Netvel: "Im Netz" - 44. Kapitel































.

Mitte Juli war ich nach der Arbeit in BI. bei Rixa, Philipp und Celina zum Abendbrot. Die fünfjährige Celina spielte mit mir in ihrem Kinderzimmer. Sie hat Lebensmittel aus Holz und Plastik und ein Puppengeschirr, mit dem sie auf dem Fußboden deckte. Ihr Stolz ist ein Barbie-Märchenschloß, das ihr die Eltern geschenkt haben.
Zum Essen erschien Claire, die ich früher mit ihrem damaligen Lebensgefährten Cal häufig im "Zone" getroffen habe. Claire berichtete, daß sie sich seit dem Abschluß ihres Studiums mühsam durchschlägt und noch keine endgültige berufliche Perspektive hat. Sie macht einen Kurs, der ihre beruflichen Chancen erhöhen soll. Ich empfahl ihr, ins Lehramt zu gehen, weil sie dort mit ihren Fächern die Chance auf eine sichere Existenz hat.
Claire ist nach wie vor liiert mit Philipps altem Freund Nino. Der arbeitet schon lange nicht mehr in seinem Beruf als Kfz-Mechaniker, sondern betätigt sich im Musikgeschäft. Was Cal betrifft, so ist dieser nach OS. gezogen, nachdem sein Arbeitsplatz wegrationalisiert worden war. In OS. hatte er eine neue Stelle gefunden, verlor sie aber schon nach wenigen Monaten wieder.
Rixa arbeitet in PE. und würde lieber in BI. arbeiten, um nicht pendeln zu müssen. Es sei allerdings schwer, in BI. etwas Passendes zu finden.
Rixas Nichte Pandora, inzwischen siebzehn Jahre alt, soll noch mehr auf Bollywood versessen sein als letztes Jahr.
Rixa und Philipp haben ein Bild an der Wand hängen, das von einem Künstler vor etwa fünfzehn Jahren gemalt wurde. Es ist naive Kunst, eine Landschaft mit Hügeln, Blumen und grünen Wiesen, doch schaut man genauer hin, entdeckt man, daß in dieser scheinbar heilen Welt ausschließlich Katastrophen passieren. Ein Flugzeug stürzt auf einen fahrenden Zug, die Challenger stürzt ab, in einer Badewanne liegt Barschel ... und dergleichen mehr. Ich bat Rixa, mir eine Kopie dieses Bildes zu schenken, wenn Philipp und sie das nächste Mal zu meiner Geburtstagsparty kommen.
Am 20. Juli heiratete Beatrice zum zweiten Mal. Abends fand die Feier statt, draußen im Grünen in einer Sportgaststätte. Es war sonnig und warm, die meisten Gäste saßen und standen an Tischen im Freien. Beatrice trug ein Kleid aus weißem Satin, mit trägerloser Corsage und einem langen ausgestellten Rock. Der Clou war eine breite schwarze Spitzenborte, die die Taille umschmeichelte und in der Mitte von einem schwarzen Satinband durchzogen war, das vorne zu einer Schleife gebunden war. Passend zu dem Kleid hatte Beatrice ihr langes schwarz gefärbtes Haar zu Korkenzieherlocken aufdrehen lassen, die so gesteckt waren, daß ihre Haarpracht noch mehr Fülle bekam. Beatrice trug hochhackige schwarze Pumps aus Rauhleder. Tagor, der Bräutigam, hatte ein kurzärmeliges Hemd an mit einer schwarzen Weste darüber, dazu eine schwarze Anzughose.
Beatrice erzählte, die Eheschließung im Standesamt sei sehr aufregend gewesen, sie könne sich kaum daran erinnern.
Lessa trug einen sommerlichen Freizeit-Look. Sie erzählte, daß sie kaum noch auf Parties geht. Sie meinte, ich hätte mich überhaupt nicht verändert, würde ebenso aussehen und sein wie vor zehn Jahren. Lessas Mann war auch zugegen, er kennt mich noch aus dem "Elizium", vom Sehen. Lessa hat ihn im Juni geheiratet. Sie habe ein rosafarbenes Brautkleid getragen und eine Kette aus Rosenquarz. Lessa erzählte von ihren Kindern, die sie mit anderen Männern hat. Sie heißen Amanda und Henry.
Die Damen von Beatrices Junggesellinnen-Abschiedsfeier waren anwesend, viele Freunde des Paares und viele Angehörige von Tagor. Beatrice hat - als Adoptivkind - keinen Kontakt zu eigenen Angehörigen. Ihre Adoptivfamilie ist verstorben.
Beatrices ehemaliger Partner Andras und dessen jetzige Partnerin Rhea waren eingeladen und hatten zugesagt, erschienen aber nicht. Die Mutter von Andras erschien jedoch.
Im Hochzeits-Gästebuch betonten Tagors Eltern, daß sie in Beatrice eine Tochter bekommen haben. Ihnen scheint bewußt zu sein, wie sehr Beatrice die eigenen Eltern fehlen.
Anemone sprach mich an, die mich aus dem "Elizium" kennt. Sie ist Mutter eines Sohnes und hat dessen Vater verlassen. Er wollte das Kind bei sich und seiner jetzigen Lebensgefährtin haben, sie jedoch setzte durch, daß es bei ihr blieb. Die Beziehung zwischen Anemone und ihrem Verflossenen sei unter anderem an der Sprachlosigkeit gescheitert. Erst nach der Trennung habe man sich die Streits geliefert, die während der Beziehung nicht stattgefunden hätten. Sie habe in der Beziehung auch das Engagement und die Zuwendung ihres Partners vermißt. Er habe sie mit der Versorgung des Kindes weitgehend alleine gelassen und im häuslichen Umfeld für mehr Chaos als Ordnung gesorgt. Schließlich habe sie ihm mitgeteilt, daß sie und das Kind ohne ihn besser zurechtkämen als mit ihm.
Seit Jahren lebe sie nun als alleinerziehende Mutter. Verliebt habe sie sich nach der Trennung von dem Vater ihres Sohnes nicht mehr.
Um Mitternacht warf Beatrice das Bukett. Sie hatte es selbst gebunden, "einfach zum Werfen". Wir waren sieben oder acht unverheiratete (oder nicht mehr verheiratete) Frauen. Beatrice bemühte sich, nicht zu hoch zu werfen, damit das Bukett nicht auf dem weit heruntergezogenen Dach landete. Es fiel vor mir auf die Betonplatten, und ich hob es auf. Ich erkundigte mich, ob das Unglück bringe, wenn das Bukett nicht direkt in die Hände einer der unverheirateten Frauen falle.
"Ach Quatsch", meinte Beatrice.
Nachts stand neben der Theke ein elektronischer Fliegenfänger. Eine violett-blaue Lampe lockt die Insekten an, und die sterben mit einem Knall an einem Stromschlag.
"Wieder eine weniger", sagte die Wirtin.
Sie ging mit einer elektronischen Fliegenklatsche auf Hornissenjagd.
Auf Rafas Website "Honeys Welt" habe ich ein Gästebuch gefunden, das es noch nicht lange zu geben scheint. Der erste Eintrag lautete folgendermaßen:

Huhu ...
Oh, der erste Eintrag, welch Ehre. Und ich dachte, hier schon auf das dumme Gesülze von hässlichen und zugenähten Pflaumen aus dem Fractalland zu treffen ; ).
Mach weiter so! Seite finde ich klasse!
Gruß
Tiffy

Rafa hat auf "Honeys Welt" eine E-Mail-Adresse angegeben, an die schrieb ich:

Wenn der Gästebucheintrag von Tiffy nicht innerhalb einer Woche verschwindet ... Küßchen!
Süß, deine neue HP "Honeys Welt".
Wenn der Gästebucheintrag von Tiffy nicht innerhalb einer Woche verschwindet, winkt dir (endlich) die Strafanzeige wegen Beleidigung. (Es gibt ja Leute, die stehen auf sowas.)

Tyra erzählte am Telefon, Berenice habe ihr meine E-Mail schon vorgelesen, in der ich von den jüngsten Ereignissen im "Nachtbarhaus" berichtet habe.
"Hammer", meinte Tyra dazu. "Rafa war ausnahmsweise mal ehrlich, zumindest teilweise."
Als ich Tyra von den Hetzreden einer "Tiffy" im Gästebuch von Rafas Internetpräsenz "Honeys Welt" berichtete, sagte sie sofort:
"Das war er selber!"
Sie meinte, diese Reden seien in dem Stil gehalten, in dem Rafa über mich zu sprechen pflegt.
Tyra erzählte, sie habe in ER. mit Berenice und Baryn mehrere Titel aufgenommen. Das erste Album sei in Aussicht.
Tyra jobbt nach wie vor. Sie hat noch keine feste Stelle und noch keinen Studienplatz.
Auf die E-Mail, die ich an "Honeys Welt" gesendet hatte, erfolgte keine Reaktion. In mehreren E-Mails beschwerte ich mich beim Provider, der jedoch ebenfalls nicht reagierte. Letztlich wollte ich für diesen Fall keine Energie mehr aufwenden. In den kommenden Monaten sollte sich die Angelegenheit ohnehin erledigen, weil der Provider geschluckt wurde. Das Aus für den Provider bedeutete auch das Aus für "Honeys Welt".
Ende Juli aßen Highscore und ich im "Ausspann" zu Abend. Magdalena gesellte sich zu uns. Sie berichtete, daß Sam sich per SMS bei ihr gemeldet hat. Er habe sich bezeichnet als "einer, der nachgedacht hat". Er bereue, was er getan habe, und er wolle mit Magdalena über alles reden. Sie aber fürchtet sich davor, daß er ihr Haus belagern könnte. Sie simste nicht zurück. Sam ist auch Magdalena gegenüber schon gewalttätig gewesen. Und sollte er tatsächlich aus dem Gefängnis entlassen worden sein, dürfte er versuchen, bei Bekannten Unterschlupf zu finden. Magdalena will ihn jedenfalls nicht beherbergen.
Inzwischen steht Magdalena kurz vor dem Abschluß ihres Praktikums in einer Hörgeräte-Firma und am Beginn ihrer Ausbildung als Hörgeräte-Akustikerin. Sie erzählte, daß die edle Garderobe, die von den Mitarbeitern des Betriebs erwartet wird, im Widerspruch zu dem geringen Einkommen während der Ausbildung stehe. Sie könne nur überleben, weil sie reichlich Unterstützung durch ihre Eltern erhalte. Die Eltern, das sind die Mutter und deren jetziger Mann, den Magdalena "Papa" nennt und auch als Vaterfigur wahrnimmt.
Highscore erzählte von dem Tod seines Vaters Anfang Juni dieses Jahres. Die Mutter starb schon vor elf Jahren. Der Vater zog mit seiner neuen Lebensgefährtin nach Bayern. Highscore sah ihn nur noch selten. Kurz vor dem Tod seines Vaters nahm Highscore sich aber kurzfristig Urlaub und besuchte ihn, als hätte er geahnt, daß er bald sterben würde. Der Vater litt an einem Aneurysma der Aorta und sollte deswegen operiert werden. Die Operation war riskant, und wenige Tage danach starb er. Highscore wurde von seiner Schwägerin benachrichtigt, die weinend anrief, so daß Highscore sich schon denken konnte, was passiert war. In Bayern gab es eine Trauerfeier, beerdigt wurde der Vater aber in seiner Heimat in der Gegend um SHG., denn das hatte er sich so gewünscht.
Maylin gesellte sich zu uns. Sie berichtete, sie arbeite jetzt wieder in dem Seniorenheim, wo sie schon einmal gearbeitet habe. Der Chef sei sehr darauf aus, sie wieder im Team zu haben, und so konnte sie Bedingungen stellen. Sie hatte den Betrieb verlassen, weil der Chef ihr nachstieg. Er stutzte, als sie mitteilte, daß sie verheiratet ist. Die Stelle, die Maylin bis vor Kurzem gehabt hat, soll frustrierend gewesen sein - ambulante Pflege, man sei immer unterwegs, es gebe keine Bezahlung der Wegezeit, demnach keinen vollen Stundenlohn.
Highscore erzählte von einem Paintball-Wochenende in der Nähe einer Großdiscothek im Ruhrgebiet. Die Teenager hätten vor der Discothek mit LSD-geweiteten Augen in Highscores Kofferraum geschaut und die Paintball-Kugeln gesehen, ohne zu wissen, um was es sich handelte. Nach dem Motto "Fragen kann man ja mal" erkundigten sie sich, ob es bei Highscore "etwas" zu kaufen gebe.
"Das, was ihr kaufen wollt, gibt es bei mir nicht", bedauerte Highscore.
Die Teenager hatten wohl geglaubt, bei den Farbkugeln handele es sich um Drogen.
Magdalena erzählte, daß sie nicht zu Maylins Hochzeit kommen konnte, weil sie an einem Schädel-Hirn-Trauma litt. Etwa zwei Wochen zuvor hielt Magdalena an einer roten Ampel, und jemand fuhr ihr ins Auto, der wohl das Rotlicht ebenso wenig gesehen hatte wie die wartende Autoschlange. Magdalena war kurze Zeit bewußtlos. Als sie aufwachte, bestand sie darauf, mit dem kaputten Auto weiterzufahren. Sie wollte zu ihrem Job in einem Möbelhaus in Bad N. Bei der Arbeit wurde ihr schlecht. Sie fuhr nach SHG. ins Krankenhaus. Dort wurde sie zwar geröntgt, jedoch wurde kein Computertomogramm angefertigt, und sie wurde auch nicht zur Beobachtung dabehalten. Trotz ihres eigenen Leichtsinns und trotz der Nachlässigkeit der Behandler im Krankenhaus überlebte Magdalena das Schädel-Hirn-Trauma. Sie war für zwei Wochen krank zu Hause.
Highscore erzählte, daß er sich an die Hochzeitsfeier von Maylin und Kiran nicht erinnern kann. Auch an Kirans Junggesellenabschied kann er sich nur undeutlich erinnern. Es kommt öfters vor, daß Highscore sich an eine Party oder ein Konzert nicht oder kaum erinnern kann. Das liegt daran, daß Highscore auf Feiern häufig so viel trinkt, daß er einen Filmriß bekommt. Ich fragte ihn, ob er es nicht bedauert, daß er an so viele schöne und gesellige Ereignisse keine Erinnerung hat. Er meinte, er bewahre nichts auf, er merke sich nichts. Er genieße die Ereignisse, die kommen, und lasse sie an sich vorbeifließen, das genüge ihm. Wenn er sich im Kino einen Film anschaue, könne er den sehr genießen, doch wenn ihn danach jemand nach der Handlung frage, könne er die nicht berichten, auch wenn er im Kino nüchtern sei. Er lege keinen Wert darauf, sich die Handlung zu merken. Ihm gehe es nur um den momentanen Genuß.
Im "Reha-Bunker" beschäftigen sich die Schlaganfall-Patienten auf ihre eigene Art mit ihren gelähmten Armen und Beinen. Eine Dame nannte ihren gelähmten Arm "Fritzchen" und streichelte ihn liebevoll.
"Fritzchen kann noch nichts", sagte sie.
Eine andere schimpfte mit ihrem Arm, weil er sich nicht bewegen wollte:
"Du blödes A...loch!"
Es wurde erzählt von einem Gehbehinderten, der sein Behindertenfahrzeug tunte, so daß es sehr viel schneller wurde als erlaubt. Er sei denn auch mit sechzig Stundenkilometern im Ortsverkehr geblitzt worden.
Mein Vorgesetzter - der Chefarzt der Abteilung für Neurologie - plauderte aus dem Nähkästchen:
"Ich habe zwei Krawatten. Eine ist für Bewerbungsgespräche und eine ist für die Trauer."
"Wobei sich das eine vom anderen nicht wesentlich unterscheidet", meinte ich.
Als ich an Valerien mailte, Wave sei letztes Jahr auf dem Pfingstfestival in L. aus einer Location hinausgeworfen worden, weil er betrunken herumgelärmt habe, mailte Valerien:

Ach ... sag bloß ...
Ich weiß nur, daß Wave beim Pfingstfestival 2006 sturzbesoffen aus einer Straßenbahntür gefallen ist und (ausgerechnet!) ich ihn beinahe überrollt hätte ...
Aber ich habe auch schon meine Erfahrungen mit besoffenen Waves gemacht, zum W.E-Fanclubtreffen 2005 z.B. - und sowas macht man (nicht nur mit mir, sondern so ziemlich mit jedem Menschen) einfach nicht ...

Über das Ende des W.E-Forums mailte Valerien:

Jetzt ist es (GOTT SEI DANK! = meine Meinung) zu, das schöne Forum, aber die Welt dreht sich weiter, und die Fans haben wieder mehr persönlichen Kontakt ...

Zu meinen Schilderungen der Ereignisse im "Nachtbarhaus", wo ich Rafa mit seiner Gewalttätigkeit konfrontiert habe, mailte Berenice:

Ich habe selten sowas Widerliches von einem Menschen gelesen wie das jetzt hier über Rafa. Ich schäme mich doch fast, mit ihm zusammengewesen zu sein. Was für ein Mensch!!!

Zu Rafas Äußerung, er habe immer eine "Sch...-Angst", daß ich eines Tages mit einer Axt hinter ihm stehen würde, schrieb Berenice:

Wie er mir und auch Tyra ja immer sagte ...

Offenbar hetzt Rafa seine Freundinnen und Geliebten gegen mich auf, indem er ihnen absurde Geschichten über mich erzählt. An diese Geschichten glaubt er anscheinend selbst.
Zu Rafas Äußerung im "Nachtbarhaus", manche Frauen müsse man auch schlagen, schrieb Berenice:

Der soll mir noch mal unterkommen.

Zu Sarolyns Erzählung vom Tod ihres Vaters und Rafas eigener Todesgefahr durch das Rauchen schrieb Berenice:

Rafa wird sich wundern, wenn es ihm an den Kragen geht. Und dann zeigt sich ihm ganz schnell, ob er Freunde hat. Auf mich wird er nicht zählen können.

Ich mailte:

Kappa hat erzählt, Rafa könne gut leben von dem Geld, das er verdient. Allerdings zahlt Rafa kaum in Versicherungen ein, ist somit wahrscheinlich nicht ausreichend versichert, zudem zahlt er praktisch keine Miete und hat kein Auto, und das Geld, das andere für einen eigenen Haushalt, einen Wagen und ausreichenden Versicherungsschutz ausgeben, verpulvert Rafa einfach. Dadurch kann es schon so aussehen, als ob er Geld hätte.

Berenice mailte:

Klar - es ist genauso, wie Du sagst: Rafa hat ja kaum feste Ausgaben aufgrund seiner Wohnsituation. Und mein Roller (äh, nun sein Roller) kostet ja kaum was im Jahr oder an Sprit. Und er verpulvert tatsächlich sein gesamtes Geld einfach so ...

Derek hält mich auf dem Laufenden, was sein Musikprojekt betrifft, weil ich seine Website hoste. Er mailt mir unter anderem seine neuesten Titel. In einer E-Mail erzählte ich ihm:

Neulich quatschte mir mal wieder eine Computerstimme auf den Anrufbeantworter:
"Sie sind ein echter Glückspilz! Sie haben garantiert einen unserer wertvollen Geld- und Sachpreise gewonnen! Um Ihren Gewinn abzuholen, wählen Sie: 0...9...0...0..." und so weiter. Das müßtest du mal versampeln. Cool.

Derek mailte:

Ja, warum hast du nicht dort angerufen????
Dann hättest du keine 60-Std.-Woche!!!!!
Und hättest 60 Std. Freizeit, wie Ray.
Ha, ha!

