Saaras Zimmer einen Teddybären an den Kopf geworfen hat.
"Sag' mal, bist du nicht die kleine Schwester von Saara?" sprach er Danielle auf dem Festival an.
Sie haben sich allerdings nicht länger unterhalten. Berenice war nirgends zu sehen. Auf dem Festival sollen auch Dolf, Ivco und Kappa gewesen sein.
Roman erzählte, er habe Ivco auf dem Festival in seiner historischen Uniformjacke fotografiert. Roman hat auch Rafa dort getroffen, mit ihm aber nur wenige Worte gewechselt. Roman hat Berenice ebenfalls nicht auf dem Festival gesehen. Rafa soll so etwas gesagt haben wie:
"He, wo sind die geilen Tussis?"
Roman hatte den Eindruck, daß Rafa entweder auf Brautsuche war oder daß er vorhatte, seine Freundin zu betrügen.
Am 19.08. klingelte um halb sieben Uhr abends das Telefon. Ich nahm ab und meldete mich:
"Ja?"
Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen für etwa zehn Sekunden, dann wurde die Verbindung unterbrochen.
Abends war ich im "Lost Sounds". Sazar erzählte, daß Rafa ihm tatsächlich ein Interview für sein Online-Magazin gegeben hat.
Saschs neue Freundin Tamina erzählte, daß sie in einem Forschungsinstitut damit beschäftigt ist, Bakterien mit Anti-Tumor-Genen auszustatten. Man hat immer noch die Hoffnung, dadurch eines Tages inoperable Tumoren zu besiegen.
Als ich am Mittwoch mit Laurie im "Zone" war, teilte er mir seine Meinung über die "Neue Sachlichkeit" mit:
"Wenn dieser geschniegelte DJ auflegt, wird die Musik besonders schlecht."
Durch Nachfragen bekam ich heraus, daß Laurie mit dem "geschniegelten DJ" Rafa meinte, den er noch nicht gezeigt oder vorgestellt bekommen hat.
"Siehst du, jetzt weißt du schon, wie Rafa aussieht", sagte ich. "Er traut sich gar nicht mehr, sich ausgefallen und erotisch zurechtzumachen, kommt nur noch steif und verklemmt daher."
"Der Rafa macht sich voll häßlich", meinte Laurie, "mit diesem langweiligen Sakko und der langweiligen Frisur."
Les spielte "Starfighter F-104G" von Rafa. Laurie war auf der Tanzfläche und sagte nach dem Stück:
"Rafa nimmt voll die Spannung 'raus. Da hat man gerade angefangen, zu tanzen, und gleich wird es wieder lasch."
Les spielte aber auch reichlich Industrial.
"Ich habe die Leute beobachtet", sagte Laurie, als wir uns auf den Heimweg machten. "Du bist wirklich voll der Blickfang."
In Kingston bin ich zur Zeit auf einer geschlossenen Suchtstation eingesetzt. Dort gibt es mehr Aufnahmen als auf jeder anderen Station im Hause, und einige Patienten sind ausgesprochen verwahrlost und haben ein ausgesprochen schlechtes Benehmen. Dann wieder gibt es tragische Gestalten mit tragischen Geschichten, depressive Menschen, die nach und nach an ihrer Suchtkrankheit sterben. Bei einigen läßt sich der Verfall noch aufhalten, bei anderen nicht mehr. Es gibt auch Betrunkene, die sich um ihren eigenen Niedergang nicht kümmern und ihre Aggressionen hemmungslos am Personal auslassen. Zur Sekretärin sagte ich:
"Das ist hier multigrotesk. Buntfaserig. Wenn man die Leute, die hier teilweise zur Aufnahme kommen, in einem Raum stellt und ein Feuerzeug anmacht, macht es 'bum'."
"Die sehen so aus, daß man sich beim Hingucken schon die Hände wäscht", vermutete die Sekretärin.
"Desinfiziert", ergänzte ich. "Augendesinfektion vom Hingucken."
Ende August waren Constri, Derek und ich in HH. bei "Stahlwerk". Obwohl zu früher Morgenstunde abwechselnd mehrere Endstufen ausfielen und in einer Eil-Aktion ersetzt werden mußten, war ich, wie immer, begeistert.
Als ich mich neben dem DJ-Pult mit Sofie unterhielt, kam ein betrunkener Junge an und sagte zu mir:
"Du bist echt spitze ... ich gucke dir schon die ganze Zeit zu ... du bist echt absolut genial ... Ach, was wollte ich sagen ... du bist genial ..."
"Schön", nickte ich.
Der Betrunkene entfernte sich, und ich redete weiter mit Sofie.
"Was mache ich aus sowas?" dachte ich. "Betrunkene erzählen viel, wenn die Nacht lang ist. Ernst nehmen kann ich das nicht. Wichtig ist für mich jedoch, zu wissen, wie ich im elfenbeinfarbenen Spitzenkleidchen auf Rafa wirke. Und weil er mir das nie zu verstehen gibt, kann ich nur die Wirkung auf andere Jungen beobachten."
Darien erzählte von seiner Stelle, mit der er seine nur wenige Monate dauernde Selbständigkeit vertauscht hat. Er fühle sich ausgebeutet, und von sozialer Sicherheit könne keine Rede sein. Für ihn sei eigentlich nie Feierabend. Er sei für seine Projekte rund um die Uhr verantwortlich.
Darien hat einmal zu Constri gesagt, vor lauter Arbeit habe er keine Zeit für eine Beziehung. Wir denken, daß es eher umgekehrt ist - weil es ihm nicht gelingt, eine Beziehung zu führen, stürzt er sich in die Arbeit.
Wenigstens bei "Stahlwerk" zeigte Darien sich ausgelassen und sprang mitten unter anderen kahlgeschorenen Herren mit schrankähnlicher Figur auf der Tanzfläche herum, die Militärhosen trugen und Stahlkappentreter an den Füßen hatten. Rega, der am DJ-Pult stand, sieht allerdings in diesen Herren im Skinhead-Look keine gute Gesellschaft für Darien. Darien hat keine Neigung nach rechts, doch diese Skinheads sollen teilweise eine haben.
Tamina war mit Sasch bei "Stahlwerk". Sie erzählte, man werfe ihr vor, sie habe Helena den Freund weggenommen. Dabei sei Sasch doch schon seit Monaten von Helena getrennt gewesen, als er sich ihr zugewandt habe.
"Es gibt Jungs, die erzählen ihren neuen Eroberungen, sie seien schon von ihrer derzeitigen Freundin getrennt, damit sie es leichter haben", meinte ich. "Und der Freundin erzählen sie: 'Ich liebe dich.' Und dann, eines Tages, sagen sie zu der Freundin, so, das war's jetzt, und wechseln zu der neuen Eroberung über. Das ist ein bequemer Weg. Nicht, daß ich Sasch irgendetwas nachsagen will. Die Liste seiner Ex-Freundinnen ist so lang wie eine Speisekarte von hier bis China, aber wenn sich jemand für so ein Leben entschieden hat, ist es seine eigene Angelegenheit. Eine seiner Freundinnen hat sich von ihm getrennt, weil die Warteschlange immer länger wurde, und sie wollte nicht mit irgendeiner Warteschlange konkurrieren."
Wie alle Freundinnen von Sasch ist Tamina langhaarig und hübsch. Sie steckt in kurzen Etuikleidern aus silbrigem Kunstleder oder schwarzem Lack. Die Augen sind wie mit Tinte ummalt, die Figur ist wohlgeformt und hochbeinig.
"Keine Aussichten", dachte ich. "Sasch hat wahrscheinlich schon wieder mehrere in der Warteschleife."
Es gibt unzählige hübsche Mädchen, und Sasch scheint es vor allem darum zu gehen, möglichst viele von ihnen zu erobern. Die Beziehung als solche, das Mädchen als Mensch, das scheint ihm nichts zu bedeuten.
Auf der Rückfahrt gab es Frühstück in einer Raststätte. Derek durfte im Auto schlafen, und Constri und ich führten bei heißem Kaffee tiefgründige Gespräche. Wir freuen uns darüber, daß Derek seine Arbeit Spaß macht. Fröhlich erzählt er, wie er mit seinen Kollegen hinter Pallettentürmen Verstecken spielt. Er plant sogar einen Auftritt bei "Stahlwerk" und erklärt, er wolle sich ein Auto anschaffen.
"Welche Helden suchen Männer?" war eines unserer weiteren Themen.
Rafa muß seinen Helden vergeblich suchen, denn der ist schon lange tot. Bei Grauzone wird in "Ich lieb' sie" ein Mann durch eine Frau erlöst:
Ich lebte hinter Masken,
sie hat sie mir zerrissen.
Das war sehr nett von ihr,
mein ganzes Herz schenke ich nur ihr.
Die Legende von der zerbrochenen Fassade ist auch in der Hip Hop-Lyrik zu finden, wie bei Grauzone von einem Mann erdichtet - Thomas D. - und damit durchaus glaubwürdig:
Da dir die Fähigkeit, zu lieben geblieben ist
und die Kraft, zu vergeben ein Bestandteil deines Lebens ist,
wurde ich erweckt, und was tief in mir schlief,
führt nun Feder und schreibt dir diesen Liebesbrief.
Denn da alle Liebenden innerlich immer noch Kind
und da die, die reinen Herzens handeln, unsre größten Helden sind,
rette ich die Welt mit deiner Liebe in mir,
und ich bin für dich da, nein, ich bin wegen dir hier.
Das läßt hoffen.
"Eine Weiterentwicklung ist auch bei Erwachsenen möglich, und nicht alle Männer sind gleich", sage ich, wenn jemand glaubt, mit den Männern habe es doch keinen Sinn.
Bei unserem nächsten Damenkränzchen backten wir Waffeln. Es gab viel Gelächter, und Elaine, die unsere doppeldeutigen Sprüche nicht verstand, wollte uns das Lachen verbieten. Wir gaben ihr Papier und Stifte, und sie war damit zufrieden.
Elaine telefoniert inzwischen genauso gern und ausgedehnt wie ihre Mutter. Da kann es schon passieren, daß die beiden sich um den Hörer streiten.
Elaine singt gerne Bruchstücke von Popsongs vor sich hin, mit einer natürlichen Freude am Dramatisieren. Ich bin gespannt, was sie daraus macht, wenn sie die Texte kennt.
Anfang September habe ich Saara zum Geburtstag besucht. Zu ihrem Fünfundzwanzigsten gab sie nach drei Jahren erstmalig wieder eine Party, jetzt in ihrer eigenen Wohnung. Die Wohnung ist geräumig und modern eingerichtet, wenngleich noch nicht ganz fertig. Svenson war auch da, ebenso Danielle. Von Svenson hatte Saara eine wertvolle Uhr bekommen, in einem grauen Design. Sie bekam wieder einen ihrer Zustände von Eifersucht, als sie den Eindruck hatte, daß ihre Freundin Josette sich zu sehr um Svenson kümmerte. Saara war dem Weinen nah und machte die Uhr ab. In der Küche gelang es Svenson, Saara wieder zu beruhigen. Danielle vertrat dieselbe Ansicht wie ich:
"In Wirklichkeit lieben sie sich total, aber sie trauen sich nicht, ihre Gefühle zuzugeben, aus Angst vor Enttäuschungen."
