.

Carl und ich wollten eben aus dem Haus gehen, da stellte Carl fest, daß er seinen Schlüssel vergessen hatte.
"Hol' ihn", riet ich, "oder willst du von mir abhängig sein?"
"Nein, das will ich eigentlich lieber nicht."
Er holte ihn also. Wir kamen gegen ein Uhr ins "Elizium". Ich hatte eben meinen Mantel abgelegt, da sah ich Rafa mit einem Mädchen auf dem Podest sitzen. Das Mädchen trug einen langen roten Rock und ein zierliches schwarzes Oberteil. Rafa hatte seine Haare hochgestellt und war stark geschminkt; auch das Zeichen des Saturn hatte er sich ins Gesicht gemalt. Für mich bedeutet ein solcher Aufzug, daß Rafa unnahbar wirken will, und es bedeutet auch, daß er in frühere Zeiten zurückkehren möchte. Rafa ging eilig zur Bar und redete dort mit allerlei Leuten. Dieses Verhalten gab mir einen Hinweis darauf, daß er keine Freundin hatte.
"Am 01.10. in der 'Halle' war es mit ihm genauso", sagte ich zu Carl. "Stundenlang hat er mit allen möglichen Leuten geredet, und am Schluß landete er bei mir."
Rafa wechselte auch einige Worte mit der Sängerin. Die saß auf dem Podest neben dem langbeinigen, mit stählernen Ketten verzierten Talon, dessen Haare ebenso grün sind wie die ihren rot. Dolf war nicht anwesend.
"Rafa sucht einen Pennplatz", erzählte mir Carl. "Siddra hat er schon gefragt."
"Ach", staunte ich. "Ich bin gespannt, wann er mich fragt."
Rafa setzte sich schließlich wieder zu dem Mädchen mit dem roten Rock. Er küßte ihre Wange. Dann kniete er vor ihr.
"Er hat wieder eine Neue", vermutete ich. "Das Mädchen da ..."
"Ach, das ist doch nur Siddra", beruhigte mich Carl.
Ich gab Xentrix die CD mit "Bloodmoney". Er möchte sie sich inzwischen doch kaufen. Ich tadelte Xentrix wegen der Gitarrenmusik, mit der er es meiner Ansicht nach ein wenig übertrieb.
"Seien Sie beruhigt", erwiderte Xentrix. "Ich weiß, was ich tue."
"Ja. Ich weiß, daß Sie noch ganz klar im Kopf sind."
Immerhin spielte Xentrix "Schlachtreif" vom Liederkranz. Rafa strich hinter mir entlang, während ich tanzte. Es kam auch das Stück "Eine neue Zeit". Rafa mag den Liederkranz, doch heute tanzte er nie.
Als ich einmal vom Tanzen kam, stand Rafa dort, wo ich mich gewöhnlich aufhalte - an der schwarzen Wand bei meinen Sachen. Er führte Gespräche, die höchst wichtig aussahen. Ich war kurz an meinem Mantel beschäftigt. Als ich mich umdrehte, hatte sich Rafa auf den Boden gekauert. Das Mädchen, mit dem er sich unterhielt, hatte sich ebenfalls dort niedergelassen. Es war langhaarig wie Siddra, jedoch nicht ganz so hübsch gekleidet. Ich stellte mich dicht neben Rafa, so dicht, daß ich fast auf seinen Talar trat, der über den Fußboden fiel. Ich verschränkte meine Arme hinter dem Rücken, damit meine Hände mit nichts als der Wand in Berührung kamen. Ich ertrage es nicht, etwas Körperähnliches anzufassen, wenn ich Rafa anfassen möchte und das nicht geht.
Die Musik blieb für eine ganze Weile gitarrenlastig. Das störte mich jedoch nicht mehr. Es war mir sogar recht, denn ich hatte dadurch einen Grund, mich nicht von meinem Platz zu rühren. Rafa redete und redete. Die Unterhaltung mit dem Mädchen lieferte ihm gleichfalls einen Grund, sich nicht von seinem Platz zu rühren. Er schien auf dem Fußboden festgeklebt zu sein. Begrüßt hatte er mich immer noch nicht, und er hatte mir auch noch nicht in die Augen geguckt. Ich harrte ruhig neben ihm aus. Rafa sollte das Gefühl haben, daß ich zu ihm stehe, in welcher Verfassung er sich auch befindet. Er sollte erfahren, daß ich Geduld mit ihm habe.
Carl saß auf dem Podest und beobachtete uns. Er meinte später, daß er sich an meiner Stelle blöd vorgekommen wäre. Selbst für ihn ist es etwas Ungewöhnliches, ruhig, geduldig und beharrlich auf einen Menschen zu warten.
Ich konnte nur wenige Worte verstehen von dem, was Rafa sagte:
"Echt, ich hab' mit meiner Freundin soviel Sch... erlebt ..."
Er sprach mit schwerer Zunge.
"Ich glaube, der Rafa hat ganz schön viel getrunken", sagte ich zu Carl.
"Ja, das hat der", bestätigte er. "Das hat mir Siddra auch schon gesagt. Der ist ganz schön besoffen."
Rafa redete und redete und redete. Ich weiß, wie er reden kann, wenn er reden muß.
Als wieder Industrialmusik gespielt wurde, kauerte Rafa immer noch mit dem Mädchen auf dem Boden. Die Leute, die neben uns gesessen und gestanden hatten, waren längst fort, doch Rafa wich nicht.
Es kamen unter anderem "Muerte al Escala Industrial" von Esplendor Geometrico, "Answers for you" von Blackhouse und "Bloodmoney" von Dive. Ich tanzte, und Gerrit tanzte auch. Er trug ein langes goldgesticktes Mantelkleid. Mit seinem Pferdeschwanz und seinem Handtäschchen sah der "schöne Gerrit" wie eine große Dame aus.