Telefonbetrüger sind zur Zeit sehr aktiv. Es gibt wohl kaum jemanden in unserem Telefonnetz, der nicht schon ähnliche Anrufe erhalten hat. Eine süßliche Computerstimme verspricht einen angeblichen Gewinn und fordert den Anrufer auf, eine teure "0900"-Nummer anzurufen. Wer allerdings gewinnt, sind ausschließlich die Betrüger.
Ray ist jemand, den man guten Gewissens als arbeitsscheu bezeichnen kann. Er hat es immer verstanden, sich jeglicher Verantwortung zu entziehen. Er braucht allerdings keinen Hauptgewinn, um nicht arbeiten zu müssen. Ihm genügt das Jobcenter. "Jobcenter" ist die heutige, beschönigende Bezeichnung für das Sozialamt. Durch konsequente Krankmeldungen hat Ray so viele Arbeitgeber abgeschreckt, daß er inzwischen als unvermittelbar gilt und in seinem Nichtstun kaum noch vom Jobcenter gestört wird.
An Derek mailte ich:

Stimmt, man soll immer bei 0900-Nummern anrufen, dann hat man zwar kein Geld mehr, aber man weiß, man hat auf jeden Fall gewonnen, z.B. den kostenlosen Besuch eines Gerichtsvollziehers, Kuckuck-Aufkleber, Mahnbriefe etc. Das ist doch was Feines.
Im Zeitalter der zunehmenden Anglisierung schreiben sich nicht nur Quarzuhren mit "tz", auch Armut schreibt sich mit "tz". Man könnte sie sonst mit einem beliebten deutschen Mittelgebirge verwechseln.

Dies war eine Anspielung auf die Wortähnlichkeit zwischen "Hartz IV" und einem der schönsten Ausflugsziele Deutschlands.
Am Wochenende fuhren Constri, Denise, mein Vater und ich nach S. In Irmins Haus gab es Maultaschen. Irmin berichtete, daß die weit über neunzigjährige Nachbarin noch immer lebt und das Geld ausgibt, das sie für den Verkauf ihres Hauses bekommen hat. Der Sohn der Nachbarin soll behindert sein und in einem Heim leben. Früher, als er noch nicht behindert war, soll er mit einem Sportwagen herumgekurvt sein und so getan haben, als sei er etwas Besseres. Die Nachbarin wurde vor längerer Zeit von Irmin gefragt, ob sie ihm, falls sie ihr Haus verkaufe, dieses vorher mitteilen werde, so daß er die Möglichkeit habe, dieses Haus oder zumindest einen Teil des Grundstücks - er dachte vor allem an den unmittelbar an sein Grundstück grenzenden Streifen und die dazugehörige Garage - zu erwerben. Die Nachbarin versprach ihm dies, hielt sich aber nicht daran. Deshalb ist Irmin auf sie nicht gut zu sprechen.
Am Nachmittag waren Constri, mein Vater, Denise und ich bei meiner Tante Britta und deren Mann Wilko. Auf der Terrasse gab es Kaffee und Kuchen. Britta und Wilko erzählten von ihrem baldigen Umzug nach FR., wo ihre Kinder leben. Heute besuchten wir sie zum letzten Mal in ihrer Wohnung in S. Sie denken, sie können sich in FR. auch zu Hause fühlen, zumal sie die Stadt schon lange und gut kennen; Wilko hat dort studiert, und Britta und Wilko haben dort geheiratet.
Tags darauf gab es eine große Familienfeier. Susanna, die Schwester meines Vaters, und ihr Mann Harry feierten Goldene Hochzeit. Die Goldbraut trug ein Bukett aus lachsfarbenen Rosen, der Goldbräutigam trug eine lachsfarbene Rose am Revers. Die Festlichkeiten begannen mit einem Gottesdienst in dem Stadtteil von S., wo sie seit mehr als vierzig Jahren leben. Dieser Stadtteil liegt etwas außerhalb und hat dörfliche Strukturen, obwohl in der Nachkriegszeit große Wohnsiedlungen hinzugekommen sind. Eines der damals neu gebauten Reihenhäuser erwarben Susanna und Harry in den sechziger Jahren. Ihre beiden Kinder wuchsen dort auf, und die Eltern leben noch heute dort.
Nach dem Gottesdienst wartete eine mit Sonnenblumen geschmückte Kutsche vor der Kirchentür. Das Jubelpaar stieg ein, auch einige Kinder fuhren mit. Das Ziel war ein Gasthof, wo das Festessen stattfand. Es wurden Fotos gezeigt aus dem Leben der Eheleute, darunter auch das Hochzeitsfoto aus dem Jahr 1957. Susanna galt mit ihren zwanzig Jahren in der damaligen Zeit noch nicht als volljährig. Ihre früh verwitwete Mutter mußte deshalb bei der Trauung mit unterschreiben. Die bildhübsche Braut hat ihr Aussehen an ihre Tochter weitergegeben. Beide Kinder sind verheiratet, der Sohn hat selbst zwei Söhne.
Susanna wuchs in einem Nachkriegshaushalt auf, in beengten Verhältnissen, es gab kaum Privatsphäre. Sie mußte die Kleider ihrer früh verstorbenen Tante auftragen. Eines Tages kam Harry zu Besuch, weil er einen von Susannas Brüdern treffen wollte. An der Tür war Susanna, und er verliebte sich in sie. Er wirkte anständig auf sie, und sie wurde nicht enttäuscht.
Die nächste Generation führte ein kleines Theaterstück auf, in dem es um die vielen Reisen ging, die Susanna und Harry miteinander gemacht haben. Sie waren sogar in Nepal. Ich spielte die Rolle einer Pensionswirtin.
Es gab Platzkärtchen. Mir gegenüber saß Ingo, der jüngste Bruder meines Vaters. Er ist mein Patenonkel, hat diese Rolle jedoch kaum ausgefüllt. Ich habe ihn fast nie gesehen. Er soll zwanghaft sein und herrisch. Er hatte einen fassadenhaften Gesichtsausdruck und war zwar freundlich, aber kaum zu einem harmlosen Gespräch in der Lage.
Anfang August feierte Constri ihren Geburtstag nach. Sie hatte auch Gäste aus HB. und aus dem Ruhrgebiet. Auto-Fan Ted beschrieb seine Frisur:
"Das Heck habe ich mir schon immer so gestylt."
"Ach, und die Scheinwerfer haben immer so schön blau geleuchtet", zog ich ihn auf, "und der Kühlergrill hat immer schon so nett gegrinst."
Bertine erzählte, daß das Kind, das sie erwartet, ein Down-Syndrom hat. Dennoch freuen ihr Mann und sie sich auf das Kind. Es soll Ende September zur Welt kommen.
Meine Mutter bekam Besuch von Calla, einer alten Freundin der Familie. Wir kehrten zu dritt in einem Bistro namens "Interface" ein, das ganz in meiner Nähe eröffnet wurde, an einer großen Kreuzung. Das Bistro befindet sich in einer Hausecke und ist umrahmt von einem überbreiten Gehweg, so daß es viel Platz gibt, um draußen Tische aufzustellen. Drinnen gibt es ein Podest mit Bänken und kleinen Tischchen für den Kaffeeklatsch.
Calla spürt ihr Alter schon sehr. Sie sei nicht mehr dieselbe wie früher. Sie ist vierundsiebzig Jahre alt und bekommt allmählich Gedächtnisprobleme. Was sie jedoch nicht vergißt, ist die Erinnerung an einen Sommernachmittag auf dem "Stückle", jenem uralten Gartengrundstück in S., das unserer Familie gehört. Calla hütete damals Constri und mich. Wir waren im Kindergartenalter. Ich kann mich an diesen schönen Sommertag auch noch erinnern. Wir saßen auf den Stufen vor der verwunschen wirkenden Gartenhütte, die längst nicht mehr steht. Die Hütte besaß einen winzigen Dachboden, der mich neugierig machte, dabei gab es dort oben kaum mehr als verstaubtes Holz. Es waren die kleinen Dinge, die mich faszinierten, und ich hoffe, mir die Begeisterung für die kleinen Dinge zu erhalten.
Meine Cousine Vivien schrieb über ihren zweieinhalbjährigen Sohn Jay, daß er zum Einschlafen immer Geschichten über motorisierte Fahrzeuge hören will. Nachdem Vivien ihm auf seinen Wunsch die vierte Geschichte über einen Bagger erzählt hatte, fragte sie ihn, ob die nächste Geschichte auch von etwas anderem handeln dürfe. Er gestand zu, die nächste Geschichte dürfe von einem Gabelstapler handeln.
Jay-Elle und Amelie - beide sind Krankenschwestern in Kingston - mailten:

Wenn Du zurück nach Kingston willst, ist jetzt die beste Gelegenheit, da Ärzte gesucht werden ... 9 Ärzte haben gekündigt!

Ich antwortete:

Vielen Dank für euren Tip!
Mina hat mir neulich auch sowas gesimst: sie hat gemeint, wenn ich irgendwann mal wieder in Kingston arbeiten wollte, dann sollte ich mich jetzt bewerben. Da habe ich sie gefragt, warum, und sie hat geantwortet, daß sie mir das nicht erklären will. Ich habe geantwortet, daß ich meine Planungen nicht wegen unsubstantiierter Andeutungen umwerfe.
Warum Mina mir nicht erzählt hat, daß gerade lauter Ärzte kündigen, weiß ich nicht.
Was mich interessiert, das ist, aus welchen Beweggründen so viele Ärzte weglaufen. Besonders zufrieden können sie ja dann in Kingston nicht mehr gewesen sein.
Nicht, daß ich in Bad O. bleiben will! Gott bewahre. Das ist nur eine Durchgangsstation für mich. Wohnen tu ich da eh nicht, ich wohne immer in H.
In der Rehaklinik, wo ich arbeite, laufen auch gerade die Ärzte weg! Die Leitung / Geschäftsführung betreibt eine Politik, die abschreckt (zu wenig Geld für zu viel Arbeit).
Zur Zeit habe ich ambulante Psychotherapien laufen, die für den Abschluß meiner Facharztweiterbildung erforderlich sind, und diese Patienten muß ich zuendebehandeln, damit ich mich zur Facharztprüfung anmelden kann, und das wird frühestens in einem Jahr der Fall sein, denn dieser Teil der Weiterbildung - Supervision - ist der mit dem größten Zeitaufwand. Also kann ich noch gar nicht weg aus der Region.
Sowieso will ich mich erst wieder in Kingston bewerben, wenn ich die Facharztbezeichnung habe, denn ich möchte nicht wieder als befristeter Stationssklave dort arbeiten. Wenn, dann will ich mindestens besser bezahlt werden und einen unbefristeten Vertrag. Und ich will eigenständig Strafrechtsgutachten machen können.
Wer läuft denn eigentlich alles aus Kingston weg? Das macht doch neugierig.

Mitte August war ich bei Joujou, Marvel und Jeanne. Joujou und Marvel erzählten, daß sie eine Beziehungskrise hatten. Joujou sei durch überlange Arbeitszeiten erschöpft und reizbar geworden, was zu Streit geführt habe. Schließlich habe Joujou gekündigt und sich für den Rest des Arbeitsverhältnisses krankschreiben lassen. Dadurch habe sie ihre Gesundheit und ihre Beziehung retten können. Die zweijährige Jeanne sei auch zufriedener und ausgeglichener, seit Joujou wieder mehr zu Hause ist.
Jeannes Vater Marian scheint sich kaum noch um Kontakte zu seiner Tochter zu bemühen. Damit diese Kontakte nicht völlig einschlafen, vereinbart Joujou Termine mit ihm, an denen Jeanne ihn besucht.
Ein Streitfaktor in der Beziehung von Joujou und Marvel ist Marvels Studium. Joujou ist der Meinung, daß Marvel mit seinen einunddreißig Jahren allmählich sein Studium beendet haben sollte. Sie hält ihm zugute, daß er sich in den letzten anderthalb Jahren sehr um Jeanne gekümmert hat. Marvel hat zugestanden, daß er etwas an Tempo zulegen könnte. Er studiert Informationstechnik, und zwar für den Hardware-Bereich. Das paßt zu seinen handwerklichen Neigungen. Er hat schon eine Ausbildung zum "Autoschrauber" gemacht.
Über Ary-Jana berichtete Joujou, die kümmere sich in letzter Zeit sehr um Darienne.
Joujou berichtete von dem Juli-Festival in K., das einen Meilenstein zwischen dem Pfingstfestival in L. und dem Sommerfestival in HI. bildet. Rafa habe auf der Aftershow-Party aufgelegt, sei jedoch nach fünf Stücken durch andere DJ's ersetzt worden. Joujou vermutet, daß das mit Rafas Moderation zusammenhängen könnte. Er habe gleich zu Beginn seines Sets durchs Mikrophon gesagt, er werde nur "Sch...-Musik" spielen, denn er dürfte hier heute nur "Sch...-Musik" spielen, und hier seien ja auch nur "Sch...-Leute", und außerdem seien hier "überhaupt keine schönen Frauen".
Als Rafa im Gewühl zu einem Tresen wollte, habe er versucht, sich vorzudrängeln, was bei den anderen Leuten auf Widerstand gestoßen sei. Rafa habe in die Menge gefragt:
"He, wißt ihr denn nicht, wer ich bin?"
"Nein", sei die Antwort gewesen.
Die Leute hätten ihn "kalt abfahren" lassen.
"Rafa wird immer mehr zur Witzfigur", meinte Joujou.
Darienne soll übrigens nicht an seiner Seite gewesen sein; er soll überhaupt kein Mädchen bei sich gehabt haben.
Tyra erzählte am Telefon, daß sie den Kontakt zu Rafa abgebrochen habe. Rafa habe zu Darienne auch weiterhin Kontakt. Dariennes Auto stehe oft vor Rafas Haus, auch über Nacht.
Tyra hat ihre Wohnung gekündigt, die in unmittelbarer Nähe von Rafas Behausung liegt. Wohin sie ziehen will, weiß Tyra noch nicht genau.
Cennet berichtete in einer E-Mail von dem glücklich überstandenen Umzug mit seiner Familie. Die Wohnung liegt in der Nähe der bisherigen, ist aber deutlich größer. Das Haus stammt aus der Jugendstil-Ära.
Meine Cousine Lisa erzählte am Telefon, daß ihr Bruder Garret erneut in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Garret leidet an Schizophrenie und setzt immer wieder seine Medikamente ab, was die Prognose der Erkrankung sehr verschlechtert. Zu der jetzigen Einweisung kam es, nachdem Garret sich auf der Straße auffällig verhalten hatte und Passanten die Polizei gerufen hatten.
Als ich bei Henk zum Haareschneiden war, erzählte er, daß seine Mutter sich wenig um ihre Gesundheit kümmere und neulich wieder einmal unterzuckert in der Wohnung gelegen habe. Sie sei jetzt im Krankenhaus, zur Blutzucker-Einstellung. Sie habe noch Kontakt zu Freunden und Bekannten und bekomme auch Besuch, vor allem von einem ehemaligen Lebensgefährten.
Henks Katze ist zwanzig Jahre alt und geht sehr vorsichtig, wegen ihrer Arthrose.
Constri hat mit Darien telefoniert. Er hatte ihr in einer SMS geschrieben, daß Dera ausgezogen sei und er in der Psychiatrie sei, wegen Eigengefährdung. Das bedeutet sehr wahrscheinlich, daß er Suizidgedanken hatte. Constri rief ihn an, und er berichtete, daß er von sich aus in die Psychiatrie gegangen sei. Sie unterhielten sich lange. Constri rief ihn einige Tage später wieder an, und er erzählte von den tragischen und absonderlichen Geschichten seiner Familienmitglieder; mehrere von ihnen sollen Selbstmordversuche unternommen haben.
Dera habe sich bereits eine neue Wohnung gesucht, als Darien noch nichts von ihren Trennungsabsichten ahnte. Besonders schlimm treffe es die Kinder. Darien sei es vorwiegend gewesen, der sich um sie gekümmert habe. Gerade habe Deras Tochter Cicely begonnen, ihn "Papa" zu nennen, als Dera ihn verließ und die Kinder mitnahm. Inzwischen seien die Kinder bei Deras Eltern.
Darien kann trotz seiner stationären Behandlung in einer psychiatrischen Klinik zu "Stahlwerk" fahren, als Wochenend-Belastungserprobung.
Carl und ich unternahmen bei schönstem Sommerwetter einen Ausflug zu einer grün umwucherten Burg, die besichtigt werden kann. Die Burg liegt auf einer Anhöhe. Hinter dem Burgtor geht es weiter bergauf. Die Tür zum Bergfried war unverschlossen. Wir stiegen die Treppen hinauf und blickten durch die Fenster weit ins Tal. Die Mauern wurden vom Sonnenlicht golden gefärbt. Wir machten viele Fotos.








Im Burghof gibt es einen kleineren Turm mit einem Kellergewölbe, das von außen zugänglich ist. Unten im Kerker ist eine Puppe angekettet. Im Halbdunkel sieht sie beinahe echt aus - wirklich zum Gruseln.
Im ehemaligen Herrenhaus der Burg gibt es eine Gastronomie, die jedoch geschlossen war.
Im Tal nördlich des Bergrückens entdeckten wir ein Maislabyrinth. Wir gingen in dem Irrgarten auf schmalen Wegen zwischen den dicht stehenden Pflanzen spazieren, die Zimmerdeckenhöhe erreichten. Das wäre auch eine schöne Film-Location.
Im "Reha-Bunker" in Bad O. kündigen immer mehr ärztliche Kollegen, was zur Folge hat, daß die verbliebenen Kollegen immer mehr Nachtdienste übernehmen müssen. Und als wenn die dadurch stetig steigenden Wochenarbeitszeiten nicht genug wären, wird auch noch versucht, den Kollegen den Erholungsurlaub auszureden. Die Geschäftsführung begründet dies mit personellen Engpässen und übersieht dabei, daß fehlende Erholung gerade bei übermäßig langen Wochenarbeitszeiten höhere Krankenstände zur Folge hat. Zudem wird ignoriert, wodurch die Kündigungswelle in Gang gesetzt wurde: durch die fehlende Bereitschaft der Konzernleitung, die neuen Arbeitszeitregelungen anzuerkennen.
Als ich - eine Woche vor meinem Urlaub - mit zuckersüßen Worten durch die Geschäftsführung befragt wurde, ob ich nicht auch Verständnis dafür hätte, daß Urlaube die ohnehin angespannte Personalsituation weiter verschlechterten, erwiderte ich, daß Urlaube notwendig seien, um sich zu erholen und Krankheiten zu verhindern. Nun wurde ich gefragt, ob es mir möglich sei, vorher anzukündigen, wenn ich erkrankte. Ich erwiderte, daß ich nicht voraussehen könne, ob und wann ich krank werde. Auf die Frage, wo sich mein unterschriebener Urlaubsschein befand, antwortete ich wahrheitsgemäß, daß er zu Hause auf meinen Schreibtisch lag.
"Ach so", hieß es da.
Insgeheim freute ich mich, daß ich den Urlaubsschein nach Hause gebracht hatte, kaum daß er unterschrieben worden war.
Leise und mit wenigen Worten hatte ich das Ansinnen der Geschäftsführung abgeschmettert, mir meinen Urlaub wegzunehmen. Daß ich deren perfide Strategie - mit Suggestivfragen, "Mitleids-Masche" und Fangfragen - durchschaut hatte, ließ ich mir nicht anmerken.
Auch heute hatte ich Nachtdienst, wieder einmal. Als ich frühmorgens in der Dienst-Suite erwachte, war das Rheuma wieder da, mit Entzündungen aller Gelenke, ausgenommen Kopf und Wirbelsäule. Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis ich es schaffte, aus dem Liegen zum Stehen zu kommen. Von meinem ersten Rheuma-Schub in L. wußte ich noch, daß man über das Fußende aus dem Bett steigen muß, wenn alle Gelenke entzündet sind.
Rheuma macht den gesamten Menschen krank, nicht nur die Gelenke. Es führt zu Mattigkeit und Erschöpfung. Das bestätigte mir eine Rheuma-Patientin im "Reha-Bunker".
Mein Hausarzt war überzeugt, ich sei zu jung, um Rheuma zu haben. Dabei steht im Lehrbuch, daß meine Altersgruppe vorwiegend betroffen ist. Immerhin schrieb er mich für zwei Wochen krank. Auch bei diesem Schub klangen die Gelenkschwellungen nach einigen Tagen ab, die Mattigkeit blieb jedoch länger.
In aller Heimlichkeit machte ich mich mit meiner Mutter, Constri und Denise auf den Weg nach Langeoog. Niemand in Bad O. wußte davon, und ich freute mich, weit weg in H. zu wohnen, so daß auch niemand davon erfahren konnte. Ich hatte ein breites rosafarbenes Leinentuch mitgenommen, das hängte ich mir am Strand über Kopf und Schultern. Außerdem verwendete ich reichlich Sunblocker und ging zwischen dem späten Vormittag und dem frühen Nachmittag nicht an den Strand. So verhinderte ich jegliche Bräunung oder Rötung und schützte meine Haut, die von Natur aus ungefähr die Farbe von Tafelkreide hat. Auf der Arbeit konnte mir den Urlaub dann niemand ansehen.
Als ich Tyra anrief, um ihr nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren, berichtete sie, Rafa habe sich nach langer Zeit wieder bei ihr gemeldet und ihr vorgehalten:
"Du meldest dich ja auch nicht mehr."
Sie antwortete:
"Ich hatte ja auch Geburtstag."
Rafa wand sich:
"Oh, ich wollte dich gestern echt anrufen, aber ich hatte echt absolut keine Zeit."
"Gestern hatte ich auch nicht Geburtstag."
"Ach - hast du heute?"
"Nein."
"Hast du morgen?"
"Nein."
"Hast du übermorgen?"
"Nein."
Es war das erste Mal, daß Rafa Tyras Geburtstag vergessen hatte. Er bat sie, zu ihm zu kommen und mit ihr auf ihren Geburtstag anzustoßen. Tyra lehnte Rafas Angebot dankend ab. Sie teilte mit, daß sie bei einer Freundin in Bad N. war und dort auch übernachten würde. Sie schlug vor, man könne sich am morgigen Tag treffen. Rafa wehrte ab; da könne er nicht. Übermorgen habe er ein Meeting, und danach habe er auch keine Zeit. Aber nächste Woche könne man das nachholen.
Rafa schien gekränkt zu sein, daß Tyra nicht sofort zu ihm eilte, als er sie einlud. Mehr Abgrenzung gelang Tyra allerdings nicht. Ihre Entscheidung, den Kontakt zu Rafa abzubrechen, ist dahingeschmolzen wie Eis in der Sonne.
Darienne hat einen Tag nach Tyra Geburtstag. Rafa erzählte, man habe Dariennes Geburtstag in den Niederlanden gefeiert, auf Tour mit W.E. Ganz so getrennt scheint Rafa von Darienne nicht zu sein. Inwiefern er noch mit ihr oder nicht mehr mit ihr zusammen ist, darüber sagte er zu Tyra nichts.
Im März des vergangenen Jahres war Rafas Verhältnis mit Darienne ein Grund für Tyra, sich umbringen zu wollen. Tyra erzählte, damals sei sie für fünf Tage in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen, auf einer geschlossen geführten Station. Immer wieder habe sie beteuert, daß sie es nie wieder tun wolle. Ihr wahrer Grund, keine Überdosis Paracetamol mehr nehmen zu wollen, sei aber gewesen, daß ihr davon so übel geworden sei.
"Deine Mutter hätte es wahrscheinlich nie verkraftet, wenn du umgekommen wärst", meinte ich.
"Das stimmt wohl", bestätigte Tyra. "Aber man ist dann so egoistisch, daß man sowas ausblendet."
"Ja, das ist der suizidale Tunnelblick. Hoffen wir, daß so etwas nie wieder vorkommt."