In einer Geburtstagskarte für Saara stand der Hinweis, sie solle Gelassenheit bewahren und sich nicht immer gleich in die "Schmoll-Ecke" verziehen, sondern das Gespräch suchen. So könne man Mißverständnisse vermeiden.
Während Svenson mit Saara in der Küche war, redeten wir im Wohnzimmer über Eissorten. Niemand konnte sich daran erinnern, wie der kegelförmige Plastik-Eisbecher hieß, wo sich unten eine Kaugummikugel befand - obwohl jeder es kannte. Weiter ging es mit Erinnerungen an die Plastik-Orange mit dem Deckel und dem Orangeneis im Innern, an den dazugehörigen Plastik-Apfel, an das bunte oder orangefarbene "Perli-Pop" und an die Werbung für "Ed v. Schleck":
"Das Ding hatte die entsprechende Form, und mit einem Stempel konnte man es in einem Plastikrohr auf- und abbewegen. Und Ed v. Schleck hatte eine laange Zunge ... Und 'Calippo' hatte auch die entsprechende Form, und man konnte hinten drücken und vorne lecken ... 'Auf und nieder, immer wieder' stand draußen drauf ..."
"Und ein Eis gab's mit Kokosflocken", sagte ein Mädchen.
"Was willst du denn mit Kokosflocken?" fragte ein anderes. "Ich steh' auf Erdbeer-Geschmack!"
"Wie wär's denn mit Schokoladenüberzug? Einmal eintunken und fest werden lassen ..."
"Voll pervers."
Mitten in diesen Unsinn hinein kam Svenson mit Saara zurück, die sich artig die Uhr wieder umband. Der Abend war gerettet, bis zum nächsten Krach.
Ich denke, Saara weiß im Grunde, daß sie lernen muß, mit ihrer Empfindlichkeit umzugehen. Und auch Svenson, dessen Vertrauen leicht ins Wanken gerät, hat wohl noch etwas zu lernen.
Danielles Freund Mike ist hübsch, wirkt auf mich aber recht instabil. Er hat ein nicht unerhebliches Strafregister, das er gern herunterspielt. Sein schwerstes Delikt war es, Brandsätze auf ein Asylantenheim zu werfen.
"Das meinte ich doch nicht so", sagte er dazu. "Das war doch nur, weil wir da alle zusammen in der Clique waren."
Ihm scheint es an einer ausreichenden Erziehung zu fehlen.
Am Mittwoch war ich mit Cyra und Denny im "Zone". Wir fuhren in dem frisch gekauften Audi von Denny. Cyra und Denny sind nicht mehr zusammen. Cyra hatte Denny wiederholt darauf angesprochen, daß sie nicht das Gefühl hatte, in seinem Leben eine wichtige Rolle zu spielen. Schließlich trennte er sich von ihr, und am selben Abend erzählte er Cyra, er bereue es schon. Sie wollte aber die Liaison nicht weiterführen. Sie meinte, er habe ihre Gefühle lange genug ausgelaugt. Man einigte sich darauf, in Freundschaft verbunden zu bleiben. Am Sonntag wollen die beiden nach Kanada, wo Cyra schon mit ihrem vorherigen Freund war. Vielleicht besuchen sie dann auch wieder den Fernsehturm von Toronto, der mehr als einen halben Kilometer in der Höhe mißt.
Im Frühjahr hatte Cyra geklagt, sie könne ihren vorherigen Freund nicht vergessen, der sie nach Kanada begleitet hat. Ich fragte sie jetzt, was von diesen Gefühlen übriggeblieben ist.
"Aus", erzählte sie. "Hat sich erledigt. Ich habe ihn kürzlich im 'Verlies' getroffen. Peinlich, was der geredet hat. Er würde immer an mich denken, wenn er mit seiner Freundin schläft ... Ich habe ihn ausgelacht, aber von Herzen. Der ist sowas von hohl ... der hat wirklich seinen Verstand versoffen."
Bei dem "Verlies" handelt es sich um die Nachfolge-Location des "Elizium", welche jedoch das "Elizium" bei weitem nicht ersetzt. Das "Verlies" ist wenige Straßen von dem früheren "Elizium" entfernt und war früher eine Rocker-Discothek, wo die "Headbanger" ihre staubigen Frisuren im Kreis fliegen ließen. Es besteht aus nicht viel mehr als einem engen Kellerraum, die Tanzfläche ist abgenutzt und zu rutschig zum Tanzen. Sie besteht aus Plastikplatten, unter denen bunte Lampen leuchten.
Über Denny denkt Cyra, daß er noch nicht begriffen hat, was es bedeutet, in einer Beziehung Verantwortung zu übernehmen. Er habe sie mehr oder weniger als Spielzeug betrachtet. Aber sie lasse nicht mit sich spielen.
Wir unterhielten uns über Dirk I., den wir beide sowohl charmant als auch gutaussehend finden.
"Er bleibt immer jung", meinte Cyra. "Ob wohl der über vierzig sein müßte. Und Augen hat der ..."
"Es gibt viele Jungs, die ich hübsch finde", erzählte ich. "Aber gerade bei den ganz jungen, die mir äußerlich besonders gefallen, sehe ich immer diese unwissenden Kinderaugen. Die haben es einfach noch nicht begriffen. Die wissen nicht, was Verantwortung ist."
Les spielte auch dieses Mal ein Stück von Rafa, "Starfighter F-104G".
"Ich denke, bei Rafa fehlt es nicht einfach nur an der Reife", sagte ich zu Cyra. "Er ist regelrecht neurotisch. Rafa verhält sich auch oft peinlich. Und er wirkt oft hohl und arrogant. Aber er ist es nicht. Er tut immer nur so."
"Das ist die Schutzhülle", vermutete Cyra.
"Ich weiß aber, was dahinter ist", erzählte ich. "Ich nehme an, wenn ich über einen Menschen mehrere tausend Seiten schreibe und andauernd an ihn denke, kann er nicht hohl sein."
"Nein, das nicht."
Ich meinte, Rafa könne schon deshalb nicht oberflächlich sein, weil dafür zuviel Leben in ihm ist:
"In dem ist einfach zuviel drin, da spielt sich zuviel ab, da ist zuviel Dynamik und Energie. Es ist so schön, sich mit ihm auseinanderzusetzen und mit ihm zu streiten. Aber er will den Abstand, seit Jahren, und es bewegt sich einfach nichts mehr."
"Trotzdem, ich denke, das wird alles noch gut", meinte Cyra.
Zu dem getragenen "Lord of Ages" von Blood Axis führten zwei Jungen im "Zone" einen Rundtanz vor. Jeder streckte den rechten Arm gerade zur Seite aus, und so hielten sie sich an den Händen und marschierten im Kreis, und nach jedem Schritt hielten sie kurz inne. Am Schluß verbeugten sie sich voreinander.
In einer der folgenden Nächte habe ich geträumt, ich würde mit Robotern tanzen. Das gefiel mir sehr.
Am Samstag war ich im "Radiostern". Für Cyra und Denny war es eine lange Nacht. Sie wollten gleich am Morgen mit dem Zug nach F. fahren und von dort aus nach Kanada fliegen. Beide schienen sich sehr darauf zu freuen. Cyra hatte nach dem Mittwoch im "Zone" bei Denny übernachtet und ihm verboten, ihr zu nahe zu kommen. Denny wirkte auf mich durchaus vergnügt und keineswegs hoffnungslos. Er hatte ein T-Shirt an, das er auf seiner London-Reise mit Cyra gekauft hatte, bei "Cyberdog". Vorn auf dem T-Shirt war ein Schild, verbunden mit Kabeln, die bis zur Taille reichten. Dort befanden sich Schalter zur Programmwahl. Wenn man das T-Shirt anschaltete, zählte auf dem Schild eine blau leuchtende Digitalanzeige von "00" bis "99" hoch und dann wieder nach unten. Es gab einen leuchtenden Rahmen um die Anzeige herum, blinkende Striche und andere Effekte. Zu diesem T-Shirt hatte Denny einen entzückenden langen schwarzen Rock an, hinten geschlitzt und aus glänzendem Synthetikmaterial. Wenn Denny sich im Kunstnebel auf der Tanzfläche bewegte, konnte man von ihm fast nur noch die auf- und abwärtszählende Digitalanzeige erkennen. Passend zu diesem Outfit liefen auch einige "richtige" Technostücke, darunter "Sandstorm" von Darude und "The dark side" von Hypetraxx. Cyra und ihr DJ-Kollege Sal spielten auch viel Industrial und Electro, darunter "Violent playground" von Nitzer Ebb, "Hemen nago" von Esplendor Geometrico und das sehr wilde "Ilusiòn hecha mentira" von Dulce Liquido.
Cyra hat erreicht, daß ihr bei VW eine anspruchsvollere Tätigkeit zugeteilt worden ist.
"Ich bin unterfordert", hatte sie sich lebhaft beschwert.
"He, du meckerst hier sowieso nur", sagte ihr Vorgesetzter.
"Das stimmt nicht", widersprach sie. "Das habe ich bisher nur einmal gesagt, daß das hier nichts für mich ist, und auch ganz freundlich."
Jetzt hat sie die Aufgabe, gemeinsam mit einem erfahrenen Werkzeugmechaniker besonders schwierige Reparaturen durchzuführen. Es ist jedesmal etwas anderes und jedesmal eine neue Herausforderung.
Xentrix war erstmalig im "Radiostern". Er wurde nicht von Gabrielle begleitet, sondern von einer Blondine, die seine neue Freundin sein könnte.
Mitte September waren Constri, Zoë, Carl und ich im "Zone". Wir hatten uns alle feingemacht. Zoë trug eine Steckfrisur mit Kunststrähnen, Constri hatte ein schwarzes Samtkleidchen an, ich trug das elfenbeinfarbene Spitzenkleid. Es gab etwas zu feiern; Zoë hatte um Mitternacht Geburtstag. Wir deckten eines der Tischchen am Geländer oberhalb der Tanzfläche. Es gab bunte Servietten, kleine Haribo-Tütchen und eine Torte mit Schokoladenüberzug und Smarties zur Verzierung, die Constri gebacken hatte. Hinter einer gerade nicht gebrauchten Theke fand ich eine Kerze. So konnten wir den Tisch festlich erleuchten. Sarolyn und Victor kamen auch und brachten eine Zierkerze mit einem Kerzenteller mit, auf dem lauter kleine Gespenster sitzen. Wir machten Erinnerungsfotos.
Sarolyn stellte gegen zwei Uhr fest, daß Berenice im "Zone" war.
"Ich habe sie an ihrem Augen-Makeup erkannt", sagte Sarolyn.