Als ich von der Tanzfläche kam, sah ich Rafa nicht mehr. Ich wollte Carl fragen, mit welchem Mädchen er fortgegangen sei. Doch Carl unterhielt sich gerade, und ich konnte ihn nicht auf Rafa ansprechen. Wenig später sah ich Rafa auf der Galerie bei Xentrix herumlaufen. Das Mädchen hatte er mit hinaufgenommen, und ab und zu setzte er sich neben sie auf die Bank dort oben. Von nun an tanzte ich mit dem Gesicht zum Gang, um ihn besser beobachten zu können. Er unterhielt sich längere Zeit mit Xentrix. Er war immer noch auf der Galerie, als ich wieder vor die schwarze Wand ging. Ein Junge mit Brille und Zöpfchen gesellte sich zu mir. Er war groß und schlank und trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Er machte einen netten Eindruck auf mich. Ich fragte ihn, wie er hieße; er heißt Gabriel. Er fragte mich, ob ich wüßte, wie es Valeria wohl ginge. Ich erzählte ihm, daß sie nicht mehr mit uns in Kontakt steht und daß auch Till kaum noch mit ihr zu tun hat. Sie stecke nun mit dem Fechtner zusammen.
"Ivo?" fragte Gabriel erstaunt und hielt seine flache Hand in Bauchhöhe, um auf Ivo Fechtners geringe Größe anzuspielen.
"Ivo", nickte ich und hielt meine Hand ebenfalls in Bauchhöhe.
Gabriel wollte von mir einen Rat. Till hatte vor, mit ihm gemeinsam ein Konzert zu geben. Ich sollte Gabriel sagen, wie es um Tills Zuverlässigkeit bestellt sei.
"Till wollte schon öfter ein Konzert geben, doch daraus ist nie etwas geworden", erzählte ich.
"Also - vergiß' es", deutete Gabriel. "Ich meine, der hatte da schon gesagt, da wäre so ein stillgelegter Bahnhof, da könnte man das machen."
"Das ist vollkommener Unsinn. Ich habe von dem Haus schon gehört; da ist sein Übungsraum drin. Als Veranstaltungsort ist das völlig ungeeignet. Da gibt es nicht einmal vernünftige sanitäre Anlagen, und erreichen kann man es auch nur mit dem Auto, und das ist ganz schwer zu finden. Mach' das lieber im 'Jugendhaus'. Das ist ein guter Ort für solche Festivals. Da kommen die Leute wenigstens. Das Elektrofestival letztes Jahr war auch gut besucht."
"Stimmt! Jetzt erinnere ich mich auch daran, woher ich dich kenne. Du standest da mit Valeria und dem Fechtner."
"Genau."
"Das Festival, da sind ja auch ... damals hießen sie doch noch 'Honeymoon', Dolf und dieser ..."
"Ja, dieser ...", sagte ich und lächelte.
"Ja, dieser ...", wiederholte Gabriel.
"22.01.93."
"Genau."
Inzwischen war es fast vier Uhr. Die Sängerin war nicht mehr im "Elizium". "Dead and buried" von Alien Sex Fiend begann, ein Stück, das ich sehr mag und das selten läuft.
"'Dead and buried'!" rief ich Gabriel zu. "Ich muß tanzen!"
Ich machte mich auf den Weg zur Tanzfläche. Rafa stürmte die Treppe herunter. Er hatte sich das Lied wohl gewünscht. Ich sah ihn kurz an und nickte leicht. Eben war ich auf der Tanzfläche angekommen, da schlossen sich Rafas Arme von hinten um meine Taille. Ich faßte seine Handgelenke und zog seine Arme noch fester um mich herum. Dann drehte ich meinen Kopf. Unsere Lippen berührten einander, als er mich fragte:
"Kann ich heute abend bei dir übernachten?"
"Ja", antwortete ich. "Natürlich."
"O.k.", sagte Rafa und strebte fort.
Ich hielt noch seinen Ärmel, und er rief:
"Kannst' mal loslassen?"
Er tanzte schräg gegenüber von mir. Auch ich tanzte, als sei nichts geschehen. Das nächste Stück begann. Rafa kam wieder auf mich zu. Ich griff nach dem Kragen seines weißen Spitzenhemdes.
"Das ist W.E! Tanz'!" bat er.
"Nein, ich kenne das Stück noch nicht", entgegnete ich.
"Das ist schick!" rief Rafa. "Es heißt 'Ich träum' von dir'! Nun tanz' schon! Tu's für mich!"
"Kann ich denn nicht auch einfach nur zuhören?"
"Ach, bitte, tanz'!"
"Ich möchte aber lieber einfach nur zuhören."
"Gut, dann hör' aber aufmerksam zu."
"Ja, ich höre aufmerksam zu."
Ich stellte mich wieder vor die schwarze Wand, und er lief nach oben.
"Ich träum' von dir" ist ein Liebeslied, außer "Ganz in Weiß" das einzige, das ich von Rafa kenne. Es kann eine besondere Bewandtnis damit haben, daß er gerade jetzt wieder ein Liebeslied gemacht hat.
Rafa kam bald wieder an mir vorbei. Ich faßte sein Revers.
"Was kostet ein Taxi nach dir?" wollte er wissen.
"Von hier zu mir?"
"Ein Taxi nach dir."
"Das kostet fünfzehn Mark."
"Gut, dann kann ich ja eins bestellen. Aber vorher habe ich noch fünfhundert Sachen zu erledigen. Also, laß' mich nochmal allein, ja?"
Er geht zur Bar und spricht mit diesem und jenem. Ich gehe zu Xentrix und lasse mir meine CD zurückgeben. Als ich die Treppe hinuntersteige, begegnet mir Rafa.
"Na?" sage ich und schließe meine Arme um seinen Hals.
"He! Was 's' los?"
"Ich wollte nur 'Na?' sagen."
"Ich muß heute bei dir schlafen", sagt er eindringlich.
"Ja."
"Du, ich muß heute bei dir schlafen."
"Ist ja gut, ist ja schon gut", beruhige ich ihn und gehe weiter.
Wie einer, der nicht ganz bei sich ist, schwirrt Rafa durchs "Elizium". Ich dachte mir schon, daß er viel trinken muß, ehe er mit mir kommen kann. Er muß seine Furcht betäuben, um sie im Zaum halten zu können.
Ich tanze noch etwas. Dann kommt Rafa und fragt mich:
"Na? Woll'n wir fahr'n?"
"Ja."
"Ja, dann fahr'n wir, ne?"
"Ja."
"Ich muß nur eben noch zur Bar, mein Bier wegbringen."