Tyra erinnerte sich an ihre Zeit als Sängerin bei W.E. Sie habe nicht auf den kippeligen Aufbau aus Getränkekisten steigen wollen, den Rafa für ein Konzert auf die Bühne gestellt habe. Rafa habe lange mit ihr diskutiert, ehe er nachgegeben habe. Ihr sei der Aufbau nicht sicher genug gewesen.
Die Geschäftsführung, die mich dazu hatte bringen wollen, auf meinen Urlaub zu verzichten, mußte nun für drei Wochen statt einer Woche auf mich verzichten. Während meiner zweiwöchigen Erkrankung war mein Urlaub nicht verfallen, sondern mußte nachgeholt werden, was ich dann auch später im Jahr plante.
Daß ich überhaupt erkrankt bin, bringe ich auch mit der Konzern-Politik in Zusammenhang, die die Bedürfnisse der Mitarbeiter mißachtet. Wir arbeiten unter andauerndem Streß, was das Immunsystem schädigt und Krankheiten begünstigt. Streß entsteht im "Reha-Bunker" durch Unterbesetzung und durch das schikanöse Verhalten des ärztlichen Direktors, der gegen die eigenen Kollegen arbeitet, um sich bei der Geschäftsführung beliebt zu machen.
In der Ferienwohnung beschäftigte Constri sich weniger mit Erholung und Freizeit als vielmehr mit dem Sortieren und Bearbeiten von Fotos. Sie hat sich eine digitale Spiegelreflexkamera angeschafft und einen Auftrag als Fotografin angenommen. Dabei wurde ihr allmählich bewußt, daß sie an ihre Grenzen stieß, sowohl was Technik und Equipment betrifft, als auch was ihr Wissen darüber betrifft. Constri hatte sich vieles einfacher vorgestellt, als es in Wirklichkeit war. Mir kommt es vor, als wenn sie während ihres Studiums in einer Art Parallel-Universum gelebt hat, abgeschottet gegen die Realität kreativer Berufe. Vielleicht wollte Constri die Realität gar nicht kennenlernen. Dafür spricht, daß sie sich kaum um berufliche Kontakte gekümmert hat, daß sie während des Studiums nicht mehr, sondern immer weniger kreativ gearbeitet hat, daß sie technische Weiterentwicklungen kaum verfolgt hat und daß sie nicht bereit ist, berufsbedingt umzuziehen an Orte, wo sie in ihrer Branche Arbeit finden kann, solange sie von ihrer selbständigen Tätigkeit nicht leben kann. Wenn Constri bereit wäre, als Angestellte in ihrer Branche zu arbeiten, hätte sie die Möglichkeit, wertvolle Erfahrungen zu sammeln und berufliche Kontakte zu knüpfen. Doch um solche Möglichkeiten zu erschließen, braucht man die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Fähigkeiten kritisch zu betrachten - und die Bereitschaft, daraus Schlußfolgerungen für eine sinnvolle Zukunftsplanung zu ziehen. Beides vermisse ich bei Constri. Sie besteht darauf, daß der Weg, den sie eingeschlagen hat, der einzig mögliche ist, auch wenn sich abzeichnet, daß es sich um eine Sackgasse handelt.
Während meine Mutter Constri bei der Bildbearbeitung unterstützte, ging ich mit der viereinhalbjährigen Denise ins Meerwasser-Wellenbad. Denise mußte am Beckenrand warten, als ich in den Wellen herumplanschte, weil sie noch nicht sicher schwimmt. Ansonsten rutschte ich mit Denise auf der Riesenrutsche, zog sie durchs Strömungsbecken und saß mit ihr in der Grotte unter bunten Lämpchen.
An den Liedern, die Denise singt, kann man erkennen, welche Sendungen sie im Fernsehen anschaut. Derek schaltet für sie das Kinderprogramm ein, wenn sie bei ihm zu Besuch ist. Neulich allerdings - berichtete Derek - sei er beim Fernsehen eingeschlafen. Er sei mitten in der Nacht aufgewacht und habe festgestellt, daß finstere Actionfilme liefen und Denise zuschaute.
Daß es in der Ferienwohnung hinterm Waschbecken keine Aufkleber gibt, scheint Denise nicht zu stören. Sie tut einfach so, als wären sie da. Zu Hause kleben hinterm Waschbecken vier Aufkleber: ein Frosch, ein "Ernie" aus der "Sesamstraße", ein Teddy und ein Mäuschen. Sie leisten Denise beim Zähneputzen Gesellschaft. Sie unterhält sich mit ihnen. Denise erklärte, die Aufkleber könnten sie auch in der Ferienwohnung hören, selbst wenn sie sie nicht sehen könne. Als es ans Zähneputzen ging, rief Denise denn auch:
"Freunde!"
- und marschierte gehorsam ins Bad. Drinnen sprach sie die Aufkleber einzeln an:
"Teddy ... Mäuschen ... Ernie ... Frosch!"
Sie erzählte ihnen Geschichten, als seien sie anwesend.
Ivco mailte, daß er seiner Familie in den Ostsee-Urlaub nachreisen wird, weil er vorher noch an einem Treffen des Jäger-Bataillons in Bkb. teilnehmen will. Im Jäger-Bataillon werden militärische Traditionen aus der Kaiserzeit gepflegt und historische Uniformen getragen. Mit dem Jäger-Bataillon war Ivco bereits zu Gast auf einer Fürstenhochzeit in Bkb., in Paradeuniform:

Mit dem Bürgerbataillon in den nächtlich illuminierten Schlosshof einmarschiert, dann Großer Zapfenstreich bei Fackeln, das war schon eine Sache für mich.

Ivco war mit seiner viereinhalbjährigen Tochter Dina auf dem Sommerfestival in HI.:

... um u. a. mein Versprechen einzulösen, mit ihr zu einem Konzert von W.E zu gehen. Das hat ihr auch prima gefallen, ich war mehr in Sorge, dass sie ihre Ohrenstöpsel verlieren könnte; es ist aber alles gut gegangen, und die Musik war ihr nicht zu laut. Auch das Drumherum hat ihr super gefallen, besonders die bunten und kostümierten Leute, obwohl doch gar kein Karneval war.

Azura freut sich auf ihren Sommerurlaub auf Kreta, mit Antoine. Und sie trauert um eine weitere Location in M., die vor der Schließung steht: das "Memories", wo auf Programmveranstaltungen Electro und Future Pop gespielt werden. Das "Memories" befindet sich auf einem ehemaligen Kasernengelände, das abgerissen werden soll.
Azuras einstige Lieblings-Location, die bereits Anfang des Jahres geschlossen wurde, steht als leeres Haus herum, und Azura fragt sich, ob man nicht den Betrieb noch hätte fortsetzen können, zumal das Gebäude noch immer nicht abgerissen wurde.
Azura schrieb zur bevorstehenden Schließung des "Memories":

Ich bin total traurig, da ich einige Leute nur regelmäßig im "Memories" sehen kann, da man sich sonst nicht trifft, darunter auch einige sehr enge Freunde. Aber die Crew sucht schon nach einer anderen Location oder hat sogar schon eine gefunden. Es wäre ja nicht der erste Umzug der Veranstaltung in den vergangenen 10 Jahren. Doch irgendwo muß es weitergehen, denn sonst weiß ich nicht, wo ich mit meinem Cyberfummel hin soll. Und "normal" gehe ich ja nicht aus.

So wie Azura bin auch ich darauf angewiesen, daß es Locations gibt, in denen die Musik läuft, zu der ich tanzen will. Da es in meiner Nähe genügend Locations gibt, wo das der Fall ist, vergesse ich manchmal, wie wichtig diese Locations für mich sind. Tanzen ist für mich nicht nur ein Vergnügen, sondern künstlerischer Ausdruck, eine Form der Selbstverwirklichung. Wenn es die Locations und die entsprechenden Parties nicht mehr geben würde, wäre das für mich so ähnlich, wie es für einen Maler wäre, wenn man ihm den Pinsel wegnehmen würde. Ich würde regelmäßig Hunderte Kilometer fahren, wenn das die Entfernung zu der nächstgelegenen Location wäre, wo Industrial, Power Electro, Wave und Artverwandtes gespielt werden und eine ausreichende Tanzfläche vorhanden ist.







.

Am letzten Samstag im August fuhr ich nachmittags zur "Salix". Die fand in dem Landgasthof statt, wo sie auch im Vorjahr stattgefunden hatte.
Im Saal wurden an die Wand vor dem Tresen C64-Spiele gebeamt, die von vier Gruppen um die Wette gespielt wurden. Alle Spiele handelten vom Sport. Man mußte mit dem Joystick virtuell surfen, Rollerskates fahren, Skateboard fahren, Crossrad fahren und Frisbees werfen. Zum Abschluß mußten draußen im Hof Ball-Kunststückchen gemacht werden, ganz ohne Computer. Zu gewinnen gab es echte Frisbee-Scheiben.
Rafa machte in einigen Disziplinen viele Punkte, gehörte aber nicht zur Spitzengruppe. Auch sonst war er nicht der strahlende Sieger aller Klassen, sondern einfach nur ein C64-Fan unter vielen C64-Fans. Er hätte sich wohl gerne mehr hervorgetan, aber diese Rolle schien ihm heute nicht zu gelingen.
Rafa trug ein weißes Moiré-Hemd und darüber ein ärmelloses schwarzes T-Shirt, auf dessen Rücken stand vor dem Hintergrund einer Platine:
"Mein Gehirn ist grösser!"
Vorn auf dem T-Shirt war ein C64 abgebildet. Der war wohl mit dem Gehirn gemeint.
Rafa hatte blondierte Ponysträhnen. Seine Haare sahen nach dringendem Nachschneiden aus. Er trug silberne Creolen, am Handgelenk trug er seine Uhr von dem Achtziger-Underground-Modelabel "BOY", an mehreren Fingern steckten Ringe, die Nägel der kleinen Finger waren schwarz lackiert. Insgesamt machte Rafa auf mich einen äußerlich vernachlässigten Eindruck.
Darienne verhielt sich wie eine Plastikpuppe. Sie saß meistens neben Rafa am Computer oder lief hinter ihm her, sagte fast nichts und tat fast nichts. Ihr Gesicht sah aus wie mit einer Plastikschicht überzogen. Die langen schwarz gefärbten Haare hatte sie mit Klemmchen aus der Stirn gerafft, und sie trug ihre Brille im Fünfziger-Jahre-Stil. Sie hatte ein schwarzrotes Shirt an, eine enge schwarze Hose und rotweiß gemusterte Turnschuhe.
Ich trug ein schwarzes Blüschen mit Puffärmeln und einer Tüllrüsche am Stehkragen, dazu einen langen, weiten grauen Crush-Rock und Stoff-Ballerinen im Spitzenschuh-Schnitt, bezogen mit schwarzer Spitze.
Marius und Kernal organisierten heute alles. Zen war am gestrigen Tage da gewesen und heute beruflich verhindert. Pythagoras erzählte mir, daß Tron auch beruflich verhindert war. Ich meinte, Tron sei recht menschenscheu und verkrieche sich gern. Pythagoras erzählte, ihm seien Ängste und Depressionen nicht fremd.
Marius erzählte, daß er noch immer mehr als fünfzig Stunden pro Woche arbeitet. Er möchte den Arbeitsplatz wechseln, läßt das aber langsam angehen; er will nicht jeden Job annehmen. Bei ihm geht es außerdem nicht immer so hektisch zu wie an meinem Arbeitsplatz, wo man unaufhörlich unter Zeitdruck arbeitet.
Marius plant eine Website, die sich mit amerikanischen Trickfiguren befaßt. Besonders gefällt Marius die Serie "Camp Lazlo", die von einem Pfadfinderlager handelt. Die Figuren sind ähnlich grell überzeichnet wie die auch hierzulande bekannten "Power Puff Girls", glubschäugige Mädchen mit riesigen ellipsenförmigen Köpfen und winzigen Körpern. Während die "Power Puff Girls" Mädchen als Zielgruppe haben - Elaine kennt sie auch -, richtet sich "Camp Lazlo" an Jungen. Die Figur, die es Marius besonders angetan hat, ist ein Zwergnashorn in Pfadfinderkluft.
"Alle halten es für bekloppt", erzählte Marius, "keiner nimmt es richtig ernst, dabei ist es eigentlich am pfiffigsten von allen."
Zwei unangenehme Figuren in "Camp Lazlo" sind Mistkäfer in Pfadfinderkluft, "die sind doof und stinken". Fliegen schwirren über ihnen Köpfen, die von ihnen zur Orientierung benötigt werden.
Hauptfigur der Serie ist der Affe Lazlo. Der Fähnleinführer spielt eine Nebenrolle und tritt vor allem als mürrischer Befehlshaber in Erscheinung.
Marius' kreative Arbeit wird durch seine überlange Wochenarbeitszeit erschwert, wie das auch bei mir der Fall ist. Man wird also auf seine "Camp Lazlo"-Website noch warten müssen.
Gameboy hatte seine neunzehnjährige Schwester Bluebell zur "Salix" mitgebracht, eine hübsche Brünette mit langen Locken, in die sich der ebenfalls neunzehnjährige Cybernoid dann auch gleich verliebte. Er traute sich aber noch nicht an sie heran, zumal sie gegenwärtig einen Freund hat.
Gameboy baute draußen an einem Tisch unterm Sonnendach einen C64 und einen Monitor auf, und so konnten wir draußen zu viert und in wechselnder Besetzung "Bombmania" spielen. Nur eine Runde von etwa vierzig gewann ich, Spaß machte es mir aber trotzdem, und wäre der Tag noch länger gewesen, hätte ich wohl auch noch länger gespielt. Bluebell meinte, ich müsse nicht gewinnen, denn immerhin sei es das erste Mal, daß ich "Bombmania" spielte.
Rafa kam kurz heraus zu uns und redete mit einigen Leuten, die in der Nähe standen.
Im Schankraum aß ich Currywurst und Pommes zu Abend. Die Pommes aß ich aber nicht auf; das Fett, in dem sie gebraten wurden, war bedenklich.
Pythagoras hatte als Kind schon einen Chemiebaukasten. Er erzählte von seinen Chlorgas-Experimenten. Bei dem Versuch, eine Tastatur mit einem chlorhaltigen Reinigungsmittel zu reinigen, sei der Kunststoff sehr angegriffen worden.
Zeropage ist Chemiker; er erklärte uns, wie der Kunststoff durch das Reinigungsmittel angegriffen wird. Er erklärte uns außerdem, wie es zum "Putztod" kommt. Wenn man ein chlorhaltiges Reinigungsmittel mit einem anderen Reiniger mischt, kann Chlorgas freiwerden, das stark giftig auf die Atemwege wirkt:
"Die Hausfrau staunt und stirbt."
Pythagoras restauriert ältere Computer. Im C64-Forum hat er eine Bastelecke namens "Hexenküche" eingerichtet. Der vierzehnjährige Yar, den ich schon von der "Salix" vor zwei Jahren kenne, sprach Pythagoras an und erzählte ihm, daß er die "Hexenküche" aufmerksam liest. Pythagoras freute sich sehr über Yars Interesse. Yar wohnt wie Pythagoras in der Gegend um F. und äußerte den Wunsch nach einem Club für C64-Fans in dieser Region. Pythagoras erzählte, daß er selber schon vorhatte, einen solchen Club zu gründen, doch sein Herzleiden sei ihm dazwischengekommen. Vor Jahren habe er trotz einer Influenza gearbeitet, und in der Folge habe sich eine virale Myokarditis entwickelt. Sein Herz sei geschwächt, und er habe bereits zwei Herzinfarkte erlitten. Jede Erkältung müsse zügig mit Antibiotika behandelt werden, denn sie könne für ihn tödlich sein.
Zeropage kennt jemanden, der ebenfalls eine virale Myokarditis hatte. Auch er hat ein dauerhaft geschädigtes Herz.
Zeropage erklärte mir, wie Explosionen funktionieren. Das Entscheidende ist, daß sich etwas ruckartig ausdehnt, ohne genügend Platz dafür zu haben.
Spätabends fand am Beamer das "Salix"-Quiz statt, mit drei Gruppen, die gegeneinander antraten. Vor allem Knight holte für seine Gruppe viele Punkte durch sein detailliertes Wissen; beispielsweise konnte er sechs Fotos den Namen von Persönlichkeiten aus der C64-Szene richtig zuordnen. Wenn zwei Gruppen auf eine der gestellten Fragen gleichzeitig antworten wollten, fand ein "Schlagabtausch" statt. Je ein Mitglied aus einer Gruppe erhielt einen Joystick, es gab einen roten und einen grünen. Auf Kommando mußten die beiden die Fire Buttons drücken. Je nachdem, wer schneller war, erschien der Monitor, mit dem die Joysticks zusammengeschlossen waren, danach in roter oder grüner Farbe. Rafa verlor häufiger, als er gewann. Er nahm das mit leisem Fluchen zur Kenntnis. Durch Tippen auf der Tastatur stellte er den "Schlagabtausch" wieder für den nächsten Vorgang ein.
Rafa rauchte unaufhörlich. Er lief häufig durch den Raum, um zu dem einen oder anderen Aschenbecher zu gelangen. Darienne sah ich ebenfalls häufig mit einer Zigarette in der Hand. Während des Quiz gehörte sie zu Rafas Gruppe, jedoch war sie nur kurze Zeit bei ihm und dem gemeinsamen Mitstreiter vor dem Beamer. Sie setzte sich schon bald an ihren Platz neben Rafas Rechner und verharrte dort. Rafa schien das zuerst nicht recht zu sein. Als er für seine Gruppe eine Frage richtig beantwortet hatte, rief er Darienne zu:
"Dari! Wir haben 400 Punkte geholt! Ein bißchen mehr Enthusiasmus, wenn ich bitten darf!"
Darauf mußte er allerdings vergeblich warten; von Darienne kam keine Reaktion. Im Verlauf schien Rafa sich rasch an ihr Fehlen zu gewöhnen. Ohnehin kam die Initiative in seiner Gruppe überwiegend von ihm.
Eine Quizfrage stellte Kirk. Er erzählte von einer Computer-Party in Norwegen und wollte wissen, in welcher Stadt sie stattfand, die zugleich Namensgeberin war. Die Lösung war "Bergen".
Während des Quiz stand Rafa manchmal neben mir, aber mit einem Schritt Abstand. Es kam nur einmal vor, daß er so dicht an mir vorbeiging, daß ich seinen Arm streicheln konnte. Meistens hatte Rafa eine riesengroße Sonnenbrille auf, auch als es schon dunkel und im Saal recht schummrig war. Er schien mich zu mustern, doch war dies wegen der Sonnenbrille nicht eindeutig zu erkennen.
Die Gruppe von Knight und Pythagoras gewann das Quiz. Rafa schlich zurück zu seinem Platz. Darienne verschwand und tauchte nicht mehr auf; wahrscheinlich ging sie schlafen. Rafa kümmerte sich nun um Yar; gemeinsam mit ihm stellte er das Demo fertig, das Yar für die heutige Mix Compo vorbereitet hatte. Die beiden arbeiteten lange und konzentriert nebeneinander am Rechner.