Berenice hatte ein kurzes schwarzes Kleid an und eine Strumpfhose mit durchbrochenem Netzdesign. Die Haare waren noch länger geworden. Ob sie in Begleitung gekommen war, konnte ich nicht erkennen; Rafa war jedenfalls nicht da.
"Die geht mir schon die ganze Zeit auf die Nerven", erzählte Les, als ich ihn auf Berenice ansprach. "Andauernd kommt sie an und will W.E hören."
Vor drei Wochen sei sie auch schon im "Zone" gewesen, ebenfalls ohne Rafa.
"Sie hat auch schon gebaggert!" berichtete Les. "Ich hab's gesehen!"
Er formte seine Hände zu einem Fernrohr.
Schließlich erfüllte Les den Wunsch von Berenice und spielte "Starfighter F-104G" von Rafa. Berenice hatte ihren Einsatz. Sie tanzte stolz und ausgreifend, wenngleich unsicher und gehemmt. Sie schien sagen zu wollen:
"Das ist von uns!"
Mauro findet, Rafa macht immer nur dieselbe Musik, nie was Neues.
"Die Musik hat das gewisse Nichts", meinte Mauro.
Im "Lost Sounds" gab mir Abraxas eine selbstgebrannte CD mit der Aufschrift "Das verspätetste Geburtstagsgeschenk 2000". Darauf befanden sich mehrere Wünsche von mir, auch "Alva Myrdal" von Covenant.
Gavin erzählte, Kappa habe ihn gebeten, am heutigen Abend zu ihm zu kommen, da würde er mit Steve N. und irgendwelchen anderen Leuten "voll Party machen". Gavin zog es jedoch vor, ins "Lost Sounds" zu gehen. Von Kappa schwärmte Gavin unendlich. Der würde doch so nett sein und gut aussehen.
"Dir als Frau rate ich: fahr' voll auf den ab!" empfahl er, ungeachtet der Tatsache, daß Kappa verheiratet ist.
Untreue ist für Gavin keine Todsünde, sondern "was Kerl-Typisches", da rede man nicht drüber, da mische er sich nicht ein, das müsse ein Untreuer schon mit seiner betrogenen Freundin klären.
Ich sagte Gavin, daß ich Kappa ganz nett fände, aber nicht auf ihn stehen würde.
"Du stehst ja auch auf Rafa", meinte Gavin.
"Rafa ist meine große Liebe", sagte ich, "er ist meine ganz große Liebe."
"Das weiß ich, das habe ich schon von mehreren Leuten gehört."
Für Gavin grenzt es an Geisteskrankheit, wenn ein Mensch sich endgültig für einen anderen Menschen entscheidet.
"Das ist nur das Gefühl, dieser Mensch ist es", versuchte ich ihm zu erklären. "Das ist weiter nichts."
"Vielleicht habe ich das einfach nur noch nicht erlebt", überlegte Gavin. "Ich habe das immer erzwingen wollen. Aber das wird nichts. Mit meiner Verlobten habe ich auch Schluß gemacht."
"Ach, war das nicht diese hübsche Blonde?"
"Ja, aus dem 'Zone'."
"Die ist doch so hübsch."
"Ja, sie ist die Schönste der Schönen."
Sie ist eine Thekenkraft im "Zone", die er dort kennengelernt hat.
"Wir waren verlobt", erzählte Gavin, "wir wollten sogar heiraten. Und dann habe ich daran gedacht, daß ich doch so viele Neigungen zu anderen Leuten habe, das wollte ich ihr nicht antun. Da habe ich lieber Schluß gemacht."
Gavin war vor einer Woche im "Laser" und legte dort mit Kappa auf. Es sei nicht voll, aber sehr lustig gewesen. Von Rafa erzählte er nichts, wahrscheinlich war er nicht da. Revil hat Rafa auch nicht im "Laser" gesehen.
Xentrix war mit seiner neuen Freundin im "Lost Sounds" und erzählte, Rafa würde "saumäßig gut verkaufen"; von der neuen MaxiCD habe er schon über 4000 Stück abgesetzt. Das erstaunt, war doch von einer Limitierung auf 3000 die Rede.
"Man ist nie König im eigenen Land", meinte Xentrix im Hinblick auf Rafas eher mäßigen Erfolg in der Region um H. "Ich war kürzlich auf einer Promotion-Veranstaltung im Osten - das war Wahnsinn. Da waren Leute aus Schweden, aus der Schweiz, aus Österreich ... Das kommt wirklich an, was die machen."
"Meinst du, daß Rafa irgendwann in die Charts kommt?"
"Nein", antwortete Xentrix sofort mit Bestimmtheit. "Die kommen nicht in die Charts."
Tamina erzählte, sie habe eine Borderline-Störung und schon Therapien gemacht. Sie habe gelernt, sich besser im Griff zu haben; sie kenne ihre Schwachstellen. Auch bei ihr geht die Persönlichkeitsstörung auf ein bekanntes frühes Trauma zurück. Beruflich ist sie trotz allem sehr gut vorangekommen; sie hat ein abgeschlossenes Studium hinter sich und eine Stelle als Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Wie ich leidet sie sehr darunter, wenn Kollegen eine schlechte Stimmung verbreiten. Sie hat eine Kollegin, die ziemlich verklemmt sein soll und äußerlich wenig aus sich macht. Diese Kollegin soll immer wieder für böses Blut sorgen und sich abfällig über Taminas Bekanntenkreis in der Szene äußern.
"Neid", vermutete ich. "Sie würde sich vielleicht gern selbst herausputzen und nachts weggehen, sie erlaubt es sich aber nicht und zieht zum Ausgleich über dich her. Ich kenne das, ich habe das auch schon erlebt."
Onno hatte sich besonders feingemacht; er trug ein schwarzes Satinhemd mit Pelerinenkragen und aufwendigem Spitzenbesatz und einen langen schwarzen Rock.
Ende September haben Constri und ich in S. oben im Fernsehturm-Bistro Maultaschen gegessen und unten im Kiosk am Eingang Wibeles gekauft, kleine runde Anisplätzchen, von denen immer zwei und zwei zusammenhängen, so daß sich die Form einer "8" bildet. S. soll eine der deutschen Städte mit den größten Höhenunterschieden sein. 9 % Steigung und Haarnadelkurven auf großen Durchfahrtsstraßen sind keine Seltenheit, ebensowenig wie Weinberge in der Innenstadt. Eine besonders halsbrecherische Strecke ist zugleich einer der beliebtesten Verbindungswege. Oben und unten warnt schon ein Schild:
"Gefährliche, kurvenreiche Straße! Wird im Winter nicht gestreut!"
Wenn einem ein Auto entgegenkommt, muß einer von beiden in eine Bucht ausweichen und warten, bis der andere vorüber ist. Die Autofahrer betrachten es als Sport, bei jedem noch so feindseligen Wetter diese Strecke zu befahren. So mancher mußte schon sein Auto auf halbem Wege stehenlassen, wenn es bei Glatteis nicht weiterging. Da konnten durchaus ganze Autoschlangen "parken" und ein Vorbeikommen unmöglich machen. Den Abhang sollen die Autos jedoch nicht hinunterstürzen, weil sie nur langsam fahren und die Leitplanke sie schützt.
Friederike macht Maultaschen selbst, anstatt sie fertig zu kaufen. Sie rollt dünnen Teig aus und mengt die Füllung an. Sie kann sich, im Gegensatz zu mir, auch regelmäßig dazu aufraffen, Obst zu ernten und Äpfel zu schälen. Seit 81 Jahren lebt sie in ihrem Geburtshaus. Nur zweieinhalb Jahre lang war sie mit ihrem Mann zusammen, als er in Peenemünde fiel. Ein Verwandter hat ihr ein Foto von dem Soldatengrab mitgebracht, sie selbst war aber nie da.
Der Zwillingsbruder meines Vaters, Winzer Eugen, war bei einem jüngeren Bruder zu Besuch, Lisas Vater Irmin, um diesem bei der Weinlese zu helfen. Eugen erzählte von den Gewittern in S. In kaum einer Stadt gibt es so verheerende Sommergewitter wie dort. 1972 soll das schlimmste gewesen sein. Mandarinengroße Hagelkörner zerschlugen Autodächer und Heckscheiben und verwandelten die Gärten und Weinberge in öde Häckselfelder. Die Temperatur fiel innerhalb von Minuten von 25 °C auf 2 °C. U-Bahnschächte und Unterführungen liefen voll, die Straßenbahn blieb im Eis stecken, Keller wurden überflutet, und wer aus so einem Keller nicht mehr herauskam, weil der Schlamm die Tür verlegte, mußte elend ertrinken. Wer sich vor den Hagelkörnern nicht unter ein festes Dach retten konnte, wurde erschlagen. Aber auch Dachziegel gingen zu Bruch. Tage später lagen noch überall Eishaufen herum. In diesem Jahr hat ein Gewitter Eugens halbe Ernte vernichtet. Dafür war die Qualität der verbleibenden Früchte besonders gut.
Vivien und ihr Bruder Corell waren auch in S., anläßlich des 60. Geburtstags ihrer Mutter, meiner Tante Britta. Vivien erzählte Constri und mir die Geschichte ihrer Beziehung mit Alban. Als sie in SB. zu studieren begann, fand sie in einem Kammerchor für Alte Musik Anschluß. Drei Freunde hatten es schon bald auf sie abgesehen, sie merkte davon aber nichts. Sie hatte mit Anfang zwanzig noch keine Vorstellung von der Liebe. Es kam soweit, daß sich die drei Freunde ihretwegen beinahe verstritten. Da hatte schließlich Alban mit seinem Werben Erfolg. Die Fronten klärten sich. Vivien fand an der Beziehung mit Alban mehr und mehr Gefallen. Inzwischen sieht sie richtig damenhaft aus; sie kam in Schwarzweiß, mit Minirock und Pumps.
Hinsichtlich ihres beruflichen Werdegangs verhielt sich Vivien schon als Kind wie eine Erwachsene. Sie hat nach lauter Einser-Zeugnissen eine Stelle als Richterin bekommen und wird wahrscheinlich bald verbeamtet. Dann soll es Nachwuchs geben.
Von Brinkus erfuhr ich, daß Jaranek am 27. September an den Folgen seiner Alkoholsucht starb, mit Anfang dreißig. Er hatte zuletzt zwei Flaschen Wodka täglich getrunken. Vor Kurzem hatte er endlich eine Entwöhnungstherapie beantragt, aber es war schon zu spät. Die Leber hatte aufgegeben. Am 04. Oktober wird Jaranek beerdigt.
