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Am Samstag fuhren wir wie gewohnt ins "Elizium". Ich ging zur Tanzfläche. Ich sah mich nicht um und suchte niemanden.
Wie ich mich gerade neben Constri und Merle gestellt habe, schiebt jemand von hinten sein Bein zwischen meine und berührt mit dem Schuh vorsichtig meine Ferse. Ich drehe mich um, und da steht Rafa und schweigt mich an. Ich stemme meine Hände in die Hüften und mustere ihn von oben bis unten.
"Kann es sein", frage ich ihn, "daß du von den Menschen, die du betrügst, am meisten dich selbst betrügst? Irre ich mich da, oder kann das sein?"
"Nein."
"Ach ... und wenn das jetzt gelogen ist?"
"Dann wäre deine Behauptung ... richtig."
"Ah, ja."
"Und weißt du, was ich davon halte?" fragt Rafa.
"Ja, was?"
"Das ist voll-kom-me-ner Blödsinn."
Wieder einmal ist etwas Blödsinn ... das Wort "Blödsinn" hat Rafa wohl besonders gerne. Ich sehe ihm ins Gesicht und lache ihn aus. Dann frage ich weiter:
"Ist man denn glücklich in der neuen Zweisamkeit?"
"Glücklich nicht. Sicher."
"Aha - weil sie mit dir ins Bett geht."
"Wer?"
"Na, deine neue ..."
Rafa schüttelt den Kopf.
"Doch, doch, doch", sage ich.
"He, jetzt darf ich auch eine Frage stellen, ja?" verlangt Rafa und beugt sich zu mir.
"Ja, bitte."
"Wann - kommt - der - Tag, an dem es möglich ist, sich mit dir normal zu unterhalten?"
"Wenn du dazu bereit bist", erkläre ich. "Es hängt nur von dir ab."
"Nein, von dir", schickt Rafa mir trotzig herüber, als er zwei Schritte weitergeht, um sich anderen Leuten zuzuwenden.
"Den hätt' ich eben schon wieder ins Gesicht treten können", sagt Talis und weist auf Rafa. "Die Tanzfläche gehört ja ihm. Er rennt hin, an mir vorbei - ich stehe da mit meinem Bier in der Hand - und er guckt nicht rechts und nicht links - und mein Bier - supp' ..."
Als ich zwischen Derek und Talis sitze, kommt Constri an und erzählt:
"Das ist so voll peinlich. Rafa steht da und singt sein eigenes Lied mit. Das ist so peinlich."
Als ich nachsehe, singt er nicht mehr. Ich setze mich wieder.
"Rafa sonnt sich in seiner nicht vorhandenen Popularität", sage ich zu Derek. "Nur seine Leute tanzen. - Ich meine, ich habe mir diese Freundin nicht ausgesucht. Ich bin es nicht, die unter Geschmacksverirrung leidet. Ich muß nicht mit dieser Zicke ins Bett gehen. Ich tu' mir das nicht an."
"Sie wirkt so ..."
"... billig. Schön ist sie nicht."
"Nein!" ruft Derek.
"Persönlichkeit hat sie nicht."
"Nein!"
"Ausstrahlung hat sie nicht."
"Oh, nein!"
"Sie bietet nur - schnell Bumsen", meine ich. "Sie hat etwas von einer Nutte."
"Ja."
"Das ist so eine, die paßt in jede Peepshow."
"Ja."
Laut Rikka soll die Sängerin schon ins "Elizium" gegangen sein, als ich Rafa noch gar nicht kannte.
"Ich fand die immer so verschlampt", erzählte Rikka. "Irgendwie sah die gammlig aus."
Ortfried tanzt zu einem Stück von Rafa. Zu dem nächsten Stück tanze ich, und Ortfried beginnt, sich am Rand der Tanzfläche mit Rafa zu unterhalten. Rafa trägt eine Plastiktüte mit CD's, die er verkaufen will. Mir bietet er keine an. Das finde ich auch besser so.
Ortfried zieht doch tatsächlich einen Zettel hervor und schreibt, an die Säule gestützt, seine Nummer auf ... und gibt Rafa den Zettel. Ich kichere los. Als das Lied zuende ist, geselle ich mich zu den beiden. Ortfried stellt mich ahnungslos Rafa vor. Rafa und ich sehen uns mit großen Augen an und lachen.
"Die heißt Hetty", sagt Ortfried.
"Ah - ach, so", sagt Rafa. "Hetty."
Ortfried preist mich und wirbt für mich, wie er es sonst im Kaufhaus mit Teppichen macht. Bei der lauten Musik kann ich nicht alles verstehen, was er sagt.
"Bist du im Angebot?" fragt Rafa mich schließlich.
"Quatsch", winke ich ab. "Der spinnt."
Dann ermahne ich Ortfried:
"Erzähl' ihm nicht soviel Sch... über mich!"
Da ist Rafa auch schon wieder weg.
"Den mußt du kennenlernen", sagt Ortfried über Rafa. "Das ist ein netter Kerl."
"Wie willst du das arrangieren?" möchte ich wissen.
"Wir könnten uns mal alle bei dir treffen."
"Das mach' mal", bitte ich. "Aber mach' du das."
"Klar."
Ortfried spricht andauernd Leute an. Diesmal war es jedoch nicht Ortfried, der Rafa angesprochen hat. Rafa hat Ortfried angesprochen, um zu erfahren, wie er sein Stück findet.
"Awful Day" von Neon Judgement wird gespielt, und ich tanze. Rafa möchte fort. Er scheint zu überlegen, wie er es wohl anstellen könnte, sich von mir zu verabschieden, ohne aus seiner Rolle zu fallen. Er löst diese Aufgabe derart, daß er zunächst noch einmal um die Tanzfläche herumgeht und sich von mehreren anderen Leuten verabschiedet. Dann geht er langsam an mir vorbei. Von hinten greift er mit seiner Rechten nach meiner rechten Schulter und legt seine rechte Wange an meine. Er bleibt reglos in dieser Haltung stehen. Als ich schließlich denke: "Was ist nun?", sagt er:
"Tschüß."
"Tschüß."
Seine Hand gleitet an meinem Arm hinab, und seine gekrümmten Finger schiebt er unter meine gekrümmten Finger und drückt so meine Hand. Ich erwidere den Druck.
"Einfälle hat er, das muß ich ihm lassen", denke ich.
Ich will Rafa einen warnenden Blick zuwerfen; er ahnt das wohl und eilt davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er hat sich ordentlich rasiert.
Als Derek frühmorgens heimfährt, grüßt er mit einem Victory-Zeichen. Ich winke von der Tanzfläche zu ihm herüber.
Ich finde, daß ich zu hoffnungsvoll bin. Das Gefühl in mir ist allzu süß, allzu weich und allzu lockend. Es kann nicht mit rechten Dingen zugehen.
Ich nahm Ortfried mit ins "Trauma". Er ließ es zu, daß der Sockenschuß sich neben ihn setzte. Als ich das sah, packte ich Ortfried am Ärmel und zog ihn weg.
"Was fällt dir ein, neben dem Sockenschuß zu sitzen?" fragte ich ihn und drohte mit dem Finger.
"Der ist ferdich, der Sockenschuß", sagte Ortfried.
Ortfried hat mit fast allen Lebewesen Mitleid, selbst wenn diese seine Gefährten verfolgen und angreifen. Er redet auch mit nahezu jedem, der ihm über den Weg läuft, und er erzählt dann sehr viel Wahres und Unwahres. Er begreift anscheinend nicht, daß seine Offenheit beim Sockenschuß einen neuen Anfall von Wahnsinn auslösen kann.
Ende Mai war ich im Traum mit mehreren Leuten unterwegs. Auch Henk kam dazu. Ich begrüßte ihn freudig.
"Ich kenne einen Mann", erzählte ich, "allerdings ... er ist zwar nicht schwul ... ich muß dir das noch genauer ... nachher ... Er und du, ihr habt Ähnlichkeiten. Ihr habt beide runde, kräftige Schultern und ein stumpfes Profil. Er hat dunkle Haare, ganz dunkle."
Ich sonderte mich mit Henk ab. Er hatte seine kastanienroten Haare blondiert, wie er es seit Jahren tut. Er trug verwaschenes Schwarz - die gleichen Sachen, die Rafa angehabt hatte, als ich mit ihm auf der Drahtbank saß. Henk und ich holten uns an einer Schulbar ein Colaersatzgetränk. Dann gingen wir in den Sonnenschein hinaus. Henk hüpfte fröhlich-verspielt vor einem Wasserbecken herum und tat, als wolle er hineinspringen. Das Becken war umgeben von Betonplatten, die die Sonne erwärmte. Henk legte sich auf den Rücken, und ich legte mich auf ihn. Während ich ihm in allen Einzelheiten erzählte, was ich mit Rafa gern tun würde, tat ich es mit Henk. Es gefiel ihm sichtlich. Er hatte sein Vergnügen daran. Er lächelte, und das war bald nicht mehr das Lächeln, das mir von Henk vertraut ist - das trotzige, verführerische Lächeln -, sondern es verwandelte sich mehr und mehr in das lauernde, verwunderte, gierige Lächeln von Rafa. Auch sein Körper fühlte sich immer mehr so an wie Rafas Körper, so daß ich mir bald nicht mehr sicher sein konnte, wen ich eigentlich ...
Man kann sagen, daß Henk von Rafa abgelöst worden ist. Mich beruhigt dieser Traum. Als ich in Henk verliebt war, fragte ich mich, wohin diese Gefühle gehen würden, wenn ich den Mann gefunden hatte, den ich suchte. Ich weiß jetzt, wohin sie gegangen sind. Sie sind aufgenommen worden von Rafa.
Meinem innigen Verhältnis zu Henk könnte das keinen Abbruch tun. Übrig bleibt letztlich das, was eigentlich ohnehin für ihn bestimmt war - freundschaftliche Verbundenheit.
Henk ist ein unstetes Geschöpf, zu unstet, als daß er geregelte Verhältnisse und einen geregelten Freundeskreis haben könnte. Dies ist es vor allem, was es mir nicht erlaubt, mit ihm eine so gefestigte, verläßliche Freundschaft aufzubauen wie mit Carl.
Es wird behauptet, es gebe keine Träume, in denen man die Zukunft sehen kann. Ich hatte aber schon welche! Dazu gehört der Traum von der Parfümerie, in dem ich besonders viele Einzelheiten vorausgesehen habe. Ich erinnere mich auch an einen Traum, der sehr deutlich anzeigte, was auf mich zukam, als ich Henk kennenlernte.
Ende 1985, kurz nachdem mir Henk zum ersten Mal begegnet war, wurde mir durch einen Traum bewußt, daß ich mich in ihn verliebt hatte. In dem Traum geschah Folgendes:
Ich war Henks ungeladener Gast in einer großen Altbauwohnung. Die Wohnung gehörte ihm nicht allein; er lebte bei seiner Mutter. Henk gab eine Feier, die schon bei Tageslicht anfing. Er hatte viele Gäste, die alle bieder gekleidet waren. Die Gäste unterhielten sich über poppig-moderne, fotoähnliche Kunstwerke, die an den Wänden hingen. Ich wußte nicht, mit wem ich sprechen sollte.
In der Mitte von Henks Zimmer stand ein großer Tisch. Es gab Kalten Hund, einen Kekskuchen. Er war hausgemacht, und er schmeckte mir. Da er etwas krümelte, nahm ich mir einen Teller.
Henk verhielt sich wie ein routinierter Gastgeber. Er begrüßte jeden und fragte jeden, was er trinken wollte. Nur mich nahm er nicht wahr. Als ich mich in den Eingang stellte, ihm also fast den Weg verbaute, ging er an mir vorbei, wieder ohne daß ich ihm aufgefallen wäre. Ich verließ die Gesellschaft.
In Henks Leben war ich wirklich ein ungebetener Gast. Er hatte mich nicht eingeladen, an seinem Leben teilzunehmen. Zu seiner Geburtstagsfeier am 15.05.1986 lud er mich allerdings ein. Er wohnte erst seit März in einer großen Altbauwohnung - zur Untermiete. Vorher hatte er bei seiner Mutter gelebt. Er besaß ein Filmplakat, das Andy Warhol zu dem Film "Querelle" gestaltet hatte. Die Feier begann bei Tageslicht. Die Gäste waren Henks biedere Mitarbeiter aus dem Friseursalon. Mitten in einem von Henks Zimmern stand ein großer Tisch. Es gab Marmorkuchen, den Henk gebacken hatte. Er schmeckte mir. Als ich mir wegen der Krümel einen Teller nahm, ärgerte das Henk. Es versöhnte ihn auch nicht, als ich ihm sagte, der Kuchen in den Traum hätte ebenfalls gekrümelt und mir trotzdem ausgezeichnet geschmeckt. Henk war ein sehr aufmerksamer Gastgeber. Er war auch zu mir sehr aufmerksam, und ich unterhielt mich gut mit seinen Gästen. In Henks Leben allerdings gewann ich nie die erhoffte Bedeutung. So ging ich schließlich aus seinem Leben.
In keinem Traum gelang es mir, Henk zu gewinnen. Er entzog sich mir immer, und ich suchte ihn vergebens.
Weshalb darf ich Rafa in meinen Träumen küssen und streicheln? Weshalb legt er sich mir zu Füßen? Weshalb habe ich in den Träumen eine so ungeheure Macht über ihn?
Ich habe ihn doch nicht gewonnen. Es ist zuende mit ihm, ohne je angefangen zu haben.
Es kommt noch so weit, daß ich an meinen Träumen zweifle.
"Was it love or just a dream?"
"A Dream" heißt das Stück von Girls under Glass, aus dem diese Zeile stammt. Ich denke, der Titel ist auch die Antwort auf die Frage.
Ich will mich nicht von falschen Hoffnungen blenden lassen. Ich will wahrnehmen, ich will fassen, daß es vorbei ist. Noch sagt mein Unterbewußtsein mir das nicht. Will es mich schonen? Soll ein falscher Glaube besser für mich sein als gar keiner? Ich will mein Unterbewußtsein bitten, zu reden. Ich erreiche es nur nicht.
Anfang Juni sah ich im Traum einen weißen Regalschrank, der war voll mit liegenden Kerzen. Ganz unten wurde eine rote Kerze dazugelegt, die aber nur noch zur Hälfte hineinging. Das ist wohl meine Stellung bei Rafa. Ich bin überzählig. In ihm ist für mich kein Raum.
Ich wollte dann eine weiße Kerze anzünden. Ich trug aber eine rote in der Hand, die war viel länger als die weiße, die ich besorgt hatte.
"Die habe ich nicht gekauft", sagte ich zu Rafa. "Wo ist die her?"
Er zog mich gierig an sich. Ich zog ihn gierig an mich. Ich fand die weiße Kerze wieder und suchte nach einem Platz, wo ich die rote ablegen konnte. Ich hatte keinen Raum für die rote Kerze von Rafa.
Wer hat denn nun für wen keinen Raum? Ich verstehe das alles nicht.
Im nächsten Traum stand ich in einem Hagel von Pflastersteinen - Beton, 10 x 10 x 6 cm -, und kein einziger traf mich. Zuerst war ich mir der Gefahr gar nicht bewußt; dann fühlte ich, daß mir die Steine nichts tun konnten. Ich blieb stehen, wo ich war, und kein Stein traf mich.
In Rafa ist für mich kein Raum. Bleibt das auch so? Gilt das für immer? Ich bleibe stehen, wo ich stehe und tue nichts.
Zu Constris Geburtstagsparty kam Valeria nicht. Till kam und unsere anderen Leute auch. Es herrschte eine gelöste Stimmung ohne Feindseligkeiten. Ich war krank und konnte nichts trinken außer schwarzem Tee mit Traubenzucker. Es gab eine Toilettenpapierschlacht, die ich filmte. Wir hatten die Räume bläulichweiß verziert und im Flur und in der Eßecke Schwarzlichtbirnen eingeschraubt. Die Birnen haben wir seitdem nicht mehr durch gewöhnliche ersetzt.
Ortfried wunderte sich nicht wenig, als er erfuhr, was zwischen Rafa und mir schon alles abgelaufen ist. Er hat nicht erkannt, daß Rafas Bild bei mir an der Wand hängt.
Am Abend nach der Feier meldete sich Telgart. Fast ein Jahr lang hatte er nicht angerufen. Er berichtete von einer erstaunlichen Entwicklung.
Als Kind sei er immer ein Außenseiter gewesen, erzählte Telgart. Von seinen Mitmenschen sei er oft verletzt und enttäuscht worden. Da habe er sich unangreifbar machen wollen und sich hinter einer Maske aus Arroganz versteckt.
"Du hast niemanden richtig an dich herangelassen?" forschte ich, hellhörig geworden.
"Ja", sagte Telgart.
"Du hast Nähe gemieden und gefürchtet?" fragte ich weiter.
"Ja."
"Du hast vermeiden wollen, zu viel für jemanden zu empfinden und durch die Bindung an ihn in Abhängigkeit zu geraten?"
"Ja."
Telgart hat ein ausgeprägtes Fluchtverhalten gezeigt. Niemand sollte ihn "packen" können an seinen Schwachstellen. Niemand sollte seine Unsicherheit erkennen.
"Mit den Frauen habe ich ein böses Spiel getrieben", gestand Telgart. "Sie waren für mich nur Mittel zum Zweck. Sie haben nur dazu gedient, mein Selbstwertgefühl zu heben. Es war ein kurzdauerndes Hochgefühl, sie zu enttäuschen. Ich habe mich treiben lassen und ohne Ziel gelebt."
"Du hast dich treiben lassen wie ein Schaf in der Herde?" fragte ich.
"Ja."
"Das ist hochinteressant", bemerkte ich. "Dein Syndrom gibt es nämlich häufiger."
"Ich bin irgendwann an einem toten Punkt angelangt. Ich habe mich vollends um nichts mehr bemüht und tagelang nur gekifft. Ich nehme an, daß ich mir in dieser Zeit unbewußt Leute gesucht habe, die eine ähnliche Vergangenheit und Gegenwart hatten wie ich. Wir haben über vieles gesprochen, nur über uns selbst nicht."
Das man mit Telgart über vieles reden konnte, nur nicht über Persönliches, ist mir schon vor drei Jahren aufgefallen. Ich teilte ihm das mit.
"Ich habe dafür zwei mögliche Gründe gesehen", erzählte ich. "Entweder war das Bedürfnis nach persönlichen Gesprächen bei dir nicht vorhanden - oder es war zugedeckt."
"Unter einer Maske verborgen", erklärte Telgart.
Es war letztes Jahr zu Weihnachten. Da sprachen Telgart und seine Freunde den Drogen mehr zu als gewöhnlich, und das löste ihnen die Zungen. Sie redeten zum ersten Mal über sich selbst.
"Und - anstatt daß uns das peinlich war und wir es bereuten, fühlten wir uns erleichtert und erfüllt", sagte Telgart. "Von da an haben wir das immer wieder gemacht."
Die Drogen sieht Telgart als Auslöser für einen Umschwung, dessen Eintritt eine Frage der Zeit war. Telgart möchte die Bedeutung der Drogen nicht überbewerten.
"Ich habe mich hinter einer Fassade aus Gefühllosigkeit versteckt", meinte er.
Und die bröckelte ...
"Ich habe 1990 oft und lange mit dir telefoniert", erzählte ich, "und ich habe dich gefragt, ob du irgendeine Sehnsucht fühltest oder irgendetwas suchtest - nein. Dies ist für mich ein Zeichen für den fehlenden Wunsch nach Weiterentwicklung."
"Den hatte ich damals auch nicht."
"Ich habe mir zum Leitsatz gemacht: Wenn einer nie in seinem Leben gelitten hat und nichts entbehrt, dann ist er wenig empfindlich und damit auch wenig empfindsam - also gefühlsarm. Ob du gelitten hast oder nicht, konnte ich damals nicht herausfinden. Ich bin schließlich davon ausgegangen, daß das, was du nicht zeigtest, auch nicht in dir sei. Daß da tatsächlich ein Weg herausführte, hatte ich nicht für möglich gehalten."
Anfang dieses Jahres lernte Telgart seine Freundin Saia kennen.
"Hätte ich sie letzten Sommer kennengelernt, es hätte wohl nichts daraus werden können", glaubt er.
Nie zuvor sei er so verliebt gewesen.
"Bisher habe ich immer nach Frauen gesucht, mit denen ich's machen konnte - mit denen ich mein Spiel spielen konnte."
Spiel? Ich kenne da noch so einen Spieler ... der die Frauen als Mittel zum Zweck betrachtet und mit ihnen herumwirft wie mit Gegenständen ...
"Saia fordert mich", meinte Telgart.
Fordern ... das habe ich auch schon irgendwo gehört.
"Du mußt an eurer Beziehung arbeiten", sagte ich. "Und das hattest du bisher nie getan - dich auf jemanden zugearbeitet."
"Richtig. Jetzt bin ich bereit dafür."
Treu sind Saia und Telgart sich freilich nicht. Das haben sie abgesprochen.
"Allerdings hatte ich einen schweren Einbruch, als ich Saia mit einem anderen habe 'rummachen sehen", gab Telgart zu. "Ich bin verletzt gewesen."
"Ich sage immer - das ist meine Haltung -, wenn man sich für einen Menschen entscheidet, dann entscheidet man sich für einen Menschen. Dann kann man nebenbei keinen haben."
Ich denke, die zur Schau getragene "Offenheit" der Beziehung von Saia und Telgart ist wirklich nur eine Schau.
"Ich hoffe, du hast noch Bewegungsfreiheit, was deine freundschaftlichen Beziehungen angeht", sagte ich. "Bei uns war es immer so schön eindeutig."
"Ja? War es das wirklich?"
"Ja. Das war es. Und weil es so eindeutig war, konnte Geborgenheit entstehen. Du weißt - ich verliebe mich nur ganz selten, und dann ist es auch irrsinnig. Sonst sind immer die Grenzen klar. Ich hoffe, Saia versteht das."
"Die versteht das."
Telgart kann mit Saia tiefgehende Gespräche führen, und er möchte nichts mehr, das weniger tiefgehend ist.
"Ich habe auch geheult - und mich danach richtig wohlgefühlt", erzählte er.
"Sicher", meinte ich, "es befreit und stärkt die Abwehr."
Das "Ist mir alles egal"-Verhalten von Telgart, das mit der "Was kümmert's mich?"-Seite von Rafa vergleichbar ist, beruhte nicht auf echter Gefühlsarmut und auch nicht auf echter Lust am Quälen. Es beruhte auf Unsicherheit, Verletztheit und Enttäuschung.
"Ich wollte unnahbar wirken", sagte Telgart.
"Ich bin unnahbar", hat Rafa gesagt.
Er hat die Entwicklung noch nicht durchgemacht, die bei Telgart abgelaufen ist.
Es gehört Stärke dazu, Gefühle anzunehmen, weil man mit ihnen auch Leid annimmt.
Die "Sexzesse" von Telgart sollen meistens im Suff stattgefunden haben. Auch Rafa säuft gern, wenn er sündigt.
Als ich Telgart darauf ansprach, daß aufgrund seiner Launenhaftigkeit und Gedankenlosigkeit schon etliche Leichen am Rand seines Lebensweges liegen müßten, meinte er:
"Bei mir geht halt alles nur über steinige Umwege."
"Steinige?"
"Steinige."
Auch Rafa wählt angeblich nur steinige, ja, nur die steinigsten Wege. Ich frage mich, was er an seinem Dasein als so unangenehm empfindet. Sicher - es wäre mir zuwider, ein Leben wie seins zu führen. Zwingt sich Rafa zu solch einem Leben? Zwingt er sich dazu, um sich seine Gefühllosigkeit zu beweisen, seine eingebildete Freiheit von Empfindungen und der damit verbundenen Abhängigkeit?
Telgart und ich unterhielten uns lange. Wir sprachen auch über vorausdeutende Träume und das Unbewußte im Handeln eines Menschen.
"Was es damit auf sich hat, will ich von dir wissen", bat Telgart.
"Ich denke, es gibt zwei Kräfte", meinte ich, "die unbewußte Kraft der Suggestion, mit der man Menschen unwissentlich und unwillentlich beeinflußt - und dann eine Kraft zwischen Himmel und Erde, die für uns nicht erklärbar ist. Ich habe schon meine Erfahrungen damit."
Telgart will mich besuchen.
"Dann kann ich ja mal sehen, wie es inzwischen um deine Zuverlässigkeit bestellt ist", sagte ich.
Um null Uhr meldete sich Derek. Er hatte recht gute Laune. Er sagte, ohne Freundin fühle er sich so richtig frei. Er hat sich nach einem Vierteljahr von der sechzehnjährigen Iana getrennt.
"Iana dachte eben, mit ihrem Körper kriegt sie alles", erzählte Derek.
"Ohne eine Liebe, die gewachsen ist, ist das im Bett wohl recht unbefriedigend, nehme ich an."
"Geenau", kam es von Derek.
"So recht dürftig, so recht fade, so recht kalt."
"Geenau."
"Das bringt nichts, kalter Sex."
"Das ist, was Rafa immer will."