Die Vorstellung der eingereichten Wettbewerbsbeiträge - Mixed und Grafiken - verzögerte sich, wie bei der "Salix" üblich, um mehrere Stunden, ebenso wie sich die vorherigen Programmpunkte schon um Stunden verzögert hatten. In der Wartefrist lief Musik, vorwiegend Future Pop. Mit einigen Herren tanzte ich zu Musik von Colony 5, Apoptygma Berzerk und Covenant.
Cybernoid erzählte mir, daß er sich im ICQ Chat häufig mit Tron unterhält. Tron sei sehr nett und hilfsbereit; er habe ihm einen seiner Rechner hergerichtet und geschenkt. Als er Tron gefragt habe, warum er dafür kein Geld wolle, habe Tron geantwortet, er tue das gern, damit Cybernoid einen ordentlichen Rechner bekomme.
Cybernoid erzählte Pythagoras, daß er ihn im Anzug auf einer "Sterne-Party" gesehen hat, und zwar auf einem Bild im Internet, das er durch Googeln entdeckt hat. Pythagoras bestätigte, daß er auf der "Sterne-Party" gewesen ist, einer Mercedes-Fan-Party. Ich konnte mich der Begeisterung für diese Automarke anschließen. Magnus hingegen meinte, einen Mercedes wolle er auf keinen Fall haben.
Nachts um drei erst fand die Vorstellung der Wettbewerbsbeiträge statt. Rafas Demo lief zuerst; man hörte Ausschnitte aus dem W.E-Stück "Das Alpha-Tier", sah ein verfremdetes Blatt, dessen fraktale Struktur durch die Verfremdung besonders hervortrat, und bekam schließlich noch ein verfremdetes W.E-Pressefoto zu sehen.
"Rafa fällt auch nichts Neues mehr ein", meinte Cybernoid.
Der Beitrag, der mir am besten gefiel, war von Galaxy, ein Computertrickfilm namens "Kurzschluss". Minimalistisch-grobpixelig wurde gezeigt, wie ein Männchen spaßeshalber die Enden eines herumliegenden Kabels ergriff. Hinter ihm stieg lautlos ein Portrait aus seinem Rahmen, schlich zum Stecker und steckte ihn ein. Dann wanderte es, als sei nichts geschehen, in den Rahmen zurück. Das Männchen, das die Kabelenden ergriffen hatte, bekam nun die volle Ration Netzspannung ab. Es sah ziemlich schwarzgeräuchert aus.
Gameboy beschrieb in seinem Demo in sehr minimalistischer Darstellung seinen Griechenland-Urlaub. Die reduzierte Darstellung bildete einen Kontrast zu den Abbildungen in Reiseprospekten. Schemenhafte Calamares zogen über den Bildschirm, ein schemenhafter Fisch wurde verspeist.
Yar hatte verschiedene Grafiken und Texte zusammengemischt. In den Texten betonte er, daß Rafa ihm viel geholfen habe und daß auch die unterlegte Musik von Rafa sei.
Ein Demo bestand aus der C64-Version eines Stücks von Escape with Romeo.
Der Beitrag von Magnus, der mir auch sehr gefiel, war ein Spiel namens "Mixed Colors". Man bekam farbige Felder gezeigt und sollte aus mehreren Farbbeispielen dasjenige herausfinden, das die Mischung der auf den farbigen Feldern gezeigten Farben ergibt.
Die erste Grafik, die gezeigt wurde, stellte die Comicfigur Betty Boop dar, in Rosatönen, gestaltet von "Plastik / W.E", also von Darienne und Rafa. Cybernoid erinnerte sich, daß diese Grafik schon letztes Jahr bei der "Salix" gezeigt wurde.
Eine kunstvolle Grafik namens "Inca" zeigte indianische Motive.
Eine Grafik hieß "Unlauterer Wettbewerb" und war ein Cartoon. Man sah lauter Frösche auf ihren Seerosenblättern quaken. Einer von ihnen quakte in ein Mikrophon. Sein Lied - oder was er dafür hielt - schallte aus großen Boxen, deren jede auf einem eigenen Seerosenblatt stand. Die Signatur des Künstlers befand sich auf einem Zettel in einer Flaschenpost unten links auf dem Bild.
Marius' Grafik stellte das Zwergnashorn aus "Camp Lazlo" dar.
Die Ergebnisse der Compos wurden erst am nächsten Tag bekanntgegeben. Die meisten Gäste legten sich schlafen, einige fuhren auch schon nach Hause, darunter Zeropage, der daheim von Frau und Kind erwartet wurde.
Rafa saß an seinem Rechner und führte Barbapapa vor, wie er mit dem C64 Musik macht. Die Sonnenbrille hatte Rafa abgesetzt. Eine Weile ließ er einen monotonen Rhythmus laufen, der mir für sich allein recht gut gefiel, doch schon bald löste dieser Rhythmus sich auf in Rafas ewiggleichen Harmonien und Soundstrukturen.
"Jetzt wird es banal", sagte ich leise, hinter Rafa und Barbapapa stehend. "Jetzt kommen wieder die ewiggleichen Harmonien und Sounds. Der Rhythmus allein wäre interessant gewesen, wenn man ihn konsequent weitergeführt hätte, als fraktales Musikstück, als abstrakte Kunst. Kunst macht man, indem man etwas auf sich wirken läßt, indem man sich auf etwas einläßt und sich inspirieren läßt. Aber dafür muß man Kontakt zu seinen Gefühlen haben, und den hat Rafa nicht. Er verschließt sich der wichtigsten Quelle der Inspiration."
Daß Rafa davon etwas mitbekommen hat, bezweifle ich; wahrscheinlich hörte er nichts von dem, was ich sagte.
Cybernoid erzählte von seiner traurigen Kindheit und Jugend. Der Stiefvater könne ihn nicht leiden und habe dafür gesorgt, daß er bereits mit siebzehn Jahren hinausgeworfen wurde. Die Mutter habe sich völlig von ihm abgewendet. Als er einem Stiefgeschwisterchen etwas zum Geburtstag schenkte, schrieb die Mutter ihm eine SMS:
"Danke für dein Geschenk, wir haben es gerade in der grauen Tonne entsorgt."
Diese Entwertung, Lieblosigkeit und Niedertracht haben dazu geführt, daß Cybernoid schon mehrere Selbstmordversuche unternommen hat.
"Du wirst bei deiner Mutter keine Liebe finden", meinte ich, "es lohnt sich also nicht, bei ihr danach zu suchen. Natürlich können Freunde eine Mutter nicht ersetzen, aber sie sind immer noch besser als nichts. Vor allem geht es darum, dich selbst zu finden. Nach Helden zu suchen hat keinen Sinn, man muß den Helden in sich selbst finden. Ein Spruch von mir lautet:
'Wer nach Helden sucht, hat sich selbst nicht gefunden.'"
Gegen halb fünf Uhr morgens ging Barbapapa schlafen. Rafa stand von seinem Platz auf, drehte sich zu mir um, lächelte mir zu und verschwand ebenfalls.
Mit Magnus und Cybernoid unterhielt ich mich über das, was Rafa so treibt. Cybernoid fragte mich, ob es stimme, daß Rafa immer noch bei seiner Mutter im Keller wohnt. Das bestätigte ich. Cybernoid meinte, Rafa habe im Grunde in seinem Leben nichts erreicht; das hätten auch andere schon gesagt.
Was Rafas musikalisches Sideproject H.F. betrifft, so halten Cybernoid und ich es für eine Totgeburt - viel Wind um nichts.
Cybernoid schätzte Darienne auf zwanzig Jahre jünger als Rafa. Er schätzte Rafa auf mindestens vierzig Jahre.
Cybernoid fand Darienne nicht attraktiv. Sie sei ihm zu kindisch, nicht feminin genug. Die künstlich und ausdruckslos wirkende Darienne bildete einen Gegensatz zu der lebensfrischen Bluebell. Cybernoid gefällt an Bluebell auch, daß sie Spaß an Computerspielen hat; so könne man in einer Parnerschaft wegen dieses Themas nicht in Konflikt geraten.
"Ich finde es immer wichtig, daß man die Hobbies des Partners respektiert", meinte ich. "Es kann nicht angehen, daß man Hobbies, die einem wichtig sind, einfach aufgibt, nur weil der Partner das will. Vorhin hat einer draußen in der Runde erzählt, daß er seine Hardware verkauft hat, weil seine Frau das wollte. Das ist doch ein Stück Aufgabe der eigenen Persönlichkeit. Ich finde es wenig konstruktiv, wenn eine Frau sich ins Wohnzimmer stellt und schreit:
'Du liebst mich nicht!'
- nur weil ihr Mann am Computer sitzt."
Cybernoid meinte, wenn man ein Hobby schon aufgebe, dann müsse man wenigstens einen gleichwertigen Ersatz finden.
Magnus und ich standen vor Rafas verlassenem Platz und betrachteten den Aufbau. Der Rechner war verfärbt von Nikotin. Ein voller Aschenbecher stand daneben. Die Tastatur war schwarz von Zigaretten-Restbeständen. Schokoriegel-Papiere und anderer Müll lagen herum. Hinter die Tastatur war ein gefalteter Zettel gesteckt, ein Blatt Druckerpapier, bekritzelt mit Abkürzungen, mit breitem schwarzem Edding, in Rafas grobstrichiger und zugleich künstlerischer Handschrift.
"Er hätte so viel aus seinen Fähigkeiten machen können", dachte ich. "Und herausgekommen ist nur ein Haufen Schrott. Er verfällt vor meinen Augen."








Magnus nahm eine Platine in die Hand, die neben Rafas Monitor lag. Er meinte, aus einer Platine könne man viel herauslesen.
"Platinenlesen", staunte ich, "das ist sehr interessant. Das ist ja fast wie Handlesen."
Auf der Platine klebte ein W.E-Aufkleber. Magnus fand Spuren eines anderen, schon abgezogenen Aufklebers. Er fand viel Staub und weiße, pelzige Veränderungen um einige Kupferdrähte. Er meinte, auf jeden Fall sei die Platine ziemlich dreckig, und sie habe lange in einem feuchten Raum gelegen. Sie sei noch funktionstüchtig, die Verbindungen seien noch intakt, doch ein aufgestecktes Teil sei halb abgerissen, was auf unsachgemäße Behandlung hindeute.
"Das paßt", meinte ich. "Seine CD's ramponiert Rafa ja auch ganz schön. Und er wohnt in einem feuchten, verdreckten Keller. Er läßt sich verkommen, und er läßt sein Umfeld verkommen. Er hat keine Empathie, weder für sich noch für andere. Bin gespannt, was er macht, wenn er beim Auflegen nicht mehr rauchen darf ..."
"Dann rennt er wahrscheinich dauernd nach draußen."
"Ja, das kann ich mir vorstellen. Wenn's drauf ankommt, kann der rennen. Leider kann ich überhaupt nichts tun gegen sein Suchtverhalten. Ich kann nur zugucken, wie er sich selbst langsam vernichtet."
Magnus meinte, ein Außenstehender könne am ehesten Einfluß auf ihn nehmen, denn eine Freundin oder Ehefrau sei zu nah an ihm dran, die könne er mehr treffen mit einer wütenden Reaktion.
"Seine Reaktion kann mich nicht treffen", meinte ich. "Ich kann mich wehren."
"Du bist in der glücklichen Position, eine Außenstehende zu sein", sagte Magnus. "Du hast kein Verhältnis mit ihm. Du könntest eher Einfluß auf ihn nehmen."
"Letztlich muß er sich selbst gegen die Sucht entscheiden. Es ist seine Aufgabe."
"Es sei denn, es geht auch um deine eigenen Interessen."
"Oh ja, hier sind auch meine eigenen Interessen betroffen", nickte ich. "Es ist mein Anliegen, zu erreichen, daß er länger lebt."
Magnus meinte, da Rafas Lebenskonzept auf Lügen aufbaue, könne es helfen, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren.
"Das denke ich auch", meinte ich, "aber ich habe bisher kein Mittel gefunden, um ihn unentrinnbar mit der Wahrheit zu konfrontieren. Er kann immer weggucken und die Wahrheit ausblenden."
Die "sprechende" Platine erinnerte mich an eine Kurzgeschichte namens "Kein Mensch", die ich vor Jahren online gestellt habe. In der Geschichte geht es um die Seele eines Menschen, die auf eine Platine gebannt wurde. Im Laufe der Geschichte stellt sich die Frage, inwiefern es sich wirklich um einen Menschen handelt.
Rafa gibt ähnliche Rätsel auf. Er hat ein zwiespältiges Wesen. Lebendigkeit und menschliche Gefühle auf der einen Seite und Zynismus, Menschenverachtung und Oberflächlichkeit auf der anderen Seite bilden einen unauflösbaren Widerspruch.
Magnus und ich unterhielten uns über Wasserstoffbomben, Science-Fiction-Filme und Entropie. Über Wasserstoffbomben sagte Magnus, die seien so verheerend, weil sie dazu führten, daß Wasser verbrenne. Eine aktuelle Gefahr gehe allerdings nicht von den Wasserstoffbomben aus, sondern von kleinen Atombomben, "die tragbare Variante". Die könnten Terroristen bequem überall verteilen und damit mehr und mehr Landstriche unbewohnbar machen.
Über Science-Fiction-Filme sagte ich, die Ära dieser Filme sei Mitte der achtziger Jahre zuendegegangen, als man in der Forschung weit genug gekommen sei, um die Grenzen bei der Eroberung des Weltraums zu erkennen. Überlichtschnelle Raumschiffe könne man nicht bauen. Zeitreisen im eigentlichen Sinne seien auch nicht möglich, höchstens im Sinne der Relativitätstheorie. In die Vergangenheit könne man wegen der Entropie nicht reisen.
"Entropie ist nicht umkehrbar", bestätigte Magnus.
Auf der Website der "Salix" wurden in den kommenden Tagen die Gewinner der Mixed Compo und der Grafik Compo bekanntgegeben. In der Mixed Compo hatte "Kurzschluss" gewonnen. In der Grafik Compo hatte "Inca" gewonnen. Rafas Werke belegten in beiden Compos den dritten Platz.
Tron berichtete am Telefon, er wisse bereits, daß ich auf der "Salix" bei "Bombmania" fast nie gewonnen hätte und daß Rafa wieder da gewesen sei. Als ich erzählte, daß der vierzehnjährige Yar sich sehr für das Basteln an historischen Rechnern interessiert, meinte Tron:
"Der soll sich mal für was Vernünftiges interessieren."
"Aber das ist doch was Vernünftiges."
"Nein."
Tron findet die gemeinsamen Spiele am Beamer - ob C64-Spiel oder Quiz - allesamt "doof".
"Aber die finde ich doch gerade lustig", entgegnete ich. "Da hat man in der Gruppe so viel Spaß."
Ende August aßen Tyra und ich im "Departure" zu Abend. Tyra erzählte, daß Rafa sie am Vorabend angerufen hatte, gegen halb elf. Er wies darauf hin, daß man noch immer nicht auf Tyras Geburtstag angestoßen habe, und er bat Tyra, vorbeizukommen. Sie entgegnete, sie liege schon im Bett und wolle schlafen.
"Ach, nur ganz kurz, nur für ein Bier", bat Rafa.
"Nein, ich bin müde", erwiderte sie. "Außerdem muß ich morgen früh aufstehen."
"Ich war auf der 'Salix'!" erzählte Rafa. "Bin sogar Dritter geworden!"
"Ach, können wir uns darüber nicht ein andermal unterhalten?" wehrte Tyra ab.
Rafa gab auf und beendete das Gespräch.
Tyra hat herausgefunden, daß Rafa im vergangenen Jahr außer Siora noch eine Geliebte hatte und daß er Darienne in diesem Sommer mit einem Mädchen betrogen hat, das davor und danach mit einem Bekannten von Rafa zusammen war, und als der Anfang August erneut Schluß machte, schlug Rafa wieder zu. Er soll sie auf dem Sommerfestival in HI. verführt haben. Davon wisse allerdings der Bekannte von Rafa nichts.
"Die ist bestimmt höchstens zwanzig!" riet ich.
"Neunzehn - gerade geworden", wußte Tyra.
Im Juni soll sich in dem Online-Netzwerk "MySpace" ein Mädchen namens "Peitsch-Püppi" geoutet haben:
"Ich bin die sexy Chatfreundin von Honey!"
"Honey" ist Rafas Pseudonym. Wie "Peitsch-Püppi" wirklich heißt, wußte Tyra nicht. Auch mit "Peitsch-Püppi" soll Rafa Darienne betrogen haben.
Darienne tat ihren Dienst als Sängerin für W.E auf dem Sommerfestival in HI., doch soll die Stimmung in der Band äußerst schlecht gewesen sein, davon berichtet eine Rezension im Internet. Die schlechte Stimmung hinter der Bühne soll auch auf der Bühne zum Ausdruck gekommen sein. Lucy und Darienne sollen nur playback gesungen haben, die Geräte sollen ausgesteckt gewesen sein, und man habe nichts wirklich Neues zu sehen oder zu hören bekommen. Es sei kaum erklärbar, wie dennoch eine überbordende Begeisterung im Publikum zustandegekommen sei.
Zu den Bühnenkostümen von Lucy und Darienne sollen schwarze Korsetts und Strapse gehört haben; so etwas trugen schon Rafas Gogo-Girls im vergangenen September. Lucy soll ziemlich abgenommen haben. Rafa soll über sie gesagt haben:
"Jetzt ist sie eine richtig tolle Frau!"
Daß Rafa zu Pfingsten mit Lucy im Bett war, kann Tyra sich durchaus vorstellen, daß er jedoch mit Artemis etwas hatte, als sie mit ihm nach seinem DJ-Set im "Memento Mori" Anfang Juni im Hotel in L. eine Fotosession veranstaltete, glaubt Tyra nicht:
"Er findet sie in keiner Weise attraktiv, und das ist ihr auch klar."
Tyra erzählte von ihrem letzten Besuch in ER. Berenice soll ihre Haare auf Pagenkopflänge abgeschnitten haben, wie sie es schon 1998 getan hat. Sie färbte sie damals rot. Ich fand, die Frisur sah bei ihr nett aus. Sie ließ ihre Haare jedoch gleich wieder wachsen und färbte sie auch wieder schwarz. Tyra konnte hierzu ergänzen, daß Berenice sich damals Rafas Willen gebeugt hat, der verlangte, daß sie ihre Haare wieder wachsen ließ. Heutzutage gibt es niemanden mehr, der Berenice Vorschriften macht.
Tyra erzählte, daß sie begonnen hat, ein Buch zu schreiben - ihre Geschichte, als Mischung aus erfundenen und tatsächlichen Ereignissen. Tyra konnte ihr Tagebuch nicht finden, da startete sie Word und tippte einfach drauflos, was ihr eben in den Sinn kam. So formte sich diese Geschichte. Sie ist schon acht Seiten lang. Ich bat Tyra, mir die Geschichte als Datei zu senden; sie mache mich sehr neugierig.
"Jetzt bist du endlich da, wo ich dich immer hinhaben wollte", meinte ich. "Es gelingt dir nicht nur, über deine Geschichte zu sprechen, sondern auch, über sie zu schreiben. Wenn man schreibt, beschäftigt man sich noch intensiver mit einer Sache, als wenn man nur über sie spricht. Man kann viel mehr Ordnung in Gedanken und Gefühle bringen."
Das konnte Tyra nur bestätigen.
Was den Studienplatz in VEC. betrifft, so kann Tyra sich frühestens in einem Jahr einschreiben, da es inzwischen auch dort einen Numerus clausus gibt. Tyra möchte vorerst weiter bei der Lokalzeitung jobben.
Im "Departure" gibt es neuerdings eine "Gute Stube", das ist ein Raum mit Perlenvorhang, in dem gibt es ein umlaufendes Podest, zu dem mehrere flache, gekrümmte Stufen hinaufführen. Die Stufen werden umsäumt von Lichtschläuchen. Oben wie unten stehen Sitzgruppen im Stil der fünfziger Jahre. Der Raum hat eine schimmernde Tapete mit einem großen ornamentalen Muster, einen Schnörkel-Teppichboden und eine Kassettendecke. Bei den Sitzgruppen stehen große tonnenförmige Wohnzimmer-Stehlampen, auch im Fünfziger-Jahre-Stil - mit Schnur zum Anknipsen, mit beigefarbenem Synthetik-Bezug und mit breiter brauner Borte. Ein etwa fünfzig Jahre alter Fernseher mit Fernsehschrank steht auch da. Alles ist in den Farben Beige, Braun und Gold gehalten. Der Raum leuchtet Ton in Ton, und über allem leuchtet eine Disco-Kugel. Bunte Farbtupfer bilden nur die beiden vergrößerten Titelseiten von Fünfziger-Jahre-Frauenzeitschriften an einer Wand und der Spielautomat an einer anderen Wand, der mit D-Mark funktioniert. Tyra und ich ließen uns zu einer Art "Chill out" auf einer der plüschigen Sitzgruppen nieder. Tyra hatte mir bereits am Telefon von diesem Raum vorgeschwärmt, und ich konnte mich ihrer Begeisterung nur anschließen.
Die Raucher müssen inzwischen nach draußen, deshalb gibt es für sie vorm Eingang ein umgrenztes Areal, dekoriert mit Palmen.
Von Tyra bekam ich die Datei mit den ersten Seiten ihrer Geschichte, die lauten wie folgt:

- Anständige Mädchen und aufregende Tage -
... aus Wolke 7 regnet's ...


"Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. So ist das eben. Mensch, Lara, jetzt wollen wir aber mal die Kirche im Dorfe lassen. Hätte man im Leben nicht ab und an mal 'n bißchen Abwechslung, würde keine Ehe länger als zwei Jahre halten. Ach, was sag ich? Es würden erst gar keine mehr geschlossen werden! Du willst mir doch nicht ehrlich weismachen, daß es die große Liebe gibt, die man rein zufällig, plötzlich, irgendwo trifft, die man dann heiratet, mit der man dann zwei, drei Kinder zeugt und mit der man dann womöglich auch noch ein glückliches Leben lang zusammen bleibt!!! Tze, also, so naiv kannst doch selbst du nicht sein! Mann, wer A sagt, muß auch B sagen. Man muß halt auch mal Kompromisse eingehen im Leben. Ich sach ja immer: Von nix kommt nix, ne! Und es ist ja nun mal so, daß die Frauen ständig irgendwas haben. Also, irgendwas ist immer! Da brauchst du mich jetzt auch nicht mit deinen Kulleraugen so entgeistert ansehen. Und wir Männer sind da eben anders. Wir können IMMER, wir wollen IMMER, na ja, und wir machen's halt eben auch immer!!! Ende der Durchsage. Das müßtest DU doch langsam mal am besten wissen ..."
Darf ich vorstellen? Mein bester Freund Uwe! Sag mal, hab ich da gerade richtig gehört??? "Kirche im Dorfe lassen"? "Von nix kommt nix"? Und "wer A sagt, muß auch B sagen können"??? Ich glaub, ich spinne. DAS sieht ihm mal wieder erstaunlich ähnlich. Immer schön einen auf dicke Hose machen. Was schwingt der Mann da bloß für große Reden? Merkt der eigentlich die Einschläge noch??? Während ich hier total gelassen vor ihm sitze, fällt mir ganz plötzlich ein, wie zauberhaft schön es doch wäre, ihm ganz spontan meine rechte Faust mitten in seine altkluge Fratze zu schleudern. Aber nein. Ich bin ja, Gott sei Dank, ein solch anständiges und wohlerzogenes Mädchen, daß ich doch niemals Gewalt anwenden würde ... Wo kämen wir denn da hin. Und während ich hier so seelenruhig vor mich hin wüte, merke ich auch gar nicht, wie sich meine leckere, eiskalte, mit Eiswürfeln und einer Scheibe Zitrone verzierte Cola über Uwes Schoß ergießt! Ich lächle nett und bedanke mich für die angenehme Mittagspause, die er mir verschafft hat, ziehe mir eine Zigarette aus meiner Schachtel und schreite, quietschvergnügt, wie eh und je aus dem Lokal, in dem ich vor einer halben Stunde noch meinem besten Freund mein Herz ausschüttete, weil mich mein lieber Freund nun schon zum zweiten Mal betrogen hat.
Genanntes Ereignis durfte ich selbstverständlich persönlich bezeugen!
Hach, wenn doch alle Tage so friedvoll verlaufen würden!!!
Kann mir mal einer sagen, wo mein Feuerzeug geblieben ist? Immer dasselbe ... Mit der linken Hand in der Luft rumfuchtelnd, damit mir die große Handtasche nicht von der Schulter rutscht, und mit der rechten darin herumkramend, stelle ich fest, daß ich das Rauchen im Grunde auch gleich auf später verschieben könnte, da ich mir die Kippe, die ich bereits zwischen meine Lippen geklemmt hatte, an meinem Taschenhenkel kaputtgebrochen habe!
Verfluchte Sch...!!! Meine Kippe landet im hohen Bogen im nächsten Rinnstein und freut sich auf ein besseres Leben im nächsten Gully, sobald der Regen sie weggeschwemmt haben wird. Ist es nicht großartig, wie sich so manche Dinge einfach ganz von selbst klären? ICH BIN IMMER WIEDER AUFS NEUE BEGEISTERT!
"Lara, es gibt Tage, da verliert man, und es gibt Tage, da gewinnen die anderen", hör ich Uwe in Gedanken zu mir sagen.
Meine Wut kennt nun keine Grenzen mehr. Ich beschließe also, doch besser auf direktem Wege ins Krankenhaus zurückzugehen und mich erstmal an die nächste Kaffeekanne zu hängen. (Notlösung! Alkohol während der Arbeitszeit ist ja nun mal verboten!)
Zum Glück ist der Weg nicht weit. An Tagen wie diesen würde ich zu allem Überfluß sowieso den Bus oder die Bahn, oder was einen sonst noch so durch die Gegend gondelt, verpassen. Ich kenn das Spielchen.
In jedem schlechten Roman kommt jetzt übrigens die Stelle, wo die Frau, der mal wieder nichts glückt, völlig verzweifelt und ziellos durch die Gassen wandelt und sich in Gedanken verliert. Die irgendwo, in einer Allee, an einem großen, prachtvollen Baum zusammenbricht und die Tränen rinnen läßt. Echt kitschig, oder? Aber mal ganz ehrlich? Mir ist wirklich zum Heulen zumute. Das kann doch alles nicht wahr sein! Warum tut er mir das an??? Warum steigt mein heißgeliebter Christian mit dieser Frau ins Bett?? Anabelle. Wenn ich diesen Namen schon höre, wird mir ganz anders! Sie ist nicht häßlich. Im Gegenteil. In ihrer Szene, bei den Gruftis, ist sie sogar sehr beliebt, ihres Aussehens wegen, aber sie ist halt 'ne Puppe. Total aufgesetzt und künstlich. 5 Tonnen Make-up sind der durchschnittliche Tagesbedarf dieser Frau. Das ist kein Spaß. Und ich frage mich einfach, was der an ihr findet? Die ist einfach nur strohdoof!!! Ehrlich. Rick war mal auf 'ner Party, wo sie auch war, und stand im Gespräch verwickelt mit einigen Bekannten und Anabelle in einer Runde. Es war wohl eine lustige Unterhaltung, zu der Anabelle jedoch nicht sonderlich viel zu sagen hatte ... Rick fragte dann anstandshalber, was sie denn dazu zu sagen hätte.
"Nix, ich hab doch gelächelt", antwortete sie.
Rick: "Ja und, das heißt doch nichts!"
Anabelle: "Also, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll, dann lächel' ich immer einfach freundlich!"
MIR WIRD SCHLECHT, wenn ich daran denke, daß MEIN Christian mit der Alten losgeschossen ist!!!!
Ich fühl mich einfach gnadenlos wertlos. Völlig austauschbar. Ersetzbar durch jede dahergelaufene Modepuppe. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein. Ich bin völlig verzweifelt ...
Im Krankenhaus angekommen, schmeiß ich mich als Erstes in meinen ach so sexy Schwesternkittel, dann ab in die Schlappen, und los geht's in die Schwesternküche, schnurstracks an die Kaffeebar! Ich verkriech mich mit meiner heiß dampfenden Tasse in die allerhinterletzte Ecke, setz mich verkehrt herum auf einen Stuhl und beobachte durch die regennasse Fensterscheibe das Laub, das langsam von den Bäumen rieselt. Der Herbst ist da ...
Das hat mir ja gerade noch gefehlt. Winterfeelings und ein leeres 1,40 x 2,00 Meter-Bett. Ich halt's nicht aus. Wenn das man nicht wieder Winterdepris gibt. Ich greif zu meinem Handy, das noch auf dem alten Küchentisch liegt, weil ich es anscheinend nicht mit in die Pause genommen hatte, und werfe einen flüchtigen Blick darauf. Eine Kurzmitteilung:
"Hey Lara, ich hoffe, es geht Dir gut. Ich vermiss Dich schon. Wollen wir uns nicht heute Abend treffen? 'Flotte Biene' hat heut Happy Hour. Kuß, Franja"
"Franja, DICH schickt der Himmel! Nichts lieber als das! Wie es sich für eine beste Freundin gehört, bist Du immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort! ;) Ich freu mich. Bin um 19.30 in der Biene. Ich muß sowieso dringend mit Dir reden ... Kuß zurück!"
Na, wenigstens der Abend wäre gerettet. Auf Franja ist 100 % Verlaß. Da gibt es auch keine Ausnahmefälle. Und vielleicht stoße ich bei ihr auch auf ein klein wenig mehr Taktgefühl und Verständnis als bei Uwe ...
"Lara, kommst Du mal bitte schnell?! Die anderen sind noch in der Mittagspause, und es gibt Komplikationen bei der Geburt in Kreißsaal 5", ruft es hektisch in die Küche.
"Lieber Gott, hoffentlich ist ganz bald Feierabend", denk ich und renne Sina hinterher.
Nach der schweren Geburt in Kreißsaal 5, bei der sich das Kind in allerletzter Sekunde dann doch noch dazu entschieden hatte, sich in die richtige Position zu bringen, könnte ich ehrlich gut eine kalte Dusche vertragen. Ich liebe meinen Beruf, aber immer wieder aufs Neue um so zerbrechliche, junge Leben zu bangen, kann ganz schön an den Nerven zerren. Andererseits kann ich mir aber auch nichts Schöneres auf dieser Welt vorstellen, als werdende Mütter in den wahrscheinlich kräftezehrendsten Stunden ihres Lebens zu unterstützen und immer wieder aufs Neue dabei zu sein, wie neues Leben entsteht. Für mich sind Geburten das größte, schönste, zauberhafteste und erstaunlichste Wunder dieser Erde, an dem ich ständig teilhaben darf. Ich frage mich, ob ich dieses Wunder vielleicht auch mal eines Tages am eigenen Leibe erfahren darf?!
Denn wir wollen ja mal realistisch bleiben. Die Zeit rennt. Und wenn ich nicht mal langsam in die Pötte komme, dann wird das wohl nichts mehr. Wollen wir einmal wichtige Fakten auflisten. Kinder bekommt man ja nicht mal so eben zwischendurch. Das bedarf schon etwas an Organisation! Also:

1.
Man findet einen Mann, kann ihn ganz gut leiden und verliebt sich bestenfalls anschließend in ihn. Einige Wochen bzw. Monate nach dem Kennenlernen beschließt man dann, seinen Lebensweg gemeinsam durchzustehen.
2.
Man führt glücklich und zufrieden eine Beziehung, mit allen möglichen Hochs und Tiefs und was da nicht noch so alles kommen mag, die erstmal mindestens drei, vier Jahre einfach nur gutzugehen hat.
3.
Evtl. Verloben, um der Beziehung noch mal ein bißchen Frische zu verleihen ...
4.
Mögliche Heirat nach frühestens fünf Jahren erfolgreicher Beziehung und evtl. Familiengründung, falls es die persönliche Lebenssituation zuläßt. Seine Ausbildung sollte man praktischerweise zur eigenen Lebenserleichterung dann doch schon abgeschlossen haben.