Ende September gab es in HF. die Abschiedsparty des "Limited". Die Location befindet sich in einem Abbruchhaus, die Toiletten sind in einem bedenklichen Zustand. Bald soll die Location endgültig abgerissen werden, und stattdessen soll dort ein Altenheim entstehen. Les lockte mich her, weil er selber dort auflegte. Das Programm bestand allerdings vorwiegend aus angestaubten Klassikern. Einiges gefiel mir auch, "Nazis of the night" von Club Moral Antwerpen, das schräge und verstörte "Beruftverböt" von SPK, "Ash nazg" von M.O.A.T.A. Omen & the Rorschach Garden, "Love missile" von Sigue Sigue Sputnik und "Luzifer over London" von Current 93.
Les hatte dieses Mal einen langen Wickelrock aus schwarzem Lack an. Er berichtete, daß er jetzt in einem Geschäft für Teenager-Mode arbeitet. Sein bisheriger Arbeitsplatz in einer Videothek sei ihm zu stressig geworden.
Ivco war da mit Carole, auch Dolf und ein blondgefärbtes Mädchen mit hochtoupierten Haaren, das eine Homepage besitzt, auf der sich Bilder von Rafa und Dolf befinden und deren Name auf Rafas Album "Der Sinn des Lebens" als Kontaktadresse für W.E vermerkt ist.
Ivco hat Arbeit in M. und kommt immer zum Wochenende in die Heimat.
Dolf hielt sich meistens in meiner Nähe auf, das kann allerdings auch Zufall gewesen sein.
Laurie wunderte sich, weil Dolf zwergenhafter war, als er ihn sich den Fotos nach vorgestellt hatte. Laurie meinte, daß Rafa und Dolf sich ziemlich einfallslos und verklemmt zurechtmachen, wenn sie auftreten. Er findet, daß ihnen etwas Schrilleres und Schillernderes besser stehen würde.
Am Mittwoch war ich mit Clara, Ray und Zoë im "Zone". Dort treffe ich inzwischen fast jedesmal Philipps Bekannten Cal und dessen Freundin Claire. Sie sind Stammgäste im "Zone", seit sie in BI. wohnen.
Les spielte viel Industrial, aber auch "Starfighter F-104G" von Rafa. Cal meinte:
"Von einigen Ausrutschern abgesehen, finde ich das Programm heute echt gut."
Ein Junge hatte ein T-Shirt an, das trug auf dem Rücken das Bandlogo von Rafa und darunter einen Satz in weißer Space-Science-Fiction-Schrift:
"Ich rette Dich"
Ich fragte mich, was das sollte. Wer sollte wen retten? Wollte der Fan in dem T-Shirt irgendwen retten? Und wen, und wovor? Wollte Rafa auf dem T-Shirt die Botschaft verbreiten, daß er der "universelle Retter" sei? Es hörte sich ein bißchen so an wie ein Guru auf Jüngersuche, der die "totale Erlösung" verspricht.
Cal meinte dazu:
"Also, W.E finde ich einfach nur schlecht."
Wen ich auch fragte, keiner konnte sich einen Reim darauf machen, weshalb Rafa das Fan-T-Shirt mit einem solchen Spruch versehen hatte.
Clara erzählte mir, Zinnia könne wahrscheinlich deshalb nicht mehr für Rafa singen, weil sie eine Musical-Ausbildung in B. macht. Zinnia soll eine Freundin haben, Gladys, deren Mutter mit Claras Mutter befreundet ist. Clara erinnert sich noch daran, wie Gladys sich vor einigen Jahren damit wichtig machte, daß Rafa sie als Fahrerin für seine Konzertreisen auserkoren hatte. Rafa konnte sie geschickt zu dieser Dienstleistung überreden, indem er ihr vermittelte, es sei eine besondere Ehre, ihn fahren zu dürfen.
Am Samstag gab es abends bei mir Federweißer und Zwiebelkuchen. Pascal brachte einen richtigen Kanister mit Federweißer, eine Sonderedition. Clara hat Ray kürzlich beigebracht, er solle ihr immer herausgeben, wenn sie ihn maßregelt oder herumkommandiert.
"Hol' mir was zu trinken, Sklave", sagte sie und kickte ihn ans Bein.
"Tritt mich nur", gab Ray zurück, "die Hose mußt du sowieso bügeln."
Die Hose hat Clara selbst ausgesucht, auch den Pullover, beides in Grau, weshalb Constri auch sagte:
"Ray im Graumann."
Clarice erzählte von OS. Sie kennt jetzt wenigstens ein paar Leute dort.
Carl erzählte kurzweilig von einem seltsamen Abenteuer:
"Ich ging in den Wald, weil ich das Eine wollte. Da sah ich einen Mann, der Kränze flocht und sagte, er wäre ein Christ. Er trug eine kuhfellähnliche Jacke und eine Lackhose. Er stolperte mit geschlossenen Augen zwischen den Bäumen hindurch und schnitt mit einem Messer die Zweige ab. Es war in der Nähe vom Zoo. Er saß unter einer Eiche, ich stand unter einer Buche. Da hatten wir auch schon gleich unser Gesprächsthema - die Kränze."
Carl bewegt sich fast nur noch in der "Rosa Szene" und sammelt flüchtige Abenteuer. Weil er kaum noch in Locations der "Schwarzen Szene" geht, sieht er Saverio nur noch sehr selten. Er glaubt nicht mehr daran, daß eines Tages aus Saverio und ihm ein Paar wird.
Roman erzählte, daß er mal einen besucht hat, der im Regal lauter Fliegenpilze zum Trocknen hingelegt hatte. Der soll alles genommen haben, was man in GÖ. auf dem sogenannten "Wochenmarkt" kaufen kann: Stechäpfel, Engelstrompeten, Hawaiianisches Kraut und anderes Pflanzenzeug. Roman hat mal ein Marktkörbchen mit Pilzen gesehen, an dem hing ein Schild mit der Aufschrift:
"Nur für Leute mit Drogenerfahrung, mindestens LSD; ansonsten Lebensgefahr!"
Eine suchtkranke Patientin hat mir erzählt, daß sie auch immer auf dem Wochenmarkt von GÖ. einkauft. Man könne sich außerdem die Pflanzen über einen Internet-Bestellshop schicken lassen.
Spät nachts war ich noch im "Verlies", wo Cyra auflegte und zwischendurch auch Spheric. Auf dem Weg kamen mir Constri und Derek entgegen, die schon eher ins "Verlies" gegangen waren. Constri erzählte, daß Cyra als übernächstes Lied ein Stück von Derek spielen wollte. Constri und Derek wollten aber nicht mehr bleiben, sondern im "Bürgerkrieg" essen gehen. Im "Verlies" war es schon nicht mehr so voll, so daß ausreichend Platz blieb zum Tanzen. Cyra spielte tatsächlich als übernächstes Lied "Warnung" von Derek. Das Stück ist kompromißlos hart und rhythmisch. Die Tanzfläche blieb voll. Derek hat mir "Warnung" zusammen mit zwölf anderen Stücken auf eine CD gebrannt mit dem Titel "13 Wege zum Sterben". In "Warnung" sind unter anderem die Aufnahmen versampelt, die Folter nachts in dem Altenheim gemacht hat, wo er arbeitet. Dort gibt es eine verwirrte Dame, die nachts in immer demselben Tonfall "Hiiilfe!" ruft.
"Makaber", sagte ich dazu, "aber es gehört genauso zum Leben; warum soll man sich nicht auch mit den Schattenseiten beschäftigen? Deshalb war es mir so wichtig, daß es versampelt wird. Und ich finde, in der Musik kommt die Stimmung gut heraus."
"Das Leben ist makaber", findet Cyra.
Sie war mit Denny auf dem Fernsehturm von Toronto. Letztes Mal hat sie im Bistro gegessen, dieses Mal nicht; es soll auch ziemlich teuer sein. Allzu voll war es dort oben nicht, weil die Saison schon vorbei ist. Die Ahornbäume leuchten jetzt rot in Kanada.
Cyra war erkältet und fröstelte. Gegen halb fünf fuhr sie nach Hause und nahm mich mit. Wir verabredeten uns für den kommenden Dienstag zum Plattenkaufen in MD.
Am Dienstag war Cyra schon weniger erkältet. Wir kauften in MD. einen Haufen CD's. Dort gibt es ein Regal nur für Industrial. Rafa hat ein eigenes Fach im Independent-Bereich. Es gibt auch alte FDJ-Hits zu kaufen und "Die schönsten Pionierlieder".
Weil es neben dem Mediamarkt in MD. ein neues großes Kino gibt, dessen Eingangshalle fast wie ein Schwimmbad aussieht, planten Cyra und ich, dort auch einmal hinzugehen.
"Jetzt darf ich erstmal nicht mehr hierher kommen", sagte Cyra mit einem Blick auf ihren Stapel CD's und ihren Geldbeutel. "Frühestens in der Vorweihnachtszeit."
Und die war auch nicht mehr lange hin; da konnten gute Vorsätze schnell in Vergessenheit geraten.
Wir planten also ein vorweihnachtliches Plattenkaufen mit Kinobesuch in MD.
Am Samstag im "Radiostern" trugen Cyra und Denny wieder einmal schrille Sachen von "Cyberdog". Dennys Hose war mit Leuchtstreifen verziert.
"Ich nenne euch jetzt immer 'die beiden Cyberdogs'", sagte ich zu Cyra.
Denny erzählte, das Plakat und die Ytong-Skulptur von "Cyberdog", die er Cyra geschenkt hat, hätte er für sich selbst nicht gemacht.
"Das habe ich nur gemacht, weil es für Cyra war."
Er schilderte, wie ihm seine künstlerischen Ideen einfallen:
"Ich liege im Bett, und auf einmal weiß ich, das und das will ich machen, und dann muß ich schnell aufstehen und es umsetzen."
"Genauso geht es mir!" erzählte ich. "Ich komme meinen eigenen Ideen gar nicht hinterher. Mir fällt eine Idee nach der anderen ein, und weil ich es nicht schaffe, sie gleich umzusetzen, kommen sie in den Zwischenspeicher, und wenn es zu viele werden, muß ich darangehen, sie zu verarbeiten. Das ist so schön, wenn aus dem Gedanken ein Gegenstand wird, wenn etwas, das nur in der Phantasie existiert hat, auf einmal real wird."
Mitte Oktober war ich mit Constri auf der Expo und kaufte einen grauen Mantel aus der Mongolei, schwarz abgesetzt und mit geflochtenen Knöpfen an der Schulter und unterm Arm, in einem Originalschnitt, schwer und gut verarbeitet. Constri fiel der Mantel sogleich ins Auge, und sie machte mich darauf aufmerksam.
Spätabends fuhr ich mit Laurie ins "Zone", bequem angezogen mit einem kimonoähnlichen grauen Kleid, mit Schärpe verziert und mit vielen grauen Ketten behängt. Den Mantel aus der Mongolei nahm ich auch mit.