Er geht, um sich das Glaspfand zu holen. Ich warte kurz. Dann gehe ich ihm nach. Er kommt mir entgegen, und ich frage:
"Hattest du denn jetzt ein Taxi bestellt?"
"Nein."
"Wir können nämlich auch gut zum Hauptbahnhof gehen und da einsteigen."
"Nein, das machen wir am Steintor", entscheidet Rafa. "Ich muß sowieso noch zur Sparkasse und zum Dingsautomaten gehen und Geld holen."
"Dann hole ich jetzt meine Sachen. O.k.?"
"Ja. Hol' deine Sachen."
Er bleibt in der Nähe der Bar, während ich meinen Mantel anziehe und mir die Tasche über die Schulter hänge. Ich möchte Carl bescheidgeben, doch ich kann ihn nirgends entdecken. Als ich zurück zur Bar komme, steht Rafa mit Revco an einem Tisch und hat sich - wie so häufig in dieser Nacht - in ein Gespräch verwickelt, in dem es recht heftig hergeht. Rafa möchte Revco mit Verhandlungen beauftragen, und Revco wehrt sich dagegen:
"Ich kann das nicht! Ich kann nicht reden wie du!"
"Doch, du machst das, du machst das, du machst das", läßt Rafa keine Widerworte gelten. "Du machst das schon. Ich weiß, daß du das machst."
Sein autoritäres Gehabe paßt nicht so ganz zu der vom Alkohol schleppenden Stimme.
"He ... ich kann das nicht!" windet sich Revco.
"Doch. Ich sage, du machst das."
Das geht so immer weiter, und ich stehe davor und beobachte die Herren. Rafa scheint Zeit gewinnen zu wollen. Ich ziehe ihn dann und wann vorsichtig am Ärmel.
"Nun komm'!" rufe ich leise. "Wir müssen! Jetzt komm'!"
Endlich löst sich Rafa von Revco.
"Jetzt komm'!" fordere ich ihn noch einmal auf. "Wir müssen!"
"Gleich!" bremst Rafa. "Noch - noch zehn Minuten!"
"Nein, wir gehen jetzt", bestimme ich.
"Noch - noch zehn Minuten noch, ja?" bittet er. "Noch zehn Minuten."
"Nein, wir gehen jetzt."
"Ich rauch' nur noch auf, o.k.?" macht Rafa ein Angebot.
"O.k., dann rauchst du nur noch auf."
Er hat sich die Zigarette eben erst angesteckt.
"Komm', laß' uns doch", sage ich nach einer Weile. "Komm'."
"Gleich."
Er sieht mich an und sagt leise:
"Het-ty! Ich habe A-hangst!"
"Das wird schon", beruhige ich ihn und nehme ihn in die Arme. "Das wird schon alles. Das wird alles schon werden."
Ich streichle seine Wange.
"Kann man bei dir duschen?" erkundigt er sich.
"Meine Dusche ist geil", antworte ich. "Da kann man ganz schön ..."
"Ja, ganz heiß? Und ganz lange?"
"Ja, ganz heiß und ganz lange. Da ist ein Duschvorhang, und da kann man voll aufdrehen. Ich habe alles da."
"Wollen wir zusammen duschen?"
"Du möchtest gern mit mir zusammen duschen?"
"Oh ... weiß nicht."
"Na, wir werden das sehen."
Rafa raucht seine Zigarette zuende.
"Nun komm', nun laß' uns mal gehen, ja?" sage ich und fasse um seine Schultern. "Nun laß' uns mal gehen."
Wir nähern uns dem Ausgang. Auf halber Strecke hält Rafa schon wieder inne.
"Du", sagt er, "du gehst vor und wartest draußen auf mich."
"Nein, das mache ich nicht. Wir gehen jetzt zusammen 'raus."
"Du gehst vor und wartest beim 'Guinness'. Und ich komme in ... drei Minuten nach."
"Ich gehe jetzt nicht ohne dich 'raus", sage ich fest und schüttele den Kopf. "Ich gehe nur mit dir 'raus."
"Du ... das ist nicht so, daß ich mich nicht mit dir zeigen will", druckst er, "aber wenn wir jetzt hier zusammen verschwinden, dann ist da jemand ganz, ganz übel verletzt."
"Wir sind doch gleich draußen. Wir sind doch jetzt schon so nah."
"Ja, die stehen aber jetzt da draußen."
"Komm', wir müssen aber jetzt zusammen gehen. Komm', gib mir deine Hand. Wir gehen jetzt."
"He! Es geht um einen Gefallen!" ruft Rafa und windet sich aus meinem Griff. "Kannst du mir nicht diesen Gefallen tun? Bin ich dir das nicht wert?"
"Ich tue dir gerne einen Gefallen", erkläre ich. "Aber du schaffst es nicht. Du kommst nicht nach. Du fürchtest dich dann so sehr davor, wenn ich weg bin, daß du es alleine nicht schaffst. Du schaffst es nur mit mir. Komm', nimm meine Hand. Komm'. Wir gehen jetzt zusammen hier 'raus."
Ich versuche, Rafa fortzuziehen, wie ich vor einer Woche schon Derek mit mir gezogen habe. Doch seinem Wesen entsprechend leistet mir Rafa einen viel hartnäckigeren Widerstand als Derek.
"Hetty!" ruft er flehend. "Nein! Bitte! Bitte, bitte, bitte! Willst du mir diesen Gefallen nicht tun? Es geht nicht! Ich kann jetzt nicht gehen! Ich versprech's dir, in drei Minuten vorm 'Guinness'! In drei Minuten!"
"Nein, du schaffst es nicht. Du schaffst es nicht."
Er greift mit beiden Händen nach meinem Kinn.
"Sieh' mich an!" ruft er, als wolle er mich aufwecken. "Sieh' mich a-han! Hetty! Sieh' mich a-han! Sieh' in meine Au-gen!"
Ich folge der Aufforderung.
"So, glaubst du mir mein Versprechen nicht?" fragt er beschwörend. "Du weißt genau, daß meine Versprechen immer gehalten werden."
"Du schaffst es nicht, es zu halten. Du fürchtest dich zu sehr. Du kannst es nicht."
Rafa hat einen Einfall:
"Ich - ich geb' dir was. Soll ich dir meinen Perso geben?"
"Ja. Gib' mir deinen Perso."