"Das ist es", stimmte ich zu. "Der erlebt das als Rausch. Der muß die Frauen immer wechseln. Der ist süchtig danach. Der versucht, sein Selbstwertgefühl damit zu heben."
Telgart kam tatsächlich, am nächsten Abend, um neun Uhr, wie besprochen.
Wir saßen mit Carl und Constri am Tisch. Telgart erzählte, daß sein Leben mehr oder weniger eine Flucht sei, eine große Flucht.
"Und meins ist eine große Suche", sagte ich.
Rafas Leben sieht - wie das von Telgart - nach einer einzigen, sorgsam inszenierten Flucht aus.
"So suche ich als Suchende den Fliehenden, und Rafa flieht als Fliehender die Suchende", sagte ich zu Constri, als Telgart fort war, um eine Techno-CD zu holen. "Das hat eine geradezu ästhetische Geometrie. Ich glaube, ich empfinde den Fliehenden als einen Teil von mir, weil ich nach einem Teil von mir suche, der flieht. Ich fühle mich Rafa nahe, weil ich in ihm mich sehe. Ich sehe in ihm ein Schatten-Ich."
Vielleicht flieht Rafa einen Teil von sich, der sucht. Vielleicht sieht Rafa auch sich in mir. Vielleicht erinnere ich ihn an etwas in ihm selbst, das er verdrängen möchte.
Die ganze Nacht hindurch, vom Dunkelwerden bis zum Hellwerden, haben Telgart und ich Technostücke aufgenommen. Wir ließen die Jalousien offen, und das natürliche Licht vermischte sich mit dem blauen von der Decke. Als Carl und Constri sich zurückgezogen hatten, erreichten unsere Gespräche die von mir erhoffte Tiefe.
Telgart genießt die Erfahrung, beziehungsfähig zu sein. Er will in seinem Leben noch mehr Bindungen eingehen.
"Ich habe immer nur nach einem gesucht", sagte ich. "Ich erkenne ihn daran, wie sich seine Nähe anfühlt. Es ist einfach nur das Gefühl. Wenn das da ist, habe ich ihn gefunden."
Ich erzählte Telgart, wie die Beziehung aufgebaut ist, die ich suche.
"Wir tragen untereinander unseren inneren Kampf aus. Einer flieht, der andere holt ihn ein. Der Fliehende läßt sich einholen. Er geht sich selber in die Falle. Er steuert sich unbewußt absichtlich in eine Sackgasse. Wir haben hier genau das, was du vorhin angesprochen hast: er macht seine Lage künstlich unerträglich, so wie du letztes Jahr deine Lage künstlich unerträglich gemacht hast, damit sich etwas ändern mußte. Das ist eine Beziehung, wie ich sie suche: wir kämpfen uns aufeinander zu", sagte ich schwärmerisch. "Man kämpft um den anderen und damit um sich selber. Man lernt sich selbst lieben."
"Hast du das schon mal geträumt?" fragte Telgart.
"In Ansätzen erlebt", antwortete ich. "Ich hatte diese Form der Beziehung lange vorher schon entwickelt. Ich habe vor über zwanzig Jahren Szenen entwickelt, in denen solche geometrisch-dualen Begegnungen ablaufen - wo ich auf mein Negativ, auf mein Gegenstück treffe."
"Du hörst sehr auf deine Träume, nicht?"
"Sie sagen mir, was ich wissen muß."
"Das ist das Ding bei mir mit den Träumen. Durch das Kiffen erinnere ich mich nie an sie. Wenn ich mal nicht kiffe, werde ich überflutet damit und kann diese vielen Gedanken, die dann auf einmal in meinem Kopf sind, kaum ertragen."
"Das ist eine Übergangsphase, darum kommst du nicht herum. Denke an eines: wenn du deine Träume dazu verwenden willst, einer Sache auf den Grund zu gehen, mußt du sie aufschreiben. Nur in ihrem Zusammenwirken helfen sie dir, dich der Lösung des Rätsels zu nähern, und deshalb darfst du keinen vergessen."
"Ich wollte auch schon mit dem Aufschreiben anfangen."
Wir kamen auf Henk zu sprechen und darauf, daß er es nie schaffte, mich zu besuchen.
"Ihm fällt das schwer, was den meisten leicht fällt - und umgekehrt", sagte ich. "Er hat es nie geschafft, zu mir zu kommen, obwohl ich ihm durchaus abnehme, daß er es will."
"Mir fallen auch oft Kleinigkeiten schwer - wie die, eine Verabredung einzuhalten. Außerdem - sieh dir doch mal die Leute an, mit denen du dich umgibst. Sind die wie die meisten?"
"Oh, nein. Für die gelten oft ganz andere Gesetze. Ich denke, in Henks Fall ist es so, daß er sich davor fürchtet, zu mir zu kommen, weil er sich davor fürchtet, sich mir auszusetzen. Komme ich zu ihm, kann er in seiner Welt bleiben; kommt er zu mir, muß er in meine tauchen. Und das verunsichert ihn und führt zum Vermeidungsverhalten. Es ist eine irrationale Angst, denn was könnte ich Henk schon tun? Er weiß eben, daß ich Nähe aufbaue, und Nähe fürchtet er."
Telgarts Blick fiel auf einen Gossenwürfel, der als Kerzenständer dient.
"Das kommt auch kult", fand er. "Das ist so schön geometrisch."
"Ich liebe diese reinen Formen. 16 x 16 x 14. Ich liebe Geometrien."
Wir haben im Morgengrauen von zwei Baustellen Steine geholt, Ziegelsteine für Telgart und Betonsteine für mich. Ein Stück von einem Hochbordstein war auch dabei.
Ich fand es seltsam, daß ich von einer Beziehung so sprach, als würde ich sie bereits erleben. Wo ist hier der Wunsch und wo die Wirklichkeit?
Am nächsten Morgen hatte ich einen Traum, in dem ich Merle mitnahm nach SHG. Sie, Dolf und ich übernachteten bei Rafa. Von Rafa sahen wir kaum etwas; er machte sich wichtig und rar. Seine Mutter tauchte kurz auf.
Wie war wohl Rafas Kindheit wirklich?
Telgart erzählte von seinen Eltern, daß sie nie besorgt waren um sein Seelenleben und nie nach seinen Gefühlen fragten. So konnte Telgart es gar nicht erlernen, Gefühle zu verarbeiten und über sie zu sprechen. Er versteckte und verdrängte sie. Er wurde mit sich selber alleingelassen. Ein Erlebnis war für ihn besonders erschütternd:
"Ich kam aus dem Kindergarten nach Hause und wollte mit einem Mal nicht mehr beim Sport mitmachen. Ich habe geschrien und geheult, wenn ich zum Sport sollte. Und - meine Mutter hat nie wissen wollen, weshalb! Sie hat nie danach gefragt, was denn an diesem Tag im Kindergarten passiert war."
"Was war denn passiert?" fragte Constri.
"Das würde ich zu gerne wissen", entgegnete Telgart. "Ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern."
Meine Kommilitonin Lana war die Nächste, die mich nach langer Zeit wieder anrief. Wir unterhielten uns über die bevorstehende Prüfung, den zweiten Teil des Staatsexamens.
Lana ist überzeugt, daß mir im Beruf vor allem Ablehnung entgegengebracht wird. Ich habe es oft erlebt, daß mich jemand gehaßt hat oder etwas an mir auszusetzen hatte. Die Frage ist allerdings, ob es außer mir auch anderen so erging, ohne daß sie Schuld daran gehabt hätten. Es kann auch sein, daß ich durch Haß und Neid so sehr belastet werde, daß er sich mehr bei mir eingräbt als Verehrung und Zuneigung. Ich kann schlecht einschätzen, wieviele Leute mich in Wahrheit gern haben im Verhältnis zu denen, die mich nicht ausstehen können. Lanas Beobachtungen könnten darüber hinaus eingefärbt sein durch ihre eigene Wahrnehmung. Sie ist in gewisser Weise von mir fasziniert, weil ich etwas Außergewöhnliches an mir habe. Dieses Außergewöhnliche kann ein Reiz für Lana sein, weil sie vielleicht selbst gern mehr auffallen würde und sich das nicht traut, weil sie Ablehnung befürchtet.
Meine Aufgabe besteht jedenfalls darin, mich in der klösterlich-schlichten, gehemmt-geduckten Medizinerwelt so zu verkaufen, daß das Besondere an mir nicht abgelehnt, sondern bewundert und geschätzt wird.
"Ich ertrage den Haß nicht, das ist es", sagte ich zu Lana. "Ich habe das Fach wegen dem Fach gewählt. Ich habe es gewählt, weil es Hinwendung zu den Menschen bedeutet, die mir so wichtig ist. Und die Menschen vergiften mir die Arbeit in diesem Beruf ..."
Lana und ich trafen uns in der Hochschule, um Scheine zu sammeln, die wir für die Prüfung noch einreichen müssen. Lana erinnerte sich an eine kleine Geschichte aus dem Präpariersaal, die sich vor Jahren ereignet hat:
Ein Zahnmediziner mußte mit einer Gruppe von Medizinern den Verdauungstrakt einer Leiche präparieren. Man stellte bald fest, daß der Magen fehlte, und gerade den wollte der Professor abfragen.
"Sehnse zu, dasse den Magen noch auftreiben", sagte er ungeduldig.
"Wir haben überall gesucht", erzählte Lana, "sogar in den Kisten, wo wir immer die Leichenteile 'reingeschmissen haben. Nirgends lag ein Magen drinne. Der Zahnmediziner suchte nicht mit. Der saß auf einem Schemel und las in seinem Buch. Schließlich stand er doch mal auf ... und da hing der Magen an seinem A... ... da hatte der draufgesessen ... der hatte sich doch auf diese Bahre mit der Leiche gesetzt, bevor er sich auf den Schemel gesetzt hat, und da ist der Magen an seinem A... klebengeblieben ... und wie er dann aufstand, da fiel der Magen von seinem A... ab, wegen der Schwerkraft ... und - flatsch - auf den Boden ..."
"Siehst du, darum liebe ich dieses Fach", schwärmte ich. "Da werden Menschen wirklich durchdrungen ... Man sieht Dinge, die andere nicht sehen wollen und können."
Lana hat inzwischen ihren langjährigen Freund geheiratet. Ich erzählte ihr von Rafa. Wir setzen uns in der Mittagshitze auf eine Wiese und tranken Kaffee. Zwei Jungen gesellten sich dazu, der Iraner Bensaud und mein ehemaliger Klassenkamerad Zino, der inzwischen wieder mit mir redet, obwohl ich damals nicht zu der angesagten Clique gehörte. Zino und ich bewarfen uns mit Grashalmen.
Lana findet, Rafa und ich sollten zusammenkommen.
"Er arbeitet dagegen", sagte ich. "Er flieht mich und auch seine Gefühle. Er kann seine Gefühle nicht zulassen. Und dann fragt der mich auch noch, ob ich ein Computer sei. Ich könne keine Gefühle zeigen, wirft er mir vor."
"Mr. Spock", sagte Lana.
"Der ist kein Mensch", sagte Bensaud.
"Das sagt eben der Mann zu mir auch - ich sei kein Mensch", erzählte ich.
"Was sollst du denn dann sein?" fragte Bensaud.
"Er sagt, ich sei eben kein Mensch; das sei auch schon etwas."
"Mir fehlen die Worte", meinte Bensaud.
In der Nacht hatte ich einen Traum, der mit unserer ausgerissenen Telefonsteckdose zu tun hatte.
Mitten in einer Unterhaltung sprach ich den Namen aus: Rafa Dawyne.
"Ach - das hatte ich vergessen", sagte Constri. "Der hat hier vorhin angerufen."
"Wer?"
"Der Rafa."
"Ich weiß, weshalb der angerufen hat", meinte ich. "Er hat angerufen, weil er wußte, daß gleich danach das Telefon kaputtgeht."
Nur unter solchen unmöglichen Bedingungen kann er sich mir nähern.
Bevor ich Rafa kannte, hatte ich fast nie Träume von dem Mann, nach dem ich suchte. Am lebhaftesten ist meine Erinnerung an einen Traum im Oktober 1981. Der Traum bestand aus zwei Teilen; er begann am 02.10. und setzte sich am 17.10. fort. Ich nenne ihn
Im Grünen Register
Das Weltall war in Register unterteilt. Erde und Mond zählten zum Roten Register, wie die vom Menschen begehbare Welt genannt wurde. Beachtete man bei interstellaren Flügen gewisse Winkel nicht, geriet man nach draußen in das Grüne Register, aus dem es keine Rückkehr mehr gab. Man versank in der Unendlichkeit.
Eine Gruppe von Forschungsreisenden sollte sich in das Grüne Register begeben. Ausgewählt wurden ein Mann, ein Kind und ich. Wir erreichten einen grünen, warmen, unübersehbar großen, fast leeren Raum. Ich war nicht verzweifelt. Ich hatte vergessen, daß wir für immer in diesem Register bleiben mußten.
Ich trug Sachen, die für mich damals noch ungewohnt waren. Ich hatte ein kurzes schwarzes Etuikleid an, schwarze Feinstrümpfe und schwarze Pumps.
Der Mann und ich unterhielten uns am Rand einer niedrigen, kreisrunden Brüstung. Wir saßen auf dem blaßgrünen Boden. Der Mann war etwa fünfundzwanzig Jahre alt und damit erheblich älter als ich.
Wir befanden uns unter Außerirdischen, und denen traute ich nicht. Ich hatte den Verdacht, daß sie uns in ihrer grünen Welt festhielten. Ich begann mich zu fürchten. Der Mann fürchtete sich offenbar nicht, und er schien meine Furcht auch nicht zu verstehen. Ich nahm an, daß er sie absichtlich nicht verstand. Ich nahm an, daß er vor mir etwas zu verbergen hatte. Ich vermutete, daß er selbst nicht ganz irdisch war.
Da ich dem Mann meine Furcht nicht mit Worten erklären konnte, versuchte ich es über die Körpersprache. Ich strich an seinem Arm entlang und umfaßte mit beiden Händen das kraftvolle Handgelenk. Der Mann schluckte das Streicheln ebenso ruhig in sich hinein wie meine ängstlichen Reden.
Dieses Verhalten erinnert mich an Rafa. Auch er gibt sich geheimnisvoll und unirdisch. Auch er schluckt meine Zuwendung in sich hinein, was zur Folge hat, daß ich ihm immer mehr davon gebe. Er nimmt die Zuwendung einfach an. Freilich kann er das nur in bestimmten, seltenen Augenblicken, in denen er sich selbst "grünes Licht" gibt.
Bei der nächsten Veranstaltung in der "Halle" setzte ich mich mit Rikka, Talis, Constri und Merle auf "unsere" Seite am Rand der Tanzfläche. Nach einiger Zeit lief Rafa in größerem Abstand an uns vorbei, hinter seiner Spiegelbrille versteckt. Ich stieß Rikka an. Toro kam zu uns und hängte sich von hinten über meine Schulter.
"Ah, wieder rasiert", lobte ich ihn.
"Jaa!" rief Toro.
Als der Auftritt einer unbekannten Live-Band angekündigt wurde, sagte Toro:
"Die! Die sind sso gutt. Die sind sso gutt. Sso gutt."
Er nahm sich einen Stuhl mit und setzte sich vor die Bühne, trotz der Aufforderung der Band:
"Tanzen!"
Kaum jemand sah der Band zu. Rafa war einer der wenigen. Er klatschte auffällig, als wenn diese Musiker besonders gute Bekannte von ihm wären, denen er Beifall schuldig war.
"Sieh' mal! Dein Freund!" rief Merle mir mit ihrer hohen Stimme zu und zeigte mit ausgestrecktem Arm in Rafas Richtung.
"Was für ein Freund?" fragte ich.
"Na - Dracula!" rief sie laut. "Der ist da vorne!"
"Wann habe ich gesagt, daß das mein Freund ist?" entgegnete ich ärgerlich.
Merles Verhalten kann recht peinlich sein. Bewußt ist sie sich dessen kaum.
In der Damentoilette begegnete mir Toro. Er wollte ein Mädchen erobern, das sich dort nachschminkte. Einige Mädchen, auch ich, machten Bemerkungen darüber, als Rafas Freundin hereinkam. Ich ging eilig fort. Wenn ich mit jemandem nichts zu tun haben will, dann ist es die.
Ich saß wieder auf meinem Platz, fast nur von leeren Stühlen umgeben, als ich Rafa um das Bühnenpodest herum in meine Richtung gehen sah. Er trug ein Bierglas in der Hand. Ich verfolgte ihn nicht mit meinen Blicken. Kurz darauf näherte sich von hinten jemand und ließ sich auf dem Stuhl links neben mir nieder. Der Mensch war von Patchouligeruch umgeben. Ich drehte mich zur Seite, und da saß Rafa und grinste mich mit weit offenen Augen an. Ich verschob meinen Stuhl ein bißchen, um ihm näher zu sein. Ich schaute ihm ins Gesicht und mußte lachen. Ich mußte von da an fast dauernd lachen.
"Em - da gibt es ein technisches Problem", sagte ich zur Begrüßung. "Du hast gemeint, da sei kein technisches Problem, aber da ist doch eins. Es geht darum, wie man dir den Hals umdrehen kann. Du hattest mir angeboten, dir den Hals umzudrehen, und da ist die Frage, wie man das machen kann. Zum einen - deine Freundin hat mir verboten, dich anzufassen, und ich werde den Teufel tun und mich mit der Ische anlegen. Zum anderen - ich frage mich, wie man das hinkriegen kann, deinen Kopf so - einmal 'rum ..."
"Ich schlage vor, wir lassen das erstmal mit dem Halsumdrehen."
"Ich weiß, warum wir das lassen sollen - weil du noch länger leben willst."
"Ich bin unsterblich", wußte Rafa.
"Da haben wir es wieder", seufzte ich. "Einmal sagst du, du bist unsterblich, und einmal hoffst du nur, du bist unsterblich. Das widerspricht sich."
"Wieso? Man kann doch hoffen, daß man unsterblich ist, und es sein?"
"Das geht noch weiter. Einmal sagst du, du kannst dir keinen Strick nehmen, und einmal sagst du, du nimmst dir einen Strick. Einmal sagst du, dein Alter wäre egal, und ein anderes Mal hast du dein Alter gesagt. Da warst du mit Luc und so Leuten, die dich angreifen wollten."
"Wie alt war ich denn da angeblich?"
"Dreiundzwanzig."
"Ach - doch schon so alt."
"Ich weiß, du wolltest gerne fünfzehn sein. - Jedenfalls, du sollst zu den Jungs gesagt haben:
'Wie alt seid ihr? Achtzehn? Neunzehn? Ich bin dreiundzwanzig.'"
"Also gut. Ich bin wirklich dreiundzwanzig."
"Ah, ja."
"Ich bin überhaupt nicht dreiundzwanzig."
"Jetzt hab' ich's!" rufe ich. "Du redest in Widersprüchen, damit keiner weiß, was nun wahr ist."
"Heute hier und morgen dort, heute da und morgen fort", reimt Rafa. "Können wir uns darauf einigen?"
"Heute hier und morgen dort, heute da und morgen fort - das klingt nach vier Frauen in einer Nacht."
"Oder fünf."
"Oy, oy."
Rafa sieht einen Augenblick weg, dann wieder her, und dabei sperrt er auch wieder die Augen weit auf und lächelt. Er lächelt mit geschlossenem Mund, wie ich es von ihm kenne. Er sieht so unschuldig-komisch aus, daß ich lachen muß.
"Und? Was 's' los?" frage ich.
"Was soll los sein?"
"Und? Was willst du?" fahre ich fort, die Fragen zu stellen, die er mir sonst immer stellt.
"Sex", gibt Rafa zur Antwort.
"Aha - wobei es egal ist, was für eine Matratze du hast", vermute ich.
Er überlegt kurz.
"Nein", sagt er dann.
"Natürlich", lenke ich ein. "Erst stehst du auf die, dann gleich danach auf die, dann auf die Nächste ... da ist schon eine Reihenfolge."
"Mädchen", sagt Rafa und holt tief Luft. "Ich spiele dir gerade ein schönes Theater vor. Du sollst denken, ich sei der absolute Sch...typ. Du sollst in mir den schlechten Menschen sehen, der ich bin oder nicht bin. Du sollst von mir die Vorstellung haben, daß ich die Frauen nur ins Bett kriegen will und sonst nichts."
"Um das zu erreichen, gibst du mir gerade eine schöne Vorstellung", bemerke ich und sehe in seine Augen und lache und lache. "Sag' mal - hast du eigentlich wirklich geglaubt, ich würde mit dir in die Damentoilette kommen?"
"Nein. Ich habe dich auf die Probe gestellt, so, wie ich dich jetzt auf die Probe stelle", erklärt Rafa. "Wir gehen übrigens da noch hin."
"Auf die Damentoilette?"
"Ja. Das ist nur eine Frage der Zeit."
"Und du bist dir sicher, daß ich da mit dir hingehe?"
"Ja."
"Dann liegt ein schwerer Weg vor dir. Du müßtest mit deiner Ische Schluß machen und mir lebenslange Treue schwören."
"Muß ich nicht."
"Komm', so gut müßtest du mich inzwischen kennen, daß du weißt, was die Voraussetzungen sind", sage ich ruhig und bestimmt.
"Darf ich dich ausziehen?" fragt Rafa.
"So - jetzt muß noch das Gegenteil dazu kommen ..."
"Ich habe einfach nur gefragt:
'Darf ich dich ausziehen?'
Jetzt antworte."
"Du müßtest vorher mit deiner Ische Schluß machen und deine lebenslange Treue beweisen."
"Ich kann nicht treu sein", weist Rafa eine Veränderung seiner Lebensweise von sich.
"Dann gehen wir auch nicht in die Damentoilette!"
"Ich liebe dich", sagt Rafa.
"Das war schon mal eine Lüge."
"Ja."
"Das Gegenteil hattest du mir nämlich auch schon gesagt, kürzlich", erinnere ich ihn.
"Ja."
Er trinkt sein Gemisch.
"Ist das immer noch Bier mit Cola?" möchte ich wissen.
"Was sonst?"
"Wie kannst du das Gesöff bloß trinken?"
Er lacht.
"Ich unterscheide zwei Arten von Menschen", erklärt er. "Die einen mögen's und die anderen nicht."
"Ah, dann gehörst du immer zu einer Minderheit."
Rafa sieht mich fragend an, sagt schließlich:
"Hm ..."
... und grinst weiter.
Die Geldbörse und eine CD liegen wie angeklebt in seiner Rechten. Während des Gesprächs hängen wir fast ineinander. Einmal lege ich unwillkürlich den Arm um ihn.
"Weshalb fordert Rafa in diesem Maße meine Zuwendung heraus?" fragte ich mich. "Warum muß ich lachen und will auch lachen? Warum kann und will ich ihn nicht aus meinem Leben streichen? Was ist in ihm, das meine Gefühle rechtfertigt?"
Ich bewundere seine neue Tracht, ein bündchenloses schwarzes Baumwolloberteil mit einem weißen Längsstreifen seitlich von der Mitte. Auf dem Streifen ist etwas Rotes, ähnlich wie eine Brosche. Eine passende Hose im angedeuteten Berberstil hat Rafa auch an. Sie zieren weiße Streifen an der Seite.
"Etwas Neues trägt man, sehe ich gerade."
"Ja. Muß", sagt Rafa.
"Sag' mal ... fühlst du dich eigentlich bei deiner Freundin deshalb so sicher, weil sie nicht an deiner Fassade herumbröckelt?" erkundige ich mich.
"Ja", antwortet Rafa und wirkt überrascht, wie von einer neuen Erkenntnis. "Genau. Genau."
"Dann ... fliehst du vor dir?"
"Ja."
"Fliehst du vor deinen Gefühlen?"
"Ja."
"Dann ... spielst du mit den Gefühlen anderer, um dein gestörtes Selbstwertempfinden zu überspielen?"
"Ja."
"Dann ... sind Frauen für dich nur Mittel zum Zweck?"
"Ja."
"Dann bin ich für dich auch nur Mittel zum Zweck", folgere ich.
Rafa schüttelt heftig den Kopf.
"Ich hab's ... ich bin für dich keine Frau", vermute ich.
Er schüttelt den Kopf.
"Wenn ich für dich keine Frau bin, weshalb hast du mich dann geküßt?" frage ich nach.
"Wolltest du denn, daß ich dich küsse?"
Ich nicke.
"Und?" sagt Rafa leichthin. "Ich wollte es auch."
"Trotzdem bist du danach mit der anderen abgezogen. Ich sage, ich weiß, weshalb ich nicht mit dir in die Damentoilette gegangen bin. Du hättest mich gleich danach betrogen."
"Es gibt keinen, der mich so gut kennt wie du."
"Doch", widerspreche ich.
"Wer?"
"Du."
"Ich kenne mich nicht so gut, wie du mich kennst", entgegnet Rafa. "Wenn ich eine Frage über mich habe, muß ich nur zu dir kommen."
"Kennst du mich denn nicht auch?"
"Nein."
"Wie kannst du dir dann sicher sein, daß ich mit dir in die Damentoilette komme?"
"Ich bin mir nicht sicher."