Es war eigentlich viel zu spät fürs "Zone", aber Laurie wollte hin, und ich wollte auch unbedingt hin. Wir kamen erst um halb eins dort an. Les spielte "Starfighter F-104G" und erzählte mir, daß Rafa da sei. Wo er sich aufhalte, wisse er aber nicht. Erst gegen ein Uhr entdeckte ich Rafa; mit einem blonden Jungen beschäftigte er sich am Flipperkasten, ohne sich zu mir umzudrehen, während ich in der Nähe beim DJ-Pult stand. Dann marschierte er mit seinem Begleiter in geringer, aber noch sicherer Entfernung an mir vorbei, zeigte im Gespräch mit dem blonden Jungen kurz in meine Richtung, sah mich aber ansonsten nicht an. Die beiden blieben nun vorerst verschwunden.
Rafas Haare saßen unordentlich, er trug seinen schwarzen Uniformmantel offen.
Als ich nach einiger Zeit herausfinden wollte, ob Rafa überhaupt noch da war, kam ich auch zu der Bar, die als abgeteilter Raum von dem langgestreckten Vorflur abgeht. Durch ein Sprossenfenster konnte ich in diesen Raum hineinsehen. In einer entlegenen Ecke fand ich Rafa, der mit seinem Begleiter an einem Tischchen saß. Ich verließ eilig Rafas Sichtkreis und beschloß dann, ihm noch ein Lächeln herüberzuschicken. Als ich ihn durch die Glasscheibe anlächelte, schaute er mir gerade in die Augen und lächelte ebenfalls. Ich konnte aber nicht sicher sagen, ob das mit mir zu tun hatte.
Im Saal fragte mich Laurie, wo Rafa denn sei; er wolle ihn gerne sehen. Ich ging mit Laurie noch einmal zu der Bar, blieb jedoch neben dem Fenster, damit Rafa mich nicht sah. Laurie hatte Schwierigkeiten, sich meine Beschreibung zu merken und dachte, der Barmann, der am Tisch stand und abrechnete, sei Rafa. Ich schaute kurz nach Rafa, um Laurie genau erklären zu können, wo er sich befand, und da blickte Rafa mir in die Augen, als hätte er das Fenster beobachtet.
Ich ging zurück in den Saal, Laurie ging noch kurz in die Bar, um Rafa genauer zu betrachten.
Nicht viel später kam Rafa mit dem blonden Jungen wieder in den Saal. Er setzte sich vor die Bar in der Nähe des Eingangs, mir gerade gegenüber; die Tanzfläche war aber zwischen uns. Ich saß am Geländer und schaute Rafa unverwandt an. Er schaute mich seinerseits unverwandt an. Rechts und links von ihm waren mehrere Jungen, mit denen er sprach, aber ohne den Blick von mir zu wenden oder sich von einem der Jungen den Blick auf mich verstellen zu lassen. Einmal hob Rafa kurz die rechte Hand, und ich tat ein Gleiches. Dann schauten wir uns weiter an. Mir fielen Rafas typische Gesten auf - seine Art, sich den Pony aus dem Gesicht zu schleudern und an seiner Zigarette zu ziehen.
Schließlich entfernte sich Rafa, und ich sah ihn nicht mehr.
Auffällig war für mich, daß er ohne Berenice da war und daß sie schon mehrfach ohne ihn im "Zone" war. Das muß nichts heißen, dennoch beschäftigt es mich.
Am Samstag war ich im "Exil". Edaín stand oben an der Kasse, und als ich sie fragte, wie es ihr ginge, antwortete sie mit einem etwas gestreßten Ausdruck:
"Geht so. Muß ..."
Abraxas spielte viel Industrial und Elektro, unter anderem "Effects vs. sustainability" von Winterkälte, "Warnung" von Missratener Sohn, "Talons grasp" von Decree, "Les fleurs du mal" von dem Album "Tumulte" von Sabotage qu' est-ce que c'est und das melancholische, minimalistische "Film 2" von Grauzone.
Am Freitag war ich mit Sarolyn in Hytanias Kellerbar, wo Velroe seinen 30. Geburtstag feierte. Als ich Sarolyn abholte, zeigte sie mir die Eigentumswohnung, die sie zusammen mit Victor erworben hat. Es ist eine hübsche Wohnung, schön gelegen, mit einer Einrichtung zwischen kühl-industriell und nostalgisch. Die in Grau gehaltene Küche hat Halogenlicht unter der Decke, zwei Schnüre mit Kaltlichtspiegeln daran, wie ich sie mir auch gern einbauen will. Aufgeputzt, wie wir waren, setzten Sarolyn und ich uns auf Barhocker vor einen Stehtisch mit schmiedeeisernem Gestell und ließen uns von Victor ablichten.
Sarolyn erinnerte sich an die Schminkmanöver, die sich vor acht Jahren im "Elizium" abgespielt haben. Sarolyn hatte schon immer ihre Puderdose dabei, ihr wichtigstes Utensil.
"Die Pfirsichhaut muß makellos sein."
Als Rafa damals durchs "Elizium" wanderte und Scharen von Mädchen begrüßte, ließ er seine Ponysträhnen weit übers Gesicht fallen, damit seine Freundinnen - er hatte zwei - nicht mitbekamen, wer von ihm auf die Wange geküßt wurde. Rafa trug schwarzen Lippenstift. Sarolyn konnte gerade noch seinem Wangenkuß ausweichen.
"Nachher in der Toilette habe ich gesehen, wie die Mädchen alle versucht haben, sich diese schwarzen Lippenstiftspuren aus dem Gesicht zu wischen, was nicht ging", erzählte Sarolyn.
"Wahrscheinlich hat er Stempelfarbe in den Lippenstift gemischt", vermutete ich. "Er hat alle Frauen als seinen Besitz gekennzeichnet. Rafa wollte schon immer Herr über die Gefühle sein und Herr über die Menschen. Er wollte alles unter Kontrolle haben."
Velroe berichtete, Hytania und er seien auf eine Halloween-Party eingeladen, in der WG, wo Kitty lebt. Auch Rafa sei dort eingeladen.
Spätnachts waren Sarolyn, Ferry und ich im "Lost Sounds". Dort standen drei echte Kürbislaternen, handgearbeitet, mit Kerzen darin. Es soll Bücher mit Kürbisrezepten geben, damit man weiß, was man mit dem Inhalt der Kürbisse anfangen kann.
Am Samstag war ich mit Constri und Derek in HH. im "Megamarkt" bei einem Industrial-Festival mit Suicide Commando, Dive, Monolith und Frames a Second. Der Raum, in dem das Festival stattfand, war dafür zu klein. Constri und ich mußten auf eine Treppe neben der Bühne und später auf die Bühne ausweichen, um tanzen zu können.
Nachts gab es "Stahlwerk", das wie schon seit Langem auf dem Dachboden vom "Megamarkt" stattfand.
Im Foyer begrüßte mich Sareth und gab seiner Wiedersehensfreude lebhaften Ausdruck. Er hatte seine Freundin Iolantha mitgebracht, mit der er seit über drei Jahren zusammen ist. Iolantha arbeitet als Krankenschwester. Sareth ist kein "ewiger Student" mehr, sondern macht eine Informatik-Ausbildung.
Cyra war im "Megamarkt" mit Denny und ihrer Mitbewohnerin Cielle. Cyra ging nach dem Festival ins Backstage zu Dirk I., um sich mit ihm zu unterhalten und mit ihm einen Auftritt im "Radiostern" zu vereinbaren. Später ging Cyra noch mit Denny und Cielle zu zwei Techno-Veranstaltungen. Wir anderen blieben bei "Stahlwerk". Rega spielte auch dieses Mal ein Stück von Derek, "No control"; außerdem liefen "The final strike" von Hypnoskull, "Headhunter 2000 (suspicious mix)" von Front 242 und "True lies one" von Dive.
Im Foyer unterhielten Constri und ich uns mit Sareth und Iolantha. Unvermittelt sagte Sareth zu mir, ich würde doch das Spiel mit der Uhr kennen; Iolantha stehe bei "zwölf", ich selbst bei "sechs" ...
"Und jetzt guck' mal hinter dich, bei halb sechs", forderte er mich auf.
Ich sah in die angegebene Richtung und entdeckte Ivo Fechtner. Sogleich fing ich an zu lachen.
"O.k.", sagte Sareth, "dann erübrigen sich alle weiteren Fragen."
Er beugte sich zu mir und wisperte mir ins Ohr:
"Wie kann einer in so kurzer Zeit so fett werden?"
"Der hat da schon jahrelang dran gearbeitet", antwortete ich. "Weil er nicht in die Höhe wächst, wächst er in die Breite."
"Stell' dir mal die Kinder von dem vor."
"Die gibt's vielleicht gar nicht", meinte ich. "Der kann doch nur mit Gummimaske und Anpinkeln."
"Waaas?" fragte Sareth. "Oh! Moment, ich muß mal telefonieren!"
Er zog sein Handy aus der Tasche und verschwand in eine stille Ecke, um das eben Gehörte weiterzusagen.
Velroe hat mir später von der Halloween-Party in Kittys WG erzählt, wo Rafa und Dolf eingeladen waren. Er selbst sei nicht dort gewesen. Eine seiner Bekannten habe ihm berichtet, Rafa habe sich auf der Party wie eine Mischung aus Kasper und Alleinunterhalter aufgeführt. Sie habe Rafa bei dieser Gelegenheit erstmalig kennengelernt und gemeint, er sei nicht so ihr Fall.
Am Sonntag war ich ein letztes Mal auf der Expo und besuchte unter anderem den Christus-Pavillon. Dort konnte man Kerzen in schwarzen Sand stecken, die es für Opfergroschen zu kaufen gab. Die Kerzen sollte man jemandem widmen, von dem man glaubte, daß er sie brauchen könne. Ich zündete für Rafa ein Kerzlein an und dachte, daß man mich wohl deswegen auslachen könnte:
"Was, für den? Der hat das doch am allerwenigsten nötig."
Es gab dort auch ein antikes Taufbecken zu sehen und ein Taufkleid, das auf einem Bügel hing. Von beidem werde ich Bilder an Ida schicken, die am selben Tag in S. getauft worden ist. Lisa läßt mich als Patin eintragen. Ich konnte nicht hinfahren, weil ich es nach der langen Nacht in HH. nicht geschafft hätte. Lisa meinte, das sei nicht so schlimm, ich sei doch erst vor einem Monat in S. gewesen; ich könnte auch nächstes Jahr zu Besuch kommen, und Ida und sie könnten doch auch mit Constri und mir im Sommer an die Nordsee fahren.
Im Christus-Pavillon habe ich festgestellt, daß die Stimmung von stiller Andacht, Hoffnung und Trauer mich überfordert. Ich konnte nicht lange dort bleiben. Mir wurde klar, daß ich wohl auch mit dem Besuch der Taufe von Ida überfordert gewesen wäre. Vielleicht wäre ich in Tränen ausgebrochen und hätte mich dann nicht mehr beruhigen können. Das kommt auch häufig vor bei Filmen, die davon handeln, daß Menschen zueinander finden, die einander verloren geglaubt haben, daß eine Hoffnung sich erfüllt, die man schon aufgegeben hatte, daß ein Bann gebrochen wird, der einen Menschen gefangen hält und daß etwas anerkannt wird, das zuvor niemand hatte glauben wollen.