Nun, folgende Situation stellt sich dar:
Ich, Lara Heppner, ledig, geboren am 03.08.1983, muß an dieser Stelle wohl leider eingestehen, daß es bereits bei Punkt 1 hapert!
Ich meine, "man findet einen Mann und kann ihn ganz gut leiden", das ist ja sogar für mich noch machbar. Auch der Teil mit dem Verlieben klappt noch ganz gut, aber dann hört es, leider Gottes, auch schon auf!!!
Anscheinend gibt es da irgendwo eine höhere Macht, die mich daran hindert, eine ganz normale, nette, gewöhnliche Beziehung zu führen. (Was auch immer es sein mag ... ICH BRINGE ES UM!!!) Ich meine, muß das sein? Wieso kann ich nicht endlich glücklich werden???
Selbst mein Großvater macht mir schon Streß. Er wolle doch auch noch mal einen Kinderwagen schieben. Ach ja - und auf meiner Hochzeit will er auch noch tanzen, ach und so weiter. Dann so Sprüche von Oma ...
Wie zum Beispiel:
"Mensch, Kind, wenn Du nicht langsam mal unter die Haube kommst, dann wird das mit der Familie aber auch nichts mehr, was?!"
Ich krieg 'ne Macke! Und das Schlimmste ist ja, daß ich glaube, daß diese Frau recht hat. Zumindest, wenn man obengenannte Punkte in Betracht zieht, und das sollte man.
Wollen wir doch einmal nachrechnen ...
Ich bin jetzt stolze 24 Jahre alt, was soviel heißt, daß ich mich momentan in der Blüte meiner Zeit befinde! Allem Anschein nach bin ich seit 23 Stunden nun auch wieder Single. Sofern man davon ausgehen will, daß das, was ich da vorher am Laufen hatte, eine "Beziehung" war. Ich würde das ja eher "Verhältnis" nennen oder "Affäre" oder wie auch immer man das nennen will. Eben eine Liebschaft, in der nicht ganz die Fronten geklärt zu sein scheinen. Und das dann verteilt über vier Jahre. Aber das nur anbei. Also zurück zur Rechnung ...
Ich arbeite in einem wunderschönen Krankenhaus als Hebamme.
Gehen wir mal davon aus, daß ich innerhalb des kommenden Jahres nicht den Mann fürs Leben finden werde, da ich ja jetzt erstmal den Schock mit Chris verknustern muß. So werde ich also frühestens, wenn ich mich nicht allzu doof anstelle, mit ca. 26 Jahren einen Mann kennenlernen, der vielleicht taugen könnte. Dann stellt sich die Frage, ob das dann auch was wird und die Vier-Punkte-Phase übersteht. Gehen wir mal optimistischerweise davon aus, daß das alles so klappt, dann sehe ich eigene Kinder frühestens mit 31, und DAS macht mir wirklich Angst. Hallo??? Ich wollte drei Kinder, wie soll ich das denn unter einen Hut bringen??? Toll ... nichts funktioniert so, wie ich mir das vorstelle.
"Sag mal, Lara stimmt was nicht mit Dir? Du machst heute so einen benommenen Eindruck. Ist was passiert?" fragt Sina, als sie mit ebenso verschwitztem Gesicht, wie ich es bis vor einigen Sekunden noch hatte, in die Umkleidekabine kommt.
Das hat mir ja gerade noch gefehlt. Jetzt mit meiner Arbeitskollegin meine Probleme besprechen. Nee danke ...
"Nein, ist alles in Ordnung, der Tag hat mich nur einfach geschafft. Und außerdem ist der Herbst da. Hat der kein Zuhause?!" geb ich quengelig, aber mit einem Lächeln zurück.
Sina ist eine von den Guten. Ich habe sie, obwohl sie mir hier anfangs echt die Hölle heiß gemacht hat, unendlich liebgewonnen. Sie ist ja auch die Einzige, die völlig selbstlos, weil ich mal wieder gnadenlos verpennt hab, meine Frühschicht übernimmt und mit mir tauscht.
Kaum vorstellbar, wo sie doch etliche Hetzkampagnen gegen mich gestartet hatte, als ich hier noch neu war. Doch es soll ja Menschen geben, die sich ändern. Sina ist eine davon. Trotzdem hab ich ehrlich keine Lust, ihr jetzt mein Herz auszuschütten. Das geht schon aus rein praktischen Gründen nicht. Ich sage es noch mal: Kein Alkohol am Arbeitsplatz! Und da ich leider ganz genau weiß, daß ich es nicht ertragen werde, über Christian zu sprechen, den Mann, den ich mehr als mein eigenes Leben liebe, solange hier keine Flasche Wodka auf dem Tisch steht, laß ich die ganze Nummer lieber gleich.
Ich nutze den Arbeitsplatz lieber als Fluchtweg. Verdrängung ist am Anfang jeder Katastrophe wohl die einzige Lösung. Was heißt Verdrängung??? Im Grunde bin ich einfach froh, im Krankenhaus einen Ort zu haben, an dem ich nicht über mein Privatleben nachdenken muß. Zumindest nicht, wenn was zu tun ist, und das ist es meistens!
"Ja, stimmt. Ich hab auch keine besonders große Lust auf verregnete, kalte Tage. Aber hey, dann müssen wir nur noch durch den Winter, und dann ist doch auch eh schon wieder Frühling! Hast Du Lust, heute Abend mit Kai und mir ins Kino zu gehen? Wir wollen uns mal wieder so 'ne richtig schöne Schnulze geben!" sagt Sina und schaut mich dabei so freundlich und einladend an, als könne sie es gar nicht erwarten, mit mir zu ihrer Rechten und ihrem Freund zu ihrer Linken bei romantischen, vor Kitsch triefenden Dialogen um die Wette zu heulen.
Also, eigentlich bin ich jemand, der immer und überall dabei ist. Immer mittendrin, aber das geht HEUTE mal so gar nicht!
"Tut mir leid, ich bin heute schon verabredet. Aber gerne wann anders. Ich wünsch euch trotzdem ganz viel Spaß. Mußt mir erzählen, wie der Film war, wenn wir uns nächste Woche zum Schichtwechsel treffen", sag ich und werfe nebenbei meinen Spind zu.
"Aber selbstverständlich. Ich wünsch Dir einen schönen Feierabend."
"Ja danke, den wünsch ich dir auch."
"Bis nächste Woche dann."
"Ja, bis dann."
Nach der verdienten Dusche und dem Abendessen, das ich mir hab kommen lassen, am Ende jedoch wegwarf, weil ich nichts runterbekam, mach ich mich jetzt wohl besser auf den Weg in die "Flotte Biene". Franja haßt, es zu warten, und ich bin nicht immer die Pünktlichste. Wollen wir sie heute mal verschonen. Schließlich wird sie heute noch genug mit mir zu tun haben.
Oh Gott, wenn ich dran denke, wird mir schlecht ... Selbst wenn ich ihr die Geschichte mit Chris verheimlichen wollen würde ... ein Blick von ihr genügt, und sie hat's geschnallt. Womöglich nimmt sie mich dann noch in den Arm. Oh nein, ganz bestimmt nimmt sie mich in den Arm, und spätestens dann werde ich, ohne mich zusammenreißen zu können, das Ambiente vollheulen ... Ich seh' es schon kommen. Am besten ich gehe, bevor ich mich überhaupt setze, direkt zum Tresen und bestelle eine Flasche Wodka auf Eis!
Gut. Ich gehe also zu Fuß zum Treffpunkt.
Das heißt also Laufen, da ich die Strecke von sechs km wohl kaum in einer halben Stunde schaffen werde. Mist. Jetzt muß ich mir also auch noch ein Taxi nehmen. Ich hasse es, für eine Autofahrt Geld zu bezahlen, die ich eigentlich auch selber machen könnte, zumal der Tank gerade voll ist. Aber was soll's ... Dekadenz läßt grüßen. Ich hab es ja dicke!!!
Uwe würde jetzt sagen: "Man gönnt sich ja sonst nichts."
Oder er kommt wieder mit seinem "Man muß auch mal Kompromisse eingehen"- Gesülze.
Jetzt will ich erst recht nicht mehr Taxi fahren.
Ich nehme den Zug. Dann muß Franja halt mal fünf Minuten warten. Sie wird's ja wohl verkraften ... wenigstens hat's aufgehört zu regnen.
Endlich am Ziel angekommen, staune ich nicht schlecht, als ich plötzlich eine in Tränen aufgelöste Franja an unserem Stammtisch sitzen sehe. Was ist denn jetzt los? Ich dachte, ich wäre hier heute die Leidtragende. Nicht mal Kummer haben darf man alleine. Ist ja nicht zu fassen. Aber bei Franja mach ich wohl mal 'ne Ausnahme. Schließlich lieb ich sie genauso wie sie mich! Was ist denn bloß passiert?
Ich mach mir immer Sorgen, wenn ich sie so sehe, weil Franja eigentlich die Einzige ist, die mich mit ihrem glockenhellen Lachen IMMER ansteckt. Und wenn ich sie dann weinen sehe, hab ich das Gefühl, daß nie mehr die Sonne scheinen kann.
Schnellen Schrittes haste ich zum Tisch rüber, vorbei an dem riesigen Gummibaum, der unseren Stammplätz immer ein wenig versteckt hält. Der Baum ist immer mit kleinen orangefarbenen Lampions geschmückt und verleiht dem Ambiente an dieser Stelle besonders viel Gemütlichkeit.
Ich setze mich direkt ihr gegenüber, lasse meine Handtasche über meinen rechten Arm auf den freien Stuhl neben mir rutschen, streiche mir hektisch die Haare aus dem Gesicht und frage sie, was los ist:
"Franja, was ist passiert?"
"Oh Lara, gut, daß du endlich da bist. Es ist so furchtbar. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll ..."
Ein erschöpftes Schluchzen unterbricht ihr Erzählen.
"Franni, ganz ruhig, erstmal. Beruhig Dich ..."
Ich setze mich auf ihre Seite und lege den Arm um sie. Ein paarmal Streicheln über den Rücken tröstet sie manchmal.
"... hat es was mit Mike zu tun?"
"Ja. Er hat Schluß gemacht. Ich kann's gar nicht glauben. Einfach so verlassen. Er will alleine sein, hat er gesagt, weil er mir nicht vertrauen kann."
"Was ist los? Wenn er dir nicht vertrauen kann, wem denn dann?? Warum sagt der das?"
"Ach, der spinnt. Der glaubt allen Ernstes, daß ich was mit Jens habe! Nur weil ich hin und wieder ein paar SMS mit ihm geschrieben habe. Aber ich kapier das nicht. Die SMS waren ehrlich harmlos. Da ging es nur um Tennis. Wir wollten uns zum Tennis verabreden ..."
Männer ... ich sag's ja. Man muß vielleicht erklären, daß Franja vor knapp fünf Jahren das erste Mal mit Mike zusammengekommen ist. Er war die Liebe ihres Lebens, bis er dann, nach einem Jahr, was nie jemand für möglich gehalten hatte, weil die beiden das Vorzeige-Paar schlechthin waren, auch noch per SMS mit ihr Schluß gemacht hat. Franja war völlig am Ende. Sie hat fürchterlich gelitten! Franja und ich machten es uns dann zum Ritual, die Wochenenden an unseren Freund, dem Erdbeerperlwein zu hängen. (Damals waren wir noch artig und ungeübt. Da hat so ein billiger Sekt noch für uns beide gereicht! Traurig, wenn man sich heute betrachtet.)
Himmelfahrt war ein ganz besonderes Datum für unser Date mit ihm.
An dem Tag konnte Franja nicht mehr stehen, nicht mehr sprechen, nicht mehr gehen und anscheinend auch nicht mehr denken ... Ich weiß nicht, was genau in ihr vorging, aber es mußte furchtbar gewesen sein.
Die Party stieg am Kanal, auf der Straße vor dem bekanntesten Hotel der hier umliegenden Dörfer. Zwischen dem Hotel und dem Kanal verläuft ein Radweg direkt am Wasser, ein kleiner Hang genau daneben, der an einer Straße endet, und ein Graben, in den Franni fast in regelmäßigen Abständen fiel.
Ich hatte plötzlich irgendwo ein paar Freunde gesehen und bin zur Begrüßung mal schnell rübergehuscht. Auf meinem Rückweg sah ich dann echt Schreckliches.
Ein total blutverschmierter Mike rannte hektisch und erschrocken dreinblickend, mit völlig zerrissenem T-Shirt an mir vorbei, allem Anschein nach auf dem Weg zum Krankenwagen. (Der steht da vorsichtshalber jedes Jahr.)
"Ich muß das sofort Franja erzählen. Die bekommt einen Schock!" dachte ich und rannte auch schon los.
Völlig benebelt fand ich sie mit Nicki, einer gemeinsamen Freundin, am Straßenrand stehen. Sie nuckelte stolz wie Oskar an einer Caipirinha-Flasche rum und lachte sich eins ins Fäustchen.
"Warte erstmal ab, bis ich Dir erzählt hab, daß Mike seine gerechte Abreibung heute bekommen hat ... dann kannste dich erst recht freuen ...", dachte ich und schoß auch schon los ...
"Franja, hör mir mal ganz kurz genau zu", sagte ich und versuchte ihr in die Augen zu sehen, die sich jedoch schon fast jeweils um die eigene Achse drehten ...
"Franja, jemand hat Mike zusammengeschlagen. Voll krass. Der ist mir gerade entgegengekommen und sah aus wie ein Gespenst!"
Ich in meiner absoluten Panik hab ununterbrochen gequatscht und das hämische Lachen von Nicki schon fast nicht mehr wahrgenommen, bis Franja auch noch anfing.
"Mensch, Lara, erzähl mir doch nichts ...", lallte sie und schwankte mit ihrer Alkoholflasche im Takt. Nicki und Franja stießen noch mal kräftig an, nahmen noch einen Riesenschluck aus ihren Flaschen und bekamen dann regelrecht den Lachanfall ihres Lebens.
Also, ein bißchen mehr Empörung und Verwunderung hätte ich ja schon erwartet. Die taten ja gerade so, als käme das alle Tage vor, daß man Mike eine reinhaut.
"Mädels, ehrlich. Der sah gar nicht gut aus. Seht ihr, es gibt wohl einen lieben Gott. Strafe muß sein. Das hat der jetzt davon, daß der dich so behandelt hat."
Sagte ich und stieg in das Gelächter ein, was von meinen beiden Mädels dennoch übertönt wurde ... Während Franja sich den Bauch hielt und komische Verrenkungen machte, nahm mich Nicki zur Seite und berichtete unter schallendem Lachen:
"Lara ... Lara, vergiß es! Den lieben Gott gibt es nicht. Ha, ha, ha ... und den Weihnachtsmann übrigens auch nicht, aber das spielt jetzt keine Rolle. Denn das Wesen, was Mike so zugerichtet hat, ja?! Das steht hier an unserer Seite. Hahahahaha ... Franja hat dem voll eine mit ihrer Caipirinha-Flasche reingehauen. Mann, und du warst nicht am Start. So ein Ärger. Jetzt hast du wieder das Beste verpaßt!!!"
"Was??? Du hast Mike so zugerichtet???" fragte ich Franja bestürzt und erschrocken zugleich.
"Ja, voll mit der Eins-A-Rückhand!!!" sagte sie und wiederholte wohl die Bewegung, die Mike krankenhausreif geschlagen hatte ...
"Franja, das ist doch nicht dein Ernst ... Quatsch, echt???"
"Ja, voll mit der Rückhand, und sein T-Shirt hab ich auch erwischt!"
"Wieso das denn???"
"Weißt du eigentlich, wie der mich angeguckt hat? Der hat mich angelächelt, Lara. Angegrinst mit seinem charmanten Lächeln, das ich immer so an ihm geliebt hab. Und das Lächeln bringt der mir entgegen, nach allem, was DER mir angetan hat??! Das ging gar nicht."
"Ähhh, hallo???! Mike hat geblutet wie ein Schwein. Das ist nicht mehr witzig. Der ist jetzt im Krankenwagen. Laßt uns jetzt mal gucken, ob er da auch wirklich angekommen ist. Der ist die Straße ganz schön langgewankt."
"Mensch, Lara, jetzt hör aber mal auf! Jetzt übertreib mal nicht. Der wird den Weg schon gefunden haben. Denk mal daran, was der mit mir gemacht hat. Da hat auch niemand geguckt, ob ich wieder im Leben angekommen bin oder nicht. Nicht mal 'ne SMS, wie es mir geht, habe ich von dem bekommen. Der kann zusehen, wer ihn wieder heileflickt!"
Im gleichen Atemzug, in dem sie das sagte, brach sie auch schon zusammen. Ich glaube, sie hat gute zwei Stunden im Graben gelegen und gepennt. Während ich fassungslos durch die Gegend latschte. Das ging ja gar nicht in meine Rübe.
Ich meine, hey. Mike hat sie verlassen. Echt 'ne fiese Aktion, aber halb abschlachten ... ob das so die optimale Lösung ist?!
Die ganze Aktion wurde dann auch vor Gericht zuende gebracht, weil ich ja so übertrieben habe ...
Als Franja wieder klar im Kopf war, war das Geschrei natürlich groß. Das alles wollte sie eigentlich gar nicht. Sie konnte sich sogar kaum noch an etwas erinnern.
Aber irgendwann war die ganze Sache ja zum Glück wieder vergessen ... wobei ich ja zugeben muß, daß ich auch ein bißchen stolz auf die Gute war!!! Den Mumm hat schließlich nicht jede Frau, sich auf eine solche Weise wegen eigener seelisch erlittener Grausamkeit zu rächen! Ganz heimlich find ich, daß man das einfach auch mal erlebt haben muß!
Dann kam sie für zwei Jahre mit Jens zusammen.
Ich für meinen Teil habe ihr gleich gesagt, daß der nichts ist. Machen wir's kurz: ICH habe Jens schon immer gehaßt!!! Ein völlig überdrehter Typ, auf dem Weg, Polizist zu werden, der immer alles besser weiß, aber mit 80 durch die Ortschaft rast!!! Himmel, hab ich mich manches Mal aufgeregt. Wie auch immer. Irgendwas fand meine liebe Freundin jedenfalls an ihm, und im gleichen Tennisverein war er auch noch. Tja, und da gleiche Hobbies usw. einem ja bekanntlich erstmal schmeicheln, kann man sich auch schon mal irren!!!
Gott sei Dank hat sie Jens dann endlich nach, wie gesagt, zwei Jahren verlassen und war für's Erste solo.
Kurze Zeit später jedoch tauchte plötzlich wieder ihre große Liebe Mike auf und plazierte sich erneut in ihrem Herzen. Dreist, aber nun gut. Jeder hat 'ne zweite Chance verdient. Ich habe mich riesig für die beiden gefreut. Denn obwohl sich Mike wie ein A... verhalten hat, mochte ich ihn immer ganz gerne ... Außerdem mußte er ja auch letztlich ganz gut was einstecken. So wurde er bestimmt noch nie von einer Frau vermöbelt.
Tja, auf jeden Fall waren sie seither glücklich zusammen. Waren zusammen in Wien bei Nicki und haben eigentlich ein harmonisches Leben zusammen geführt. Und jetzt so was?! Und dann noch wegen JENS??! Also, da weiß ich jetzt auch nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

Ich finde es sehr spannend, solche Liebeswirren aus einer fremden Perspektive zu betrachten. Es ist wie ein Spaziergang durch eine andere Welt. Wie Tyras Geschichte weitergeht, bleibt offen. Es steht jedoch fest, daß in dieser Geschichte nicht mit Erinnerungen an Wut und Enttäuschungen gespart wird - die ja letztlich irgendwo untergebracht oder irgendwie verarbeitet werden müssen.
In einer E-Mail an Valerien schrieb ich:

Ou Mann, Wave ist beim Pfingstfestival 2006 beinahe von dir überrollt worden? Da hast du bestimmt einen Heidenschrecken gekriegt.

Valerien mailte:

Klar, wenn die Straßenbahntür aufgeht, und es kommen Menschen gefallen, bekommt wahrscheinlich jeder einen Schreck ...

Ich mailte:

Ja, ich glaube, wenn Wave einen gezwitschert hat, kann er sich nicht mehr so richtig kontrollieren. Leider begegnet er mir meistens im angesäuselten Zustand. Vielleicht ist er etwas unsicher und hofft, mit Alkohol selbstsicherer zu sein.

Valerien mailte:

Vielleicht, aber das geht mich nix an, denn jeder ist seines eigenen Glückes Schmied ...
Ich seh beruflich jeden Tag, was Alkohol aus Menschen machen kann. Und ich halte auch nicht viel davon.
Die Mehrzahl der deutschen Brauereien haben in der Zwischenzeit einen Ring gebildet, der das Motto "Bier trinken mit Genuß" vertritt und gegen Alkoholmißbrauch einsteht ... so ginge es nämlich auch (als Beispiel).

Valerien bedauert das Ende des W.E-Forums nicht allzu sehr. Er meinte, ein Fanclubtreffen, wo man sich persönlich begegnet, könne kein Forum ersetzen:

So entstehen RICHTIGE, zwischenmenschliche Freundschaften.

Dieses Jahr sei das W.E-Fanclubtreffen ausgesprochen friedlich und fröhlich verlaufen:

Das Fazit von der Gemeinschaft: "Nächstes Jahr wieder und bitte genauso!"
Somit sind wir nach 12 Jahren dort angekommen, wo ich immer hinwollte ... Wer uns unterstützt hat, hat uns freiwillig unterstützt, wer nicht, der nicht, unschöne Erfahrungen aus den letzten Jahren wurden berücksichtigt und daraus gelernt, und somit kann man das W.E-Fanclubtreffen 2007 als "fast perfekt" bezeichnen. War ja auch das 1. Mal über ein ganzes Wochenende ...