"Ach, auf einmal. Das ist wieder dein Spiel mit den Widersprüchen. - Übrigens, mir ist kürzlich ein Geheilter begegnet", erzähle ich. "Der hatte das Gleiche wie du. Der ist jetzt monogam."
"Ah, ja."
"Der hatte die gleiche Krankheit wie du. Zufälligerweise habe ich mich auf solche Fälle spezialisiert."
Die Musik wird leiser und wieder lauter.
"Du weißt mich nicht zu schätzen", sage ich langsam und deutlich. "Du weißt gar nicht, was ich wert bin. Und solange du das nicht weißt, bist du mich nicht wert. Weißt du ... dein Selbstwertgefühl mag im Keller liegen. Meins ist aber noch ganz gut da."
Ich betrachte Rafa. Ich muß immer noch lachen.
"Da ist er also schon wieder angekommen", bemerke ich.
"Wer ist angekommen?"
"Du. Du bist zu mir gekommen."
"Ich gehe, wohin ich will."
"Ach ... was ist eigentlich der wahre Grund dafür, daß du mich nicht besuchst?" frage ich dicht an seiner Wange, und ich fühle die Wärme, die von seinem Körper herüberstrahlt.
"Vielleicht habe ich Angst?" gesteht Rafa.
"Genau", sehe ich meine Vermutungen bestätigt. "Das ist genau, was ich denke. Du fürchtest dich davor, mich zu besuchen. Ich weiß schon länger, daß du dich davor fürchtest."
"Wenn du's weißt, weshalb fragst du mich dann?"
"Weil ich es von dir hören wollte. Ich sehe es gerne, wenn du dich windest."
"Du hast immer in deiner Traumwelt gelebt", erhitzt sich Rafa. "Du hast immer in deinen Vorstellungen gelebt. Wach' mal auf, Mädchen."
Während er das sagt, erhebt er sich, legt mir eine Hand auf die Schulter und geht um mich herum. Dann entschwindet er eilig. Der leere Krug steht noch auf dem Tisch.
Rafas Gesicht ist wie ein Abdruck in meinem Kopf. Ich sehe es vor mir und kann nicht aufhören zu lächeln.
Als "Schlachtreif" vom Liederkranz kommt, sind wir beide auf der Tanzfläche. Ich halte zu Rafa einen großzügigen Abstand, ohne ihn jedoch aus den Augen zu verlieren. Es folgen härtere Stücke, darunter "Adrenalin Rush" von Leæther Strip. Rafa macht sich davon.
Toro wird immer betrunkener. Er kuschelt sich nacheinander an verschiedene Mädchen. Als ich und meine Leute im Gehen sind, kommt Toro mit seinen Begleitern und Begleiterinnen heran und ruft:
"Ach - die sind ... die sind da ..."
"Ja, du kleines versoffenes Stück", entgegne ich freundlich.
Ein jüngeres Mädchen guckt belustigt und erstaunt. Toro dreht sich kurz weg, dann dreht er sich wieder zu mir und prustet mir ins Gesicht. Das ist seine Rache.
Ich habe Carl davon erzählt, daß Rafa wieder angekommen ist.
"Ich hab's ja gesagt!" meinte Carl. "Der kommt wieder an. Der kommt immer wieder an."
"Da müßte der aber bei vielen immer wieder ankommen."
"Nein. Das macht der nur bei denen, die bei ihm einen Eindruck hinterlassen haben. Bei Luisa ist er zum Beispiel angekommen, denn die war ihm wichtig."
"Ich zerlege ihn ja regelrecht mit Fragen."
"Der braucht das anscheinend."
Tags darauf im "Elizium" spielte Rafa den Toten Mann. Er hatte sich wieder hinter seiner Spiegelbrille verschanzt - und gewissermaßen auch hinter seiner für mich so abstoßenden Sängerin. Als er an der Säule stand, eineinhalb Meter von mir entfernt, drehte er den Kopf zu mir und sah hinter seiner Brille hervor. Er deutete ein Lächeln an und hob mit gespreizten Fingern die Hand. Auch ich hob mit gespreizten Fingern die Hand. Rafa brachte es nicht fertig, sich mir weiter zu nähern. Ich sah ihn dastehen, ohne Socken in den Schuhen; der Reißverschluß an seinem neuen Hemd war halb aufgezogen. Ich fand seine Erscheinung so anziehend-kindlich, hinreißend und verführerisch, und ich konnte das mit seinem ekelerregenden Verhalten nicht in Einklang bringen. Ich denke, Rafa spielt nicht nur vor mir das "miese Stück", sondern auch vor sich selber. Er müßte sich aufgrund seines Verhaltens eigentlich vor sich selbst ekeln. Sich in seiner Rolle zu ertragen, kann ihm nur möglich sein aufgrund eines persönlichkeitsspaltenden Selbstbetrugs. Will er eine Veränderung erreichen, muß er sich zuvor einen unerträglichen Leidensdruck schaffen, indem er sein Verhalten folgerichtig übertreibt - so lange, bis er den Selbstbetrug nicht mehr durchhalten kann. Ich hoffe so sehr, daß ihn sein Verhalten eines Tages anwidert.
Vorhin träumte ich, in einem flachen, dunklen, leeren Raum würde Rafa an einem Waschbecken stehen und sich übergeben.
"End-lich!" dachte ich erleichtert.
"Rafa ist mich nur wert, wenn der bloße Gedanke an Untreue bei ihm Übelkeit auslöst", sagte ich zu Constri. "Untreue muß ihm zuwider sein. Nur so wird sie ihm unmöglich. Er muß jede Lust daran verlieren. Rafa und Telgart behaupten beide, nur 'steinige Wege' einzuschlagen."
"Untreue ist kein steiniger Weg", meinte Constri.
"Eben", bestätigte ich. "Sie bedeutet, daß man sich gehen läßt, nicht daß man sich bezwingt. Telgart erzählte mir reuelos und halb stolz von den Menschen, die er enttäuscht hatte. Er faßte sein Verhalten als vergeben, weil vergangen auf - nicht als verwerflich. Die Sünde und seine Verantwortung erkannte er nicht.
Erreicht ist das Ziel bei solchen Menschen erst dann, wenn ihr früheres Verhalten sie ekelt. Dann erst haben sie sich in der Gewalt. Dann erst gehorchen sie sich."
Dann erst gehören sie sich. Der Ekel ist ein mächtiges Gefühl. Ekel ist nicht zu überwältigen. Er ist ein selbständiges Gefühl. Wer Ekel gewaltsam bricht, bricht den Menschen mit.
Ich will wissen, ob Rafa sich vor mir fürchtet. Carl glaubt, daß das Gespräch, das Rafa mit mir in der "Halle" geführt hat, ihn in Panik versetzte, so daß er sich erst einmal einmauern muß.
Eingemauert haben sich auch Telgart und Henk. Und beide haben ihre Selbstflucht so übertrieben, daß ihnen ihr Zustand unerträglich wurde. Bei Henk gipfelte die Selbstflucht im Selbstmordversuch. Dies hatte ich erwartet, Jahre, bevor es soweit kam. Ich beobachtete, wie nachlässig Henk mit seiner Zeit, seinen Mitmenschen und seinem Besitz umging. Er schien sein Leben wegzuwerfen, zu verschleudern.
"Der kann sich eigentlich nur umbringen", sagte ich damals zu einem von Henks Bekannten. "Dem bleibt nichts anderes übrig. Er ist sich nichts wert, und deshalb kann ihm auch nichts etwas wert sein. Er hat keine Bindung an seine Umwelt. Er schwebt haltlos umher."
Ich fühlte die Spannung in ihm, eine Art ständiges Zittern. Henk bestätigte mir im vergangenen Herbst, daß er in jener Zeit tatsächlich unter einer Anspannung litt, die fortwährend zunahm.
Sein Überleben lehrte ihn, das Leben zu schätzen und anzunehmen.
Ich frage mich, ob Rafa auf eine vergleichbare Wandlung hinsteuert.
Angeblich will er mich "auf die Probe stellen". Vielleicht möchte er herausfinden, ob er mir als Mensch zuwider werden kann. Vielleicht möchte er, daß ich mich von ihm abwende. Nähe könnte für Rafa angstbesetzt sein, weil sie zu einer Bindung führt, und diese führt zur Abhängigkeit von einem Menschen. Ein Mensch, von dem man abhängig ist, kann einen enttäuschen, und diese Enttäuschung ist es wohl, die Rafa vermeiden will.
Es kann sich um ein Hin- und Hergerissensein zwischen Vertrauen und Mißtrauen handeln. Rafas zur Schau getragene Widersprüchlichkeit soll vermutlich Unerreichbarkeit vortäuschen. Und sie soll ihm wohl die Möglichkeit schaffen, die Menschen, die an ihm hängen, in jede gewünschte Richtung zu steuern. Er möchte sich wohl daran berauschen, daß sie von ihm abhängig sind, er aber nicht von ihnen.
Rafa legt es darauf an, in anderen Menschen Gefühle hervorzurufen, ohne selbst Gefühle zu entwickeln. Er möchte andere von sich abhängig machen, ohne selbst von ihnen abhängig zu werden. Hierin besteht seine Aggressivität. Er genießt es, dabei zuzusehen, wie andere seinetwegen leiden. Gleichzeitig schämt er sich dafür. Sein suchthaftes Verhalten ist ihm peinlich, und es bereitet ihm Schuldgefühle. Er möchte den Menschen eigentlich nicht schaden, aber er kann es nicht lassen, sich auf diese Art Befriedigung zu verschaffen.
Gefährlich wird es für Rafa nur dann, wenn er ernsthafte Gefühle zu entwickeln beginnt, die sich wider Erwarten seiner Kontrolle entziehen. Er wird abhängig von einem anderen Menschen und versucht, dagegen anzugehen, indem er seine Gefühle verdrängt. Auf keinen Fall will Rafa selbst wegen eines anderen Menschen leiden. Eher verzichtet er für immer auf eine innige, erfüllende Beziehung.
Rafa konnte bisher immer so leben, wie er wollte. Er konnte bestimmen, wie er seine Beziehungen einrichtete, er hatte alles in der Hand. Er ist nie an Grenzen gestoßen, er hat nie die Verantwortung für sein Verhalten tragen müssen.
Was Rafa mit mir anstellt, hat Folgen und kann nicht ungeschehen gemacht werden. Ich zwinge ihn also in die Verantwortung dafür. Er kann mich nicht an einem Tag betrügen und am anderen Tag die gleiche unbefangene Zuwendung von mir erwarten, die er bekam, ehe er mich betrog.
Sollte Rafa sich je gegen seinen Willen an mich gebunden haben, wäre das ein Schlag für ihn. Er würde versuchen, das rückgängig zu machen, und er hätte so lange Aussicht auf Erfolg, wie seine Furcht stärker ist als seine Zuneigung. Ich kann ihn demnach nur gewinnen, wenn seine Zuneigung stärker ist als seine Furcht. Er würde in diesem Falle halsbrecherische Fluchtversuche unternehmen, die am Ende mißlingen. Er würde versuchen, mich zu meiden, und er würde sich dabei immer entsetzlicher fühlen. An mir wäre es dann, mit Gelassenheit auf seinen Zusammenbruch zu warten. Wie jedoch dieser Zusammenbruch aussehen könnte, kann ich mir nicht vorstellen.
Am Sonntag kam Steini zum Sektfrühstück. Ich fragte ihn, was er denkt über Rafa als Leiche mit Spiegelbrille.
"Ich habe mir sodann gedacht", sagte Steini, "daß das im 'Elizium' ganz schön dunkel ist und daß man mit so einer Brille sodann eigentlich gar nichts mehr sehen kann."
"Genau das wollte Rafa anscheinend erreichen."
Wann immer Rafa sich mir genähert hat, stets zog er sich anschließend in ein finsteres Nirgendwo zurück. Ich konnte bislang noch nicht aufgeben. Ich gehe den Weg weiter, ohne zu wissen, wohin er führt.
Ist es möglich, daß man sich einfach nur daran freut, einen Menschen lieben zu können, auch wenn er die Liebe nicht erwidert?
Unter solchen Umständen hätte ich von der Sache mit Rafa etwas - etwas, das mir keiner nehmen kann.
Constri und ich sind der Frage nachgegangen, wie sich feststellen läßt, inwieweit sich Gefühle wirklich auf einen bestimmten Menschen beziehen und inwieweit nur Sehnsüchte auf diesen Menschen übertragen werden.
Ich behaupte, daß alles, was ist, auch dargestellt werden kann. Demnach muß es einen Weg geben, herauszubekommen, was Rafa für mich empfindet und was ich für ihn empfinde.
Ich erzählte Constri, was ich fühlte, als Rafa und ich uns in der "Halle" unterhielten.
"Er setzte sich - er ließ sich nicht fallen, er setzte sich -, er stellte sein Bierglas ab und lehnte sich mit einer wohlgesteuerten Bewegung zurück. Seine Augenbrauen hoben sich kurz, dann drehte er den Kopf zu mir - grinsend, mit weit offenen Augen und geschlossenem Mund. Wie fühlte ich mich bei dem Gespräch? Ich war ungeheuer ausgelassen und hemmungslos und von einer Fröhlichkeit, die ich sonst nicht von mir kenne. Es war eine innere Fröhlichkeit. Sein Lächeln traf mich. Ich fühlte mich herausgefordert. Ich fühlte mich mutig und kampfbereit. Ich hatte das Gefühl:
'So, jetzt hab' ich dich, und mir entwischst du nicht mehr.'
Ich konnte ihm die entlarvendsten Fragen stellen, ihm die härtesten Sprüche an den Kopf knallen. Mein Geist war klar. Ich war meiner ganz sicher. So fröhlich werde ich nur, wenn ich erfahre, daß jemand zu mir hält und ich mich gewollt und geborgen fühle."
"Auf seiner Seite wird wahrscheinlich eine starke Sympathie für dich sein", vermutete Constri. "Deine Fröhlichkeit kam von innen; das ist der Hinweis darauf."
Sie kam tatsächlich von innen. Sie durchdrang mich. Sie war echt.
So umklammern Rafa und ich uns, mit Worten, Blicken und Armen - bis zu seinem nächsten Rückzug.
Ich sehe ihn in Gedanken vor mir stehen mit seiner "Begleitung" und male mir aus, wie er den Reißverschluß an seinem Hemd noch ein Stückchen weiter aufzieht ... und noch ein Stückchen weiter ... und noch ein Stückchen weiter ...
Die mir so widerwärtige Sängerin ist ein wohlausgesuchter Wachhund, da ich mich grundsätzlich nicht in die Nähe eines solchen Menschen begebe. Rafa ist an ihrer Seite sicher vor mir und tot für mich. Nur vor seinen Gefühlen schützt ihn niemand.
Ortfried besuchte mich am Montag. Bis spät in die Nacht saßen wir bei Schwarz- und Kerzenlicht in der Eßecke. Ich modellierte eine Skulptur, die Rikka sich zum Geburtstag wünscht. Rikka hatte nichts festgelegt, und ich ließ mich von meinem Gefühl leiten. Es entwickelte sich eine gedrungene Gestalt. Ich formte sie in sich geschlossen, ohne auffällige Details, mit nur angedeuteten Gesichtszügen. Der Menschenähnliche kniet und hat die Hände auf dem Rücken übereinandergelegt. Sein haarloser Kopf ist gesenkt. Er wartet auf eine Enthauptung im orientalischen Stil. Seine Kleidung wird schlicht und grau. Der Schritt seiner Hose sitzt in Kniehöhe, wie es im Orient üblich ist. Damit das Wesen nicht davonlaufen kann, soll es einen an den Hals geschweißten Ring tragen, mit einer Kette daran, die ich auf der Sockelplatte festnagele. Der Ring kann nur entfernt werden, indem man den Kopf entfernt.
"Der orientalische Verurteilte" heißt die Skulptur.
Der Titel nimmt Bezug auf eine Bilderfolge in einer Illustrierten, die Phase für Phase eine Hinrichtung in Mekka zeigte. Der Verurteilte, ein Farbiger, saß ruhig in einer gewaltigen Arena und wartete. Dann kam der Henker mit seinem Schwert, hieb den Kopf ab und reinigte die Klinge an dem Gewand des Toten, der zerteilt dalag. Überall war Blut. Ich war elf Jahre alt, als ich den Farbbericht las und konnte diese Grausamkeit nicht verarbeiten.
Bis zu Rikkas Geburtstagsfeier waren noch ein paar Tage Zeit, an denen ich die Skulptur fertigstellen konnte. An einem Abend hatte ich Ortfried und U.W. zu Gast. Die Jungen tranken Bier, ich trank Wodka mit Cola. U.W. prahlt gern und weiß gern etwas besser. Seine Sätze pflegt er mit "Ich bitte dich ..." einzuleiten, weshalb Ortfried ihn "Ich bitte dich" nennt.
Ich lackierte unterdessen den Körper der Skulptur grau, malte den Kopf weiß an und zeichnete feine schwarze Augenbrauen und mit Kajalstrichen in die Länge gezogene Augen. Dann setzte ich die Figur auf die Sockelplatte mit den Maßen 16 x 16 cm, klebte sie fest, legte ihr den silbernen Halsreif um und nagelte die Kette an. Die Platte mit dem Verurteilten stellte ich auf den Gossenwürfel auf der Fensterbank, dessen obere Fläche ebenfalls 16 x 16 cm mißt. Ich habe das Brett schwarz gestrichen und klarlackiert, und da es eine Spanplatte ist, hat sie brüchig-rauhe Kanten, so rauh wie die Seiten des Gossenwürfels. Man könnte meinen, die Sockelplatte sei ein speziell gemischter Vorsatzbeton.
Ich rahmte die fertige Skulptur ein mit zwei Kerzen. Dann betrachtete ich meine Schöpfung und hatte sehr gute Laune. Da kniete er demütig und konnte nicht weglaufen - er wollte es am Ende nicht einmal.
"Da fehlt nur noch die Domina", meinte U.W.
"Ich bin keine Domina", entgegnete ich. "Außerdem sind für den Verurteilten die Henkersknechte zuständig."
In der Nacht träumte ich von Rafa. Er lag auf einem Bettkasten und trug einen eisernen Halsreif mit Kette. Ich saß hinter dem Kopfende auf dem Boden und zog an der Kette. Ein Henkersknecht half ziehen. Rafa würgte.
"Solange der würgen kann, ist der nicht tot", sagte ich.
Wir zogen noch ein bißchen.
"Ach ... eigentlich ... habe ich hier auf dem Boden doch nicht so den Überblick", meinte ich nach einer Weile. "Vielleicht hört der schneller auf zu atmen, als ich denke."
Ich beschloß, aufzustehen und das Ziehen seinzulassen.
In einem anderen Traum nahm Rafa an einem unserer abendlichen Treffen teil. Zusammen mit meinen Leuten saß er bei mir in der Eßecke. Da wurde ihm auf einmal eng, und er wollte nach draußen gehen. Ich begleitete ihn. Vor der Haustür hatte ich den Eindruck, daß er für sich allein sein wollte. Ich ging ein Stück den Gehweg hinunter und sah ihn in der Ferne herumlaufen mit seinem Pferdeschwanz und seiner schwarzen Jacke. Dann war er plötzlich verschwunden. Ich fragte mich, ob er vielleicht zurück nach drinnen gegangen sei, aber ich glaubte nicht recht daran. Als ich hereinkam, fragte Constri auch gleich nach Rafa, und ich antwortete:
"Der war auf einmal weg. Das macht der öfter."
Ich wachte auf, und die Träume fielen mir ein, in denen Henk von einem Augenblick zum anderen verschwand. Ich befürchtete, daß mich nun die gleichen traurigen Erfahrungen erwarten, die ich schon mit Henk gemacht habe. Sollte es das gewesen sein mit Rafa? Ich wollte wissen, wie der Traum weiterging. Ich schlief wieder ein und träumte die Fortsetzung:
Es war noch derselbe Abend. Ich fand einige Leute unter meinen Gästen, die mich nach SHG. begleiteten. Dort gab Rafa seine Geburtstagsparty. Er ließ sich feiern und hielt jedermann großzügig frei, Verwandte, Freunde, Bekannte - ja, sogar Fremde. In zwei Räumen waren Tische gedeckt. In das eine Zimmer schickte Rafa seine Verwandtschaft, das andere war für die Bekannten und Freunde bestimmt. Dort setzte auch ich mich zum Essen. Rafa tauchte nach längerer Zeit persönlich auf und verkündete:
"Wir feiern jetzt weiter im Kaffeezimmer. Hierhin kommen die anderen Gäste."
Folgsam erhob sich alles, nicht ohne daß wissende Seitenblicke ausgetauscht wurden. Rafa krönte sich zum Beherrscher der Gläubigen, aber die Speisen, die er anbot, waren reichlich und von besonderer Qualität. Da ließ man ihm sein Intendantengehabe gern.
Auf dem Weg ins andere Zimmer erzählte ich Rafa, daß ich gegen dreiundzwanzig Uhr wegmüsse und hoffe, bis dahin in ausreichender Gesellschaft zu sein.
"Hört ihr mal?" sprach Rafa gleich zu der Menge. "Die Hetty kann nur noch bis elf bleiben. Seid bitte so gut und bleibt solange noch beieinander, damit sie sich mit euch allen unterhalten kann."
Ich war beunruhigt, weil ich dachte, das Zimmer, in das Rafa uns führte, sei das seiner Freundin. Es gehörte aber seinem Bruder. Von seiner Freundin war nichts zu sehen.
In dem Zimmer - dem "Kaffeezimmer" - standen auf Platten die feinsten Torten. Sie waren ungefähr bis zur Hälfte gegessen - da hatten sich die Verwandten schon gelabt. Wir störten uns nicht daran.
"Wenn man nur all das probieren könnte!" sagte ich zu einem Mädchen.
Ich saß in der Nähe des Eingangs. Ein paar von den Verwandten kamen herüber und wollten uns auch einmal ansehen. Seltsamerweise war meine Cousine Vivien unter ihnen. Sie begrüßte mich freudig. Vivien ist in Wirklichkeit erwachsen. In diesem Traum war sie jedoch eine Halbwüchsige, die mit ihrem schulterfreien Abendkleid aus giftgrünem Seidentaft nicht zurechtkam. Es würde mich nicht wundern, wenn Vivien sich in einem solchen Kleid tatsächlich nicht bewegen könnte. Ich glaube, sie hat etwas so Elegantes, Damenhaftes in ihrem ganzen Leben noch nicht angehabt.
Ich gesellte mich einmal hier, einmal dort dazu. Eben saß ich an einem Tisch in der Nähe der Fensterwand, da setzte sich Rafa mir gegenüber. Die Gäste lösten sich in Nichts auf. Wir waren für uns.
"Nun? Was is'? Was 's' los?" fragte Rafa.
"Vorhin hatte ich einen Traum von dir", erzählte ich. "Du hast mich verlassen."
Rafa holte tief Atem.
"Ich versuche im-mer, positiv zu denken", sagte er müde und ärgerlich. "Ich versuche im-mer, das zu sehen, was ist, nicht das, was sein könnte. Ich habe die ganze Zeit versucht, dir das zu vermitteln."
"Ich weiß", sagte ich traurig. "Ich weiß, was du meinst."
"Du verstehst es nicht. Du verstehst es einfach nicht. Ich will es dir beibringen, und du verstehst es nicht."
Er projizierte ein gemaltes Bild von einem Haus vor mein inneres Auge.
"Ich weiß!" rief ich. "Ich kenne das Dia!"
Vor dem Haus standen zehn Blumen, das waren meine zehn Finger, und als Blüten trugen die Finger an ihrer Spitze schwarze Löcher in der Form vielzackiger Sterne. Mein Fingerspitzengefühl war zerstört worden.
"Ich weiß", sagte ich noch einmal und führte Rafas Hand an meine Wange.
Mit gesenktem Kopf lauschte ich den Technorhythmen aus dem Lautsprecher. Ein Intro zu dem Stück "Sound Power" von dem Hardcore-Techno-Projekt Test II begann, ein Anfangsmotiv, das ich noch nie gehört hatte. Erdenferne Klänge zerflossen ineinander. "Sound Power" läßt mich ans Morgengrauen denken. Das unbekannte Intro ließ mich das Morgengrauen fühlen; es entführte mich mitten hinein. Ich hob den Kopf und suchte auf einer Liste an der Wand den Titel.
"Intro ... Unit ... Intro ... ist dieses Lied schön ... es ist so wunderschön ...", sagte ich leidenschaftlich.
Da begann Rafa mich zu küssen. Er küßte mich heftig und verlangend. Er war noch dabei, als ich aufwachte. Es graute tatsächlich der Morgen.
Ich habe Carl erzählt, daß in dem Traum alle Menschen um Rafa und mich herum verschwanden.
"Wenn ich mich mit Rafa befasse, wird unsere Umgebung bedeutungslos", sagte ich. "Es ist, als wäre ich in mir selbst versunken."
Die Sehnsucht ist eine Art Mißempfindung, die von der Körpermitte ausgeht und bis in die Fingerspitzen zieht. Eben diese waren in dem Traum zerstört.
Ich glaube, Rafa vermutet bei mir ein bereits eingeschränktes Empfindungsvermögen. Er sieht nicht nur meine Fähigkeit vermindert, Gefühle auszudrücken, sondern er betrachtet mich als tatsächlich ausgekühlt. Wie steht es mit seinem eigenen Verhältnis zu Gefühlen?