Am Montag, dem 30.10. klingelte um zehn Uhr abends einmal das Telefon. Als ich abnahm, war die Verbindung schon unterbrochen. Ich erinnerte mich daran, daß Rafa und Anwar am Montag ihre regelmäßigen Treffen haben.
Zu Allerheiligen machten wir wie jedes Jahr unseren Friedhofsspaziergang und sahen uns im Dunkeln die roten Ewigkeitslichtchen an. Elaine ging mit uns; sie braucht ihre Karre schon lange nicht mehr. Am Eingang begrüßte uns eine weiße Katze mit schwarzen Flecken, die wir bereits vor zwei Jahren auf dem Friedhof getroffen haben; es gibt auch ein Foto von ihr, wie sie auf einem Grabstein sitzt. Die Katze begleitete uns auf dem gesamten Rundgang. Sie sprang umher, wälzte sich auf dem Boden und ließ sich streicheln. Nach dem Spaziergang waren wir noch lange im griechischen Restaurant, bis halb zwölf.
Am 04.11. klingelte um 13.44 das Telefon. Ich meldete mich mit "Ja?" und hörte nur Hintergrundgeräusche. Nach einigen Sekunden meldete ich mich ein zweites Mal; es änderte sich nichts. Das zwischenzeitliche Rauschen und Abreißen des Empfangs sprach für ein Handytelefonat. Zunächst hörte man etwas Rhythmisches, irgendwo zwischen Schaben, Scharren und Kratzen. Zweimal wurde eine Tonwahltaste gedrückt, jeweils eine andere. Das rhythmische Geräusch verschwand nach einigen Minuten, und man hörte Radio. Ein Mann und eine Frau unterhielten sich, weitgehend unverständlich und mit langen Pausen, immer nur in wenigen Sätzen. Es hörte sich alltäglich und geschäftig an, als würde ein Pärchen zu Hause aufräumen. Es kam mir so vor, als wenn jemand aus Versehen eine Handy-Taste gedrückt hatte und mit mir verbunden war, ohne es zu wissen. Die Frauenstimme sagte schließlich:
"Jules, mach' mal das Radio aus, eins von beiden. Ist ja schlimm ... Jules!"
Ich legte auf und rief bei Lana an, um herauszufinden, ob Lana und Jules aus Versehen ihr Handy angelassen hatten. Lana erzählte mir, daß das gewiß nicht so sei; weder sie noch Jules hätten heute versucht, mich übers Handy zu erreichen. Es blieb also im Dunkeln, wer da versucht hatte, mich anzurufen. Der einzige Hinweis ergab sich aus der Ähnlichkeit mit dem Telefonstreich im Juli, den ich mit einiger Sicherheit auf Rafa zurückführen konnte. Wer aber "Jules" sein sollte, konnte ich beim besten Willen nicht zuordnen. Infolgedessen wird es sich bei diesem Anruf am ehesten um ein Versehen handeln.
Rafa hat ein neues Bandfoto machen lassen, das ich in einer Szenezeitschrift gesehen habe. Rafa steht in "Macho-Pose" neben einem stocksteifen Dolf, beide im Anzug. Vor ihnen kauern zwei Mädchen auf dem Boden. Das Mädchen vor Dolf ist wahrscheinlich Kitty. Vor Rafa kauert Berenice, lächelnd, mit Steckfrisur, in einem fließenden ärmellosen Kleid und langen schwarzen Handschuhen - solche, wie ich sie habe. Beide Mädchen tragen Fünfziger-Jahre-Schmetterlingsbrillen - solche, wie ich sie habe. Berenice scheint es zu genießen, auf dem Bandfoto erscheinen zu dürfen. Wenn sie eines Tages nicht mehr mit Rafa zusammensein sollte, wird es von einem Augenblick zum anderen vorbei sein mit dem "Promi-Status". Es kann für sie nur darum gehen, so lange wie irgend möglich mit Rafa zusammenzubleiben.
"Eskapismus" ist ein kulturhistorisches Fachwort, das bei der Beschreibung von Heimatfilmen der Fünfziger Jahre angewendet wird. Es geht um die Flucht vor der rauhen Gegenwart und der grausigen Vergangenheit des kurz zurückliegenden Krieges. Was von der Heimat noch übrig war, wurde schöngefärbt und bekam einen Zuckerguß. Man trug steife Anzüge und zeigte ein überangepaßtes Verhalten. Mit dem Zwerg im Vorgarten war die Welt heile.
Rafa idealisiert die Kultur der Fünfziger Jahre in einer Weise, die vermuten läßt, daß er auf diese Fassade einer heilen Welt hereingefallen ist. Er möchte seiner eigenen Gegenwart entfliehen und wählt ausgerechnet diese Epoche als Fluchtziel. Leider kann er nicht wirklich in diese Zeit zurückversetzt werden. Sonst würde er vielleicht die Erfahrung machen, daß es damals keineswegs so gewesen ist, wie er es sich heute vorstellt.
Ted erzählte am Telefon, er leide sehr darunter, daß er Marvin nur noch selten sieht, weil dieser sich mit seiner Freundin zurückgezogen hat und auch nicht mehr in Teds Firma arbeitet, sondern eine Ausbildung macht.
Mitte November war ich zum Kaffee bei Henk, der einen Freund aus B. zu Gast hatte, der Edwin heißt. Henk gab zu der Musik auf einer Schellack-Platte einen alten Schlager namens "Martin" zum Besten. In B. hat Henk öfters im Rahmen von Travestie-Shows Schlager vorgetragen und sogar einen Gesangswettbewerb gewonnen.
Edwin hat AIDS und stammt aus unbeschreiblichen Verhältnissen. Das Jugendamt gab ihn als Kind zu Pflegeeltern, die ihn mißhandelten. Er zog mit siebzehn aus und wurde drogensüchtig, war zwischenzeitlich obdachlos und steckte sich mit AIDS an. Er hat eine Weile in B. mit Henk zusammengelebt und sich insofern erholt, als er sich in einem körperlich recht guten, gepflegten Zustand befindet. Er gibt an, außer Cannabis keine illegalen Drogen mehr zu nehmen. Henk hat kein Verhältnis mit ihm; er betrachtet ihn als Freund und wichtige Bezugsperson. Er sieht in ihm wahrscheinlich seinen verstorbenen Bruder, der ein ähnliches Schicksal hatte.
Am Morgen war Henk mit Edwin auf dem Flohmarkt gewesen und hatte dort ein neuwertiges Kreppeisen gekauft und ein unglaubliches Kitschwerk amerikanischer Machart, einen sogenannten "Singing Honey Fish". Es handelt sich um ein Brett, auf dem ein grünlicher Gummifisch befestigt ist. Wenn der eingebaute Bewegungsmelder anschlägt, hört man einen amerikanischen Song: "Don't worry, be happy"; zu seinem Repertoire gehört auch noch ein zweiter, ähnlicher Song. Der Fisch schlägt beim Singen seine quietschende Flosse im Takt auf das Brett, und zwischendurch knickt sich immer wieder sein Leib, er hebt seine "vordere Hälfte" vom Brett und singt dem Betrachter mitten ins Gesicht, wobei sich das Maul in erstaunlich wirklichkeitsnaher Weise öffnet und schließt. Von dieser "Vorstellung" konnte ich gar nicht genug bekommen.
Henk erinnerte sich daran, daß ich mir bei unserem letzten Treffen "Bierfahrten" für Rechtsradikale ausgedacht habe, "Nazi-Tours". Im "Luxus-Musikreisebus" schmettert die Marschmusik, und bei der Werbeverkaufsveranstaltung gibt es Militaria-Artikel und Nazi-Tonträger. Jeder Mitreisende erhält außerdem einen praktischen Baseballschläger, eine Kiste Bier, das Faksimile einer Goebbels-Autogrammkarte und eine bügelfreie Fahne "Deutsches Reich".
Anlaß für diese Idee war gewesen, daß Derek sich eine Nazi-CD gekauft hat, "Volksfront Ost". Angeblich soll die noch nicht auf dem Index sein. Ich habe Derek gefragt, was er mit dem Ding will, aber so richtig erklären konnte er mir das auch nicht. Mehr als "Stirb!" und ein "Hähähähää!" kommt in solchen Fällen nicht von ihm.
"Ab jetzt nenne ich dich 'Volksfront Ost'", kündigte ich an.
Nachts legte Cyra mit Les im "Radiostern" auf. Les hat vor, für Rafa im "Zone" eine Release-Party zu veranstalten. Er möchte diesbezüglich jedoch nicht Rafa selbst ansprechen, sondern das Label; er meint, Rafa würde es nicht schaffen, die Sache ausreichend zu organisieren.
Cyra und ich gönnen es Bill Leeb gleichermaßen, daß dieser hochkarätige Avantgarde-Künstler sich unter Delerium mit "Silence" einen Chart-Hit gebastelt hat:
"Jetzt hat er so lange anspruchsvolle und ausgefallene Sachen gemacht, jetzt darf er ruhig auch mal was zum Geldverdienen machen. Irgendwann will man ja auch mal Kohle sehen."
Im Foyer unterhielt sich Lolo mit Cyra. Lolo war sich schon im "Elizium" zu fein für mich, und seit ich das weiß, spreche ich ihn nicht mehr an. Wenn er immer noch De/Vision managt, kann er sich auf die Schulter klopfen, weil auch diese damit beschäftigt sind, in die offiziellen Charts aufzusteigen.
Im Laufe der Zeit gab es wieder eine Reihe seltsamer Begebenheiten in Kingston. Da war der Betrunkene, der meinte, 4 ‰ seien doch etwas zuviel, aber mit 3,5 ‰ würde es ihm richtig gut gehen. Ein anderer meinte, fahrtüchtig sei er überhaupt nur, wenn er etwas getrunken habe. Eines Nachts gab es ein schweres Unwetter, und die Feuerwehr war damit beschäftigt, die Keller auszupumpen. Dabei fanden die Feuerwehrleute einen, der betrunken in der Gosse lag. Sie brachten ihn her und meinten:
"Hier, der ist schon fast wieder sauber - von oben kam das Wasser, und nach unten lief es ab."
Ein Drogenabhängiger wußte allerlei Namen für LSD - außer "Pappe" und "Californischer Stern" auch "Mitsubishis" und "Jubiläumshoffmänner". Ein Alkoholiker war Mitglied in einem Verein, der sich "Geheime Bruderschaft vom Glockenstuhl" nennt und dessen Mitglieder sich je einen Finger verunzieren durch Verätzungen. Eine Patientin, die an Schizophrenie erkrankt war, wurde von mir gefragt, weshalb man sie zur Aufnahme gebracht habe.
"Weil ich Jesus bin", antwortete sie mit ergebener, andachtsvoller Miene.
Als ich mich erkundigte, wie sie denn darauf komme, daß sie Jesus sei, meinte sie:
"Weil alles, was ich getan habe, von Herzen kam."