"Ach, nein - ich geb' dir - das Wichtigste, was ich habe."
Er nimmt seine Uhr ab.
"Dies ist ein Erbstück von meinem Vater."
"Ja, ich weiß", sage ich ernst. "Die ist fünftausend Mark wert. Und das ist die erste Digitaluhr, die es gab."
"Nein. Falsch. Das ist die erste Quarzuhr, die es gab."
Ich nehme die Uhr und halte sie fest. Ich weiß, wieviel sie ihm bedeutet. Ich kann dieses wertvolle Pfand schätzen. Ich finde es beachtlich, daß er mir von sich aus ein Pfand angeboten hat. Schon im Oktober letzten Jahres beschloß ich, künftig ein Pfand zu nehmen, wenn ich mir von Rafa etwas versprechen lasse.
"Wenn ich die nicht wiederkriege, bringe ich dich um", droht er.
"Gut, du hast dann auch meine gnädige Erlaubnis dazu", sage ich. "Du kannst mich gerne umbringen, wenn du sie nicht wiederbekommst. Also, in drei Minuten vorm 'Guinness'."
"Ja ... das heißt ... weißt du, wo der Eingang ist?"
"Ja."
"Dann vorm Eingang."
"Vorm Eingang vom 'Guinness'. In drei Minuten. Und wenn du nach drei Minuten nicht da bist, komme ich ins 'Elizium' zurück."
"Ja."
"Also in drei Minuten vorm 'Guinness'. Oder in zwei."
"In zweieinhalb. Ach, lieber in drei."
Vorm "Elizium" läuft Revco auf der Straße herum. Er fragt mich, ob Rafa noch drinnen ist.
"Ja", antworte ich. "Aber es geht nicht; er kann jetzt nicht. Wir sind verabredet. Ich kann hier nicht bleiben. Ich muß zum 'Guinness'. Laß' ihn. Geh' nicht mehr 'rein."
"Ach, darum geht's doch jetzt gar nicht mehr."
"Gehe nicht mehr 'rein, Revco. Geh' nicht mehr 'rein."
Ich folge der Straße bis zu dem Pub an der Ecke. Das Lokal hat bereits geschlossen. Da Rafa mir seine Uhr gegeben hat, kann ich die Zeit verfolgen. Es ist genau halb fünf.
Die Uhr ist von Seiko. Das Ziffernblatt hat einen Rand, der ist zur Hälfte rot und zur Hälfte blau, und es stehen Zahlen darauf, die Minuten in Zehnerschritten. Richtige Ziffern hat die Uhr nicht, nur merkwürdig geformte weiße Felder auf schwarzem Grund.
In dieser Nacht ist es weniger kalt als in den vergangenen Wochen, und es hat auch zu regnen aufgehört. Ich kann draußen herumlaufen, ohne zu frieren oder naß zu werden.
Ich warte zwei Minuten länger, als wir ausgemacht haben, und das scheint mir genug. Ich kehre um. Die Uhr trage ich am Handgelenk.
Die Tür vom "Elizium" läßt sich nicht aufziehen. Ich klopfe an die Scheibe. Es dauert etwas, ehe sich jemand bereitfindet, mir zu öffnen.
Im "Elizium" finde ich Carl, Rafa aber nicht. Ich streife den Ärmel meines Mantels zurück und zeige Carl meine kostbare Beute.
"Ah!" sagt Carl verstehend.
"Na? Noch nicht los?" fragt mich Gabriel.
"Ich suche den, dem diese Uhr gehört", erkläre ich.
Ich gehe wieder hinaus. Zur Sicherheit stecke ich etwas Papier in den Türspalt. Auf der Straße steht noch das Auto, vor dem Revco mit einigen Leuten geredet hat. Revco ist auch jetzt noch da. Rafa ist bei ihm. Ohne mich um Revco zu scheren, gehe ich auf Rafa zu und fasse ihn an der Schulter.
"So, jetzt gehen wir", bestimme ich. "Jetzt kommst du mit. So, komm'. Nun komm' schon. Nun komm' schon. So, komm', wir gehen jetzt."
"Ich hab' im 'Elizium' noch was vergessen", fällt Rafa ein, als wir mitten auf der Straße stehen. "Ich muß das noch holen."
"Komm', wir gehen jetzt", wiederhole ich und lege meine Arme um seine Schultern. "Wir müssen jetzt gehen."
"Ich hab' bei Xentrix was vergessen! Ich muß nochmal 'rauf! Ich muß nochmal zu Xentrix!"
"Aber nur ganz kurz."
"Ja, nur ganz kurz", verspricht er.
Im Torweg zum "Elizium" bittet er mich:
"So, gibst du mir meine Uhr wieder?"
"Wenn wir gehen, dann kriegst du deine Uhr wieder."
"O.k."
"Guck', ich habe auch Papier in die Tür gesteckt, damit sie nicht zugeht."
"Das geht einfacher", weiß Rafa.
Er zeigt mir, daß man nur innen am Schloß einen Hebel verstellen muß, um die Tür von außen aufziehen zu können.
Rafa rennt mir voran und läuft hoch zu Xentrix. Ich erzähle Carl, daß ich vorhabe, Rafa mitzunehmen und daß sich dieses Unterfangen als schwierig erweist.
"Ja, dann ... bis bald", verabschiedet sich Gabriel von mir.
Ich stelle mich oben an die Treppe und schaue Rafa zu. Er redet mit Xentrix, und das sieht wieder einmal sehr wichtig aus. Mehrere Mädchen stehen dabei, auch eines mit schwarz gefärbten Haaren, die zu einem Zopf geflochten sind. Dieses Mädchen könnte sich Hoffnungen auf Rafa machen. Vielleicht wird es seine nächste Freundin.
Xentrix spielt ein sehr tanzbares Stück von Die Form, "Bite of God". Ich bleibe auf meinem Platz. Ich habe schon zu "Unlimited" von Die Form getanzt, und das ist eines meiner Lieblingsstücke.
Ich gebe Rafa ein paar Minuten Zeit. Dann gehe ich zum DJ-Pult und fasse ihn von hinten an der Schulter.
"So, jetzt ist's genug", unterbreche ich das Gespräch. "Jetzt ist's genug. Jetzt gehen wir. Komm', jetzt reicht's. Jetzt gehen wir."