Victoire mailte, daß ihre berufliche Situation unsicher ist, weil es sich nur um einen befristeten Vertrag handelt. Parallel läuft ihre Promotion.
Victoire empfahl ein ehemaliges Krankenhaus ("Heilstätten") in der Nähe von B. als geheimnisvollen Lost Place für Foto- und Filmaufnahmen. Sie hat in einem Online-Forum davon erfahren. Das kommt auch auf den Zettel für zukünftige Unternehmungen und wird bestimmt ein aufregendes Abenteuer. Wann wir dort Aufnahmen machen können, hängt vor allem davon ab, wann wir das Gelände legal betreten können. Stand 2007: nur illegal. Und das kommt für uns nicht in Frage.
Shara erzählte von seinen musikalischen Projekten. Die Musik bewegt sich zwischen Wave und Indie-Rock und verwendet orientalische Elemente. Shara spielt mehrere Instrumente, besonders gern E-Bass.
Neben dem Studium hat Shara mehrere Jobs, unter anderem bei der Volkshochschule, und ist mit seiner Promotion beschäftigt. Es geht dabei auch um eigene wissenschaftliche Publikationen.
Berit mailte, in dem Supermarkt, wo sie arbeitet, seien die Jobs nur befristet und unsicher, daher müsse sie andauernd um ihre Existenz fürchten. Weil sie in ihrem Elternhaus wohnt, hat sie eine gewisse Absicherung.
Anfang September fuhren Constri und ich zu "Stahlwerk". Constri erzählte vom Gefängnis. Giulietta hatte Constri zwei Tage zuvor in die Justizvollzugsanstalt in CE. mitgenommen, um Unterstützung bei den Häftlings-Interviews zu haben, die sie für ihre Diplomarbeit führte. Giulietta kicherte, während Constri immer wieder besorgte Fragen nach der Sicherheit stellte. Der Sozialarbeiter, der sich um die beiden kümmerte, bemerkte, daß jede auf eine andere Art aufgeregt sei:
"Die eine lacht sich kaputt, die andere macht sich in die Hose."
Die beiden bekamen von ihm eine Art Führung:
"Hier haben die RAF-Terroristen gesessen, hier ist der Hochsicherheitstrakt, aber da gehen wir nicht 'rein, wir gehen nur hier vorne 'rein, da sitzen ganz normale Mörder."
Constri fiel auf, daß die Häftlinge allesamt müde und blaß aussahen. Dabei bekamen sie täglich frische Luft und bewegten sich frei auf dem Gelände, mit Ausnahme der Insassen des Hochsicherheitstrakts, deren Hofzeiten strenger geregelt waren.
Das ungesunde Aussehen der Häftlinge kann damit zusammenhängen, daß die große Mehrheit der hierzulande Inhaftierten ein länger bestehendes Suchtproblem hat. Ganz oben steht der Alkohol, der das Gesicht auch nach längerer Abstinenz fahl und faltig aussehen läßt.
Die Häftlinge erlebten den Besuch der Interviewerinnen als willkommene Abwechslung und zeigten sich dankbar dafür. Für ihre Straftaten hatten die Häftlinge Erklärungsmuster wie:
"Der hat mich komisch angeguckt."
Bei einigen Häftlingen fand Constri durchaus eine Auseinandersetzung mit der Tat und Entwicklungstendenzen, bei anderen hingegen hatte sie den Eindruck, daß sie aus ihrer Haftzeit eher wenig lernen. Ein Häftling erzählte stolz von der Teilnahme an einem Antiaggressions-Training. Er erzählte, in seiner Kindheit habe sich niemand für ihn interessiert, und da habe er sich auch für niemanden interessiert. Die Gefühle anderer seien ihm gleichgültig gewesen. Erst in seiner Haftzeit habe sich bei ihm Interesse an anderen Menschen und ihren Gefühlen entwickelt.
Constri erzählte, daß Dereks früherer Komplize Sion immer noch kriminelle Handlungen begeht und etliche Jahre seines Lebens in Haftanstalten verbracht hat. Derek habe kurz nach dem Beginn seiner Beziehung mit Constri an einem Scheideweg gestanden. Sion habe ihm damals ein "größeres Ding" vorgeschlagen. Er wollte mit Derek aus einer Firma Sachen stehlen und die verkaufen. Derek erzählte Constri davon. Sie sagte dazu, daß sie keinen Freund haben wolle, der einsitze. Da rückte Derek von seiner kriminellen Karriere ab und entschied sich für ein bürgerliches Leben.
Mal und Dedis waren wieder bei "Stahlwerk", auch Darien war erschienen. Sie hatten sich vorher alle - mit Dagda, Irvin und Sofie - bei Samantha und Heyro getroffen. Constri und ich wären gerne dabei gewesen, doch ich mußte vor "Stahlwerk" eine Erkältung ausschlafen.
Heloise, Barnet, Joujou und Marvel trafen wir bei "Stahlwerk" ebenfalls, sogar Yara und Max waren dort. Sasso gab mir einen Flyer für seine nächste Freiluft-Party. Sie soll dieses Mal auf einer Brücke stattfinden. Das hört sich ungemütlich an, nach wenig Komfort und viel Chaos. Für mich ist das nichts.
Sasso erzählte, daß er vor einigen Jahren mit Diddo zusammen war. Sie war damals neunzehn Jahre alt. Auf einem Foto aus dieser Zeit trägt sie Punk-Look mit Irokesenfrisur.
Sergio berichtete, daß Diddo zur Zeit ihre Mutter in den USA besucht.
Die ersten drei Stunden war ich fast nur auf der Tanzfläche.
Zu "Flat Beat" von Mr. Oizo zeigte der VJ eine Computeranimation, die einen vor- und zurückhüpfenden Kopffüßer darstellt. Der Kopffüßer hat Augen, aber keinen Mund. Seine Konsistenz ähnelt einem Gummitier. Das Wesen hat eine fingerförmige Antenne auf dem Kopf und vier fingerförmige Beine, drei vorn und eines hinten, die entsprechend ihrer gummiähnlichen Beschaffenheit nach außen gebogen sind.
In der Area am Rand des Foyers im "Megamarkt", wo die "Stahlwerk"-Parties in der Anfangszeit stattgefunden haben und wo im Rahmen der "Stahlwerk"-Parties Konzerte stattfinden - "Im toten Winkel" - wurde Electronic Body Music gespielt. Sowohl der weitläufige Tanzraum oben als auch der kleinere EBM-Floor im "Toten Winkel" wurden von den Gästen gut angenommen. Delan möchte nun bei den meisten "Stahlwerk"-Parties diesen EBM-Floor einrichten.
Gegen Morgen saß ich für einige Stunden im Foyer zum Kaffeeklatsch. Dort wurde eine Art Lounge eingerichtet. Constri unterhielt sich lange mit Darien. Sie beobachtete zunächst, wie er von einem Bekannten in Anspruch genommen wurde, traute sich dann, sich hinzuzugesellen, und wurde von Darien begeistert begrüßt und umarmt. Er zog sie sogleich beiseite und setzte sich mit ihr an einen Tisch in der Lounge.
"Du hast mich gerettet", freute er sich. "Der hätte mich sonst noch eine halbe Stunde zugetextet."
Darien will sich am kommenden Dienstag aus der Psychiatrie entlassen lassen. Er erzählte, daß seine Eltern neulich nach HST. kamen, um Dariens Sohn Ciaran zu besuchen. Hingegen hatten sie nicht vor, Darien in der Psychiatrie zu besuchen. Erst als Darien sie anrief, verabredeten sie sich mit ihm.
Darien möchte von Dera eine Erklärung für ihren Weggang haben. Sie hat ihm bisher nur etwas von "Abstand" erzählt.
Darien vermutet, daß Dera sich immer einen "Supermann" an ihrer Seite wünscht. Er könne diese Rolle nicht mehr spielen, hingegen sei sie von ihrem Turnlehrer beeindruckt. Der Turnlehrer sei zwar muskulös, doch sei er vom Geist und vom Verstand her ziemlich eingeschränkt.
In der Lounge tauschten wir uns mit einigen Leuten über Autobahn-Erlebnisse aus. Jemand soll mal im Halbschlaf auf der Autobahn gesehen haben, wie sich die weißen Begrenzungspfähle der Reihe nach in die Luft erhoben.
An der A2 werden neuerdings große Kreuze hinter die Leitplanke gepflanzt. Die dünnen, ausladenden Kreuze sind schlicht und hellgrau. Sie sind durch ihre Größe, ihre helle Farbe und ihre gleichartige Form unübersehbar, und man hofft wohl auf eine mahnende Wirkung. Einige Kreuze stehen in Gruppen zu zweit oder gar zu dritt, vor allem an gefährlichen Ausfahrten. Allerdings lassen die Kreuze kaum Rückschlüsse auf die Unfalltoten zu. Würde man für jeden Toten, den es jemals auf der A2 gab, ein solches Kreuz aufstellen, müßten sie wahrscheinlich mehrreihig stehen. Die Kreuze erinnern an das, was die A2 auch ist, neben dem vielen anderen, was sie sonst noch ist: ein großer Friedhof. Die Strecke, die ich täglich fahre, gilt als die unfallträchtigste in Norddeutschland, eine "Todespiste".
Bei Quiche Lorraine und einer Flasche Federrosé kramten Constri und ich in unserer Erinnerung nach absurden Geschichten. Mir fiel eine ein, die unser Vater vor über dreißig Jahren von einem Kollegen erzählt bekam. Die Geschichte soll sich folgendermaßen zugetragen haben:
Zwei junge Männer fuhren durch einen amerikanischen Nationalpark. Der Fahrer war der Kollege meines Vaters. Am Straßenrand sahen sie einen Grizzlybären, der in einem Papierkorb herumwühlte. Der Beifahrer bat den Fahrer, kurz anzuhalten. Er stieg aus, trat von hinten an den Grizzlybären heran und klopfte ihm ordentlich auf die Schulter. Der Bär drehte sich um, sah den Menschen und stürzte auf ihn los. Der lief, was er konnte, immer um das Auto herum, der Grizzly hinter ihm her. An den Längsseiten des Autos war der gewaltige Grizzly schneller, an den Schmalseiten war der wendigere Mensch schneller. So holte mal der eine, mal der andere auf. Endlich gelang es dem Menschen, ins Auto zu schlüpfen, zurück auf den Beifahrersitz. Der Fahrer ließ den Motor an, doch ehe er wegfahren konnte, schlug der Grizzly wütend mit beiden Vorderpfoten auf die Motorhaube, so daß eine tiefe Delle entstand.
"Das müßte man eigentlich verfilmen", meinte Constri.
"Fragt sich nur, wer das Grizzly-Kostüm anzieht", meinte ich.
Wir stellten uns vor, wie ein Mensch im Grizzly-Kostüm einen anderen Menschen um ein Auto herum verfolgte - wildester Slapstick.
"Ist nur die Frage, wie der, der den Grizzly spielt, es schaffen soll, die Motorhaube mit einem Schlag so tief einzudellen", gab ich zu bedenken, "und es ist die Frage, welches Auto wir dafür nehmen."
So viel Schrott können wir mit unserem geringen Budget leider nicht produzieren.
Denise versteht solche Geschichten wie die von dem Grizzly-Bären nur, wenn man sie in kindgerechten Häppchen serviert. Das ist auch ein Grund, warum man sich nicht darum sorgen muß, daß das Kind durch das Mithören der Nachrichten im Radio Schaden erleiden könnte: sie versteht sowieso nur Bahnhof. Constri und ich erinnern uns noch gut, daß wir als Sechs- und Siebenjährige die Nachrichten nicht verstehen konnten, so sehr wir uns auch darum bemühten; für uns war es monotones Kauderwelsch. Auch wenn Erwachsene miteinander quasselten, war das für uns nur Kauderwelsch. Manchmal ahmten wir es nach, das hörte sich dann recht seltsam an.
Damit Denise mitlachen konnte, erzählte Constri ihr die Geschichte von dem Grizzly-Bären in kindgerechter Weise.
Denise erkundigte sich, wie sie geredet hat, als sie anfing, sprechen zu lernen. Constri nannte ihr einige Wörter: statt "Marienkäfer" sagte Denise "Rienkater", statt "Luftballon" sagte sie "Littabaum", statt "Essen" sagte sie "Nene", statt "Schnee" sagte sie "Nee". Das Sandmann-Lied sang sie so:
"Hampa, lieber Hampa, ette nette weit."
Das sollte heißen:
"Sandmann, lieber Sandmann, es ist noch nicht soweit."
Eines Abends, als Denise schon im Bett war, unterhielten Constri und ich uns über geheuchelte Liebeserklärungen.
"Auf der letzten Seite in Groschenromanen stehen meistens die Sätze, die im wirklichen Leben nur gelogen sind", meinte ich.
Constri hat ein Groschenromanheft, das ich ihr zu irgendeinem Fest geschenkt habe. Wir suchten darin nach Liebeserklärungen und erfanden währenddessen neue Texte. Die Idee, die dabei herauskam, war eine Romanserie namens "Armleuchten", eine Mischung aus "Adelszauber", "Alpenglühen" und "Wetterleuchten". Statt "Carsten war vollständig konsterniert" - ein Satz aus dem Groschenromanheft - hieß es nun "Carsten war vollständig rasiert".
Constri erfand den ganzen Textblock:

"Dreh' dich um, Lina", sagte er rauh.
Sie schaute ihn an. Carsten war vollständig rasiert.
"Lina, ich liebe dich", flüsterte er. "Und ich verspreche dir - ich werde mir die Haare nie wieder wachsen lassen."

Constri und ich fragten uns, wie eine Liebeserklärung sein sollte, damit sie nicht wie Heuchelei wirkt. Wir mögen keine tausendmal gehörten Formeln, wir mögen keinen Kniefall mit rosen Rosen, wir mögen keine Diamant-Colliers, das ist uns viel zu unpersönlich. Je persönlicher eine Liebeserklärung ist, desto glaubwürdiger ist sie wahrscheinlich, denn dann liegt die Vermutung nahe, daß der Verehrer einen wirklich kennt und sich mit einem ernsthaft befaßt, anstatt einen nur als Objekt zu betrachten.
Clarice erzählte am Telefon, sie habe sich von Angus getrennt, weil er seinem Studium stets gegenüber der Beziehung den Vorzug gegeben habe. Er habe sich regelrecht in die Arbeit an seinem Diplom verrannt und habe dennoch doppelt so lange gebraucht wie andere Diplomanden. Er sei mit einem "sehr gut" belohnt worden, habe jedoch Clarice als Lebensgefährtin verloren. Er könne sich schlecht von der Erwartungshaltung seiner Eltern lösen und wirke nicht richtig erwachsen.
Über das Liebesleben mit Angus sagte Clarice, das sei so gut gewesen wie mit niemand anderem vorher, doch habe es zuletzt immer seltener stattgefunden, für Clarice viel zu selten. Angus sei ihr zunehmend lustlos vorgekommen, habe sie immer "oben" spielen lassen und kaum noch die Initiative ergriffen. Ihr jetziger Partner, der wie Angus der BDSM-Szene angehört - man kennt sich vom SM-Stammtisch -, könne auch gut auf sie eingehen, aber nicht so gut wie Angus, dafür bemühe er sich mehr um sie und ergreife mehr die Initiative.
Magnus erzählte am Telefon, er habe schon mal ein Auto fast völlig neu zusammengeschraubt. Er mußte vor längerer Zeit ein Auto wegen Totalschadens in Griechenland verschrotten lassen, denn dort war er damit verunfallt. Er baute alle unersetzbaren Teile aus und schleppte sie in seinem Rucksack nach Hause. Dort besorgte er sich alles, was er sonst noch brauchte, um ein Auto neu entstehen zu lassen, und schraubte es bis zur TÜV-Fähigkeit zusammen. Für solche Basteleien hat er auf dem Grundstück seines Vaters eine Garage gebaut.







.

Am Donnerstagabend war ich in der "Spieluhr" in MI. Rafa stand oben am DJ-Pult, Darienne stand unten vor der Theke an einem Tisch. Zwei Jungen kümmerten sich um sie: ein Punker, geschminkt und mit Irokesenfrisur, und ein anderer, der eine schwarze Baseballmütze trug. Der Punker trug am Saum seiner Lederjacke einen W.E-Aufnäher. Darienne war ungefähr so zurechtgemacht wie bei der "Salix". Ihr Gesicht war ausdruckslos, die Augen vermauert mit der Brille im Fünfziger-Jahre-Stil. Nur einmal sah ich sie auf der Tanzfläche, sonst stand sie fast nur an ihrem Platz, ob die Begleiter bei ihr waren oder nicht. Highscore erzählte, daß Rafa mit Darienne und den beiden Jungen hierher gekommen war. Von Rafas geplantem neuen Video hatte er gehört; Rafa hat ihn gebeten, die pyrotechnischen Effekte für das Video zu gestalten. Das will Highscore gern tun.
Rafa trug das Hemd mit den vielen Totenschädeln darauf. Über dem Hemd trug er seine schwarze Weste. Mal hatte er seine Sonnenbrille auf, mal nicht.
Ich trug eine Lack-Corsage, Lackpuffärmel, das Plüschhalsband mit dem Spruch "Amor vincit omnia" und den Rock aus drei Organza- und Tüllröcken.
Die Musik, die Rafa spielte, fand ich teilweise durchaus tanzbar; unter anderem liefen "Verschwende deine Jugend" von DAF, "Being boiled" von Human League, "The Sun always shines on TV" von A-ha, "49 Second Romance" von P1E und "TV treated" von Neon Judgement.
Auf der Leinwand lief in Endlosschleife der W.E-Werbefilm, den Rafa auch im "Memento Mori" und im "Nachtbarhaus" gezeigt hatte.
Der Punker plauderte mit Highscore. Er erzählte, daß er sich für seinen jetzigen Job beworben habe, als er noch schulterlange lilafarbene Haare hatte, und er habe den Job trotzdem bekommen.
Kurz nach ein Uhr nachts sprach der Punker mich an. Er fragte mich, ob ich allein hier sei. Ich bestätigte das.
"Warum bist du allein hier?" fragte er.
"Manchmal fahre ich auch mit anderen Leuten", erzählte ich, "das ist auch ganz lustig. Aber wenn ich vorher Leute anrufe und sie frage, ob sie mitwollen, kostet das Zeit und Energie. Wenn ich alleine fahre, geht alles viel schneller."
"Nein, ich meine etwas anderes. Kann es sein, daß dich keiner leiden kann?"
"Oh, ich vermute, es ist eher das Gegenteil der Fall."
"Du siehst nämlich immer irgendwie verloren aus."
"Ich kenne fast überall Leute, und wenn ich keine kenne, lerne ich welche kennen."
"Ich sehe dich immer nur alleine."
"Dann siehst du mich aber nicht oft."
"Doch, viel zu oft."
"Aber am letzten Samstag bei 'Stahlwerk' bist du ganz bestimmt nicht gewesen."
"Nein, weil ich nicht auf Industrial stehe."
"Eben, deshalb entgehen dir auch viele Parties, wo ich bin", erklärte ich. "Komm' mal morgen ins 'Mute', dann siehst du es."
"Da kann ich nicht hin, da muß ich arbeiten."
"Ach so."
"Was willst du hier eigentlich?"
"Mich amüsieren."
"Echt, auf allen Parties, wo Honey ist, läufst du 'rum."
"Wenn ich mich nicht amüsieren würde, wäre ich nicht hier", erklärte ich. "Außerdem bin ich mit Highscore verabredet."
"Sag' mal, du weißt doch, wo dein Auto steht. Kannst du nicht einfach verschwinden?"
"Warum ist dir das so wichtig, daß ich verschwinde?" erkundigte ich mich. "Warum liegt dir so viel daran?"
"Weil du mich nervst."
"Auf welche Art nerve ich dich denn?"
"Weil du immer alleine bist."
"Das ist doch nicht dein Problem."
"Aber es nervt mich."
"Jetzt hab' ich's!" kam mir ein Gedanke. "Du bist es, der keine Freunde hat und den keiner leiden kann!"
"Doch, ich habe einen Freund, ihn hier", sagte der Punker und zeigte auf den Jungen mit der Baseballmütze.
"Einer ist tausendmal besser als keiner", meinte ich.
"Ich habe mehr als einen Freund", erwiderte der Punker.
"Zwei sind tausendmal besser als keiner. Und jetzt haben wir uns auch noch kennengelernt", sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter.
"Echt, du bist bestimmt voll die Nette", meinte er, "aber wenn ich dir fünf Euro gebe, würdest du dann gehen?"
"Weißt du was?" sagte ich gleichbleibend freundlich. "Eigentlich geht es dich einen verdammten Dreck an, ob ich hier bin oder nicht. Es geht dich einen feuchten Kehricht an. Warum beschäftigst du dich überhaupt mit mir?"
"Weil ich ein mitfühlender Mensch bin."
"Aber ich habe doch kein Problem", entgegnete ich. "Das Problem hast doch du."
"Ich habe kein Problem."
"Doch, du hast ein gewaltiges Problem mit dir selber", gab ich zurück. "Wenn man anderen Menschen Probleme andichtet, sind das meistens Probleme, die man selber hat."
"Ich arbeite zehn Stunden am Tag und habe einen Tag in der Woche frei. Und an dem Tag will ich mich amüsieren."
"Ich habe auch eine 56- bis 60-Stunden-Woche", erzählte ich wahrheitsgemäß. "Da können wir uns glatt die Hand geben."
"Es nervt mich, wenn ich immer mitansehen muß, wie jemand besinnungslos einem Menschen nachläuft, den er nicht kennt."
"Du kennst die Hintergründe nicht", betonte ich. "Du weißt nicht, was passiert ist."
"Stimmt, da war doch mal voll die Romanze!" lachte der Punker hämisch.
"Eben", nickte ich. "Und wenn du nur hier bist, um 'rumzumaulen und Leute anzumachen, dann kannst du abhauen, dann brauchen wir dich hier nicht. Denk' mal in Ruhe drüber nach, kau' das Ganze ordentlich durch und guck' in den Spiegel."
"Ich sehe gut aus im Spiegel."
"Du siehst gut aus, weil du dich stylst", hielt ich dagegen. "Eigentlich bist du nur ein armseliges kleines Würstchen. Stimmt's, oder hab' ich recht?"
"Ey, du bist bestimmt voll die Nette."
"Richtig."
"Aber bitte, verschwinde trotzdem", wiederholte der Punker und ging davon.
"Nervt er dich?" fragte mich der Junge mit der Baseballmütze.
"Es geht noch", antwortete ich. "Eigentlich ist er ganz amüsant."
"An das Programm mußt du dich gewöhnen."
"Provoziert er immer so?"
"Ja. Das ist er, das ist Zod."
"Ach - das ist Zod, dieser Kumpel von Rafa?"
"Ich bin auch ein Kumpel von Rafa."
Er stellte sich vor; er heißt Pat.
"Das ist ja schön für Rafa, daß es noch Leute gibt, die mit ihm was zu tun haben wollen", meinte ich. "Ich denke, jeder Mensch, egal wie schlecht er ist, braucht jemanden, der sich um ihn kümmert."
"Ich konnte an Rafa bisher nichts Schlechtes entdecken."
"Weil du die Geschichten nicht kennst", erklärte ich. "Du weißt nicht, was er schon getan hat. Er hat seiner früheren Freundin Berenice zweimal dieselbe Rippe zertreten. Aber das ist ja an sich nichts Schlimmes, wenn man selber nicht betroffen ist; dann kann es einem im Grunde egal sein, und man kann mit demjenigen gut Freund sein. Und daß er seine Freundinnen allesamt mißhandelt und betrügt, das betrifft ja nur die Frauen; als Mann tangiert einen das ja nicht, da kann man ja durchaus mit Rafa gut befreundet sein."
"Mußt du immer alles schlechtreden?"
"Es ist halt so - wenn man etwas weiß, dann denkt man halt daran auch. Rafa hat Darienne von vorne bis hinten betrogen. Und er betrügt sie immer noch - ständig."
Zod - den Namen hatte ich schon gehört; es sollte ein Gefolgsmann von Rafa sein, noch ziemlich jung und wohl auch ziemlich manipulierbar.
Als ich mit Highscore auf einer Stufe saß, kam Rafa an uns vorbei, um zum Bad zu gehen, und auf ebendiesem Weg kam er auch zurück, und das war das einzige Mal, daß ich ihn abseits vom DJ-Pult sah. Rafa tat so, als wenn er weder Highscore noch mich sah.
Am Schluß der Veranstaltung, um zwei Uhr nachts, sagte Rafa durchs Mikrophon:
"So, das war's für heute mit Honey, kommt gut nach Hause und ... weiß ich nicht, viel Spaß noch und ... weiß ich nicht."
Zod war gerade im Bad, als ich mich von Pat verabschiedete, der neben Darienne stand.
"Grüß' Zod schön von mir", bat ich Pat und legte ihm den Arm um die Schultern.
"Klar", sagte Pat und hob den Daumen in die Höhe. "Fahr' vorsichtig."
Einsamkeit ist für Rafa ein Thema. Dazu hat er sich schon mehrfach geäußert. Auch Konkurrenz ist für ihn ein Thema, auch hinsichtlich der Frage, wer mehr Freunde hat. Es kann sein, daß Rafa mir meine vielen Kontakte neidet und sich mir unterlegen fühlt. Ihm kann nicht entgangen sein, daß ich viele Menschen kenne und immer mehr Menschen kennenlerne. Rafa hingegen hat sich weitgehend aus dem Partyleben zurückgezogen. Auf geselligen Veranstaltungen trifft man ihn fast nur noch, wenn er entweder selbst auflegt oder auftritt. Neid kann sich schnell in Haß verwandeln. Haß isoliert, Haß baut Mauern. Haß wird gern geteilt, vielleicht um dem Gefühl der Einsamkeit entgegenzuwirken, das durch Haß entsteht. Und Rafa, der sowohl Tyra als auch Berenice gegen mich aufgehetzt hat, dürfte auch Zod gegen mich aufgehetzt haben. Rafa hat umso mehr Anlaß dazu, als ich ihn im "Nachtbarhaus" bei seinem Versuch, mich öffentlich bloßzustellen, mit einer Breitseite habe abfahren lassen. Gewissermaßen könnte Rafa seine Haß-Attitüde an Zod delegiert haben, in dem Sinne, als er Zod gebeten hat, mich aus der "Spieluhr" zu entfernen. Dazu würde passen, daß Rafa gegenüber dem Besitzer des "Nachtbarhaus" geäußert hat, mich "nie wieder in H. auf einer Party sehen" zu wollen. Die "Spieluhr" befindet sich zwar in MI., doch das Setting ist vergleichbar. Ohnehin neigt Rafa dazu, andere Menschen zu instrumentalisieren. Ich erinnere mich noch, wie er mich gebeten hat, jemand anders um ein Bonbon zu bitten, das er für sich selbst haben wollte. Mit diesem Ansinnen hatte er bei mir freilich keinen Erfolg.