Etwas später erzählte sie dann von sich aus:
"Ich bin mit meinem Hund ausgegangen. Und das war Gott."
"Ihr Hund ist Gott?"
"Ja. Und da kamen drei Männer, mit einem habe ich geschlafen. Der war auch Gott. Und ich bin die Kaiserin."
Anscheinend war ihr Wahn auch deshalb nicht korrigierbar, weil sie die Fähigkeit verloren hatte, logisch und schlüssig zu denken.
Es gibt außerdem noch eine Geschichte über Krankheitstage, die nachdenklich stimmt. Amfortas, Stellvertreter des Chefs, hat einmal einen erkrankten Assistenzarzt angerufen und sich erkundigt, wie es ihm gehe. Amfortas wußte nicht, daß er damit den Assistenten in Angst und Schrecken versetzen würde. Der Assistent glaubte nämlich, daß Amfortas ihn kontrollieren wollte. Um solche Mißverständnisse zu vermeiden, rief Amfortas seitdem keine erkrankten Untergebenen mehr an.
Im "Lost Sounds" erzählte mir Wendelin, er habe innerhalb von neun Monaten mehrere Beziehungen mit Laura gehabt und beobachtet, wie sie sich immer wieder in aggressive Impulsdurchbrüche hineinsteigerte, ohne daß es so recht einen Anlaß dafür gab. Sie beendet in Intervallen von wenigen Wochen die Beziehungen. Ich erklärte Wendelin, daß eine Störung dahintersteckt, die Laura schon von Haus aus mitgebracht hat und für die Wendelin nichts kann. Dennoch macht er sich weiterhin Vorwürfe und glaubt, er sei an den Trennungen schuld. Immerhin hat er von sich aus schon zu Laura gesagt, daß sie eine Therapie brauche.
"Sie sieht aber nicht ein, daß sie eine Störung hat", meinte ich. "Sie glaubt, nur die anderen seien schuld."
Roman hat endlich wieder eine Freundin, Nina. Sie war mit ihm im "Lost Sounds" und tanzte mit ihm. Sie sieht gut aus und war schick in Schwarz gekleidet. Sie ist etwas jünger als Roman, der zweiundvierzig ist.
Roman hat mir ein Buch verkauft, an dem er selbst mitgewirkt hat, mit Bildern und Texten. Es ist das Ergebnis der künstlerischen Arbeit in einer Tagesstätte für psychisch Kranke. Das Buch hat ein professionelles Design, das den Inhalt gut zur Geltung bringt und ihn besser vergleichbar macht mit der Arbeit professioneller Künstler. Roman hat schon Bilder verkauft und möchte auch gern weiter außerhalb eines institutionellen Rahmens Kunstwerke herstellen und verkaufen.
Edna war nun schon zum zweiten Mal ohne Saverio im "Lost Sounds". Sie war in Begleitung eines Mädchens. Sie soll auch nicht mehr bei Saverio wohnen. Vor einigen Jahren soll sie schon für etwa ein halbes Jahr von Saverio getrennt gewesen sein.
Als Saara bei mir zu Besuch war, hatte sie eine Idee. Da ich schon nicht bei Rafa anrufen könne, wolle wenigstens sie Kontakt zu ihm aufnehmen und versuchen, von ihm die fünfzehn Videokassetten zurückzubekommen, die er sich vor viereinhalb Jahren von mir ausgeliehen hat. Ich gab Saara den Rat, sie solle Rafa gegenüber in jeder Hinsicht ehrlich sein, da er aufs Tricks gefaßt ist und Schwindeleien schnell durchschaut.
Saara erreichte am Telefon zunächst nur Rafas Mutter. Die berichtete, Rafa sei in GÖ. und habe dort einen Auftritt. Saara meinte, sie wolle dann nochmal anrufen.
"Aber nicht mehr heute abend!" bat die Mutter und wirkte ziemlich entnervt.
Saara beruhigte sie und dachte sich, daß wohl viele seiner "Verehrerinnen" außerhalb der gängigen Zeiten bei ihm anrufen. Da Rafa nach wie vor in seinem Kinderzimmer zu wohnen scheint, könnte das zwischen ihm und seiner Mutter zu Konflikten führen.
Über Constris Rechner habe ich mir die Homepage von Sazar angeschaut, in der sich ein Interview mit Rafa befindet. Es heißt "Zehn Fragen an Rafa Dawyne". Sazar hat Rafa bei seinem richtigen Namen genannt, und das gefällt mir.
Sofern sich die Fragen auf technische Details und das von ihm entworfene Image der Band beziehen, antwortet Rafa bereitwillig und lobt Sazar sogar für diese Fragen:
"Das ist eine sehr schöne Frage."
Sind es aber Fragen nach persönlichen Hintergründen, wird Rafa - wie schon in anderen Interviews - abweisend und aggressiv. Als Sazar fragt, ob Rafa Eigenarten und Schwächen besitzt - wie etwa die, nur bei Licht schlafen zu können -, meint Rafa:
"Eine unserer hervorstechendsten Eigenarten ist, daß wir in Interviews manche Fragen nicht beantworten, da sie uns als zu unwichtig erscheinen, um das Interesse des Lesers zu wecken, oder uns zu privat erscheinen und somit den Leser gar nicht erst zu interessieren haben."
Mir fällt dazu ein, daß Rafa wirklich bei Licht schläft.
Grundsätzlich sagt Rafa nie "ich", redet von sich nur in der Wir-Form, sozusagen im "Pluralis majestatis", dem "Herrscher-Plural" hochgestellter Persönlichkeiten der Geschichte.
Die Welt der ehemaligen DDR wird von ihm ebenso unkritisch idealisiert wie die Welt der Nachkriegszeit:
"Man sollte sich eine gewisse Nostalgie bewahren und im Überfluß des Neuen niemals die Perfektion des Alten vergessen, auch wenn sie nur in kleinen Teilen zum Vorschein kam. Sachsenring/Zwickau-Trabantdesign in Metall mit Sachsenmotor, die Freie Deutsche Jugend, Kinderkrippen, Jugendclubs, subventionierte Grundgüter ... das sind alles Dinge, für die es sich lohnt, zu leben."
Da wünsche ich mir, daß Rafa nicht nur in die Fünfziger Jahre, sondern auch in die Welt der ehemaligen DDR versetzt wird und zusehen muß, wie er dort zurechtkommt. Ich frage mich, ob wir dann einen systemtreuen FDJ-Aktivisten mit Eins in Staatsbürgerkunde erhalten würden, der Marschlieder schmettert und Karriere bei der Stasi macht. Ganz so sicher bin ich mir da nicht.
Auf die Frage nach einer Umbesetzung der Band berichtet Rafa, daß wohl nie etwas umbesetzt werde, die Aufgaben seien klar verteilt und würden von immer den gleichen Personen gelöst, wie das schon vor sieben Jahren der Fall gewesen sei. Man habe sich lediglich um zwei Personen erweitert, die "derzeit den Part der weiblichen Stimme übernehmen". Er nennt "Kitty" (die Sängerin, von der ich gehört habe, daß sie gut aussehen soll, aber nicht singen kann) und "Soraya", wobei es sich um Berenice handeln wird. Stimme, Ausdruck und darstellerisches Talent von Berenice werden in dem Interview nicht hinterfragt.
Mir fällt das Wort "derzeit" auf. Anscheinend rechnet Rafa seine "Sängerinnen" nicht zum festen Personal.
Rafa erzählt, daß er seinen C64 hochgerüstet hat; dieser scheint jedenfalls von ihm als festes Bandmitglied betrachtet zu werden.
Auf die Frage, was er auf eine einsame Insel mitnehmen würde, nennt Rafa den C64, ausreichend Strom und die Möglichkeit, jederzeit "in unser Funkhaus in SHG." - womit sein Kinderzimmer gemeint ist - zurückkehren zu können. Er scheint sehr an seine Heimat gebunden zu sein. Ich bin es ebenfalls, und das ist von Vorteil, denn so werden Rafa und ich wenigstens nicht durch eine größere räumliche Entfernung getrennt.
In die Charts zu kommen, betrachtet Rafa angeblich nicht als sein erstrebtes Ziel; es gehe ihm nur um seine "Vision":
"Vielleicht wollen wir mal wieder die Welt verbessern."
Hierzu könnte ich anmerken:
"Und die Welt verbessert man, indem man raucht und Bier trinkt, die Freundinnen betrügt, schlägt und demütigt, nicht arbeiten geht und arrogant auftritt."
In einem Traum habe ich einen hellen Frühlingstag gesehen und Pflanzen in Lichtviolett, Lichtgelb und Lichtgrün. Dieses Bild erschien auf einem Monitor, und durch den Monitor begegneten Rafa und ich uns. Der Traum zerfiel gleich wieder, und ich habe nicht erfahren, wie es weiterging.
Am Freitag nahm ich nach einem Weiterbildungskurs spätabends noch an einer Personal-Weihnachtsfeier teil. Wir waren im "Chaos" in BS., das früher als berüchtigter "Kifferladen" galt. Bevor wir ins "Chaos" gingen, hatte es ein Essen in einem Steakhaus gegeben, und als ich dazukam, meinten die Leute, ich solle auf jeden Fall mitkommen ins "Chaos". Diese Discothek wirkt inzwischen etwas zivilisierter und hat im Obergeschoß einen "Housefloor", wo wir uns auch aufhielten. Die Herren versuchten, mich mit Tequila "abzufüllen" und stellten dabei fest, daß ich mehr Zitronenscheiben und Salz verbrauchte als das eigentliche Getränk. Einer schleckte mir das Salz von der Hand, was auf mich aber unschuldig und nicht zudringlich wirkte. Tanzen wollten sie auch mit mir, aber das ging nicht, weil der DJ wirklich nur House dahatte, nicht einmal etwas Technoides wie Hypetraxx oder Darude.
Alle wunderten sie sich, daß ich vorhatte, nach dieser Feier noch ins "Exil" zu gehen. Es wurde wirklich spät; zu Hause zog ich mich noch um, stieg aus Trägerrock und Chenille-Twinset um in ein enges kurzärmeliges Oberteil mit Stehkragen aus glänzender Spitze in Silbergrau und Schwarz, darunter kam ein schwarzes Hemdchen, dazu kamen das schwarze Tutu aus Seide und die langen schwarzen Handschuhe und eine Strumpfhose mit Naht. Erst kurz vor drei Uhr war ich im "Exil". Edaín wollte eigentlich noch kassieren, ließ mich dann aber so durch. Unten lief Neue Deutsche Welle, und tatsächlich stand im vorderen Raum Rafa am Pult. Er ging in Schwarz und trug andauernd seine Brille. Von der Seite konnte ich sehen, daß er sich die Augen in einem merkwürdigen Blau geschminkt hatte.