Am Samstag sah ich ihn nicht, denn wir waren bei Rikkas Geburtstagsfeier. Rikka war begeistert von meiner Skulptur.
"Die ist so in sich geschlossen", sagte sie. "Die ist besser als meine Skulpturen."
"Deine Skulpturen finde ich sagenhaft", entgegnete ich. "Sie sind halt nur anders als die von mir."
Der Übertopf, den Rikka für Talis gemacht hat, ist kunstvoll verziert. Totenschädel wachsen heraus. Schlangen winden sich um den Rand. Eine Spinne sitzt auch dabei.
Rikka stellte den Verurteilten auf ihren Schreibtisch.
"Ist es nicht niedlich, wie er da sitzt mit seiner Kette um den Hals?" sagte ich zu ihr. "Die Kette ist so kurz, daß er nicht einmal aufstehen kann."
Ortfried gab eine seiner unvergleichlichen Darbietungen. Zur Gitarre hielt er einen endlosen Vortrag über die Levi's 501 und darüber, was wäre, wenn ich eine "501er" anziehen würde. Es war zu schade, daß wir keine Videokamera dahatten.
Am frühen Sonntagmorgen fuhr ich noch ins "Trauma". Ich dachte beim Tanzen wieder nach.
Leidenschaftliche Empfindungen füllen mein Leben aus. Das begründet auch ihre Gefährlichkeit. Ich vernachlässige Pflichten, die ich mir selbst gegenüber habe. Ich vernachlässige meinen Beruf. Ich fühle mich gefangen und verwunschen. Etwas ist nicht so, wie es sein sollte. Etwas stimmt nicht.
Rafa findet, daß es gefährlich für mich ist, mich auf ihn einzulassen. Findet er auch, daß es gefährlich für ihn ist, sich auf mich einzulassen?
"Ich glaube, du bist schon eine Bedrohung für Rafa", meinte Carl. "Er hat schließlich Gefühle für dich, und die kann er sich nicht gestatten. - Wie ist das eigentlich für dich? Du hast ihn ja nun ein Wochenende nicht gesehen."
"Fürchterlich", seufzte ich. "Ich konnte ihn nicht einmal beobachten. Ich konnte ihn in keiner Weise erreichen. Nun - für die Sache war es vielleicht nicht schlecht. Denn ihm hat für seine 'Vorstellung' der Zuschauer gefehlt."
In einem Traum am Dienstag zeigte sich Rafas Freundin recht griffig. Sie hatte einen Grund dafür.
Das "Elizium" war seltsam zweigeteilt. Ein unsichtbarer Trennungsstrich zog sich quer über die Tanzfläche. Auf der Seite mit der Bar waren die Gäste. Auf der Seite mit dem Podest und der Treppe war das "Elizium" menschenleer, als läge auf dieser Hälfte des Lokals ein Bann. Mir allerdings waren beide Hälften zugänglich. Ich stand auf der Tanzfläche, am Rande der "unbelebten Zone", und sah Rafa an mir vorbeigehen.
"Heute allein?" dachte ich schon hoffnungsvoll ...
... da beobachtete ich, wie sich seine Freundin zu ihm gesellte und er mit ihr zu reden begann. Ich zog sogleich davon, mit dem Schritt eines Gardegenerals. Es muß übertrieben gewirkt haben. Ich stellte mich in die Ecke vor der Treppe, von der aus ich keinen Menschen sehen konnte - und auch mich keiner sehen konnte. Einen Augenblick später kam Rafas Freundin angerannt. Sie betrat einfach den "toten Bereich".
"Zu wem will die bloß?" fragte ich mich. "Hier ist doch keiner."
Meine Frage beantwortete sich, als die Freundin mich recht grob am Halsausschnitt packte und mich vor- und zurückriß.
"Dan-ke!" sagte sie hart.
Rafa hatte wohl soeben mit ihr Schluß gemacht, und sie gab mir die Schuld.
Sie schob mich gegen die Wand. Als sie ihren Griff löste, ließ ich mich langsam nach unten gleiten, bis ich auf dem Boden saß. Ich lächelte entrückt und sagte wie zu mir selbst:
"Ich liebe ihn."
"Sie soll mich ruhig schlagen und treten, wenn ihr das etwas gibt", dachte ich. "Ändern kann sie doch nichts."
Ich hatte keine Furcht vor ihr.
Und es geschah auch nichts. Der Traum war zuende.
Ich erinnere mich daran, wie Rafa in der "Halle" zu mir sagte:
"Ich liebe dich."
Er lächelte dabei. Er genoß es offenbar, die Worte auszusprechen, konnte er doch annehmen, daß ich sie ihm ohnehin nicht glauben würde.
Ich lächelte auch, als ich in dem Traum zu Rafas Freundin sagte:
"Ich liebe ihn."
Ich genoß es, diese Worte auszusprechen. Rafa konnte sie ja nicht hören.
Nach wie vor habe ich meine Zweifel daran, daß meine Empfindungen für Rafa wirklich ihm gelten.
Wie soll ein Mensch, der aus einer mir so fremden Lebenswelt kommt, mich ergreifen und begreifen können?
Er ist mir so fremd, wie er mir vertraut ist. Er kann mich als Einziger körperlich erreichen und bleibt doch unerreichbar für mich.
Weshalb will ich ihn? Will ich ihn? Ist auch ein Teil von mir mir fremd, so fremd, wie Rafa mir ist? Ist ein Teil von mir ungewollt und abgelehnt?
Ich will mehr über Rafa wissen, noch viel mehr. Ich ahne, das Wissen zu brauchen, um mich selbst kennenlernen zu können. Am Ende ist Rafa wirklich mein fliehender Schatten, meine zweite Hälfte.
Immer war Rafa in der günstigeren Position. Immer konnte er entscheiden, wie es in unserer Beziehung weiterging. Immer war ich abhängiger von ihm als er von mir. Immer konnte er leichter auf mich verzichten als ich auf ihn.
Der Fliehende ist stärker, solange er dem Suchenden entfliehen kann. Erst wenn er eingeholt ist, kehrt sich das Verhältnis um. Solange Rafa also nicht von seinen Gefühlen überwältigt wird, hat er sich und mich in der Gewalt. Wenn sie ihn aber überwältigen, dann ...
Immer habe ich Traumerlebnisse von meiner Macht über Rafa, einer furchterregenden, schrankenlosen Macht. Er fällt mir zum Opfer.
Ist es denn er? Ist es denn wirklich er? Kann das nicht eine Übertragung sein? Meine ich denn ihn, wahrhaft ihn? Kann ich ihn meinen? Bin ich nicht viel zu sehr in mir gefesselt, um echte Zuneigung fühlen zu können? Ich suche nach dem Menschen, ich suche und suche. Ich will nicht in meinen Fesseln enden.
Rikka meint, ich solle meine Träume nicht überbewerten. Aufgrund meiner Sehnsucht nach Rafa würde ich mir einbilden, bei ihm wäre Sehnsucht nach mir vorhanden.
"Das ist so mit diesen Männergeschichten", sagte sie. "Rafa ist eben sprunghaft."
"Mit einer solchen Beobachtung gebe ich mich nicht zufrieden", entgegnete ich. "Ich suche in seinem Verhalten nach Gesetzmäßigkeiten. Ich finde, es hat System, wenn er immer, nachdem er mir nahegekommen ist, sich von mir zurückzieht. Es ist jedesmal, als hätte er eine heiße Herdplatte angefaßt."
"Ich würde mir nicht die geringsten Hoffnungen auf ihn machen."
"Ich betrachte es als Fall für die Forschung."
Männergeschichten? Was sind "Männergeschichten" eigentlich? Ich kann mit dem Begriff nichts anfangen.
"Wer aufgibt, hat schon verloren", hat Telgart einmal gesagt.
Ich bin auch nicht der Mensch, der aufgibt. Für mich hat sich das Aufgeben noch nie gelohnt. Ich lasse von einer Sache nur, wenn ich in Frieden mit ihr abschließen kann.
Rafa setzt mir einen ziemlichen Widerstand entgegen. Ich nehme an, er will erreichen, daß ich auf keinen Fall erfahre, woran ich mit ihm bin. Ich will aber auf jeden Fall herausfinden, woran ich mit ihm bin. Ich will ein eindeutiges Ergebnis. Rafa versteckt sich hinter einem mehrdeutigen Verhalten.
Etwas scheint ihn dazu zu zwingen, sich immer wieder auf mich einzulassen. Darin liegt wohl die Gefahr für ihn. Ich bin ausdauernd, und es wird Rafa schwerfallen, sich mir auf lange Sicht zu verschließen.
Am Mittwoch wurde ich wieder krank. Ich konnte nichts essen und mußte mich ins Bett legen. Ortfried kam. Er setzte sich auf mein Sofa, und wir plauderten miteinander. Constri erlitt einen Tiefschlag; sie ist von der Hochschule nicht genommen worden, bei der sie sich beworben hat. Ich warf sie trotzdem aus meinem Zimmer und überließ unserer Mutter das Seelentrösten. Constri steht mir zu nahe, als daß ich wirklich etwas für sie tun könnte. Ohne mich ist sie stärker als mit mir.
Ich habe mein Zimmer und mein Bett wieder für mich - endgültig. Ich lasse nur noch ein, wen ich hereinbete. Constri muß ins Gästezimmer umziehen.
In einem Traum am Donnerstag war ich mit meinen Leuten in der "Halle". Die "Halle" erstreckte sich über mehrere Fabrikhallen, die zum Teil noch in ihrem ursprünglichen Zustand waren. Da sah man Stahl- und Betontreppen vor dunklem Mauerwerk, durch wenige Strahler erleuchtet. Überall waren Konzertgäste, alle sorgsam zurechtgemacht und kostümiert, in wallenden schwarzen Gewändern, mit Spitze und Schleiern verziert, mit toupierten Frisuren, reichlich Schmuck und langen Kajalstrichen. Es sollte einen großen Auftritt geben. Folter kam in Begleitung eines Mädchens, das Rafas Freundin zum Verwechseln ähnlich sah. Ich verwechselte es zunächst auch mit ihr; ich wunderte mich nur darüber, daß das fremde Mädchen so freundlich und menschlich war.
Ich hatte gehört, daß Rafa bei dem Auftritt mitwirken sollte. Wie beiläufig ging ich in einen abseits gelegenen Saal, wo ich ihn vermutete. In dem Saal war es dunkel; es wurde aber mit meinem Eintreten heller und heller. Der Saal war fast ganz ausgefüllt von einer steilen, breiten Stiege, auf der dicht an dicht die Gäste saßen. Sie warteten hier auf den Beginn des Konzerts.
Am Fuß der Treppe stand Rafa und lächelte mir ins Gesicht. Ich lächelte zurück und sah ihn schweigend an.
"Was stehst du hier herum?" fragte er streng und immer noch lächelnd. "Sieh' mal neben dich."
Ich drehte mich nach links, und da lehnte die echte Freundin von Rafa an einer weiß gekalkten Wand, reglos wie ein verpupptes Insekt, eingehüllt in weiße Tücher und Schals und kalt blickend.
"Oh ...", machte ich.
Ich wollte mich entfernen, da packte Rafa meine Schulter und drehte mich so, daß ich ihn ansehen mußte. Er streckte mir die Zunge heraus. Ich verwandelte das ohne Hemmungen in einen Zungenkuss. Rafa hörte weder auf zu lächeln, noch ließ er meine Schulter los. Er begann, mit Plüschfiguren nach mir zu hauen. Er schob mich zu einer freien Gasse auf der Treppe und schritt an meiner rechten Seite feierlich und gemessen hinauf. Er bewarf mich fortwährend mit Plüschfiguren. Er hatte immer mehr und mehr davon; es war, als würden sie in seiner Hand entstehen. Nicht alle Figuren trafen mich. Einige warf Rafa auch nur in den Raum hinein. Sie waren federleicht und flogen weit umher. Bald war die Luft von ihnen erfüllt. Auch ich fühlte mich leicht, fast schwerelos. Ich lächelte und lachte unaufhörlich. Rafa stieg mit mir ganz nach oben, wo niemand mehr saß. Wir erreichten eine Plattform. Auf den letzten Stufen legte Rafa sich nieder. Sein Arm ragte über den plüschbedeckten Boden der Plattform. In seiner Hand hielt er noch eine Figur. Ich kniete bei Rafa und kuschelte meine Wange an die Figur, dann an die Hand, und dann ergriff ich von seinem Arm und dem anderen Arm Besitz. Rafa sah mich nicht an; sein Kopf war abgewendet. Er lag ruhig vor mir und ließ geschehen, was geschah. Ich fühlte mich wie eine Insektenkönigin mit Opfer. Die Leute auf der Treppe mußten unsere Darbietung recht unterhaltsam finden.
Nach einer Weile kam Bewegung in die Menge. Der Auftritt schien begonnen zu haben. Ich griff nach einem weiten, langen Umhang, den ich neben mir fand und lief mit dem wehenden Umhang die Stufen hinab, zwischen den vielen Leuten hindurch. Ich mußte achtgeben, daß ich nicht hängenblieb oder fiel. Im Konzertsaal fand ich meine Freunde wieder. Rituelle Gesänge ertönten. Als Mönche verkleidete Chormädchen gingen in Gruppen durchs Publikum. Sie winkten einzelne Zuschauer her - auch mich - und verteilten sie an Mitwirkende, die sie in die Vorstellung einbauen sollten. Mich schickten sie zu Rafa. Er stand auf einer Empore und lächelte zu mir herunter.
Das war wieder einer von den Träumen, in denen Rafa mich in Besitz nahm und sich mir gleichzeitig zu Füßen legte. Am Abend davor hatte ich mich noch gefragt, was es zu bedeuten habe, daß er mich so häufig an der Schulter faßt oder am Arm rüttelt. Er hat das wirklich schon oft getan, und es kam mir so vor, als wolle er mich wecken. Bisweilen hat die Geste auch etwas Flehendes. Und bisweilen schwingt Ärger mit.
Wenn mein Verlangen nach Rafa besonders heftig ist, rechne ich damit, daß er sich besonders abweisend gibt. Mich hält dann nur die Erinnerung an sein Lächeln aufrecht.
Ich habe die Kassetten wieder herausgesucht, die Rafa mir in SHG. aufgenommen hat. Die Musik darauf ist zum Teil tanzbar, zum Teil aber auch bombastisch, blasphemisch, kaputt, melancholisch-verloren. Am Ende von "The Great Seal" von Laibach sagt der Sprecher:
"We shall never surrender."
Das klingt wie ein Schwur, eine Beschwörung; es beinhaltet die Bereitschaft, sich ganz zu geben, statt aufzugeben.
In "Holy holy holy" von Current 93 singt eine Frauenstimme mit Halleffekt ein frömmelndes Lied:
"But every time I sin on earth
I feel that I'm the one.
I'm the one
who should be crucified
I'm the one
who nailed his cross so high ..."
Im Hintergrund jammert eine Heimorgel. Kurze Samples zerhacken den Gesang. Liebt Rafa diese böse Ironie auch so wie ich? Sein Humor ist trocken und zynisch genug. Auf der anderen Seite hat Rafa eine Schwäche für schlichte, kitschige Stücke aus der Neuen Deutschen Welle. Vielleicht erinnern sie ihn an die Zeit, als sein Vater noch lebte. Vielleicht wird er durch sie wieder zu dem Kind, das er gerne geblieben wäre. Ich kann mir vorstellen, daß Rafa seine Kindheit in der Erinnerung verklärt und überzuckert.
Ich glaube, daß mein Gefühl, trauern zu müssen, mit Erinnerungen an meine Kindheit zusammenhängt. Ich sehe sie als eine dunkle Zeit, eine Zeit der Bedrohungen und Grausamkeiten, in die ich nie mehr zurückkehren möchte.
Ein "Scherenschnitt" gibt mein Bedürfnis nach Trauer wieder. Ich habe ihn einer Gethsemane-Darstellung aus den sechziger Jahren nachempfunden. Er zeigt einen finsteren Garten, nur mit zwei verdorrten Sträuchern, einer näher am Betrachter, einer weiter weg. Über den Himmel ziehen schwarze Wolkenbänke. In dem Bild ist mehr Schwarz als in seinem Vorbild.
Ich hatte nie im Leben solche Träume, wie ich sie habe, seit ich Rafa kenne - Träume, in denen sich ein Mensch mir ausliefert, Träume von Zuneigung, Überwältigung und Macht. Durch Rafa hat sich etwas verändert für mich und um mich herum, und das, obwohl er sich noch nie wirklich auf mich eingelassen hat.
Till glaubt nicht, daß es schwierig ist, mit Rafa zusammenzukommen.
"Du sagst einfach, ich hab' dich lieb, das war's", belehrte er mich.
"Und wenn er mich am nächsten Tag betrügt?" wandte ich ein.
"Man muß flexibel sein", meinte Till achselzuckend. "Es gibt genug andere."
"Für mich kommt nur einer in Frage."
"Wir leben im 20. Jahrhundert", hob Till den Zeigefinger. "Unsere Zeit ist zu schnellebig, als daß man sich noch verlieben könnte."
"Ohne Gefühle läuft für mich nichts."
Ich fuhr am Freitagabend mit Ortfried und U.W. zur "Halle", wo die anderen auf uns warteten. Wir holten vorher Merle ab. Sie zeigte uns ihre neue Einrichtung in Rot und Schwarz. Ich setzte mich auf einen der roten Sessel, in meinem engen Rollkragenpullover und dem kurzen, weiten Taftrock, mit einer Fischgräte aus Aluminium auf der Brust.
"Na, Gräte?" sagte Merle.
Zu den anwesenden Jungs gewandt fuhr sie fort:
"Sieht sie nicht geil aus heute? Schade, daß ich keinen Fotoapparat dahabe. Man müßte sie fotografieren - ganz in Schwarz auf dem roten Polster."
Ortfried machte über Rafas Sängerin einen seiner wüstesten Sprüche.
"Ich glaub' nicht, daß die engfotzig is', ey. Ich glaub' eher, die ist ausgeschlafft", gab er zum Besten. "Die möchte ich mal ... die nehm' ich mir mal ..."
Wir liefen an den hohen, finster-roten Fabrikmauern entlang, in der Ecke, von der ich geträumt hatte. Pappelzweige bewegten sich im Wind. Auf einer betonierten Fläche waren Paletten gestapelt, umgeben von Schutt. Die Luft war frisch.
In der "Halle" hatten sich die Gäste besonders feingemacht. Das Licht war gedämpft. Die Bühne hatte eine schwarze Rückwand bekommen und war erleuchtet, obwohl noch getanzt wurde. Ein Sampler mit Coverversionen wurde vorgestellt, und die beteiligten Bands sollten in dieser Nacht auftreten. Einige der Bands konnte man gar nicht als Bands im engeren Sinne bezeichnen. Vielmehr hatten sich Kappa, weitere DJ's und deren Freundinnen zusammengefunden, um ein wenig "herumzumischen". Das Ergebnis klang dementsprechend.
Ich sonderte mich auf der Tanzfläche von allem Lebendigen ab. Ich hatte Sehnsucht nach körperlicher Nähe, und in diesem Zustand kann ich nichts anfassen, nicht einmal meinen Rock. Ich halte also meine Hände möglichst frei, und wenn ich nicht tanze, stehe ich reglos.
Etwa um Mitternacht stand ein Sarg auf der Bühne, eingerahmt von zwei brennenden Kerzen. Der Boden lag voller weißer Blüten. Dolf kam, in Rafas Überwurf, auf den Α und Ω gestickt sind. Rafa kam in Talar und Priesterhemd. Er stellte sich hinter sein Keyboard und sang "Ganz in Weiß", das Stück, von dem ich gehofft hatte, es einmal wieder zu hören. Dolf nahm den Sargdeckel ab und holte Rafas Freundin heraus. Sie hatte ein für mein Empfinden geschmackloses Brautkleid an, das nach meinem Empfinden gut zu ihr paßte. Dolf mußte mit der Freundin tanzen. Ich sah mir das nicht an. Ich sah Rafa ins Gesicht, der seine Spiegelbrille trug. Ich sagte mir:
"Ich will ihn halt sehen; da ist es mir gleich, was die Leute sich denken."
Rafa hatte sich auch für diesen Auftritt eine Zigarette angezündet. Er wirkte wohlgelaunt, fast überdreht.
"Los! Tan-zen! Tan-zen!" rief er lachend zu Dolf und der Sängerin hinüber.
Am Ende legte sich die "Braut" zurück in den Sarg. Dolf legte sich auf sie, und Rafa deckelte den Sarg zu.
Ich sah Rafa später hinten auf dem Bühnenpodest stehen, wieder in seiner gewohnten Kleidung. Er blickte mich an, winkte und lächelte. Das Lächeln gefiel mir nicht; ich kenne es; es ist sein unehrliches, aufgesetztes Lächeln, sein gönnerhaftes, leutseliges Lächeln. Ich erwiderte es nicht und hob nur langsam und mit gespreizten Fingern die Hand. Als ich am Rand der Tanzfläche saß, kam Rafa auf mich zu und reichte mir seine Raubtiertatze. Ich hielt sie fest. Rafa beugte sich zu mir herunter und fragte:
"Na? Wie fandst du's?"
"Es hat mir gefallen", antwortete ich, und meine Hand legte sich auf seine Schulter, "weil ich das Lied echt mag. Ehrlich."
Rafa nickte. Dann richtete er sich auf und redete mit anderen Leuten; meine Hand lag noch in der seinen, und er drückte sie spielerisch. Als er sich erneut herunterbeugte, ergänzte ich:
"Nur auf die Sängerin hättet ihr verzichten können."
"Warum?" fragte Rafa mit gekünstelt wirkender Verwunderung.
"Weil du mit der zusammen bist, warum sonst?"
"Ja, und?" fragte er mit einem wohlwollend-herablassenden Gesichtsausdruck.
"Dieses arrogante Gehabe wird dir noch leidtun", dachte ich.
"Weshalb willst du mir gegenüber den 'schlechten Menschen' spielen?" fing ich an mit der Befragung. "Hattest du doch gesagt."
"Weil ich sonst zu gut bin", erwiderte Rafa milde lächelnd und entfernte sich eilig.
Es folgte eine Abschiedsschau aller Bands. Zu "Say hello, wave goodbye" von Soft Cell trugen Kappa und Rafa den Sarg noch einmal auf die Bühne. Alles umhalste sich und sang das Stück mit. Selbstverständlich umhalsten sich auch Rafa und seine Freundin. Rafa lachte und sang:
"Take a look on my face for the last time."
Ich fand die Abschiedsschau reichlich albern.
"Ein absurdes Theater", sagte ich zu Constri.
Zum Schluß hoben die Musikanten die weißen Blüten auf, die noch herumlagen, und warfen sie ins Publikum. Die Sängerin, die es sichtlich genoß, auf der Bühne stehen zu dürfen, warf kräftig mit. Sie feuerte einige Blütenzweige in meine Richtung ab. Vielleicht hätte sie mich damit erschlagen, wenn es ihr möglich gewesen wäre.
Ich kaufte mir den Sampler. Rafas Kassette war schon vergriffen. Vielleicht ist das besser so. Ich sollte keine Tonträger mit der Stimme der Sängerin besitzen.
Ich kam deshalb nicht rechtzeitig zum Verkaufsstand, weil er in der Nähe des DJ-Balkons aufgebaut war. Dort ist Rafas "Revier". Ich vermeide es neuerdings, dieses "Revier" zu betreten. Ich möchte Rafa eindeutige Grenzen setzen. Er soll wissen, wo er mich findet und wo er vor mir sicher ist. Ich wäre überhaupt nicht mehr zu dem Stand gegangen, wenn Rafa mich nicht angesprochen hätte.
"War geil, der Auftritt von Rafa, nicht?" sagte Henriette im Damenklo zu mir.
"Ja, er war wirklich gut", sagte ich müde.
Rafa kam noch einmal in meine Nähe; er winkte mir wieder lächelnd zu, über viele Leute hinweg, die zwischen uns saßen. Wieder hob ich meine Hand mit gespreizten Fingern und lächelte nicht zurück.
Ich setzte mich zwischen meine Leute. Der Stuhl zu meiner Rechten war leer, und das ließ mich an etwas Bestimmtes denken. Tatsächlich geschah das, woran ich dachte. Rafa kam heran und setzte sich auf den leeren Stuhl, eine frische Zigarette in der Hand.
"Em ... hast du Feuer?" fragte er.
Ich verneinte.
"Hast du Feuer?" fragt er ein Mädchen, das hinter uns sitzt.
Auch sie hebt die Schultern. Da steht Rafa auf, holt sich einige Meter weiter Feuer, kommt wieder zurück, setzt sich und schaut mich an. Er sitzt einfach da und wartet.
"Letztes Mal hattest du zu mir gesagt, du würdest dich davor fürchten, zu mir zu kommen", fahre ich mit meiner Befragung fort. "Weshalb fürchtest du dich davor?"
"Weil ich Angst habe vor dir."
"Vor was an mir hast du Angst?"
"Ich habe Angst vor dir als Person."