"Ja, ja, Moment, Moment, Moment."
"Nein, wir gehen jetzt. Komm', jetzt gehen wir."
Rafa löst sich von Xentrix und den Mädchen und folgt mir die Treppe hinunter.
"Echt, diese ... Frauengeschichten", seufzt er.
Wir erreichen das Ende des Seitengangs und müssen nur noch an der Theke vorbei zur Flügeltür gehen, da will Rafa schon wieder nicht weiter.
"Ha!" ruft er. "Ich muß meine Getränkemarke noch einlösen!"
"Das kannst du ein andermal. Jetzt machst du es nicht. Jetzt geht es nicht. Jetzt gehen wir nach -"
"Nein! Ich muß meine Getränkemarke noch abholen. Nur noch ein Bier. Ein Bier."
"Nein, das kannst du auch noch ein andermal machen."
"Zehn Minuten und ein Bier", erweitert er seine Forderung. "Ich brauch' das jetzt. Ich muß das unbedingt noch ... Ich muß nochmal einen Moment alleine sein. Ich hab' da noch was, das muß ich mit mir alleine abmachen. Tanz' doch noch ein bißchen."
Die Vorstellung ist lockend, denn es läuft noch ein anderes Stück von Die Form, "Intense Blue", das mir sehr gefällt.
"Ich tanze nicht", entgegne ich. "Wir gehen jetzt sofort zu mir."
"Wieso, du kannst doch ruhig noch tanzen."
"Ich möchte dir die zehn Minuten nicht mehr geben, denn von Minute zu Minute wird deine Furcht größer. Von Minute zu Minute wird es für dich schwerer, mitzukommen."
"Ich muß jetzt unbedingt nochmal mein Bier haben. Das muß ich jetzt machen, sonst ..."
"Nein, ich möchte, daß wir jetzt gehen, und zwar auf der Stelle", sage ich ruhig und mit Nachdruck. "Ich will nicht mehr warten, keine Minute mehr."
"Ich brauch' zehn Minuten und ein Bier, sonst - und - meine Uhr brauch' ich wieder."
"Die kriegst du erst wieder, wenn wir gehen. Das hatten wir ausgemacht."
"Ich brauch' jetzt meine Uhr", sagt Rafa aufgeregt, "sonst ... sonst ... sonst ... sonst ..."
"Wenn du deine Uhr wiederhaben möchtest, dann gehen wir sofort."
"Ich ... kann nichts entscheiden ohne meine Uhr", behauptet er. "Ich kann ohne meine Uhr gar nichts machen."
"Wir gehen jetzt sofort zu mir", sage ich und nehme ihn in den Arm.
Sein Gesichtsausdruck wird flehend.
"Bitte!" ruft er. "Elektro-Betty! Bitte! Bit-te! Willst du mir den Gefallen nicht tun? Bin ich dir das nicht wert? Jetzt - jetzt gib mir meine Uhr, und - und dann zehn Minuten."
"Wenn ich dir deine Uhr gebe, gehen wir sofort."
"Nein! Meine Uhr und die zehn Minuten! Fünf Minuten!"
"Ich möchte, daß wir jetzt sofort gehen."
"Bin ich dir das nicht wert?" fleht Rafa. "Kannst du mir keinen Gefallen tun? Sieh' mich an! Hal-lo! Sieh' mich a-han!"
Er hebt mein Kinn in die Höhe.
"Sieh' mich an!" fordert er. "Willst du mir keinen Gefallen tun? Geht das nicht? Kannst du mir nicht den Gefallen tun? Bin ich dir das nicht wert? Bin ich dir das nicht wert?"
"Es geht nicht darum, daß du mir das nicht wert bist, daß ich dir den Gefallen nicht tun möchte; darum geht es nicht. Es geht darum, daß deine Furcht von Minute zu Minute stärker wird."
"Ich bin dir das nicht wert."
"Doch, du bist mir das schon wert. Aber -"
"Dann machen wir das wie abgemacht. Die zehn Minuten noch. Dann können wir uns im Bett ganz schick unterhalten und alles. Dann machen wir uns das ganz schick. Das ist versprochen. Aber vorher brauche ich mein Bier."
"Gib mir deine Hand", sage ich und will ihn führen. "Komm', wir gehen jetzt."
Rafa widerstrebt heftig. Ich lege meine Arme um ihn.
"He!" wehrt er sich und wirft seinen Kopf ins Genick. "Laß' das! Ich werd' schwach!"
Vorsichtig streiche ich ihm über die Wange.
"Bitte!" ruft er gequält. "Hetty! Bitte! Bitte, bitte, bitte! Fünf Minuten!"
Ich möchte mich nicht darauf einlassen.
"Dann - Ende!" erklärt Rafa und schüttelt den Kopf. "Aus! Vorbei! Ich fahr' mit dem Taxi nach Hause! Aus! Aus! Is' aus."
"Komm', du steigerst dich da jetzt nur 'rein. Ich halte es wirklich für besser, wenn wir jetzt gehen."
"Nein, Ende. Ich nehm' mir ein Taxi. So. Ich brauche meine Uhr. Jetzt gib mir sofort meine Uhr. Gib mir meine Uhr. Gib mir meine Uhr."
"Dann gib mir deinen Perso", verlange ich.
"Gut", sagt Rafa.
"Ich geb' dir die Uhr, du gibst mir den Perso."
Er zieht seine Geldbörse hervor. Sein Personalausweis steckt sichtbar darin. Die Übergabe kann stattfinden. Ich nehme die Uhr von meinem Handgelenk und umgreife das Armband fest.
"So. Erst den Perso, dann die Uhr", bestimme ich.
"Erst die Uhr", fordert Rafa.
"Komm'! Erst den Perso! Dann die Uhr!"
"Erst die Uhr! Meine Uhr! Gib mir sofort meine Uhr!"
"Erst den Perso, dann die Uhr."
"Erst die Uhr."
Ich reiche ihm die Uhr. Mein Blick haftet auf dem Personalausweis. Rafa schnappt sich die Uhr und zieht die Hand mit der Geldbörse zurück.
"So", sagt er zufrieden. "Den Perso hätte ich dir sowieso nicht gegeben."