Weil es im vorderen Raum nichts zum Tanzen gab, war ich meistens hinten. Dort spielte Kappa VNV Nation und Apoptygma Berzerk. Ein groß gewachsener, langhaariger Junge begrüßte mich, und ich fragte ihn, wie er heiße.
"Ich bin Lucas", antwortete er.
Wir unterhielten uns über Geschwister. Lucas hat drei Geschwister, die zum Teil die gleiche Musik mögen wie er. Seine Schwester, die Älteste der vier, ist Doro, die mir vor Kurzem schon im "Exil" begegnet ist. Ich erzählte Lucas, daß meine Schwester und ich auch fast die gleiche Musik mögen.
Im vorderen Raum, neben Rafas DJ-Pult, reichte mir Lucas sein Bierglas. Ich nahm einen Schluck. Wir unterhielten uns neben dem DJ-Pult eine ganze Weile. Ich fragte mich, ob das so etwas wie Eifersucht in Rafa ausgelöst hat. Herausfinden werde ich es wohl nie. Rafa stand jedenfalls meistens nah bei uns, während wir uns unterhielten.
Ich bat Lucas, mich anzusprechen, wenn ich ihn nicht erkannte.
"Dich erkennt man immer sofort", meinte er.
"Ja, mich kennen alle, aber ich kenne nicht alle."
"Ich bin der, der immer mit einem Grinsen im Gesicht 'rumläuft", sagte er.
"Ich laufe auch immer mit einem Grinsen im Gesicht 'rum", erzählte ich.
Kappa spielte im hinteren Raum "Stukas im Visier" von Feindflug und danach "Hellraiser" von Suicide Commando, das Lucas sich gewünscht hatte. So kamen wir auf unsere Kosten.
Rafa kam später noch etwas weg von NDW und brachte "Love missile" von Sigue Sigue Sputnik und "Being boiled" von Human League, so daß ich auch im vorderen Raum noch tanzen konnte. Rafa war durchgehend am DJ-Pult, bis auf einen kurzen Augenblick, als er in den hinteren Raum kam, einem Jungen auf die Schulter klopfte und gleich wieder verschwand. Berenice verbrachte die meiste Zeit damit, neben Rafa hinterm DJ-Pult zu stehen und auf ihn "aufzupassen", ansonsten war sie viel bei Kappa hinterm DJ-Pult und hatte da Leute, mit denen sie sich unterhielt. Dolf war auch im "Exil". Ich hatte das Gefühl, daß Dolf und Berenice mich beobachteten. Ob Rafa mich beobachtete, konnte ich nicht feststellen, weil er die Brille nicht absetzte.
Berenice war so ähnlich gekleidet wie früher die Sängerin Tessa, mit herunterhängenden Haaren, einem knappen Oberteil und schwarzen Leggins. Das Oberteil war dasjenige, welches Berenice auch im "Laser" angehabt hatte, rückenfrei, mit Zebramuster und Schnürung hinten. Das sah so ganz anders aus als die Garderobe, die sie auf der Bühne trägt und die an sich gar nicht ihr Stil ist.
Wenn Berenice zwischen den Areas hin- und herlief, machte sie harte, kurze Bewegungen und wirkte ziemlich gereizt, was mich ebenfalls an die Sängerin Tessa erinnerte. Ab und zu mußte Berenice durch Engstellen gehen und kam deswegen dicht an mir vorbei, sie griff mich aber nicht an.
Greta Hesse war auch im "Exil"; ich sah sie nur in Rafas Area sitzen, allein.
Kappa spielte zum Schluß noch lauter Stücke, zu denen ich tanzen wollte, und die mußte ich mir nicht einmal wünschen. Darunter waren "Unit" von Logic System, "Silence" von Delerium, "The dark side" von Hypetraxx und "Sandstorm" von Darude. Zwischen den Stücken bekam ich mit, daß Rafa in seiner Area seine eigenen Stücke auflegte, auch solche, in denen er mit einer Sängerin - wahrscheinlich Berenice - im Duett singt; die Frauenstimme wirkt flach, unbeholfen und ausdruckslos.
Als die Lichter angingen und die Musik aus, unterhielt ich mich in Kappas Area vor dem Durchgang zum DJ-Pult mit Edaín. Sie hatte kurz zu "Confusion" getanzt, aber wieder aufgehört, als Kappa sie rief. Sie erzählte mir, daß die nächste Veranstaltung im "Exil" Ende Dezember stattfinden soll und daß der DJ von ihr gesehen und überprüft worden sei; er wolle Neofolk auflegen, habe jedoch so ein nettes, bescheidenes Auftreten, daß sie nicht glaube, daß es sich um einen bekennenden Nazi handele. Ivo Fechtner jedenfalls komme bei ihr nicht ans DJ-Pult. Auch Alienne wolle sie nicht am DJ-Pult sehen.
Ich meinte, daß die Schwarze Szene in der Gesellschaft immer noch allzu häufig mit rechtem Gedankengut und Satanismus in Verbindung gebracht wird und daß es wichtig sei, diese Vorurteile aufzulösen, damit man sich nicht als "rechts" bezeichnen lassen muß, nur weil man - wie ich - über den Ohren rasiert ist.
"Das fängt ja schon damit an", erzählte Edaín und zeigte mir ihr Armband mit Druidenfuß. "Da wird man auch ewig drauf angesprochen und muß Mißverständnisse klären. Am Turm der Backsteinkirche ist er ja falschherum drauf; da hat der Architekt einen Fehler gemacht."
"Wir haben die Backsteinkirche früher in Sachkunde gezeichnet. Aber das mit dem Druidenfuß wußte ich auch nicht."
Edaín meinte, es sei ein schönes Erlebnis für sie gewesen, daß zu ihrer Hochzeit so viele Leute den Weg in die Backsteinkirche gefunden hätten. Es sei schade, daß sie ihr Brautkleid nicht wieder anziehen könne, weil es eindeutig als Brautkleid zu erkennen ist.
Edaín war mit dreizehn Jahren schon in der Szene, damals in ihrer Heimat K., und kannte mit elf Jahren schon The Cure. Für sie stand schnell fest, daß die Schwarze Szene "ihre" Szene war, wie es damals auch für mich gewesen ist.
Während wir uns unterhielten, tippte mich Berenice von hinten mit einem Finger an, weil sie durch den schmalen Gang zum DJ-Pult wollte. Ich ließ sie vorbei und redete weiter mit Edaín. Etwas später kam Rafa und blieb links von mir stehen, in meiner unmittelbaren Nähe, und redete über das DJ-Pult hinweg mit Kappa. Rafa streckte dabei den rechten Arm aus, so daß ich kurz die Finger um sein Handgelenk schließen konnte, ohne das Gespräch mit Edaín zu unterbrechen.
"So!" rief Berenice vom DJ-Pult her. "Und wenn die das noch einmal macht, dann kriegt die sowas von in die Fresse ..."
Auch dieses Verhalten erinnerte mich sehr an die Sängerin Tessa.
Anstatt mich Berenice zuzuwenden, redete ich weiter mit Edaín, lächelte dann bedeutungsvoll, faßte Edaín am Arm und schüttelte sie ein wenig und ging wieder in den vorderen Raum, um meinen Mantel anzuziehen. Ich fand dort Lucas mit seinen Begleitern. Wir verließen das "Exil" gemeinsam. Auf der Treppe erzählte ich, daß Rafa seine Freundin auf die Bühne stellt, daß sie aber nicht singen kann.
"Das ist mir auch schon aufgefallen", meinte ein Bekannter von Lucas.
"Es ist ein Deal", fuhr ich fort. "Wenn sie sich von ihm trennt, darf sie nicht mehr auf die Bühne, deshalb kann er sie dadurch von sich abhängig machen."
Draußen auf dem Gehweg beratschlagten wir, wer in welchem Auto mitfuhr. Kappa, Edaín, Cyrus, Deirdre, Rafa und Berenice kamen ebenfalls heraus und schienen noch irgendwo anders hingehen zu wollen. Man schien es nicht sehr eilig zu haben. Rafa sagte im Vorbeigehen sogar "Tschüß" zu den Leuten, mit denen ich auf dem Gehweg stand und die Rafa wahrscheinlich gar nicht kannte.
Für einige Zeit blieb Rafa mit seinen Leuten im Eingang eines Bistros stehen, daß wohl schon geschlossen war. Lucas entschied sich, mit mir wegzufahren; das kam mir entgegen, weil ich dann nicht allein zum Auto gehen mußte, und die anderen hatten den Vorteil, keinen Umweg fahren zu müssen. Ich frage mich, ob irgendetwas in Rafa vorgegangen ist, als ich Lucas mitgenommen habe in die Straßenschluchten.
Lucas besucht die Fachoberschule Kunst und kann sich vorstellen, in den Multimedia-Bereich zu gehen. Sein Vater ist Kunstprofessor. Ich erzählte ihm, daß Constri Multimedia studiert. Lucas wollte über meinen Beruf viel wissen und hatte lauter Fragen, so daß er zu Hause noch eine Kanne Tee für mich kochte. Er wohnt mit seiner Familie in einem umgebauten Bunker. Dort sieht es chaotisch und pittoresk aus. Weil der Bunker von großen Rankenpflanzen überwachsen ist, steht er unter Naturschutz.
Im "Exil" wirkte Berenice auf mich übellaunig, aggressiv, vorgespannt und aufgeladen, wie ich es damals auch bei der Sängerin Tessa erlebt habe. Sie hatte auch denselben ordinären Tonfall und dieselbe Art, mir Schläge anzudrohen, eine hilflos wirkende Drohung, die mir das Gefühl vermittelte, daß sie sich ihrerseits durch mich bedroht fühlt. Sie könnte Neid auf mich entwickelt haben. Sie könnte mir Selbstsicherheit, Beliebtheit, Ausdauer und kreatives Talent zuschreiben, und es könnte sein, daß sie sich selbst diese Eigenschaften und Fähigkeiten nicht in dieser Ausprägung zuspricht. Sie könnte sich mir in mancher Hinsicht unterlegen fühlen.
Ich denke mir, wenn sie sich an Rafas Seite ausgeglichen und geborgen fühlen würde, würde sie nicht so sehr das Bedürfnis haben, mich "wegzubeißen", weil sie darauf vertrauen könnte, daß Rafa sich ohnehin nicht für andere Frauen interessiert. Anstatt mich anzuschreien, hätte sie auch in einem gelassenen, amüsierten Tonfall zu Rafa sagen können:
"Guck' mal, die versucht's schon wieder."
Sie wandte sich jedoch nicht an ihn, sondern an mich, und sie erhitzte sich, anstatt gelassen zu bleiben.
Im Nachhinein fällt mir auf, daß nicht nur ich auf das Schreien von Berenice nicht eingegangen bin. Auch Rafa scheint sich darum nicht gekümmert zu haben.
Ich könnte mir vorstellen, daß Berenice eben doch den Eindruck hat, daß zwischen Rafa und mir etwas vorgeht, worauf sie keinen Zugriff bekommt, obwohl Rafa und ich seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt haben.
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