"Fürchtest du dich vor meiner Zuneigung?"
Rafa schüttelt den Kopf.
"Möchtest du, daß ich dich ablehne?" will ich wissen.
Er schüttelt den Kopf. Ich frage weiter:
"Erwartest du von der Frau deiner Wünsche, daß sie deine Untreue toleriert?"
"Nein."
"Dann muß die Frau deiner Wünsche dich verlassen."
"Wieso?"
"Wenn sie deine Untreue nicht toleriert, wie soll das gehen?"
"Wenn ich ... mit der Frau ... meiner Wünsche zusammen bin, bin ich treu."
"Und was ist, wenn sie möchte, daß du ihr vorher deine Treue unter Beweis stellst?"
"Meine - Traumfrau stellt mich nicht auf die Probe", behauptet Rafa.
"Du stellst aber die Menschen auf die Probe", wende ich ein. "Du hast letztes Mal selber gesagt, du willst mich auf die Probe stellen. Willst du andere schlechter behandeln, als sie dich behandeln?"
"Wenn andere Menschen mich andauernd ausfragen und alles Mögliche von mir wissen wollen, dann will ich denen auf den Zahn fühlen", erwidert Rafa ärgerlich. "Dann stelle ich denen Fallen."
"Nehmen wir an, deine Traumfrau will deine Treue bewiesen haben, weil sie deine Untreue nicht tolerieren kann."
"Meine Traumfrau toleriert meine Untreue nicht; sonst ist es nicht meine Traumfrau."
"Ich toleriere deine Untreue nicht", sage ich kurz und bestimmt. "Ist eigentlich deine Freundin ein Schutz vor mir?"
Rafa überlegt kurz und antwortet dann:
"Auf jeden Fall auch, ja."
"Sie ist ein hundertprozentiger Schutz", versichere ich. "Wie du weißt, bin ich streng monogam. Ich dulde keine Frau neben mir."
Er nickt.
"Weshalb findest du, daß Untreue ein steiniger Weg ist?" lautet meine nächste Frage.
"Weiß nicht", tut Rafa unschuldig-verständnislos. "Ist das ein steiniger Weg?"
"Du hattest es gesagt. Und du denkst nach über das, was du sagst."
Rafa schweigt mich vielsagend an.
"Was ist an der Untreue so unangenehm?" frage ich langsam und deutlich.
Meine Augen sind nah an seinen. Meine Hände befinden sich während des Gesprächs abwechselnd an meiner und seiner Stuhllehne und auf seiner Schulter. Ich nehme mir nicht vor, Rafa zu berühren; ich tue es von selbst.
"Ich bin kein Versuchskaninchen", begehrt er auf. "Und einen Computer habe ich zu Hause. Du hakst einfach nur eine Frage nach der anderen ab."
"Willst du mich auch etwas fragen?"
Er schüttelt den Kopf.
"Was empfindest du für mich?" möchte ich wissen.
"Können wir das Gespräch mal auf einem anderen Niveau weiterführen?" verlangt Rafa.
Ich gucke fragend.
"Hör' dir doch mal an, wie du redest", sagt Rafa wütend. "Ich habe einen Computer, mit dem fülle ich Formulare aus für irgendwelche Leute."
"Im Augenblick will ich nur wissen, was du für mich empfindest."
Unsere Blicke tauchen ineinander.
"Ich weiß, was ich für dich empfinde", sagt Rafa.
"Und was empfindest du für mich?"
"Das sage ich nicht", erwidert er und schüttelt leicht den Kopf.
"Du meinst, daß es mir schwerfällt, Gefühle auszudrücken", nehme ich Bezug auf seine Äußerungen im Mai. "Fällt es dir denn leicht, Gefühle auszudrücken?"
"Was für Gefühle?"
"Zuneigung."
Rafa überlegt. Schließlich antwortet er:
"Nein ..."
"Du willst mir aber nicht sagen, was du für mich empfindest."
"Nein."
"Dann fällt es dir am Ende doch schwer, Gefühle auszudrücken", vermute ich.
Er verneint vage.
"Ich möchte dich noch etwas fragen", fahre ich fort. "Beantworte es mir nur, wenn du willst. Ich möchte wissen, ob du Träume hast, die von mir handeln."
"Was für Träume? Träume, die man am Tag hat oder Träume, die man in der Nacht hat, im Schlaf?"
"Die man im Schlaf hat."
Rafa nickt.
"Und - falls du es mir beantworten willst - was für eine Handlung haben sie?" frage ich. "Was geschieht in ihnen?"
"Das erzähle ich nicht", sagt Rafa und lächelt.
"Und warum nicht?"
"Weil dann nur wieder haufenweise Fragen kommen."
"Ich habe in der letzten Zeit ungefähr zwölf Träume von dir gehabt, einer dramatischer als der andere. Und ich hoffe - hoffe - hoffe, daß wir einmal die nötige Ruhe finden, damit ich sie dir erzählen kann. Die Zeit, die wir haben, um uns zu unterhalten, ist nämlich immer sehr, sehr, sehr kurz."
Rafa nickt.
"Fliehst du meine Nähe, oder suchst du sie eher?" frage ich dann.
"Wie sieht es denn im Moment aus?" fragt er zurück.
"Beides gleichzeitig", antworte ich. "Du bist sehr aufgeregt, du zeigst Fluchtverhalten, und trotzdem sitzt du dicht neben mir."
Schweigend sieht Rafa zwischen seinen blondierten Ponysträhnen hindurch. Die schwarzen Pupillen in seinen hellen Augen stechen in meine.
"Jedesmal, wenn du dich mir annäherst, ziehst du dich anschließend sehr, sehr weit zurück", teile ich ihm meine Beobachtungen mit. "Immer, wenn du mir nahekommst, ziehst du dich zurück, als hättest du eine heiße Herdplatte angefaßt."
"Ich verstehe schon", nickt Rafa.
Für ein paar Lidschläge hält er es noch neben mir aus. Dann erhebt er sich und sagt mit einem leichten Grinsen:
"Ich muß Dolf suchen."
Und er bringt sich in Sicherheit.
Ins "Elizium" ging ich in einem durchsichtigen Rock mit einem Mieder als Bund, das die Taille auf sechzig Zentimeter schnürt. Ein kurzer Taftunterrock gehört dazu.
Ich hatte eben meinen Mantel weggelegt, als "Ich lieb sie" von Grauzone gespielt wurde, in dem die Textzeile vorkommt:
"Ich lebte hinter Masken. Sie hat sie mir zerrissen.
Das war sehr nett von ihr. Mein ganzes Herz schenkte ich nur ihr.
Oh, ich lieb sie."
"He", sagte Ortfried, "das könnte doch von Rafa sein."
"Ist es aber nicht", meinte ich. "Das ist es ja."
Ich hob den Kopf und sah Rafa allein hinterm DJ-Pult stehen.
"Er hat's aber aufgelegt", ergänzte ich. "Das erklärt's."
Ich tanzte recht viel. Rafa kam herunter und stellte sich in meine Nähe. Ich sah ihn dieses Mal nicht an. Er ging schließlich auf mich zu und gab mir seine lederverpackte Hand.
"Was 's' los?" fragt er und lächelte sein Begrüßungslächeln.
"Na? Was führt dich her?" frage ich.
"Ich habe mich hergeführt", ist seine Antwort.
"Und? Soll ich dir ein paar hochnothpeinliche Fragen stellen?" biete ich an. "Etwas anderes habe ich mit dir ja fast nicht angestellt, wenn wir uns unterhalten haben."
Rafa nähert sein Gesicht dem meinen.
"Wie wär's, wenn wir beide mal ein ganz normales Verhältnis haben?" schlägt er vor.
"Tja - dafür mußt du erst mit deiner Freundin Schluß machen", bedauere ich. "Das weißt du doch, daß ich keine Frau neben mir dulde."
"Hör' erstmal mit diesen nervenden Fragen auf, dann sehn wir weiter."
Er strebt von mir weg.
"Hast du nicht auch Fragen an mich?" will ich wissen.
"Nein", erwidert Rafa. "Ich weiß genug über dich. Ich brauche dir keine Fragen zu stellen."
"Ach - was weißt du denn schon so alles über mich? Erzähl' mal ein bißchen was."
"Für unser jetziges Verhältnis weiß ich genug", bricht er die Unterhaltung ab und geht.
Als ich später auf dem Weg zur Damentoilette bin, bemerke ich, daß Rafas Freundin mir in geringem Abstand folgt. Ich trödele in der Kabine und warte darauf, daß sie sich wieder entfernt. Ich höre ein Gespräch mit.
"Was 's' das? Hat Rafa dir das beigebracht?" wird die Sängerin von einem Mädchen gefragt.
Vielleicht unterrichtet Rafa die Sängerin in allerlei Spielchen. Sie wird das begeistert aufnehmen, wenn da viel Leere zu füllen ist.
In dem Gespräch fällt auch der Satz:
"Du mußt doch noch Musik machen."
Ich denke daran, daß Rafa die Musik macht und daß die Sängerin und Dolf lediglich als Bühnenfüller dienen, als Bühnenmarionetten, die Rafa für sich tanzen läßt.
Die Stimmen von Kappa und Rafa werden hörbar. Die Mädchen rufen:
"Informatics! 'Accident in Paradise'!"
Die Sängerin und das andere Mädchen eilen in den Tanzraum, um zu "Accident in Paradise" zu tanzen.
Als ich vor dem Waschbecken stehe, bin ich in der Damentoilette allein - jedoch nicht lange. Rafa schiebt sich durch den Türrahmen.
"Oh! Das Rendezvous in der Damentoilette!" bemerke ich. "Wie man's sich gewünscht hat!"
Rafa grinst und grinst. Er geht um mich herum, so daß er vor die Kabinen zu stehen kommt.
"Man ist aber doch bereits gebunden", erinnere ich ihn.
"Und?" gibt er zurück. "Macht doch nichts?"
Er beugt sich zu meiner Taille herunter und zupft hinten an meinem Rock.
"Was ist?" frage ich.
"Nichts", antwortet er etwas verlegen. "Ich wollte nur gucken, ob du schick aussiehst."
Wir betrachten uns.
"Nun widmet man mir also einige Minuten", stelle ich fest.
Ich sehe ihn grinsen und schräge Blicke zu mir herüberwerfen, und ich muß lachen.
"Ich muß so lachen, wenn ich dich so sehe", wispere ich.
"Warum?" fragt er.
"Weil du aussiehst wie -"
"Wie sehe ich aus?"
"Du weißt doch, wie du aussiehst, wenn ich über dich lache."
"Sehe ich aus wie Jochen?"
"Nein!" rufe ich entsetzt. "Nein!"
"Wie sehe ich dann aus?"
"Wie du."
"Und darüber mußt du lachen", folgert Rafa.
"Nein!"
"Also, worüber mußt du lachen?"
"Das erzähle ich jetzt nicht."
"Los!" ruft Rafa. "Antworten!"
"Dann erzähl' mir auch, was du von mir träumst."
"Paß' mal auf", weist er mich zurecht. "Ich stelle hier die Fragen, und du antwortest. Ich habe dir genug erzählt. Ich erzähle nichts mehr."
"Also, dann stell' mir eine Frage."
"Wie sehe ich aus, wenn du über mich lachst?"
"Du weißt doch, über was ich lache. Das habe ich dir vor Monaten erzählt."
"Ich habe es aber vergessen."
"Ich lache über kaputte Autos. Und du kannst so herrlich verunglückt dastehen."
Ich hebe seitlich meine Arme und drehe die Handflächen nach oben.
"Es ist ein Augenschmaus, das zu sehen", schwärme ich. "Man kann gar nicht genug bekommen von dem Anblick. Es ist fas-zi-nierend."
"Nun - du mußt ja wissen, wie du zum Ziel kommst", sagt Rafa beleidigt und geht zum Ausgang.
"Du mußt ebenfalls wissen, wie du zum Ziel kommst", sage ich.
"Ich komme immer zum Ziel", meint Rafa.
"Das denkst auch nur du."
"Ich komme - immer - zum Ziel", unterstreicht er.
Inzwischen stehen wir auf dem kleinen Flur, der zu den Toiletten führt. Rafa schließt eine Hand um meine Schulter.
"Ahhh -", mache ich und werfe den Kopf zurück.
"Ahhh -", macht er und wirft ebenfalls den Kopf zurück.
"Ahhh -", tönt es von Kappa herüber, der mit einem Mädchen in der Nähe steht.
Rafa zeigt mit der freien Hand auf ihn.
"Der da hinten hält den Mund!" befiehlt er.
"Ich - weiß - alles", sagt Rafa dann, wieder zu mir gewandt.
"Und ich weiß nichts, heißt das dann wohl", vermute ich.
"Genau."
"Das glaubst du auch nur, daß du alles weißt."
"Ich glaube nicht, daß ich alles weiß", entgegnet Rafa mit einem sanften Lächeln. "Ich weiß es."
Für die Dauer eines Atemzugs läßt er seine Worte nachhallen, dann schreitet er wieder in Richtung Tanzfläche.
"So, so, so", sage ich.
Rafa hat sich ein NDW-Stück bestellt, "Computerliebe" von Paso Doble.
"Die Module spiel'n verrückt,
Mensch, ich bin total verliebt,
voll auf Liebe eingestellt,
mit Gefühl.
Schalt' mich ein und schalt' mich aus,
die Gefühle müssen 'raus,
ganz egal, was dann passiert,
ich brauch' Liebe", singt eine Frauenstimme den Part des Computers.
Rafa tanzt zu dem Stück, ist sonst allerdings die meiste Zeit hinterm DJ-Pult. Als er einmal die Treppe herunterkommt, streift er dicht an mir vorbei und fährt mit seinen Fingern an meinem Rückgrat entlang. Ich wende meinen Kopf, und er sieht mich über die Schulter an.
"Na? Willst du mich kreuzigen?" frage ich.
"Hast du mich das schon mal gefragt?"
Ich antworte mit dem für Rafa typischen kurzen "Nnein".
"Ich weiß schon, was du sonst sagen würdest", setze ich hinzu. "Du würdest sagen, ich soll mich nicht wiederholen."
Er schüttelt den Kopf.
"Ich frage das, weil ich das geträumt habe", erklärt er.
"Ach - du hast geträumt, daß du mich gekreuzigt hast."
"Ja."
"Fein - dann hast du mir ja doch schon etwas von dem erzählt, was du von mir träumst."
"Nicht schlecht", lobt Rafa. "Das ist eins zu n- ... eins zu zehn für mich."
Nach diesem logisch verdrehten Schlußsatz geht er weiter.
Wir verließen das "Elizium", bevor Rafa es verließ. Seit er die Freundin hat, muß er auf mich zugehen; ich gehe nicht mehr auf ihn zu. So kam es, daß Rafa auf ein Abschiedsritual verzichten mußte.
Mit Ortfried war ich drei Stunden lang im "Trauma". Die "Bretter", die gespielt wurden - Stücke mit harten Rhythmen ab 144 bpm - scheuchten mich über den Boden.
Am Sonntag habe ich geträumt, Rafa würde mich und andere auf eine bestimmte Art zu Technorhythmen tanzen lassen. Er ordnete uns in Reihen und schaltete erst den Rhythmus ein und dann die Samples dazu. Ich machte mit, weil ich nichts dagegen hatte. Als Rafa allerdings seine Freundin holte und neben mich schob, war Schluß mit dem Spiel. Ich hatte nicht vor, mich mit dieser Frau in eine Reihe stellen zu lassen. Rafa schimpfte, aber es half ihm nichts.
Auch Carl hat bemerkt, in welch geringem Abstand mir Rafas Freundin auf dem Weg zur Toilette folgte.
Ich vermute, ich bin für die Freundin nicht ungefährlich. Ich vermute, weder für Rafa noch für mich ist sie mehr als ein Gegenstand. Sie steht nicht als Mensch zwischen uns. Rafa hat sie wie eine Schranke zwischen uns gestellt.
Ich nehme an, Rafa wird sich noch längere Zeit hinter ihr verstecken und sie schließlich austauschen gegen eine ähnliche Freundin, damit er nie ohne Schutz ist. Er flieht mich und kann es doch nicht lassen, sich mir auszuliefern.
Auf dem Sampler, den ich mir in der "Halle" gekauft habe, befindet sich auch Rafas Version von "Ganz in Weiß". Meistens höre ich mir das Stück über Kopfhörer an, denn Rafa hat seine Stimme so weit zurückgeregelt, daß sie sonst kaum zu hören und zu verstehen ist. Ich muß sagen, seine Stimme klingt in dieser Aufnahme so, wie ich sie kenne - sie wirkt unverfälscht. "Ganz in Weiß" ist auch eines der wenigen Stücke, in denen Rafa singt, anstatt verzerrt zu sprechen oder zu schreien.
Rafas Stimme ist kalt und voll. Sie hört sich gut an. Sie kann schüchtern und zärtlich klingen; sie kann einen aber auch erschauern lassen und einem recht zuwider sein.
Rafa hat das Süßliche in dem Text von Roy Black durch die Melodieführung und durch seine kühle Singstimme aufgebrochen. Der Text lautet folgendermaßen:
"Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß,
so siehst du in meinen schönsten Träumen aus.
Ganz verliebt schaust du mich strahlend an,
es gibt nichts mehr, was uns beide trennen kann.
Ganz in Weiß, so gehst du neben mir,
und die Liebe lacht aus jedem Blick von dir.
Ja, dann reichst du mir die Hand,
und du siehst so glücklich aus,
ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß."
Das gefühlsselige "Ganz in Weiß" verführt mich zu dem Glauben, das Lied sei auf mich gemünzt. Diesen Fehler möchte ich ausschließen, indem ich nur auf Rafas Stimme achte.
Die Trennung von Text und Stimme mache ich nicht von mir aus. Mein Unterbewußtsein hat das schon häufig übernommen.
Ich erinnere mich eben daran, daß ich vor zwölf Jahren öfter geträumt habe, wie ein Mann etwas singt, allein, ohne Hall, in einem sonst stillen Raum. Ich hörte das sehr gern. Ich fühlte mich diesem Mann verbunden. Ich wollte ihn erreichen, und er schien mir doch so weit fort.
Am Montag habe ich geträumt, ich sei in der "Halle". In dem wenig belebten Eingangsbereich stand ein kleines Verkaufshäuschen. Auf dem Brett, das als Tresen diente, saß Rafa und ließ die Beine herunterhängen. Er trug ausgeblichene Leggins, die überall zerrissen waren, so daß man viel Haut sah. Solch ein Kleidungsstück habe ich an Rafa noch nie gesehen. Er zeigt sich gewöhnlich finster und zugeknöpft.
Ich kam mit einigen Leuten an dem Verkaufshäuschen vorbei, und die Leute sagten belustigt:
"Aach ... He, Rafa ... heute mal in ..."
Ich blieb stehen, die anderen gingen weiter. Meine Hand verfing sich an den Leggins.
"Is' aber Synthetic drinne!" kam es von Rafa.
Er sah mich auffordernd an, und ich griff in sein Genick. Er beugte sich dicht zu mir und erzählte:
"Ich mag es nicht, wenn eine Frau zu stark für mich ist. Ich mag es auch nicht, wenn eine Frau zu schwach für mich ist. Hennike ist mir zu stark. Das ist nicht gut."
Rafa blieb auf dem Tresen sitzen. Er ließ mich an die Bonbonschalen denken, die im "Read Only Memory" neben der Kasse stehen und aus denen man sich bedienen kann. Ich ging oft an Rafa vorbei und griff jedes Mal zu. Schließlich näherte ich mich dem Häuschen nochmals in Begleitung. Ich hörte sagen:
"Daa ist der schon wieder, der Rafa ... kannst du echt vergessen, den Mann ..."
Die Leute gingen weiter, ich blieb stehen. Rafa und ich sahen uns an. Ich hatte meine Hand wieder an den Leggins.
"Da ist aber Synthetic drinne", kam es erneut.
"Das ist mir - ehrlich gesagt - sch...egal", entgegnete ich.
Rafa näherte sein Gesicht dem meinen.
"Es ist nicht gut, wenn eine Frau zu stark für mich ist", hauchte er. "Hennike ist zu stark für mich."
Ich verstand die Sprache wohl. Als ich begann, Rafa hemmungslos zu streicheln, schwieg er und fiel seinerseits über mich her. Wir umklammerten uns. Der hölzerne Fußboden kippte uns entgegen. Ich hörte laut und andauernd die Geräusche von Raubtieren, die ihr Fleisch fordern. Rafa veränderte seine Haltung. Ich konnte seine Erregung fühlen.
"Er kann sich nicht mehr bremsen", dachte ich. "Er macht Ernst, und er hat noch nicht einmal Schuld daran."
"Nein!" rief ich. "Nein!"
Im selben Augenblick ließ Rafa von mir ab. Der Traum zerfiel.
Ich stelle fest, daß sich Rafa während unserer leidenschaftlichen Begegnung nie von mir als Mensch entfernt hat. Das, was er mir gab, gab er mir, und er gab mir nur das, was ich wollte; er drängte mir nichts auf. Er nahm meinen Willen stets wahr und richtete sich danach. Er hätte sonst nicht augenblicklich auf meinen Warnruf hören können. Er rückte im letzten Moment zur Seite. Ein Atemzug mehr, und er wäre auf mich gestürzt. Dies ist ein Beispiel für Selbstbeherrschung und für Rafas Verbindung zu meinem Gefühlsleben, die trotz seiner Begierde nicht abriß.
Auch in dem nächsten Traum war ich in der "Halle". Rafa kam von hinten auf mich zu und stellte sich zwischen mich und den Lautsprecher. Er trug nicht ein volles Glas, sondern zwei. Ich war wie unter Schock.
Ich wachte auf und konnte mich kaum beruhigen. Ich habe nicht ganz verstehen können, was mich so aus der Fassung brachte. Ich glaube, ich bin darüber erschrocken, daß Rafa tatsächlich nach mir verlangte. Ich bin darüber erschrocken, daß eine Hoffnung sich erfüllte. Ich war fassungslos wie jemand, dem etwas gegeben wird, das er lange umsonst gesucht hat und das zu finden er nicht mehr für möglich hielt.
Mir fällt ein, daß ich in dem Traum, in dem ich Rafa an die Leggins gegangen bin, vergessen habe, daß es seine Freundin gibt. Ich wußte einfach nichts mehr von ihr. Ich war wohl recht benommen und geistig abwesend.
Ich sehe das glucksende Grinsen der Sängerin vor mir, ihren gefärbten Springbrunnenpferdeschwanz und ihren ausladenden Hintern. Viele Männer finden solche ausladenden Formen einladend, vor allem, wenn diese von Lacklederimitat umschlossen sind. Es ekelt mich, das Klimpern dieser Armreifen zu hören. Nicht, daß ich etwas gegen allzu viele Armreifen hätte. Was mich ekelt, ist der armselige Geist der Person, die sie zieren sollen. Welcher Umschaltprozeß befähigt Rafa, die Grenzen des Geschmacks ohne sichtbare Schwierigkeiten zu übersehen? Wie kann ich mich so sehr zu einem Menschen hingezogen fühlen, der sich zu einer Frau wie der Sängerin hingezogen fühlt?
Rafa scheint aus zwei Menschen zu bestehen; der eine ist kalt, oberflächlich und langweilig, und der andere ist leidenschaftlich, verletzbar und phantasievoll. Für den erstgenannten ist die Sängerin die richtige Gefährtin. Der zweite ist der Mensch, nach dem ich Verlangen habe und den er mit Hilfe der Sängerin vor mir schützen will.
Vielleicht gibt es den "wirklichen", "echten" Rafa gar nicht. Vielleicht gibt es nur diese innerlich zweigeteilte Konstruktion.
Rikka fragte mich, weshalb Rafa nicht imstande sein soll, mir eine seiner selbstgemachten Kassetten ins "Elizium" mitzubringen.
"Es ist unmöglich für ihn", antwortete ich. "Der rafft das nicht. Er kann keine Verabredung mit mir einhalten. Denn in dem Moment, in dem er sie einhält, ist er in der schwächeren Position, aus der er nur herauskommt, wenn ich die Verabredung auch einhalte. Er muß mir einen Vertrauensvorschuß geben. Ein enttäuschtes Vertrauen in mich erträgt er nicht. Von mir zurückgewiesen zu werden, erträgt er nicht. Also kann er keine Verabredung mit mir einhalten."
Tiefe Bindungen scheinen Rafa zu überfordern, weil er das dafür notwendige Vertrauen nicht geben kann.
Ich darf die Tür zu Rafa nicht zuschlagen - ich habe meine Hand dazwischen. Die Freundin stört und verschattet meine Sicht auf ihn. Wut und Wahnsinn helfen mir nichts. Ich muß weiterhin Gelassenheit zeigen.