Flugs greife ich zu und reiße das grüne Kärtchen aus der Geldbörse. Dabei fallen einige Münzen auf den Boden.
"Also, also wirklich!" höre ich entrüstete Stimmen.
Man hat wohl bemerkt, daß es zwischen Rafa und mir ein wenig heftiger zugeht. Ich lasse mich davon nicht irre machen. Ich hebe die Münzen auf und lege sie in Rafas Hand. Er geht zur Theke. Ich bleibe stehen, wo ich bin und lese mir sorgfältig den verknickten, abgegriffenen Personalausweis durch. Ich habe ihm im wahrsten Sinne des Wortes das Geheimnis seines Alters entrissen, das er so sorgsam gehütet hat. Rafas Geburtsdatum ist der 11.01.71. Das heißt, daß er eben erst dreiundzwanzig Jahre alt geworden ist. Es erstaunt mich nicht, daß er sich zierte, sein Alter zu verraten.
Nach den Angaben hat Rafa blaue Augen und ist 172 cm groß. Sein Foto im Ausweis wirkt auf mich sehr brav und sehr kindlich, wie ich ihn gar nicht kenne.
Als die fünf Minuten um sind, die Rafa für sich haben wollte, finde ich ihn unmittelbar neben der Schwingtür zum Vorraum. An einem Tisch redet er mit dem Mädchen, das sein Haar geflochten hat. Ich stelle mich dicht zu ihm und stecke den Personalausweis in meine Tasche. Ich lasse Rafa noch mit dem Mädchen zuendesprechen. Dann lege ich wieder den Arm um seine Schulter und blicke ihn auffordernd an. Er verabschiedet sich von dem Mädchen.
"So", sage ich.
"Ja", sagt er.
"Komm'."
Ich öffne die Schwingtür weit und gehe ihm voraus. Ich achte darauf, daß er mir folgt.
"So. Gib mir meinen Perso wieder", verlangt Rafa am Ende des Torwegs.
Ich öffne meine Tasche und bekomme zuerst meinen eigenen Personalausweis zu fassen.
"Huch - das ist ja meiner", sage ich.
"Meiner wär' ... schon nicht schlecht", findet Rafa.
Als er den Ausweis wiederhat, will er noch einmal seine List zeigen:
"Ist nicht gesagt, daß ich mitgehe."
Ich zeige mich unbeirrt: "Doch, du gehst mit. Komm'."
"Ich fahre immer nur Taxi", erzählt Rafa im Gehen. "Straßenbahn fahren, das bringt's echt nicht."
"Na, um diese Zeit fahre ich eigentlich auch immer nur Taxi. An den Geräuschen hinter uns kannst du hören, warum das sinnvoller ist, Taxi zu fahren."
Vorm "Nachtbarhaus" gröhlen Betrunkene.
"Ich meine, wenn ich so mit mehreren Leuten unterwegs bin, mit fünf oder sechs oder auch mit drei oder vier, dann fahre ich dann schon mal Bahn", setze ich hinzu, "aber normalerweise nicht ..."
"Ich muß aber vorher noch Geld holen", sagt Rafa. "Ich muß sowieso noch zum Dingsautomaten."
Wir nähern uns einer größeren Straße.
"Na, zu welcher Sparkasse möchtest du jetzt gehen?" frage ich. "Zum Bahnhof? Zum Steintor? Am CITICEN ist auch einer."
"Zum Steintor."
"Gut, dann gehen wir zum Steintor."
Auf dem Weg zum Steintor brüllt ein Betrunkener hinter uns her:
"Was 's' 'n das für 'ne Frau!"
Rafa lächelt leicht.
"Ja, ja!" sagt er zu mir mit wissendem Blick. "Siehst du?"
"Ja, ja!"
"Ich wußt' ja noch gar nicht, daß ich 'ne Frau bin. Ach, ich träum' davon, in SHG. zu leben!"
"Aber du wohnst doch in SHG."
"Ich träume davon, in SHG. zu leben, und mein Traum ist in Erfüllung gegangen."
Rafa leistet mir keinen Widerstand mehr. Ich berühre ihn nicht beim Gehen. Er soll sich nicht wie ein Gefangener fühlen.
"Aber stell' mir jetzt bloß keine Verhörsfragen, ja?" sichert er sich ab.
"Nein, ich stell' dir keine Verhörsfragen."
"Fang' jetzt bloß nicht wieder an, mich zu verhören."
"Nein, ich stell' dir keine Fragen. Ich versprech's. Ich mach' es nicht."
"Stell' mir bloß nicht wieder solche Verhörsfragen."
"Nein, ich stell' dir keine Verhörsfragen."
Wir überqueren die Steintorkreuzung.
"So. Hoffentlich ist der am Steintor nicht zu, der Automat", sagt Rafa.
"Ja, dann könnten wir immer noch zum Hauptbahnhof gehen. Der hinterm Bahnhof ist immer offen."
"Nein. Wenn am Steintor zu ist, ist am Hauptbahnhof auch zu."
"Ah, ja."
"Höchstens am CITICEN ist noch offen. Außerdem ... muß ich mal unbedingt auf die Toilette."
"Ja, dann kannst du doch zu 'McGlutamat'. - Ach, 'McGlutamat' hat ja schon zu."
"Ich geh' nicht zu 'McGlutamat'", sagt Rafa, und aus seiner Stimme spricht die Erfahrung. "Da geh' ich nicht auf Toilette."
"Ja, das ist ein Dreckladen. Ich weiß."
Die Glastür zum Geldautomaten läßt sich nicht öffnen. Rafa versucht, seine Karte in einen Schlitz zu schieben. Auf einer Flüssigkristallanzeige erscheint der Satz:
"Kein Zutritt möglich."
"Moment mal - Geld zählen", sagt Rafa. "Was kostet ein Taxi zum Bahnhof?"
"Von mir zum Bahnhof?"
"Ja."
"Fünfzehn Mark. Du kannst aber auch gut mit der Bahn fahren. Das sind zehn Minuten."
"Nein, ich fahr' nicht mit der Bahn. Ich fahr' nur Taxi."
Rafa zählt die Scheine im Portemonnaie.
"Wo in H. wohnst du?" möchte er wissen.
"In Bc."
"Gibt's bei euch in der Nähe einen Geldautomaten?"
"Ja."