.

In der Nacht zum Samstag kam ich gegen halb zwei Uhr nachts mit Constri ins "Mute". Unter den Arkaden stand Rafa und rauchte, und neben ihm stand ein Mädchen, das nicht Darienne war. Darienne war überhaupt nicht im "Mute".
Während ich im Foyer lauter Bekannte begrüßte, ging Rafa mit dem Mädchen durchs Foyer, mit dem er draußen geraucht hatte. Das Mädchen war mindestens so groß wie er, aber viel jünger. Es wirkte kindlich, mit ungelenk aufgetragener Schminke und einem naiven Blick. Es war pummelig und hatte lange schwarz gefärbte Haare, ähnlich wie die Strapsmaus aus dem "Nachtbarhaus", aber ich meinte mich zu erinnern, daß die Strapsmaus von kleinerem Wuchs war. Auch wirkte dieses Mädchen deutlich schüchterner als die Strapsmaus. Es trug ein schwarzes Korsett über dem Blüschen und ein schwarzweiß kariertes Röckchen, kurz und weit. Rafa ging mit dem Mädchen auf die Tanzfläche. Knutschereien konnte ich zwischen den beiden nicht beobachten; freilich hält Rafa es meistens so, daß er seine Bettgespielinnen nicht oder höchstens angedeutet nach außen kenntlich macht, vielleicht um mehrere Eisen im Feuer halten zu können und ungebunden zu wirken.
Rafa trug das Hemd mit den vielen Totenschädeln darauf, dieses Mal ohne Weste darüber. Er hatte durchgehend die Sonnenbrille mit den blauen Gläsern auf.
Ich hatte das Oberteil mit den feinen Doppelträgern an, das vorne aus mit dunkelrotem Stoff hinterlegter schwarzer Spitze besteht und hinten aus einem schwarzen durchsichtigen elastischen Material. Dazu trug ich einen schwarzen Drahtgeflecht-Choker mit schwarzen Drahtgeflecht-Röschen daran.
Das DJ-Pult stand dieses Mal auf der Bühne. Wie Kappa Constri erklärte, lag das an der Ü40-Party am vergangenen Samstag, deren Aufbau noch hergerichtet war.
Links neben dem DJ-Pult standen ein Sofa, ein Sessel und ein Couchtisch, alles modern und in Schwarz. Dort ließen sich umschichtig oder auch gleichzeitig DJ Hayoo, Kappa, Sten und Rafa nieder. Während ich auf der Tanzfläche war und zu "Stukas im Visier" von Feindflug tanzte, setzten sie sich alle in diese Sitzgarnitur, Rafa auf das Sofa in die Mitte. Kappa fotografierte mit seinem Handy. Die Herren rissen auf Rafas Anweisung ihre Arme in die Höhe und posierten so für Fotos. Als das Stück zuende war und ich mich der Bühne näherte, winkte Sten mir zu, und Kappa winkte mich heran und fotografierte. Rafa kam nun ebenfalls herangelaufen. Vor mir auf der Bühne stehend, öffnete er seinen Hosenstall. Ich rannte weg. Rafa lachte schallend und ging ans DJ-Pult.
Sten machte mir Posen vor, und Kappa machte noch mehr Fotos. Ich bat Kappa, mich hochzuziehen. Kappa half mir auf die Bühne. Ich kniete mich auf den Couchtisch und sagte zu Sten:
"Das Leben schreibt die seltsamsten Geschichten."
Ich bat Kappa, Rafa zu fragen, ob er eben vorgehabt hatte, sich von der Bühne zu entleeren. Kappa fragte ihn, kam wieder zu mir und bestätigte das.
"Gut, daß ich eben weggelaufen bin!" freute ich mich.
Duncan kam an die Bühne heran, und ich bat ihn, auch heraufzukommen. Nun saß ich auf dem Sofa, rechts Duncan, links Sten. Sten erzählte von dem Video, das er neuerdings für Rafa dreht. Über "Out of Body Experience" aus dem Jahr 2003 sagte Sten, das Konzept hätten Rafa und er gemeinsam erarbeitet.
"Der Film ist so schön ehrlich", meinte ich. "Es wäre schön, wenn Rafa auf dieser Schiene weitergefahren wäre."
"Ja, die Vergangenheit."
Constri kam an die Bühne heran, und ich zog sie herauf. Sie ging zu Kappa, der vorm DJ-Pult stand.
"Kappa!" rief Rafa übers DJ-Pult hinweg. "Das ist Hettys Schwester, die macht Videokunst, die macht das voll super!"
Zu Constri gewandt, sagte Rafa:
"Das war voll super bei dem Festival in der 'Neuen Sachlichkeit'! Mach' unbedingt weiter!"
"Ich mach' auch weiter", sagte Constri freundlich.
Ungefähr so spielte es sich ab; Constri erzählte mir das später.
Als Constri zu dem Sofa kam, unterhielt sie sich mit Sten und Duncan über ihre VJane-Projekte.
Rafa spielte ein Stück, in dem immer wieder die Zeile "F... mich!" wiederholt wurde. Während des Stücks ging Rafa auf uns zu, stellte sich vor Sten, der noch immer im Sessel saß, und öffnete seinen Hosenstall. Constri und Duncan verfolgten die Szene interessiert. Als ich genauer nachschauen wollte, was sich so alles in Rafas Hose befand, verschloß Rafa seinen Hosenstall notdürftig, ging hinter den Sessel, legte die Arme um Sten und küßte ihn auf den Mund. Dann stellte er sich wieder vor Sten.
"Das ist er, wenn er besoffen ist", sagte ich und zeigte auf Rafa.
Rafa wandte sich wie eine sprungbereite Raubkatze mir zu.
"Und das ist er, wenn er gekokst hat", sagte er in einem lauten, aggressiven Tonfall.
Noch lauter werdend, setzte Rafa hinzu:
"Und das ist er, wenn er sich vor zwei Tagen die Haare geschnitten hat. Und das ist er, wenn Hetty ihm egal ist."
Er marschierte wieder ans DJ-Pult.
"Rafa knutscht mich immer im 'Mute' ab", erzählte Sten.
"Er knutscht auch Kappa ab", wußte ich.
Duncan berichtete, Rafa habe vorhin oben in der Raucher-Lounge die Hose vollständig heruntergelassen. Rafas Schlüpfer soll ähnlich gemustert sein wie sein Hemd, mit vielen Totenschädeln darauf.
Rafa kasperte viel hinterm DJ-Pult herum, aufgedreht und albern. Mit Sten inszenierte er vor dem DJ-Pult bizarre Tänze. Wenn mir eines der Stücke gefiel, tanzte ich ebenfalls. Zu dem Clubhit "Straftanz" von Straftanz vollführten Sten und ich eine Art Pas des deux. Einmal geriet Rafa bei seinem Herumgehüpfe neben mich, so daß wir vorn auf der Bühne nebeneinander tanzten und posierten, wobei Rafa freilich mehr posierte als tanzte. Seine Posen bestanden meist im Hochreißen und Ausbreiten der Arme.
Einmal, als "Take on me" von A-ha lief, sprang Rafa hinunter auf die Tanzfläche zu dem drallen Mädchen mit dem schwarzweiß karierten Rock; er schien sie sich warmhalten zu wollen.
Im "Mute" traf ich sehr viele Leute. Jemand namens Gwendal sprach mich an, der sich an mich erinnerte. Er erzählte, daß er in Rußland als Küchenchef arbeitet. Er habe eine Anzeige gefunden und sich darauf beworben. Ich meinte, das sei ganz schön mutig. Gwendal erzählte, daß nur etwa 1300 Deutsche in Rußland leben und daß man es als Ausländer in Rußland nicht eben leicht habe. Übrigens sei die gesamte Berichterstattung über Rußland gefiltert, es würden nur die positiven Bilder gezeigt, negative lasse man nicht durch. Die gesamte Politik in Rußland sei korrupt. Freie Wahlen gebe es höchstens auf dem Papier. Die Ergebnisse seien alle manipuliert, der Sieger stehe schon vorher fest.
Als ich oben zum Bad ging, stand Rafa mit Sten und dem drallen Mädchen im Flur. Als ich aus dem Bad kam, war der Flur leer. Ich warf einen Blick in die Raucher-Lounge, deren Tür offenstand, und sah dort Rafa und Sten.
Unten im Tanzsaal sprach mich eine kleine Blondine an und erkundigte sich, wer der schlanke Mensch im Anzug sei, der sich heute viel auf der Bühne aufgehalten habe.
"Das ist Sten", wußte ich.
"Ach - wirklich!" freute sich die Blondine. "Ich dachte schon immer: 'Ist er's?' Ich war nämlich früher seine Nachbarin!"
"Weißt du was? Ich kann dich zu ihm führen, ich weiß, wo er ist."
Mit der Blondine ging ich hinauf zur Raucher-Lounge. Kappa stand im hinteren Teil mit Rafa und zwei anderen Herren, und er zeigte mir, wo ich Sten finden konnte, nämlich rechterhand an dem geschwungenen Tresen.
"Sten, ich bringe dir deine Nachbarin", sagte ich zu ihm und zeigte ihm die Blondine.
Sie heißt Vicky. Vor über zehn Jahren lernten Sten und sie sich kennen. Nun konnten sie in Erinnerungen schwelgen. Vicky erzählte, daß sie mit ihrem früheren Freund, einem SAP-Berater - den Sten nicht leiden konnte -, neun Jahre lang zusammen war. Inzwischen hat sie ein Kind von einem anderen Mann.
Links von uns, am Ende des Tresens, stand das dralle Mädchen mit dem schwarzweiß karierten Rock. Rafa ging an mir vorbei, nicht ohne mich versehentlich zu streifen, und stellte sich zu dem Mädchen. Er plauderte mit ihr, trank mit ihr und erzählte; er nannte mehrere Namen hintereinander, auch meinen. Sein Tonfall klang so, als würde er ihr von den Leuten erzählen, die schon viele Jahre Teil der Wave-Elektro-Szene in H. sind.
Etwas später ging Rafa wieder an mir vorbei, streifte mich noch mehr, sagte "Oops" und stellte sich zu Kappa und den anderen Herren an den Stehtisch, wo er vorher schon gestanden hatte. "Ritual Noise" von Covenant lief, und ich tanzte dazu in dem Flürchen zwischen dem Tresen und dem Stehtisch.
Als ich danach wieder bei Sten und Vicky stand, stellte Rafa sich zu uns, dicht neben mich. Sten erzählte ihm, daß er in Vicky seine frühere Nachbarin wiedergetroffen hatte. Er sagte ihm auch, daß Vicky ein Kind hat.
"Wo hast du das her?" fragte Rafa.
"Aus meinem Bauch", antwortete Vicky.
"Na, ich kann ja nicht sagen, ich war eben auf dem Klo und hatte eine Sturzgeburt", wandte Rafa ein.
Ihn interessierte vielmehr, in welchen zarten Banden Vicky sich befand.
"Wer bist du?" fragte Vicky.
"Ich bin ... der, der ich bin", antwortete Rafa. "Ich bin hier, um dir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern."
Vicky verdrehte die Augen, und ich tauschte Blicke mit ihr aus.
"Man muß das Leben genießen, die Zeit rast!" mahnte Rafa.
Er bat Vicky, ihm ihr Gesicht zuzuwenden; er dirigierte sie und meinte schließlich:
"Ja, langsam ist hier das Lächeln zu sehen ... es wird schon noch ... also: ich sehe, du hast blonde Haare und wunderschöne Augen ..."
Ich machte mit der Hand die Geste für "blabla". Vicky sah das, und Rafa merkte, daß sie etwas sah, drehte sich um und sah es auch. Er blickte strafend. Er war bei seinen Annäherungsversuchen aus dem Takt gekommen und machte sich davon.
"Der gräbt alle an", sagte ich zu Vicky. "Es war klar, daß er dich auch angräbt."
Das allein am Tresen wartende dralle Mädchen mit dem karierten Rock entfernte sich. Etwas später tauchte Rafa wieder auf, nun mit einer schwarzen Jacke über seinem Hemd, mit Stehkragen und lackierten Druckknöpfen. Geschäftig näherte er sich Sten, Vicky und mir.
"Wo ist sie?" fragte Rafa und blickte sich suchend nach dem drallen jungen Mädchen um.
"Die ist weggelaufen", gab ich Antwort. "Die will dich nicht mehr sehen. Dich wollen doch alle Frauen irgendwann nicht mehr sehen."
"Warum lügst du?" fragte Rafa anklagend.
"Du lügst auch", gab ich zurück. "Da kann ich ja mal ein bißchen mitlügen."
"Ich lüge?" fragte Rafa in zunehmend aggressivem Tonfall. "Lüge ich?"
"Du lügst öfters mal."
"Ich lüge?" fragte Rafa noch aggressiver.
Sten strich ihm über die Wange und sagte:
"Wir lieben dich dafür!"
"Also, ich lüge?"
"Rafa, wir lieben dich dafür", wiederholte Sten sanft.
"Ja, das macht dich sympathisch", haute ich in dieselbe Kerbe.
"Hast du Freunde?" fragte Rafa mich.
"Hast du Freunde?" fragte ich zurück.
"Ja, ihn hier", antwortete Rafa und zeigte auf Sten.
"Das ist aber schön für dich", meinte ich.
"Liebt dich jemand?" fragte Rafa.
"Er kann sich selbst nicht leiden", sagte ich zu Sten und zeigte auf Rafa. "Das ist sein Problem."
"Liebt dich jemand?" fragte Rafa mich erneut.
"Ich liebe mich selber", entgegnete ich. "Das ist mir am wichtigsten."
"Und liebt dich jemand?"
"Ich glaube schon."
"Ach - du glaubst."
"Ja, und das reicht mir auch."
"Echt, ich frage mich, warum hast du das nötig, immer diese Sch... zu labern?"
"Und ich frage mich, warum hast du das nötig, immer achtzehnjährige Mädchen abzuschleppen?"
"Besser als achtzigjährige Frauen, die stehen auf dich nämlich."
Rafa suchte das Weite.
"Du poppst doch nur achtzehnjährige Mädchen, damit du dich selber nicht so alt fühlst!" rief ich ihm nach.
"Er sucht sich immer knapp volljährige Mädchen aus und legt die herein", sagte ich zu Sten und Vicky.
"Dazu gehören doch eigentlich zwei", meinte Sten.
"Ja, einer, der hereinlegt, und einer, der sich hereinlegen läßt", bestätigte ich. "Diese jungen Mädchen haben zu wenig Lebenserfahrung, um Rafa zu durchschauen, und das nutzt er aus. Er ist mit allen Wassern gewaschen, er kennt alle Tricks. Die Mädchen können gar nicht anders, als auf ihn hereinzufallen."
Der Clubhit "Straftanz" lief noch einmal, und ich tanzte auf der Tanzfläche dazu. Dann ging ich mit Constri am Tresen Kaffee trinken. Uns gegenüber stand Rafa mit Gavins ehemaliger Freundin an einem anderen Tresen. Das dralle Mädchen mit dem schwarzweiß karierten Rock stand kurz dabei und ging dann weiter.
Rafa ging schließlich nach draußen. Mavie und ihr Mann begegneten Constri und mir, und wir unterhielten uns mit ihnen.
Als Constri und ich das Gebäude verließen und uns auf den Heimweg machten, stand Rafa allein unter den Arkaden und rauchte.
"Du mußt noch eine Achtzehnjährige abschleppen", sagte ich halblaut im Vorbeigehen zu ihm. "Such' dir mal schnell eine."
Constri meinte später zu den Ereignissen auf der Bühne im "Mute", da sei ja mächtig Action gewesen. Es habe wie ein modernes Theaterstück gewirkt. Auch aus der Zuschauerperspektive sei man gut unterhalten worden. Sie war nicht die ganze Zeit auf der Bühne gewesen, sondern hatte einiges von unten beobachtet. Lustig fand sie, wie ich vor Rafa davonlief, als er am Rand der Bühne seinen Hosenstall öffnete. Lustig fand sie auch die Tanzeinlagen von Sten, Rafa und mir.
Eben denke ich an Zod und seine lauernden Fragen, warum ich alleine sei und dergleichen. Diese Fragen waren Rafas Fragen im "Mute" auffallend ähnlich. Das gibt mir einen weiteren Hinweis darauf, daß die Fragerei von Zod in der "Spieluhr" mit Rafa zu tun hatte, vielleicht auch von Rafa an Zod delegiert wurde, bis Rafa im "Mute" schließlich selbst derartige Fragen stellte.

.
.