In einem Traum Ende Juni war ich die Gefangene meiner selbst. Mein Kopf wurde mir zum Verhängnis. Ich hatte mich darin verstiegen und steckte nun irgendwo, eingeklemmt und unauffindbar. Ich sah die Welt draußen, aber ich konnte sie nicht erreichen. Es kamen Leute, die bohrten im Schädel herum. Es kamen Leute, die zerrissen mich. Sie warfen das Rückenmark in die eine Ecke, die Augäpfel in die andere. Sie fanden mich aber nicht, so sehr sie auch suchten. Ich hatte zuerst gedacht, ich wäre nur für kurze Zeit aus meinem Sichtfeld geraten und würde meiner rasch wieder habhaft werden. Doch bald wurde mir bewußt, daß der Zustand von Dauer war. Die Mannschaften mühten sich vergebens ab. Sie zerlegten mich Stück für Stück, ohne eine Ahnung zu bekommen, wo ich sein könnte. Ich fragte mich, ob es mich überhaupt noch gab.
"Ich habe mich verloren", sagte ich zu meinen Bekannten und Freunden. "Das kann nicht so bleiben. Ich muß mich 'rausholen."
"Es sieht hoffnungslos aus", war die Antwort.
Ich fühlte mich selbst. Ich war mir unerreichbar nah.
"Es muß mich noch geben", sagte ich. "Ich kann nicht weg sein. Ich brauche mich. Ohne mich bin ich behindert."
Sie gaben mich auf. Nur Trümmer lagen noch herum, Knochenreste und Fetzen von Organen. Ich beschloß, zu Rafa zu gehen. Er würde mich nicht wahrnehmen können. Ich würde ihn sehen und hören, aber nicht fühlen können, selbst wenn ich ihn in den Armen hielt. Weil ich mich nicht erreichte, konnte ich ihn auch nicht für mich erreichbar machen. Ich war ein körperloses Irrlicht. Auf der Suche nach mir war ich zerstört worden. Ich hatte mich für mich geopfert.
Es geht hier um die Aufspaltung und den Zerfall eines Menschen. Es geht hier um ein Rätsel, das nicht gelöst werden kann, ohne daß man sich selbst dabei vernichtet.
Derek hat gerade angerufen. Es tut ihm leid, daß er sich so lange nicht bei uns gemeldet hat.
"Es hat sich viel verändert", meinte er.
Er will uns im "Elizium" unbedingt sehen und sich mit uns verabreden.
Er beneidet Rafa um seine Haare.
"Geile Haare hat der, das muß man ihm lassen."
"Die sind wirklich geil", sagte ich, "die habe ich schon angefaßt."
"Und - die Form der Klamotten, die er trägt, finde ich auch geil. Aber drunter ist doch weiter nichts."
"Ach - für mich schon!"
"Die Wurstfinger ..."
"Die auch!"
Constri wußte einige sehr erheiternde Geschichten. Sie hat dabei zugesehen, wie Ortfried Teppiche verkauft.
Es ging um einen zerrupften, verwaschen aussehenden Teppich.
"Die Jeansindustrie hat das Stone-washed-Verfahren in diesem Jahrhundert entwickelt", erzählte Ortfried seinem Kunden. "Die Perser aber - die kannten das schon vor zweitausend Jahren. Dies hier - ist ein echter persischer Stone-washed-Teppich."
Der Kunde kaufte ihm das ab, und er kaufte auch den Teppich.
Zu einem anderen Kunden sagte Ortfried:
"An der rostroten Borte erkennt der Fachmann, daß es sich um einen wertvollen Teppich handelt."
Der Kunde wollte wissen, ob der Teppich zu einer modernen Einrichtung passe.
"Das ist ein avantgardistisches Stück", sagte Ortfried über den äußerst konventionell gemusterten Bodenbelag. "Man sieht das an diesem Hellblau."
Das aufdringliche Hellblau in dem Teppich war das, was das Stück vollends profan machte.
Ortfried redete ohne Pause, und der Kunde kaufte.
In der Kantine wurde Ortfried von Constri gefragt, was er sich dabei denke, wenn er so einen Unsinn daherrede. Ein moderner Teppich wäre doch für den Kunden viel geeigneter gewesen.
"Ja - aber der häßliche war teurer", meinte Ortfried, "und das gibt mehr Provision für mich."
Nun ... ich finde auch - die Kunden sind volljährig, und wenn sie sich einen Heidenblödsinn einreden lassen, sind sie selber schuld. Ich allerdings könnte Ortfrieds Arbeit nicht machen. Ich empfinde das Lügen für Geld als echte Drecksarbeit, zu der ich mich nicht herablassen kann. Ich will mich nicht Tag für Tag verstellen müssen. Ich denke, daß ich es mir schuldig bin, mich davor zu bewahren.
Wir kamen am Samstag ins "Elizium", und Rafa saß genau da, wo ich immer meinen Mantel hinlege (es sei denn, der Boden ist naß, weil ein Glas umgekippt ist). Rafa lächelte mir entgegen und reichte mir die Hand. Ich ergriff sie. Er hielt meine Hand nur kurz fest. Ich schlüpfte aus meinem Mantel.
"Du siehst heute schick aus", sagte Rafa.
Ich hatte mich wirklich wieder bis zum Gehtnichtmehr zurechtgemacht, mit Organzarock, Organzaschleife und Organzaschnürbändern. Ich legte rasch meinen Mantel weg und sagte:
"Und du siehst heute richtig schön besoffen aus. Oder - nicht?"
"Nein."
Dabei hatte er doch eine etwas schwere Zunge.
"Bist du nicht der, der mich im Traum gekreuzigt hat?" fragte ich.
"Hast du geträumt, dich hat jemand gekreuzigt?"
"Nein. Du hattest letztes Mal erzählt, du hättest geträumt, du hättest mich gekreuzigt."
"Das ist eine Lüge", sagt Rafa.
"Ah, ja."
Wir sehen uns an. Er schaut weg und dann wieder her.
"Was 's' los?" fragt er.
"Ich muß dich angucken", erkläre ich.
Wir gucken.
"Genug geguckt?" fragt Rafa schließlich.
Ich schüttle den Kopf.
"Wenn du nicht gleich den Geier machst, mach' ich dich zu Brei!" schrillt die Stimme der Sängerin dazwischen.
Ich trete einen Schritt zur Seite, drehe mich zu Constri um und sage:
"Siehst du?"
"Voll peinlich", meint Constri. "Die macht sich ja wohl voll lächerlich. Als würde ihr der gehören!"
Ich wende mich wieder Rafa zu und rufe lächelnd:
"Sie liebt dich sehr, stimmt's?"
"Kann schon sein", sagt er kühl, mit der mir vertrauten trockenen Ironie.
"Land of Rape and Honey" von Ministry beginnt. Ich tanze für längere Zeit. Als ich und meine Leute kurz nach draußen gehen, weil es im "Elizium" sehr warm ist, erzähle ich allen die Geschichte mit der Sängerin.
"Das gibt vielleicht auch für die noch ein Hausverbot", schließe ich den Bericht.
"Lauter Hausverbote", sagen die anderen, "da bist du am Ende ganz allein im 'Elizium'. Sollt' man nicht dir Hausverbot geben? Du stiftest doch hier die Verwirrung."
Als ich wieder hineingehe, rufe ich:
"So, ich laß' mich jetzt zusammenschlagen!"
Da kommt Derek auch gleich wieder mit.
Rafa tanzt zu dem Stück von dem verliebten Computer und zu "Ich lieb' sie" von Grauzone. Danach kommt er an mir vorbei. Er bleibt kurz stehen und lächelt mich an. Mit einem Fingernagel kratzt er an meinem bloßen Arm entlang.
Constri hat beobachtet, wie die Sängerin wütend eine Zigarette in meine Richtung geworfen hat. Talis hat gesehen, daß die Sängerin auf der Treppe mit erhobenem Kopf an Rafa vorbeigehen wollte. Er hielt sie jedoch auf und stritt mit ihr.
"Ehekrach", meinte Talis.
Mit zusammengekniffenen Lippen ging Rafa schließlich nach unten und sagte etwas wie:
"Frauen!"
Insgesamt war Rafa während dieser Nacht kaum in der Nähe seiner Freundin.
Als ich am Fuß der Treppe mit meiner Tasche beschäftigt war, näherte sich Rafa von oben. Er blieb jenseits des Geländers stehen. Ich stand diesseits und hielt mich am Handlauf fest. Ich sah kurz nach der Sängerin - sie tanzte mit dem Rücken zu uns. Da richtete ich mich auf und sah Rafa über die Schulter an. Wir standen beide regungslos und lächelnd da und ließen unsere Blicke ineinandertauchen. Ich hatte mich warmgetanzt. Rafa legte sein kaltes Bierglas an meinen Arm. Ich verdrehte meinen Kopf etwas, und wir lächelten, bis Rafa weiterging.
Etwas später kam ich wieder zur Treppe und holte mein Haarspray hervor. Auf den untersten Stufen saß die Sängerin mit einem anderen Mädchen.
"Zum Kotzen, die Frau!" schrie sie.
Ich sprühte mir in aller Ruhe die Frisur über.
"Ah, jetzt macht die auch noch mit Haarspray 'rum!" schrie die Sängerin.
Einige Zeit danach stellte sich Rafa vor eine Säule in meine unmittelbare Nähe. Und wieder drehte er sich um und lächelte mir zu. Er war für die Sängerin nicht sichtbar. Die Säule schützte ihn. Und sie schützte auch mich, da die Sängerin nicht sehen konnte, wohin ich blickte.
Etwas später sagte Carl zu mir:
"Hier, Rafa redet gerade mit Luisa."
Luisa war nach längerer Zeit wieder ins "Elizium" gekommen, und Carl konnte sie mir endlich zeigen. Sie trug einen langen Rock und ein langes Oberteil, beides in Orangerot und so weit, daß es die Figur verhüllte. Luisa wirkte auf mich menschlicher und netter als die Sängerin.
"Louise" von Clan of Xymox wurde gespielt, ein Stück, das im "Elizium" sonst nicht läuft. Es ist melancholisch und gefühlvoll und ohne Künstlichkeit. Rafa tanzte schräg gegenüber von mir. Er kam immer näher an mich heran. Ich glaube, er tanzte mit mir, wenngleich er Blickkontakt sorgsam vermied. Er muß sich von mir fernhalten, wenn er die Sängerin nicht auf mich hetzen will. Verlangt er nach mir, muß er die Sängerin wegschicken. Er ist gezwungen, sich zu entscheiden.
Als Rafa auf die Tanzfläche kam, hatte er seine Jacke nicht an, nur das ausgewaschene Sweatshirt ohne Bündchen und die orientalisch geschnittene Hose, die zu dem neuen Zweiteiler gehört. Ich mag die Körperform, die durch solche Kleidung unterstützt wird.
Als ich meine Tasche nahm, um zur Toilette zu gehen, stand Rafa oben beim DJ. Ich hatte den Tanzraum zur Hälfte durchquert, da stolperte ich ein wenig und sah neben mich. Rafa stand auf einmal dicht bei mir und sprach mit einem Jungen über eine Fahrgemeinschaft. Er muß in Sekundenschnelle nach unten gestürmt sein. Er weiß, was es bedeutet, wenn ich mit Tasche durch den Tanzraum laufe.
Als ich in der Damentoilette verschwand, verschwand eine wohlbekannte Gestalt in der Herrentoilette. Rafa muß mir fast lautlos gefolgt sein. Ich hatte mich eben nachgeschminkt, als neben mir zwei Mädchen riefen:
"Hi, Rafa!"
Ich sah ihn wie einen flüchtigen Schatten in den Raum grüßen. Ich vermute, die Mädchen haben ihn verschreckt. Ich schließe nicht aus, daß er hereingekommen wäre, wenn er mich allein gefunden hätte.
Es war Rafas Abschiedsvorstellung. Er war danach fort.
Xentrix spielte ein Stück, das ich aus dem "Fall" kenne - das rituelle "Lord of Ages" von Blood Axis.
Gegen Morgen schlief Derek, an einen Stuhl gelehnt; ich blieb mit ihm im "Elizium", bis sein Zug nach W. fuhr. Bevor wir endlich gehen konnten, mußte ich eine Zeitlang vor der Toilette warten, weil Derek sich dort übergab.
Im "Trauma" beschwor mich Joël, auf jeden Fall noch dazubleiben, wenn er auflegte. Er fing erst um sieben an.
"Ich mach' noch richtig Hölle", versprach er. "Mach' noch Hölle, ja? Das sieht so schön verdreht aus. Das sieht so schön entrückt aus. Ich seh' das gerne. Bleib' noch da, ja? Auf jeden Fall, ja?"
Carl fand heraus, daß die Sängerin Tessa heißt. Für Derek ist das ohne Bedeutung; er hat schon einen Namen für sie: "F... mich".
Die Sängerin ahnt wohl, daß zwischen Rafa und mir eine Form der Verständigung stattfindet, die sie nicht nachvollziehen kann. Rafa und ich gehen auf einer Ebene miteinander um, die sie nicht zu erreichen vermag. Tobend und fußaufstampfend fährt sie dazwischen und begreift nicht, daß solch ein Verhalten weder auf mich noch auf ihn den geringsten Eindruck macht.
Ein weiblicher Sockenschuß ist die Sängerin wohl nicht. Ich halte sie nicht für geistesgestört. Wenn sie endgültig verspielt hat, dürfte sie Ruhe geben. Noch scheint Rafa sie allerdings zu benötigen.
Als ich Rikka erzählte, wie Rafa mich auf meinem Weg zur Damentoilette in Windeseile einholte, sagte sie:
"Ich kann mir vorstellen, wie der gerannt ist. Ich weiß doch, wie das aussieht, wenn der durchs 'Elizium' rennt. 'Vorsicht! Wichtig! Jetzt kommt ...'"
In einem Traum Anfang Juli sah ich Rafa in unserer Eßecke; er zog sich seine Jacke an. Er wollte gerade gehen. Hatte er vor, mich mitzunehmen?
Merle feierte ihren 25. Geburtstag und lud uns dazu ins Pub ein. Rikka und Constri hörten gespannt zu, als ich ihnen von meinen Träumen erzählte. Die Verführungsszene mit der zerrissenen Leggins fanden sie besonders aufregend. Sie wollten genau wissen, in welchem Zustand sich Rafa befunden hat. Sie baten mich darum, sie so bald wie möglich eine erweiterte Fassung dieses Traumes hören zu lassen. Sie fragten mich auch gleich nach sadomasochistischen Träumen aus. Was in denen im Einzelnen geschah, erfuhren sie freilich nicht.
Talis erinnerte sich an etwas, das sich vor Monaten im "Elizium" zutrug. Er beobachtete Rafa und mich, wie wir uns minutenlang gegenüberstanden und uns anlächelten.
"So habe ich dich weder vorher noch nachher je lächeln sehen", sagte Talis. "So voll verliebt ..."
"Hat Rafa auch so gelächelt?"
"Der auch. Ich dachte, jetzt fallen sie sich gleich in die Arme. Aber war nicht."
Talis erkundigte sich, ob ich Rafa denn überhaupt noch will.
"Sicher", antwortete ich. Und nur ihn."
"Als ich gesehen habe, wie Rafa dich im 'Elizium' begrüßt hat, bin ich nahe daran gewesen, ihn auch zu grüßen", erzählte Talis. "Ich habe es mir gerade noch verkneifen können."
"Verkneifen?" fragte Rikka.
"Ich grüß' den doch nicht", meinte Talis. "Der kennt mich nicht."
Talis wollte wissen, ob ich mir vorstellen könnte, mit Rafa unverbindlich und locker befreundet zu sein.
"Auf keinen Fall", antwortete ich. "Unser Verhältnis ist keine Freundschaft. Das geht nur von innen nach innen."
In einem Traum begegnete mir ein Mann, den ich sogleich abstoßend fand. Er war erheblich älter als ich und hatte eine anmaßende Art, zu reden. Der Mann hielt mich in einem Raum gefangen, der einer Zelle oder Folterkammer ähnelte. Der Raum war hell erleuchtet und hatte keine Außenfenster. Ich entfernte mich aus dem Geschehen, indem ich meinen Körper verließ. Da ich ihn verlassen hatte, konnte ich mich nicht mehr zur Wehr setzen. Constri und ich beobachteten, wie der Mann sich an meinem "leeren" Körper verging. Wir wollten etwas unternehmen, waren aber wie gelähmt. Ich sagte zu Constri:
"Das ist so link, wie Rafa sich verhalten hat - ich mach' ihn fertig. Das geschieht ihm nur recht."
Ich fand es selbstverständlich, Rafa für etwas büßen zu lassen, das er gar nicht getan hatte - ja, von dem er nicht einmal wußte. Um fremder Sünden willen sollte er leiden.
Ich strafe Rafa oft für fremde Taten, nicht nur im Traum. Ich vermute, im Gegenzug läßt Rafa mich für etwas büßen, das ich nicht getan habe. Und beide tun wir das nicht willentlich und haben auch Schuldgefühle dabei.
Der Traum erhärtet einen Verdacht, den ich schon lange hege: daß in meiner frühen Kindheit etwas geschehen ist, das mein Verhältnis zu mir und insbesondere zu meinem Körper auf Dauer schwer geschädigt hat.
Wenn ich den Schlüssel zu Rafa finde, finde ich vielleicht auch den Schlüssel zu meiner Erinnerung an dieses Ereignis.
Was immer jedoch geschehen ist, im Nachhinein läßt sich daran nichts mehr verändern. Der Feind ist nicht erreichbar und kann nicht bestraft werden für das begangene Verbrechen. Das hängt auch damit zusammen, daß die schlimmsten Verbrecher nicht sühnen können, weil sie zu gefühlsarm sind, um ein Gewissen oder Schuldempfinden zu besitzen. Man kann also nur einen Ausgleich schaffen, wenn ein Mensch stellvertretend sühnt, der ein Gewissen hat. Rafa muß also die Strafe tragen für einen Unbekannten. Und ich muß die Aggressionen auf mich lenken, die Rafa einem Unbekannten zugedacht hat, der ihn einmal verletzt hat und es ihm unmöglich gemacht hat, zu vertrauen.
Rafa ahnt wohl, was er mir bedeutet und was ich ihm bedeute, und er fürchtet die Verantwortung, die sich daraus ergibt. Er versucht, sich mir zu entziehen. Durch seine Bindung an mich gelingt ihm der Entzug nur unvollständig. Er wird zur Verantwortung gezwungen, und auch dieser Zwang löst Furcht aus.
Sowie Rafa aus meinem Blickfeld geraten ist, ist es unvorstellbar für mich, daß er bei unserer nächsten Begegnung wieder auf mich zukommt. Solange es nicht geschehen ist, ist es unvorstellbar für mich, jemals auf ihm zu liegen und in seinem Haar wühlen zu können. Solange er mich nicht geküßt hatte, war es unvorstellbar für mich, daß er es je tun würde. Solange wir nicht eng umschlungen draußen herumgelaufen waren, war das unvorstellbar für mich. Solange Rafa untreu ist, ist es nicht vorstellbar für mich, daß er einst zur Untreue nicht mehr fähig sein könnte.
Welches Verhalten ist konsequent für eine Frau, die an einem Mann sehr hängt und bemerkt, daß er mit der Treue Schwierigkeiten hat?
Sie wird sich selbst treu bleiben, indem sie ihren Gefühlen treu bleibt. Gilt ihre Zuneigung wirklich diesem Mann und erwidert er ihre Zuneigung auch, so wird sie ihm die Treue halten. Sie wird aber nicht hinnehmen, daß sie treu ist und er nicht. Sie wird etwas tun gegen seine Untreue. Sie könnte nach den Ursachen der Untreue forschen und herauszufinden versuchen, inwieweit sie beeinflußbar sind. Sie könnte dem Mann Grenzen errichten, an die sie ihn stoßen läßt.
Am Samstagmorgen war ich mit Ortfried fast vier Stunden lang im "Trauma".
"Hast wieder schön getanzt", sagte Joël zu mir. "Ich seh' das echt gerne. Nachher mach' ich nochmal Hölle."
Telgart kam auch ins "Trauma" und tanzte fröhlich, dicht neben mir. Vor zwei Jahren hätte er sich das nicht getraut. Er tanzte damals nur Pogo in der Masse, wo ihn keiner sah.
Bevor wir am Abend ins "Elizium" gingen, waren wir bei Derek in Wn. zu Besuch. Derek wollte von mir Rafas Alter wissen.
"Dreiundzwanzig?" staunte er. "So alt wie ich ist der?"
"Dreiundzwanzig", bestätigte ich. "Er gibt sein Alter nicht zu, aber er kann nicht älter sein."
"Für mich sieht der aus wie dreißig. Nein, wie fünfzig."
"Das ist der nicht; der ist viel jünger, und darüber ärgert er sich."
Ich betrachtete mich im Spiegel und gefiel mir gut, schrecklich gut. Ich hatte die Corsage mit den Trägern an, ein raffiniertes Stück aus schwarzem Rips, das ich bei "Ehemals" gekauft habe. Dazu trug ich den weiten Taftrock und die langen Handschuhe. Die Frisur mit der Schleife war mir auch gelungen. Ein paar Strähnchen fielen mir ins Gesicht, zu einem Bogen geföhnt.
Ich wünschte mir, Rafas Atem an meinem Ohr zu hören. Immerhin habe ich seinen Atem auf CD.
Als wir ins "Elizium" kamen, war von Rafa nichts zu sehen. Ich dachte erst, er wäre gar nicht da. Dolf sah ich, Luisa sah ich, die Sängerin sah ich - sie stellte sich in unsere Nähe und blieb da auch die meiste Zeit.
"Guck' mal, unser weiblicher Sockenschuß", sagte Constri.
Ich tanzte selten und ungerne. Ich fühlte mich fehl am Platz. Mich hielt nur der Gedanke, daß es sich für mich noch nie gelohnt hat, vor der Zeit aufzugeben. Ich ließ mich auf einem Stuhl nieder, der auf dem Podest stand.
Schließlich sah ich Rafa oben bei Xentrix. Er kam lange Zeit nicht herunter. Er huschte zur Bar, als ich tanzte. Etwas später ging er auf die Tanzfläche.
Rafa hatte vom DJ-Pult aus beobachten können, wie ich einen Jungen beiseiteschubste, der betrunken war und mir beim Tanzen andauernd in die Quere kam. Ich hatte den Jungen an den Schultern gepackt und ihm einen kräftigen Stoß gegeben. Nun fiel mir auf, daß Rafa in gleicher Weise einen Jungen fortstieß, der ihm im Wege war. Wollte Rafa mich nachahmen?
Ich sah Rafa beim Tanzen zu und sagte mir - wie schon öfters -, daß an ihm eigentlich nicht viel sei und daß ich ihn nicht unbedingt brauchte. Dann drehte er seinen Kopf zur Seite, und ich konnte sein Gesicht sehen.
"Nein", dachte ich, "das Gesicht, das ist das Gesicht, das ist es."
Rikka kam an und sagte dicht an meinem Ohr:
"Het-ty!"
"Hm?"
"Er tanzt!"
"Und?"
"Er ist in der Nähe."
"Und?"
"Vielleicht kannst du Blickkontakt aufnehmen."
"Der wird gleich wieder zur Bar gehen; da kommt er nämlich her."
"Vielleicht dreht er sich vorher um."
"Der dreht sich nicht um", war ich sicher. "Der meidet mich heute vollständig. Der will verhindern, daß seine Freundin mich zusammenschlägt, ist aber zu feige, um sich von ihr zu trennen."
Rafa ging zur Bar - ohne sich umzudrehen.
Nach einiger Zeit sah ich ihn langsam durch den Gang neben der Tanzfläche zur Treppe gehen. Er sprach hier mit jemandem und dort mit jemandem, und dann stand er vor mir und reichte mir seine Linke. In der Rechten hielt er ein Glas. Ich gab ihm auch die Linke. Er drückte sie kurz. Ich sah ihn an.
"Hallo!" grüßte er mich.
"Hallo!" formte ich mit den Lippen.
"Was 's' los?" fragte Rafa ungeduldig und beugte sich über meine Schulter. "Was 's' los?"
"Das müßtest du selbst am besten wissen."
"Ich weiß es aber nicht."
"Du müßtest es wissen."
"Ich weiß es nicht", wiederholt Rafa. "Nun sag' schon, was ist los?"
"Du weißt es."
"Ich weiß es nicht; ich weiß gar nichts."
"Werde ich jetzt gleich zusammengeschlagen?"
"Nein."
"Deine Freundin hat mir nämlich versprochen, daß sie mich zusammenschlägt, wenn ich ..."
"Das hat sie im Suff gesagt", meint Rafa.
"Oh, ich glaube nicht, daß die sowas nur im Suff sagt", erwidere ich. "Ich glaube, die sagt sowas auch, wenn die nüchtern ist."
"Die macht das nicht", verteidigt Rafa die Sängerin. "Gut, du bist nicht gerade ihre Lieblings-Frau, aber ... die macht das nicht."
Es klingt wie das "Der tut nichts!" von Hundehaltern.
"Macht's denn noch Spaß mit ihr?" erkundige ich mich.
"In dem Sinne ... in dem Sinne ... Die Frage ist gut", bemerkt Rafa. "Die ist wirklich gut. Die ist nicht schlecht."
Er lacht und wendet sich zur Treppe.
"Ich bin gespannt, auf welche Art du mir diesmal entfliehst", sage ich.
Rafa hält inne.
"Ich muß kurz hoch", entschuldigt er sich lächelnd. "Ich komme aber gleich nochmal wieder."