"Wie weit ist das von euch ungefähr?"
"Ja, so ungefähr eine Viertelstunde Weg. Das ist nicht weit."
"Das ist nicht weit", ahmt er mich nach.
Offenbar ist er an kürzere Gehstrecken gewöhnt.
"Nein, nein", bleibe ich unbeirrt.
Er entscheidet sich, in Bc. Geld abzuheben.
"Gut, dann fahren wir jetzt mit dem Taxi zu mir", sage ich schnell, ehe er sich umentscheidet. "So, dann nehmen wir doch das gleich. Guck', da vorne ist eins."
Ein Taxi fährt über die Kreuzung. Ich gehe mitten auf die sonst leere Straße und hebe kurz meine Hand. Das Taxi hält. Ich winke Rafa her.
"Du sitzt vorne", wünscht er.
"Ja ...", sage ich zögernd.
"Oder wir sitzen beide hinten."
Das gefällt mir schon viel besser.
"Ja", sage ich zustimmend. "Wir sitzen beide hinten. Das ist kultiger."
Wir gehen um das Taxi herum. Ich mache die Tür auf und steige ein. Rafa setzt sich neben mich. Ich gebe dem Fahrer Anweisungen. Dann lege ich meinen Kopf auf Rafas Schulter und frage:
"Darf ich das?"
Ich darf.
"Eurythmics", sagt Rafa, als er hört, was im Radio läuft, und er fragt den Fahrer:
"Kannst du das lauter machen?"
"Aber nicht zu laut."
"Nein. Wir wollen hier ja keine Disco."
Rafa erkundigt sich danach, was ich daheim zu trinken habe.
"Sekt habe ich, Kaffee habe ich, vielleicht auch noch so eine Dose Bier. Vielleicht hat aber Carl die auch schon ausgetrunken."
Rafa möchte etwas Kaltes, etwa Cola oder Saft. Ich erzähle ihm von dem Tankstellensupermarkt bei uns um die Ecke.
"Kannst du kochen?" fragt er und lacht dabei.
"Es kommt darauf an, was du willst", meine ich. "Du mußt nur sagen, was, dann können wir das bei der Tanke holen. Da gibt es so ziemlich alles."
"Auch Pfirsichlollis?"
"Na ja, da gibt es schon alle möglichen Sorten von Bolchens."
"Aber Pfirsichlollis ...hmhm ...", zweifelt Rafa, und es klingt, als sei das eine Spezialität, die es nur in SHG. gibt.
"Darf man bei dir rauchen?" fragt er wohlerzogen.
"Natürlich. Bei uns rauchen alle. Wir haben auch jede Menge Aschenbecher ... und Feuerzeuge haben wir ..."
"Hast du bei dir einen Föhn?" möchte er als Nächstes wissen.
"Ja."
"Und Shampoo?"
"Ja. Ich habe alles da."
"Das ist, weil ich mir nämlich die Haare wasche."
Es gefällt mir, daß er seine Haare waschen möchte. Ich kann ihm schlecht in den Haaren wühlen, wenn sie festgesprüht sind.
Wir nähern uns der Tankstelle.
"Wollen wir nun vorher noch zur Tanke, oder wollen wir gleich zu mir?" frage ich.
"Gleich zu dir."
"Also gut, fahren wir gleich zu mir."
"Lebst du in einer WG?" erkundigt sich Rafa.
"Nein, ich lebe nur mit Carl."
"Carl? Wer ist Carl?"
"Den kennst du. Den kennst du auf jeden Fall."
Das Taxi hält.
"So, mal sehen, was der Spaß kostet", sagt Rafa. "Sechzehn Mark vierzig."
Wie ich es mir dachte, ist es für ihn nicht nur selbstverständlich, mit dem Taxi zu fahren, sondern es ist für ihn auch selbstverständlich, das Taxi allein zu bezahlen.
"Er hat Stil", sage ich über solche Männer.
"Aber den Carl kennst du", versichere ich ihm noch einmal, als ich die Haustür aufschließe. "Der geht immer ins 'Elizium'."
"Ach, ist das so ein Blonder?"
"Der war blond, aber der hat sich jetzt die Haare dunkelrot gefärbt."
"Und der geht immer ins 'Elizium'."
"Ja. Der ist sogar noch im 'Elizium'."
"Ach, der ist noch im 'Elizium'."
"Ja, der ist noch im 'Elizium'."
Inzwischen ist es kurz nach fünf. Doch selbst wenn es früher gewesen wäre, hätte ich die Haustür nicht hinter uns abgeschlossen. Rafa soll nicht glauben, eingesperrt zu werden.
"Ach, du wohnst gar nicht so weit oben", stellt er fest, als ich die Wohnungstür aufschließe.
"Nein, tue ich nicht."
Ich mache im Flur das blaue Deckenlicht an.
"So - wo - ist - Toilette?" fragt Rafa.
Ich zeige ihm die Badtür und drücke auf den Lichtschalter.
"Da mußt du ein bißchen warten, bis das Licht angeht."
"Das geht aber nicht ... doch, jetzt geht es an."
Er verschwindet. Ich nehme die Gelegenheit wahr, das Bügelbrett wegzuräumen und die frisch gewaschene graue Decke von der Heizung zu nehmen. Sie ist eben trocken. Ich breite sie über dem Sofa aus. Dann mache ich eins von den Stücken an, die ich bei Folter aufgenommen habe, "Das Gesetz des Tages und Leidenschaft zur Nacht" von Autopsia. Dieses Stück ist auf der CD "Palladium". Es ist - wie fast alles von Autopsia - ruhiger, getragener, neoklassischer Industrial, und es klingt etwas melancholisch. Ich habe in meinem Zimmer nur die Schreibtischlampe angeschaltet, kein helles Licht.
"So, wo schlaf' ich?" fragt mein Gast, als er aus dem Bad kommt.
"Bei mir im Bett natürlich. Ne?" gebe ich zur Antwort. "Hier - ist das Bett."
"Ja", nickt er zufrieden.
Anscheinend gefällt ihm das Bett, ein hochlehniges dunkelgraues Bett, das ich von meiner Großmutter geerbt habe.
"So", sagt er, "und jetzt brauch' ich noch ein T-Shirt, weiß, lang, groß, irgendwas, irgendwie."