Tatsächlich ist er schon nach wenigen Minuten zurück.
"So, da bin ich wieder", sagt er.
Ich sehe ihn unverwandt an. Ich sehe ihn fast dauernd an, und ich sehe ihm gerade in die Augen. Nur beim Sprechen beugt er sich meistens zu mir, damit wir einander hören.
"Möchtest du, daß deine Traumfrau deine Fassade heile läßt?" frage ich.
"Meine Traumfrau gibt es nicht", entgegnet Rafa. "Wenn es sie gäbe, wäre es nicht meine Traumfrau. Verstehst du das?"
"Ja. - Was willst du eigentlich?"
"Friede ... Freude ... daß alle Menschen glücklich sind und keiner stirbt ..."
"Hast du eigentlich schon mal Sehnsucht nach mir gehabt?"
"Was ist denn das für eine Frage?" wird Rafa ärgerlich. "Natürlich habe ich schon mal Sehnsucht nach dir gehabt. Was stellst du immer für Fragen? Du versuchst, Gefühle zu digitalisieren. Du versuchst, mich zu digitalisieren. Kannst du nicht mal einfach ganz normal mit mir reden? Du stellst mir eine Frage nach der anderen. Du verhörst mich nur. 'Wo warst du gestern um drei?' Die ganzen Gespräche, die wir miteinander geführt haben, waren Unsinn."
"Nein", widerspreche ich. "Die waren kein Unsinn."
"Die waren Unsinn. Du hast mich ausgefragt. Du hast mich aber nie verstanden. Was ich wollte, hast du nicht gemerkt."
"Ich möchte wissen, was du für mich empfindest", verlange ich. "Endgültig."
"Um dir das zu sagen, muß ich erstmal normal mit dir reden können. - Was heißt 'normal' ... für dich ist das vielleicht normal ..."
"Wie willst du denn mit mir reden?"
"Wie lernt man sich denn kennen?" beginnt Rafa eine Art Unterricht. "Man lernt nicht jemanden kennen, indem man ihn ausfragt. Man trifft sich ... man redet miteinander ... man kommt sich näher ... Das geht mit dir nicht. Du verhörst mich nur. Du digitalisierst mich. Du siehst deine Fragen, die du beantwortet haben willst. Mich siehst du dabei nicht."
"Das stimmt nicht", sage ich ernst. "Das stimmt einfach nicht."
"Verstehst du überhaupt, was ich dir sagen will?"
"Ja. Ich denke, ich verstehe es."
"Mit dem, was du tust, erreichst du genau das Gegenteil von dem, was du willst."
"Mit dem, was du tust, erreichst du mich auch nicht", spiele ich auf seine Untreue an.
"Ich sage ja, du verstehst mich nicht", fühlt Rafa sich bestätigt.
Er ist gegen die schwarze Wand neben der Treppe zurückgewichen. Während des Sprechens sieht er öfter zur Seite, wirft den Kopf zurück, schweigt zwischen den Sätzen. Ich stehe vor ihm mit den Händen in den Hüften oder auf dem Rücken.
"Wie wichtig bin ich dir eigentlich?" frage ich weiter.
"Wichtiger ... als viele andere", antwortet Rafa lächelnd. "Sonst würde ich hier nicht stehen."
Das sagt freilich fast nichts aus. Und er weiß es.
"Was ist an der Untreue eigentlich so unangenehm?" ist meine nächste Frage.
"Unangenehm?"
"Oder - bist du gerne untreu?"
"Ich bin nicht gerne untreu."
"Warum hast du mich dann betrogen?"
"Ich habe dich nicht betrogen", meint Rafa.
"Also, hör' mal", sage ich streng. "Mitte Mai hatten wir ausgemacht, daß wir uns sehen. Stattdessen bist du mit einer anderen abgezogen."
"Wenn ich mit dir ausmache, daß wir uns sehen, hat das nichts damit zu tun, daß ich mit einer Frau zusammenkomme."
"Das hat sehr wohl etwas damit zu tun. Du wußtest, wie wichtig du mir bist."
"Das wußte ich nicht."
"Du wußtest es."
"Ich wußte es nicht."
"Jetzt stell' dich nicht dumm!"
"Ich stelle mich nicht dumm."
"Das war ja wohl eindeutig zu erkennen, daß du mir wichtig bist."
"Wichtig!" ruft Rafa. "Hier gibt es viele Leute, die anderen wichtig sind."
"Das ist mir sch...egal. Es geht mir hier nur um mich."
"Eben. Das ist es ja gerade. Das ist es, was ich meine."
"Ich habe mich nach dir gesehnt, und das hat dich nicht daran gehindert, mit der anderen abzuziehen."
"Wir waren nie zusammen."
"Wir waren uns sehr nahe gekommen."
"Das stimmt, wir waren uns recht nahe gekommen", gesteht Rafa ein. "Aber ich konnte nicht davon ableiten, wie wichtig ich dir bin."
"Jetzt hör' mal. Das war ja wohl eindeutig zu erkennen."
"Das war es nicht."
"Was hätte ich denn sagen sollen? Was hättest du denn hören wollen?"
"Ich wußte jedenfalls nicht, daß ich dir wichtig bin."
"Vielleicht wolltest du es einfach nur nicht wahrhaben."
"Was soll's", winkt Rafa ab. "Es ist nicht mehr zu ändern."
"So, du findest also alles gut, was du gemacht hast und fühlst dich vollkommen wohl damit."
"Das habe ich nicht gesagt. Aber - es ist passiert, und es ist nicht mehr zu ändern."
"Nicht mehr zu ändern! Alles kann man ändern!"
"Ich verletze aber nicht die Gefühle meiner Freundin, indem ich einfach Schluß mit ihr mache."
"Du hast meine Gefühle verletzt, indem du überhaupt etwas mit ihr angefangen hast. Sorum war's ja wohl."
"Daß ich dich damit verletze, wußte ich nicht."
"Ach! Das war ja wohl eindeutig, daß ich mich nach dir gesehnt habe. Das war eindeutig."
"Für mich war es nicht eindeutig."
"Du hast die Verantwortung für das, was du tust. Und wenn es dir gleich ist, daß du mich verletzt, dann geht es dir auch nur um dich. Dann kannst du mir sowas nicht mehr vorwerfen."
"Es ist mir nicht gleich", meint Rafa." Aber ich kann's nicht ändern."
Er will wohl nichts ändern.
"Liebst du deine Freundin?" möchte ich wissen.
Rafa lächelt und antwortet:
"Ja."
"Dann kannst du mich schon mal nicht lieben", schließe ich daraus.
Rafa ist entrüstet:
"Wer sagt das denn?"
"Lieben kann man nur einen."
"So - liebst du deinen Vater?"
"Ich liebe ihn wie einen Vater, aber nicht wie einen Partner."
"Liebst du deine Mutter?"
"Ich liebe sie wie eine Mutter, nicht wie einen Partner."
"Du liebst deinen Vater; deshalb kannst du deine Mutter nicht lieben", führt Rafa mir seine Schlußfolgerung vor.
"Ich kann wohl", erwidere ich. "Aber zwischen Männlein und Weiblein ist das eben so, da kann man nur einen lieben."
"Wie stellst du dir das vor ... man kann nur einen lieben im Leben ... Blödsinn ist das."
"Ich glaube, du willst dich einfach nicht entscheiden", sage ich mit beherrschter Wut, einer Wut, von der die Luft zerspringen könnte. "Wenn - dann will ich dich ganz für mich allein. Ich will dich mit niemandem teilen. Mit niemandem. Und ich gehe nicht mit dir ins Bett, um mich am nächsten Tag von dir betrügen, belügen und versetzen zu lassen."
"Ich habe dich nie belogen."
"Doch, das hast du", widerspreche ich. "Du hast behauptet, du hättest am 09. April keine Zeit gehabt."
"Ich hatte keine Zeit."
"Du wolltest nur keine Zeit haben."
"Ich hatte keine."
"Diese Verabredungen ..."
"Was denkst du, was du mit deiner Art erreichst?" fällt Rafa mir ins Wort. "Was denkst du, was dir das bringt, mich auszufragen?"
"Ich muß dir Fragen stellen, um dich kennenzulernen."
"Willst du mich nur kennenlernen, um mich kennenzulernen?"
"Ich will dich kennenlernen, weil du mir wichtig bist", sage ich ruhig und bestimmt. "Ich will dich wirklich erreichen."
"Auf deine Art erreichst du mich ja gerade nicht. Du baust nur eine Mauer um dich herum."
"Du baust auch eine Mauer um dich herum."
"Weil du eine um dich herumbaust."
"Nicht nur", gebe ich zurück. "Auch so. Ich lasse mich nicht auf dich ein und gehe mit dir ins Bett, ohne daß ..."
"Das ist dann ... vielleicht auch nicht mehr so wichtig."
"Was ist dann nicht mehr so wichtig?" forsche ich.
"Wie soll ich das sagen ... was soll ich sagen ...", druckst Rafa herum.
"Was ist dann nicht mehr so wichtig?" wiederhole ich meine Frage.
"Wie ist das, wenn du mich erreicht hast und mich ganz und gar kennst - was ist dann?" fragt Rafa statt einer Antwort.
"Das wirst du dann schon sehen."
"Das wirst du dann schon sehen", äfft er mich nach, Enttäuschung in der Stimme. "Da kann ich ja auf deine Fragen ab jetzt auch immer antworten: 'Das wirst du dann schon sehen.'"
"Ich muß wissen, was du bist", sage ich eindringlich. "Ich muß der Sache auf den Grund gehen. Ich muß herausfinden, ob meine Gefühle wirklich dir gelten oder ob ich nur glaube, daß sie dir gelten. Das hier ist für mich kein Scherz. Das ist Ernst. Laut meiner Annahme ist meine Bindung an dich maximal, und ich muß herausfinden, ob das tatsächlich so ist. Das, was ich vor sieben Jahren hatte, kann mit dem hier nicht im Entferntesten mithalten."
"Was hattest du denn vor sieben Jahren?"
"Ich hatte mich verliebt, aber das wurde nichts."
"Hast du denn nie ... ich glaub's nicht ... hast du denn nie einen Freund gehabt, der dir Rosen mitgebracht hat ... der dir Briefe geschrieben hat ... mit dem du dich einfach getroffen hast ..."
"Nein. Nein. Ich hatte noch nie in meinem Leben solche Gefühle."
"Das meine ich doch nicht", erklärt Rafa. "Es geht nur um den ganz normalen Vorgang des Kennenlernens. Du kannst das gar nicht locker sehen. Alles muß digitalisiert werden. Alles läuft nur über deinen Verstand."
"Ich muß das mit Hilfe des Verstandes aufschlüsseln, weil ich sonst zerbreche. Ich kann mir nicht anders helfen. Ich muß mir selbst helfen. Ich hätte die Tür zu dir zuschlagen wollen, aber das kann ich nicht. Ich habe meine Hand dazwischen. Ich würde meine Hand abtrennen, wenn ich sie zuschlagen würde. Ich kann nicht aufgeben. Ich kann mich zurückziehen, aber ich kann nicht aufgeben."
Während ich spreche, bewegt sich Rafa langsam rückwärts auf die Stahltür zu, die sich gegenüber der Treppe befindet. Ich folge ihm.
"Ich kann mir nicht vorstellen", meint er, "daß du für jemanden, den du nicht - den du nur flüchtig kennst, den du nur mal am Wochenende siehst, daß du für den wirkliche Gefühle hast."
"Es ist aber so. Es ist so. Es ist wirklich so."
Ich sehe ihn forschend an - wie ich ihn die ganze Zeit über ansehe - und frage mich, ob er mir das glaubt.
"Ach - ist es vielleicht so", mutmaße ich, "du hast nicht daran glauben können, daß du mir wirklich wichtig bist, und deshalb hast du dir die andere unter den Arm geklemmt?"
"Das mit mir und meiner Freundin hat nichts mit dir zu tun."
"Das hat es wohl. Du verletzt mich, indem du mit ihr zusammen bist."
"Das wußte ich nicht, daß ich dich damit verletze."
"Bist du mit ihr deshalb so glücklich, weil sie dich so gut vor mir schützt?"
"Das kann man so überhaupt nicht sagen."
"Fürchtest du dich davor, von mir zurückgewiesen und abgelehnt zu werden?"
"Ich fürchte mich vor dir", erklärt Rafa. "Ich fürchte mich vor dir, weil du mich dauernd ausfragst. Ich bin keine Zitrone, die man ausquetschen kann."
"Und ich bin kein Spielzeug, kein Gegenstand."
"Das bist du für mich auch nicht."
"Hältst du mich für kalt?" möchte ich wissen.
"Du mauerst dich ein", antwortet Rafa. "Du baust eine Mauer um dich herum, zehn Meter hoch und zwei Meter dick."
"Du baust auch eine Mauer um dich auf, zehn Meter hoch und zwei Meter dick", werfe ich ihm vor.
"Ja, weil du mich dazu zwingst - mit deinen Fragen", sagt Rafa aufgebracht. "Ich leide unter diesen Verhören."
"Aber - ich habe doch gar keine Macht über dich."
"Ich leide darunter, daß du mir immer nur eine Frage nach der anderen stellst. Das - bringt mich ins Grab, ehrlich."
Er ist in die Ecke neben der Tür zurückgewichen und hat sich auf eine Stufe gestellt.
"Und ich leide darunter, daß du mit einer anderen zusammen bist", will ich ihm meine Gefühle begreiflich machen. "Ich muß diesen Anblick ertragen und dieses Wissen."
"Ach - und deshalb läßt du mich leiden!" ruft Rafa.
"Nein", sage ich schnell. "Nein.- Leidest du eigentlich nur am Wochenende unter diesen Verhörsfragen oder auch in der Woche?"
"Ich leide immer darunter."
Rafa steigt wieder auf den Boden.
"Wenn er die Wahrheit sagt, sieht das gut aus", denke ich. "Er soll in unserem Verhältnis, das keines ist, nicht weniger auszuhalten haben als ich; es wäre sonst einseitig und hätte eine schlechte Grundlage."
"Können wir uns nicht mal ganz normal unterhalten über Gott und die Welt?" fragt Rafa.
"Wir haben nie die Ruhe", halte ich dagegen. "Wir haben nie die Zeit."
"Weil du mich immer vertreibst mit deinen Fragen."
"Außerdem ... ich rede schon ganz gerne über Alltägliches. Aber viel lieber rede ich über ... persönliche Dinge."
"Das ist ja auch in Ordnung", meint Rafa.
"Und gerade mit dir will ich nur über persönliche Dinge reden", fahre ich fort. "Wenn wir uns bei mir treffen könnten, würde ich dir versprechen, dir keine Verhörsfragen zu stellen."
"Das ist ein sehr guter Vorschlag."
Rafa ist inzwischen am rechten Ende der Stahltür angekommen. Hin und wieder steigt er auf die Stufe, die zu ihr führt. Weil er sich dadurch zu weit von mir entfernt, geht er jedesmal schnell wieder herunter.
"Ist es dir wichtig, daß ich zu dir komme?" fragt er.
"Ja, das ist mir sehr wichtig."
"Das kann doch gar nicht sein, daß da Gefühle entstehen ...", äußert Rafa wiederum seine Zweifel.
"Doch", versichere ich. "Da ist etwas. Etwas ist da."
"... bei einer Wochenendbekanntschaft."
"Das ist weiter. Das geht weiter."
Ich nehme ihm sein Glas mit dem Bier-Cola-Gemisch aus der Hand und trinke einen Schluck, um mir den Mund zu befeuchten. Danach gebe ich ihm das Glas wieder.
"Na?" fragt er. "Was guckst du?"
"Solange ich dich ansehen kann, sehe ich dich an."
Langsam dreht Rafa sich mit dem Rücken zur Tanzfläche und kommt damit ins Gegenlicht. Ich kann seine Augen kaum noch erkennen.
"Ich habe Angst davor", sagt er zögernd, "daß dann, wenn du dein Ziel erreicht hast, wenn du mich durch und durch kennst, daß ..."
"Daß was?"
"Ach ..."
"Daß was?"
"Daß dann Schluß ist."
"Da ist nicht Schluß."
"Ist das sicher?"
"Das ist sicher."
"Weißt du das sicher?"
"Ich weiß das sicher."
"Du weißt also sicher, wie was einmal in Zukunft sein wird."
"Nicht in allen Bereichen", erkläre ich. "Aber in diesem weiß ich es, weil der Wille da ist, der Wille."
"Ich ... muß noch einmal Bier holen. Ich komme gleich wieder."
Als Rafa fort ist, schiebt sich Talis neben mich und will Neuigkeiten wissen. Ich bin es gar nicht gewohnt von Talis, daß ihn eine fremde Angelegenheit so fesselt. Ich entdecke immer mehr Leute, die von Rafa auf eine seltsame Art berührt sind. Könnte es nicht auch sein, daß sie nur berührt sind, weil ich mit ihm ... und ausgerechnet ich ... und ausgerechnet er ...
Rafa kommt zurück und sieht, daß Leute bei mir stehen.
"Ich muß kurz hoch; ich komme gleich", sagt er.
Ich weiß, daß ich eigentlich Hunger habe. Aber darauf achte ich nicht. Mir ist nicht nach Essen zumute.
Schließlich lassen meine Leute von mir ab, und Rafa erscheint auch wieder, mit seinem neuen Glas "Gemisch". Er bleibt im Gegenlicht stehen.
"Gehst du ein bißchen mehr da hin?" bitte ich ihn und zeige auf die Stahltür. "Da kann ich dich besser sehen."
Er stellt sich vor die Tür.
"Jetzt kannst du mich ansehen", sagt er.
"Das ist gut", meine ich.
Rafas Gesicht wird nicht nur von den Lampen angestrahlt. In gewissen Abständen erhellt es ein Feuerschein zusätzlich. Ich kann nur erahnen, wieviele Zigaretten Rafa sich anzündet, während er mit mir redet.
Er steigt auf die Stufe.
"Mensch, jetzt steh' ich ja schon wieder da oben", stellt er fest und steigt gleich wieder herunter.
"Sag' was", fordert er mich auf.
"Wenn ich etwas zu dir sage, sind das meistens Fragen, und die hörst du ja nicht so gerne", entgegne ich. "Also sag' du doch was."
"Du kannst mich schon was fragen", erlaubt Rafa.
"Ich möchte so gerne wissen, was du von mir träumst."
"Was träumst du denn so von mir?"
"Das ist fast immer das Gleiche", erzähle ich. "Das ist fast immer so, daß du dich vor mir auf den Boden legst, und ich kann dich streicheln, wie ich will. Einmal ... es war am Fuß einer großen Treppe. Ich kam auf dich zu, da hast du zu mir gesagt:
'Was stehst du hier herum? Guck' mal neben dich.'
Da habe ich neben mich geguckt, und da stand deine Freundin an der Wand, ganz regungslos, wie eine Mumie."
"Sowas träumst du?"
"Ja. Aber - die Geschichte geht noch weiter. Ich habe die Freundin gesehen und wollte weg, weil, das geht nicht, daß ich dann da bleibe. Da hast du mich an der Schulter gepackt und bist mit mir die ganze Treppe nach oben gegangen. Dabei hast du mich mit Stofftieren beworfen, die waren federleicht und schwirrten in der Luft herum, und ich fühlte mich auch federleicht. Auf der Treppe saßen lauter Menschen, und an denen sind wir vorbeigegangen, immer höher, immer höher, bis ganz nach oben, wo keine Menschen mehr waren. Da hast du dich auf den Boden gelegt, und ich konnte dich streicheln. Ich saß da, du lagst vor mir, und die Menschen waren unter uns. Ich habe mich so glücklich gefühlt wie nie."
"He, vergöttere mich nicht so", mahnt Rafa. "Ich bin auch nicht mehr als du."
"Das weiß ich. Ich habe mir das doch nicht ausgedacht. Ich habe das geträumt. Ein andermal ... hast du dich vor mir auf den Boden gelegt, und ich stand vor dir, und ich konnte dein Gesicht streicheln ... Das habe ich schon lange vor, aber ich kann's ja nicht, weil du eine Freundin hast ..."
"He, ich wußte gar nicht, daß du so romantische Träume haben kannst."
"Ja, und ein andermal ... warst du richtig ärgerlich.
'Warum zeigst du keine Gefühle?' hast du immer wieder gefragt. 'Zeige endlich mal Gefühle. Du zeigst nie Gefühle.'
Da habe ich meine Fingerspitzen angesehen, wo das Gefühl ja drin ist - und die waren zerstört. Und dann ... dann kam ein Lied, das fand ich so schön, da habe ich gesagt:
'Ist das Lied geil! Ist das geil!'
Und da ... hast du angefangen, mich leidenschaftlich zu küssen. Anscheinend habe ich da die Gefühle gezeigt, die du sehen wolltest, und deshalb hast du mich dann geküßt, leidenschaftlich, so wie nie vorher, und davon bin ich aufgewacht. Und ein andermal ... bist du in der 'Halle' zu mir gekommen, und du trugst nicht ein Glas in der Hand, sondern zwei, und das zweite war für mich bestimmt. Und als ich das gesehen habe, da habe ich mich fürchterlich erschrocken - aber im positiven Sinne. Es war kein negativer Schreck, es war ein positiver Schreck - das hatte ich auch noch nie. Ich bin davon aufgewacht. Ich habe das nicht erfunden, ich habe das geträumt.
Und die Freundin ... Die Freundin. Ja, die Freundin. Das war im 'Elizium'. Da, wo wir jetzt stehen, war das ganz leer, da war keiner. Auf der anderen Seite waren alle, da warst auch du mit deiner Freundin. Ich bin hier in diese Ecke gegangen, ganz allein. Da kam deine Freundin an und sagte zu mir:
'Dan-ke!'
und schüttelte mich und riß mich hin und her. Ich habe mich vor ihr langsam auf den Boden sinken lassen und gedacht:
'Tritt mich, schlag' mich, wenn es dich befriedigt; es ist mir egal. Ich hab' keine Angst. Ich hab' keine Angst.'
Du hattest sie nämlich verlassen, und deswegen wollte sie mich zu Kleinholz verarbeiten."
Rafa lächelt. Mit einem Finger streicht er mir über die Wange.
"Wir müssen uns wirklich unbedingt treffen", sagt er und verschwindet zur Bar.
"War es das?" denke ich, bleibe aber, wo ich bin.
"Guck' mal, die Tussi von Rafa!" ruft Rikka mir zu. "Die hat ein peinliches Hemd an, hast du das schon gesehen? Da sieht man voll der ihren Hängebusen!"
Ich weiß, daß mir die Sängerin nicht gefällt; deshalb gucke ich nicht hin, sondern weg.
Mit einem enttäuschten "Na, ja!" entfernt sich Rikka.
Rafa kommt wieder und hat einen Stift mitgebracht. Ein Glas trägt er auch noch in der Hand.
"Na? Hast du dir neues Bier geholt?" frage ich.
"Nein, das ist immer noch das gleiche wie vorher."
Er stellt sein Glas auf die Stufe; das leere von vorhin fällt dabei herunter. Dann legt Rafa eine Zigarettenschachtel an die Stahltür und sagt:
"Deine Nummer mußt du mir noch geben."
Mein Arm schließt sich um seine Schultern. Als ich das bemerke, nehme ich ihn eilig wieder fort. Ich weiß, daß die Freundin auf der Treppe sitzt ...
Ich diktiere Rafa meine Nummer.
"So eine lange?" fragt er.
"Siebenstellig. Und die Vorwahl."
"Das ist klar."
Er wiederholt die Nummer.
Unter die Zahlen schreibt er "H.". So habe ich das auch für ihn gemacht, als ich ihm die Nummer meiner Mutter gegeben habe.
Ich glaube weder daran, daß Rafa die Zigarettenschachtel behält, noch daß er die Nummer wählt. Ich werte es bei ihm schon als günstig, daß er sie überhaupt einmal wieder wissen möchte.
"Hast du denn jetzt Lust, mir zu erzählen, was du von mir träumst?" frage ich.
"Das möchte ich dir nicht erzählen", entgegnet Rafa.
"Und, weshalb nicht?"
"Das kann man so und so deuten, und das kann man mißverstehen; deshalb will ich das nicht erzählen."
"Stellst du dich wieder da vorne hin?" bitte ich und zeige auf die Tür. "Da kann ich dich besser sehen."
Er tut es.
"Du bist schon ein trockenes Brötchen", seufzt Rafa.
"Du bist auch ein trockenes Brötchen - das hast du selber gesagt", erinnere ich ihn.
"Warum stehst du eigentlich immer alleine?" möchte Rafa wissen.
"Das hat folgenden Grund: Solange du da bist, kann ich mich nur um dich kümmern", erkläre ich. "Ich bin nicht imstande, mich mit anderen Leuten zu beschäftigen."
"Und - wenn du die damit verletzt, was dann?"
"Das ist ja nur so, solange du anwesend bist. Wenn du nicht mehr anwesend bist, kümmere ich mich auch um andere. Wenn du aber da bist, hast du für mich Priorität. Dann gibt es für mich nur dich."
"He - ich bin nicht mehr als du", wiederholt Rafa.
"Ich weiß das", wiederhole ich.
Er geht eilig zur Bar. "Der Sturm" von Calva y Nada hat begonnen, und ich gehe auch in Rafas Richtung - zur Tanzfläche. Rafa guckt verwundert; er denkt wohl, ich würde ihn verfolgen. Er kann aber beruhigt sein.
Nach dem Tanzen halte ich mich bei meinen Leuten neben der Treppe auf. Rafa kommt und stellt sich so, daß die Freundin, die auf den Stufen Wache hält, mein Gesicht sehen kann.
"Gehst du wieder mehr da 'rüber?" frage ich Rafa. "Dann kann ich dich besser ansehen."
Als er schon dabei ist, meinem Wunsch zu folgen und wieder vor die Stahltür zu gehen, bremst er sich und tut es doch nicht. Er schaut mich an und beginnt zu lächeln.
"Na? Weshalb lächelst du? Ach -" ich lege eine Hand auf seine Schulter, ziehe sie aber weg, als ich erkenne, daß ich ihn berühre - "ich wollte dir ja keine Fragen mehr stellen."
"Du kannst mir Fragen stellen", sagt Rafa wie schon einmal. "Du mußt sie mir nur in kurzen Intervallen stellen."
"Also nicht alle hintereinander", versuche ich Rafas Gedanken zu ordnen.
"In kurzen Intervallen", sagt er und scheint sich verheddert zu haben.
"In langen Intervallen, meinst du", forsche ich weiter nach.
Rafa überlegt.
"Ach - du stellst mir deine Fragen jetzt nach dem Random-Prinzip", lautet seine verdrehte Folgerung.
Noch im Sprechen wendet er sich ab und geht.
"Nein", sage ich. "Nein."
Ich stelle mich wieder neben die Stahltür und bleibe da.
Rafa rennt an mir vorbei, hoch zum DJ, und als er zurückkommt, stellt er sich wieder so hin, daß ich ihn gut sehen kann und die Tür als neutralen Hintergrund habe.
"Du bist schon eine Marke", sagt er.
"Hm?"
"Du bist schon eine Marke."
"Du aber auch", sage ich. "Du auch."
Er lächelt wieder und wirft mir schräge Blicke zu.
"Jetzt darf ich dich aber fragen, warum du lächelst?" erkundige ich mich noch einmal.
"Weil ich gute Laune habe", gibt Rafa zur Antwort.
"Du hast gute Laune."
"Ja", sagt Rafa. "Ich habe gute Laune."
Ich erwidere sein Lächeln. Wir unterhalten uns mit Blicken.
"Das Gesicht", denke ich. "Ich muß es ansehen, solange es geht, damit ich es verstehe."
"Warst du gestern in der 'Halle'?" fragt Rafa im Plauderton.
"Nein, ich war im 'Trauma'", erzähle ich. "Vier Stunden hartes Brett."
"Es war geil gestern. Ich habe nämlich Musik gemacht."
"Das hat mir Talis erzählt; der war da. Da sollen immer wieder geile Stücke gelaufen sein. Kappa spielt doch sonst da nur so ... Ich hatte gehört, daß da keine EBM-Nacht war, sondern nur New Wave Night; da gehe ich nicht hin."
"Ja, Wave und EBM ... wenn ich da bin ..."
"Machst du nächsten Freitag auch etwas in der 'Halle'?"
"Eigentlich nicht, da ist Depeche Mode-Party. Aber mal sehen ..."
"Hier im 'Elizium' hast du dich ja auch schon mit den DJ's abgesprochen und aufgelegt."
"Ja, aber nur, wenn einer dabei ist", sagt Rafa. "Aber ... ich mach' vielleicht demnächst einen Samstag im Monat fest."
"Das wäre nicht schlecht."
"In der 'Halle' habe ich ja sogar Geld gekriegt."
"Wieviel?"
"Hundert."
"Das ist doch nicht übel."
"Ich muß unbedingt wieder Musik machen."
"Ja?"
"Das heißt, eigentlich mache ich dauernd Musik, aber die Termine ... die Organisation ... Mein Ziel ist, auf den neuen 'Art & Dance'-Sampler zu kommen. Das ist mein Hauptziel."
"Ja, 'Ganz in Weiß' ist wirklich gut."
"Hast du die CD?"
"Ja. Deine Stimme wirkt sehr echt."
"Echt?"
"Sie klingt sehr nach dir."
"Die klingt immer nach mir."
"Ja, aber in vielen Stücken sprichst du nur verzerrt, und in diesem singst du richtig."
"Ja, da singe ich richtig. Ich habe die Stimme extra leise geregelt."
"Ich mußte ganz schön laut drehen, um sie richtig zu hören."
"Dreh' eine Spur weg", empfiehlt Rafa. "Die Stimme habe ich nur auf eine Spur genommen."
"Das habe ich schon gemerkt, daß die nur auf einer Spur ist. Das habe ich mit dem Kopfhörer herausgefunden."
"Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß,
so siehst du in meinen schönsten Träumen aus", singt Rafa.
"Stehst du so auf Heiraten?" frage ich. "Ich stehe da ja überhaupt nicht drauf."
"Hast du das Video gesehen?"
"Nein."
"Da ist nur eine Frau in Weiß, die geht zwischen blühenden Kirschbäumen hindurch. Da ist nichts mit Heiraten."
"Was gefällt dir an dem Stück so?"
"Ich finde es einfach geil."
"Wie klingt das Original eigentlich?"
"Ach ... ein bißchen anders ... Ich habe es erst dreimal gehört."
"Ist das in Dur oder in Moll?"
"Ich weiß nicht. In Dur."
"Das Tape von dir habe ich nicht mehr gekriegt. Das war schon weg."
"Ich nehme dir noch eins auf und bringe es dir mit."
"Ja? Das hast du mir schon dreizehn- bis vierzehnmal versprochen."
"Ich weiß ... Es ist halt oft so: eben habe ich eins aufgenommen, da klingelt es bei mir, und einer kommt, der es will."
"Unsere Verabredungen ... auf unseren Verabredungen scheint ein Fluch zu liegen ... ein Bann ..."
"'Fluch' ist nicht so gut", meint Rafa. "'Bann' ist besser."
"Mit den Verabredungen ist es ja so: man gibt dem, mit dem man sich verabredet hat, einen Vertrauensvorschuß. Wenn man eine Verabredung einhält, ist man so lange der Schwächere, bis der andere sie auch eingehalten hat."
"Du digitalisierst auch Verabredungen?" fragt Rafa beunruhigt.
"So nicht", entgegne ich. "Das ist nur das Gleichnis von der gedeckten Tafel. Das Gleichnis von der gedeckten Tafel geht so: Jemand deckt einen Tisch schön, und der, der sich angesagt hat, kommt nicht. Genau das Gleiche ist das mit den Verabredungen. Das ist immer wieder das Gleiche."
"Was du sagst, ist nicht wahr. Ich habe gesagt, ich bin am Bahnhof und hole dich ab, und ich war am Bahnhof und habe dich abgeholt."
"In SHG.", ergänze ich.
"Ich frage mich schon, ob das nur ein Traum war."
"Ist das so in weiter Ferne für dich?" möchte ich wissen. "Oder erscheint dir das heute einfach unwirklich?"
"Genau. Es ist in weiter Ferne für mich, und deshalb erscheint es mir unwirklich."
"Du kannst dir gar nicht mehr vorstellen, daß ich wirklich bei dir war."
"Nein. - War lustig."
"Ja, das war es."
"Ich weiß gar nicht mehr alles", sagt Rafa. "Was ich sehe, sind immer nur die zwei roten Lichter ... von dem Zug ..."
"Da habe ich vorhin erst wieder dran gedacht, als ich in Wn. zum Bahnhof gegangen bin. Ich habe den Derek vorhin in Wn. besucht, mit Constri und Talis. Damals - in SHG. -, das war eine echte Fehlschaltung. Ich habe wirklich gedacht, der Zug fährt um 23.34. Dabei fuhr der um 23.25. Ich bin in ein schwarzes Loch gefallen."
"Du durftest die Nacht bei mir verbringen."
"Ich bin in ein schwarzes Loch gefallen, aus dem ich nie mehr herausgekommen bin. Der Zug ist für mich abgefahren. Er ist wirklich abgefahren."
Das Lied von dem verliebten Computer beginnt.
"Geil!" ruft Rafa und läuft zur Tanzfläche.
Er tanzt erst mit dem Rücken zu mir, dreht sich dann aber um. Ich schaue ihm zu. Rikka nähert sich, merkt jedoch, daß ich meine Augen und meine Aufmerksamkeit woanders habe und zieht sich nach ein paar einsilbigen Antworten von mir mit einem "Na, ja!" zurück.
Das nächste Lied ist "Ich lieb sie" von Grauzone. Rafa muß weitertanzen - und er tut es auch bei dem folgenden Stück, "Ich liebe dich" von Profil, in dem es heißt:
"Ich renne dir nur hinterher, doch du bist auf der Flucht vor mir.
Du weißt, daß ich dich haben will, du weißt, was ich dir sagen will,
ich liebe dich, ich liebe dich."
Ewig ist in den Stücken, die Rafa mag, von Liebe die Rede - ein Wort, das er allerdings sehr unbefangen und sehr vieldeutig verwendet.
Nach dem Tanzen steigt Rafa die Treppe hinauf und sagt im Vorbeigehen zu mir:
"Das waren nochmal drei nette Scheiben."
Rafa verabschiedet sich von Xentrix. Erst jetzt erhebt sich die Freundin und geht zu ihm, um ihn zu holen. Als sie an mir vorbeikommen - sie ein Stück hinter ihm -, gibt er mir die Hand und sagt:
"Tschüß. Ich ruf' dich an."
Ich lege meine freie Hand über seine und sage leise:
"Tu' das."
Er sagt noch einmal:
"Tschüß."
Es klingt zögernd. Er scheint auf ein "Tschüß" von mir zu warten. Ich kann mich aber nicht von ihm verabschieden.
Als er fort ist, sehe ich Talis und Derek im vertrauten Gespräch auf dem Podest sitzen. Sie haben sich über den Tisch gebeugt, der dort steht. Lenni steht mit Lena hinter der Tanzfläche. Carl unterhält sich mit Iana, Constri mit Rikka. Keiner hat sich meinetwegen langweilen müssen.
In einem Traum lag ein Zweig mit weißen Blüten auf meinem Teppich. Es war einer von den Zweigen, die Rafa in der "Halle" auf der Bühne verteilt hat. Ich stellte meinen Hocker auf den Teppich, und dabei geriet der Zweig unter ein Bein des Hockers. Vielleicht hatte der Zweig auch keine aufmerksamere Behandlung verdient ...
Wahrscheinlich hat Rafa die Zigarettenschachtel mit meiner Nummer schon am Sonntag im Papierkorb beerdigt. Aus Versehen ...
Carl hat mir erzählt, daß wirklich viel geredet wird über Rafa - und schlecht, immer schlecht.
"Dieser widerliche Rafa", heißt es.
"Ich wollte den Leuten erklären, was das für ein Mensch ist, da ich das ja weiß", sagte Carl, "aber die haben gar nicht zugehört. Denen war das egal."
"Er zieht Haß, Neid und Bewunderung auf sich", meinte ich. "Er reizt die Leute. Und ausgerechnet den habe ich nie gesehen, bis er zu mir kam."
Mitte Juli hatte ich folgenden Traum:
Das Hauskaninchen und das Wildkaninchen
Das Hauskaninchen war weiß und artig und lebte in einem Häuschen. Es hatte einen schlanken, zierlichen Körper und ging aufrecht. Das Wildkaninchen war braun, scheu und verantwortungslos. Es streunte in der Gegend herum. Es war größer und runder als das Hauskaninchen und lief auf allen Vieren. Das Wildkaninchen verschwand dauernd und tauchte dann unerwartet wieder auf. Eines Tages verführte das Hauskaninchen das Wildkaninchen dazu, für einen Wurf zu sorgen. Vor dem Häuschen lag eine Strohschütte, und darauf saß das Wildkaninchen, umgeben von sieben braunen Fellbälgern.
"Ich bin so glücklich", sagte das Wildkaninchen zu dem Hauskaninchen. "Ohne dich wäre ich nie so glücklich geworden. Du hast mich erzogen."
"Nun erziehe du mich auch", bat das Hauskaninchen und ging in sein Häuschen. Die Nacht kam, der Mond ging auf. Das Hauskaninchen war unruhig und wollte nachsehen, ob das Wildkaninchen nicht schon wieder weggelaufen war. Tatsächlich lagen die sieben Fellbälger allein auf der Strohschütte. Das Hauskaninchen war außer sich vor Sorge. Dabei hatte der, der die Geschichte dieser Wesen schrieb und so ihr Schicksal bestimmte, von vornherein festgelegt, daß das Wildkaninchen seinen Wurf nie im Stich lassen würde. Es mußte sich in der Nähe versteckt haben, in einer Mulde oder hinter einem Strauch. Das Hauskaninchen stand allein im Mondschein und war traurig. Ich sah es da stehen, und es rührte mich sehr.
Ich hatte Rafa zur Familiengründung verführt, ich, die noch gar nicht herausgefunden hat, ob sie Kinder will. Und ich wollte nicht nur ihn erziehen, sondern auch von ihm erzogen werden. Er begann sogleich damit. Er erzog mich dazu, ihm zu vertrauen. Er tat, als sei er fortgegangen, und er hatte sich doch nur versteckt. Ich sollte erkennen, daß es ihm nicht möglich war, mich zu verlassen.
Meine "Verhörsfragen" belasten Rafa wohl sehr. Er scheint der festen Überzeugung zu sein, daß ich ihn nur zu meinem Nutzen ausfrage und daß er davon keinen Gewinn hat. Andererseits sucht er auch wieder diese "Verhöre", indem er sich mit mir unterhält. Ich frage mich, was er mit der Sängerin angestellt hat, damit sie unser Gespräch nicht störte.
Nachts in der Stadt traf ich U.W., Ortfried und auch Cilly, die zufällig vorbeikam. Cilly und ich unterhielten uns lange. Sie wollte wissen, ob ich noch ins "Elizium" gehe. Sie meidet es "wegen der Lästereien". Rafa gefiel ihr übrigens auch einmal recht gut, aber nur so lange, bis sie ihn ohne seine Schminke sah. Ich erzählte ihr, daß es bei mir eher umgekehrt gewesen ist.
Cilly glaubte, Rafa sei allgemein beliebt und begehrt. Ich sagte ihr, daß über ihn viel Böses geredet wird.
Wie ich vermutet Cilly, daß Rafa stets derjenige war, der eine Beziehung abbrach.
"Sicher", meinte ich, "darauf hat er sorgsam geachtet. Es ist ihm auch immer gelungen - und zwar einfach deshalb, weil er sich nie wirklich gebunden hat!"
"Es muß ungewöhnlich für ihn sein, wenn eine Beziehung eben nicht so läuft, wie er es beabsichtigt", sagte Cilly. "Ich denke, dieses Hin und Her zwischen euch kann spannender sein, als miteinander zu schlafen."
Cilly ist mit Toro längst nicht mehr zusammen. Sie mag ihn, ist jedoch über die Trennung, von der sie nicht weiß, wie sie eigentlich zustandekam, hinweggekommen. Ich beschrieb die Geschichte von mir und Rafa als ein einziges offenes Ende.
Im "Elizium" gab es eine Elektroveranstaltung, eine Nacht mit EBM und verwandter Musik. Luisa war da, begleitet von ihrem Freund. Sie saß dort, wo ich meine Sachen liegen hatte. Sie lehnte sich an meinen Mantel und zog ein Bein aufs Podest. Ich versuchte, mich in sie hineinzuversetzen. Sie wirkte nicht unglücklich auf mich, eher fröhlich. Doch das kann täuschen.
Gegen Morgen ging ich ins "Trauma" und kam für einige Stunden fast nicht von der Tanzfläche.
In einem Traum wollte ich Rafas Haare mit irgendeiner Substanz verschönern. Da fiel mir ein, daß ich sie so will, wie sie sind und sie durch nichts anziehender machen kann.
Außerdem habe ich von verschiedenen Möglichkeiten geträumt, mit Rafa zu sprechen. Ich habe sehr lange mit ihm gesprochen. Es waren persönliche Gespräche und Sachgespräche. Am Schluß folgte mir Rafa in mein Zimmer, und ich sagte zu ihm:
"Wie schön, daß ich mit dir endlich ganz normal reden kann - wie mit einem ganz normalen Menschen."
Dann machte ich hinter uns meine Zimmertür zu.
In einem weiteren Traum kam ich mit einem Sarg im Anhänger in das stille Tal, wo ich meine ersten beiden Lebensjahre verbracht habe. Der Sarg war groß und schwarz, und ich wußte nicht, wer darin lag. Ich wollte für den Sarg ein Grab finden. Ich fragte mich, ob ich mich deswegen an ein Beerdigungsinstitut wenden mußte. Ich lief vor dem Friedhof herum, in der Nähe des Hauses, in dem ich früher gewohnt habe. Auf dem Friedhof liegt meine Großmutter, und es liegen auch noch andere Verwandte dort.
Bevor wir am Samstag ins "Elizium" gingen, hatten wir Gäste. Ich trug einen Betonpflasterstein mit mir herum, in den Maßen 20 x 10 x 6 cm. Ich nahm den Stein beim Essen auf den Schoß. Als ich mich umzog, lag er auf dem Bügelbrett. Ich fuhr mit der flachen Hand über den kühlen, rauhen Beton und legte den Stein an meine Wange. Der Pflasterstein erinnerte mich sehr an Rafa. Meinen Gästen beschrieb ich Rafa als den Stein, den ich rühren muß. Sie sehen Rafa nicht gern, und so geht es ihnen auch mit Beton. Ich dagegen kann in Rafas Anblick versinken. Auch in dem Anblick von Beton kann ich versinken.
Im "Elizium" konnte ich Rafa zuerst nicht finden, wie am vorherigen Samstag auch. Er hatte sich gut versteckt. Schließlich kam er mit seiner Freundin zur Stahltür. Er lächelte ein unecht wirkendes Lächeln. Mir warf er einen flüchtigen Blick zu. Als die Freundin die Treppe hinaufstieg, sah ich, daß ihre zerrissene Jeansjacke über Rafas Schulter hing, einem Schutzschild gleich. Ich zeigte das Rikka und bemerkte:
"Hier. Kannst du echt vergessen."
Derek wollte, daß ich mich zu ihm aufs Podest setzte.
"Ich kann es nicht", sagte ich.
Ich mußte für mich allein stehen und aufpassen.
Luisa war im "Elizium"; an der Hand ihres Freundes ging sie hüpfend durch den Tanzraum. Vielleicht will sie gern an der Hand geführt werden.
Rafas Freundin kam wieder und ging auch wieder, und ich dachte erst, sie hätte Rafa mitgenommen. Sie hatte aber nur ihre Jeansjacke mitgenommen. Ich mußte ein wenig suchen, ehe ich Rafa fand. Er saß zusammengekauert auf der Stufe vor der Stahltür. In der Dunkelheit war er fast nicht zu sehen. Er hatte sich ganz in einen Mantel aus schwarzem Tuch gehüllt, der um seine Schultern lag und unter dem er auch seine Hände vergraben hatte. Das sah merkwürdig aus, denn im "Elizium" war es sehr heiß. Rafa trug kein Stirnband, und sein Gesicht war ungeschminkt. So gefällt er mir besonders. Ich stellte mich erst neben ihn, dann lehnte ich mich an die schwarze Wand. Ich sah zu ihm hinüber, und er kehrte mir sein Gesicht zu. Mit einer Bewegung seines Kopfes bedeutete er mir, ich solle zu ihm kommen. Ich kam und sah ihn weiter an.
"Hallo", grüßte Rafa.
Ich schwieg.
"Was is'?" fragte er.
"Hast du die Zigarettenschachtel mit meiner Telefonnummer schon weggeworfen?" erkundigte ich mich.
"Nein, die liegt noch bei mir."
"So - du rufst an."
"Kann ich doch", meint Rafa. "Ich kann dich doch anrufen."
"Nur - wann?" frage ich vorwurfsvoll.
Rafa dreht sich weg und sagt gedehnt und ungehalten:
"Wenn ich Zeit habe, rufe ich dich an."
Seine Stimme klingt verwaschen. Er scheint recht viel getrunken zu haben.
"Bist du denn immer noch so glücklich wie letztes Mal?" frage ich.
Er schüttelt den Kopf.
"Nein", antwortet er.
Gleich danach steht er auf. Er murmelt einen Satz wie "Ich muß auch noch Bier holen" und geht eilig zur Bar. Kaum ist er fort, schießt die Sängerin auf mich zu und schreit mir ins Genick:
"Alter Schwede, noch einmal!"
Dann geht auch sie zur Bar.
Von da an bleiben beide verschwunden. Carl berichtet, Rafa sei nebenan im "Nachtbarhaus". Am frühen Morgen kommt Rafa noch einmal kurz ins "Elizium" zurück, um Dolf zu holen. Er bringt das hinter sich, während ich tanze, deshalb sehe ich ihn nicht. Carl sieht ihn aber.
So früh wie in dieser Nacht hat Rafa das "Elizium" erst einmal verlassen, seit ich ihn kenne - Anfang April, als ich mich mit ihm im "Elizium" verabredet hatte und er vor der ausgemachten Zeit entwischte. Er scheint in beiden Fällen vor mir geflohen zu sein.
Rafas Verhalten macht mich wütend. Gleichzeitig wächst meine Zuneigung zu ihm wie eine gut gegossene Pflanze. Ich kann mich nicht für oder gegen ihn entscheiden. Ich kann nur entscheiden, ob ich hinnehme, daß ich an diesen Menschen gebunden bin. Nehme ich es nicht hin, handle ich gegen mich, und das will ich auf keinen Fall. Also nehme ich es hin.
Wenn man denjenigen gefunden hat, den man suchte, kann man ihn nicht mehr finden. Es gibt nichts mehr zu suchen und zu hoffen. Man ist gezwungen, die Lasten zu tragen, die der Mensch einem aufbürdet.
Daß er es wirklich ist, sagt mir das Gefühl, das Rafa in mir auslöst. Er ist die Antwort auf die Sehnsucht, die mein Leben begleitet. Es gab ihn für mich schon immer, als reines Gefühl in mir, und dies ist der Mensch, der das Gefühl verkörpert. Aus diesem Grund kann niemand besser sein als er. Mehr Rafa sein als Rafa kann man nicht.
Beton ist schwer, hart, undurchdringlich und dauerhaft. Betonsteine erinnern mich an die Last, die ich trage. Sie erinnern mich an die Mauer, gegen die ich anrenne.
Meine Wohnung "versteinert" zusehends. Vor meiner Zimmertür habe ich eine "Hemmschwelle" aus Betonpflastersteinen gebaut.
Vor fünf Jahren fühlte ich schon Begeisterung für Beton. Ich war mit Henks Bruder Marek in einem Museum und entdeckte dort einen Raum, der ganz in Beton eingerichtet war. Es gab ein Klavier aus Beton und eine Sitzgruppe aus Beton. Sogar das Bild an der Wand war aus Beton. Ich bat Marek, mich in dem Raum zu fotografieren. Marek nannte das Foto "Ein HERZ in STEIN".
In einem Traum sah ich meinen Kerzenständer, den "T"-förmigen Betonstein. Ein großes Stück war von dem Stein weggebrochen, fast die ganze linke Hälfte.
Was habe ich da verloren? War es ein Teil der Last, die ich trage? Oder habe ich einen Teil von dem Menschen verloren, der sie mir auferlegt? Was wird als Nächstes auf mich zukommen? Welche Einfälle hat mein Schicksal noch?
In einem weiteren Traum sprach ich mit Rafa. Mehr geschah nicht.
In einem anderen Traum schrie mir eine fremde, harte Frauenstimme meinen Namen ins Ohr.
Das war wohl die Sängerin wieder ...?
In einer Nacht stellte ich mich in Gedanken vor Rafa, der an der schwarzen Wand im "Elizium" lehnte. Ich weiß nicht mehr, war es Traum, war es Wachtraum - auf einmal fiel ich nach vorn, gegen ihn. Ich fühlte mich so müde, daß ich mich nicht mehr aufrecht halten konnte. Wie von selbst fing ich an, Rafa zu küssen. In diesem Augenblick sah ich eine Warnmeldung, die mich rückwärts auf den Boden warf. Es war ein Oval mit roten und gelben Ornamenten, welches bedeutete, daß ich Rafa meine Liebe nicht so offenkundig zeigen dürfe; er werde sie mir sonst niemals glauben.
Wie soll das weitergehen? Ich komme ins "Elizium", sehe Rafa mit seiner Freundin, hoffe, daß er in meine Nähe kommt, tausche gegebenenfalls Blicke und Worte aus, sehe ihn lächeln und sehe ihn fliehen.
Was kann ich daran ändern?
Mich verlangt zu sehr nach Rafa, als daß ich auf das "Elizium" verzichten könnte. Ich suche Rafas Nähe. Ich quäle mich selbst, wenn ich ihn meide. Ich kann ihm nicht aus dem Weg gehen. Ich werde Rafa also noch mehr Fragen stellen, aber hintenherum, so daß er nicht gleich merkt, daß es welche sind.
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