"Weiß, lang, groß. Mal sehen, was ich dahabe. Das rosane mit der schwarzen Schrift ..."
"Kann auch mit Aufdruck sein. Das ist egal."
"Ja, aber das ist im Moment bei Constri. Mal im anderen Schrank gucken."
Ich gehe in den Flur. Rafa folgt mir und stößt an meine Türschwelle aus Betonpflastersteinen. Er verschiebt dabei einen Stein und rückt ihn sorgsam wieder an seinen Platz.
"Warum liegen hier überall so 'ne Steine 'rum?" fragt er.
"Ach, die Schwelle ... Ich laufe so gerne über Pflastersteine, deshalb habe ich sie mir als Schwelle hingelegt, damit ich immer drüberlaufen kann. Ich stehe ja total auf Betonsteine. Dieses Regal hier", sage ich und klopfe auf mein Fernsehregal, "das ist auch aus Beton."
Im Flurschrank finde ich nichts Geeignetes.
"Jetzt weiß ich etwas", fällt mir ein, "das Test Department-T-Shirt."
"Warum mag mich deine Katze?" fragt Rafa.
Bisat hat ihn entdeckt und begrüßt ihn mit vorsichtigem Schnuppern.
"Ja, ja, du bist wohl so ein Typ dafür, für Katzen, ne", vermute ich.
"Wie heißt deine Katze?"
"Bisat. B-I-S-A-T. Männlich, sechseinhalb Jahre alt."
"Die mag mich ja. Ist die zu allen so?"
"Nein. Vor Carls Eltern, da hat der total die Angst gehabt."
"Ja, warum mag mich deine Katze denn?"
"Ja, er mag dich halt leiden."
"Ja, woher weiß der das so schnell?"
"Der Bisat, der weiß das immer schnell. Katzen wissen das immer schnell."
Ich nehme das feste graue T-Shirt aus dem Wäscheschrank in meinem Zimmer und gebe es Rafa.
"Hier, paß' gut auf; das ist mein bestes."
Er schließt sich im Bad nicht ein. Ich frage mich, ob er das zu Hause auch nicht tut.
"Hetty!" ruft er aus dem Bad.
"Ja?"
"Hast du noch irgendwas Abschminkmäßiges? Creme oder sowas?"
Ich gebe ihm meine Cremetube.
"Hetty!" ruft er nach kurzer Zeit wieder.
"Ja?"
"Kann ich das Shampoo da nehmen?"
"Ja. Du kannst hier alles nehmen."
Mir kommt ein Gedanke.
"Brauchst du ein Handtuch?" frage ich ihn durch die Tür.
"Ach, da hängen doch so viele, da nehme ich einfach eins."
"Nein, nein. Unsere Gäste bekommen immer frische Handtücher. Brauchst du eins oder zwei?"
"Eins reicht."
Ich bringe ihm eins von den dicken Esprit-Handtüchern, die ich selbst verwende.
Während er im Bad ist, sehe ich mich in meinem Zimmer um. Mein Tagebuch liegt mitten auf dem Schreibtisch. Ich lege es auf einen Stapel. Ich möchte Rafa nicht zu neugierig machen.
"Hetty!" ruft er.
Er steht mit nassen Haaren im Flur und hat oben herum nichts an.
"Hast du eine Bürste?" fragt er.
"Die hier?"
"Aus Plastik."
Ich suche in meiner Schublade, finde aber keine Bürste aus Plastik.
"Ach, vielleicht ist bei Carl noch eine", hoffe ich. "Der hat bestimmt eine."
Ich hole eine Bürste aus Carls Schrank. Rafa ist damit zufrieden. Während er sich die Haare föhnt, fange ich an, den Abtropfkorb leerzuräumen. Schließlich geht Rafa in mein Zimmer, geduscht, ungeschminkt und mit herunterhängenden Haaren. Ich mache die Küchentür zu und folge ihm. Er trägt seine Kleider über dem Arm.
"So. Wo ist meine Ecke? - Da", beantwortet er seine Frage selbst und legt den Haufen in eine Sofaecke.
"Und wo ist mein Ascher?" fragt er als Nächstes.
Ich gebe ihm den Aschenbecher mit Ständer, den Carl mir geschenkt hat. Rafa funktioniert meinen Schemel sogleich zum Couchtisch um, zur Ablage für seine Zigaretten, sein Feuerzeug, sein Kruzifix, seine Geldbörse und andere kleine Dinge. Dann setzt er sich aufs Sofa und zündet sich eine Zigarette an. Er hat das graue T-Shirt übergezogen. Ich sehe die Nähte.
"Oh, du trägst das ja nach innen", stelle ich fest.
"Ja. Immer, wenn da ein peinlicher Aufdruck drauf ist, dann dreh' ich es um."
"Aber Test Department ist doch geil."
Rafa möchte etwas trinken. Etwas Nichtalkoholisches soll es sein. Im Hinblick auf Alkohol weiß er anscheinend recht gut, wo seine Grenzen liegen. Er weiß, daß er für heute genügend Alkohol getrunken hat. Er hat genug getrunken, um mit mir kommen zu können, und nun braucht er nichts mehr und darf auch nichts mehr haben.
Tee mag er nicht.
"Aber Milch. Wenn du Milch hast, Milch ist in Ordnung."
Als mir einfällt, daß noch Zitronenteegetränk da ist, sagt Rafa nur:
"Bah."
Ich lache. Er blickt um sich.
"Wieso häng' ich da an der Wand?" möchte er wissen.
"Ja, das war doch klar", entgegne ich, während ich in die Küche gehe. "Das ist doch selbstverständlich."
"Ja, wo hast'n das her? Wo hast'n das Foto her?"
"Ach, das ist doch nur aus der 'Autodafé'. Das habe ich doch vergrößert nur."
Ich hole ihm einen Becher Milch, den er gleich austrinkt. Ich mustere seine Garderobe. Als Erstes ziehe ich das Handtuch aus dem Haufen.
"Das ist nass", sage ich. "Das muß auf die Heizung."
"Nass - und dreckig", ergänzt Rafa.
"Ja", muß ich bestätigen. "Dafür haben wir einen Wäschekübel."
Ich bringe es hinaus.
"Ins Bad brauchst du gar nicht 'reingehen", warnt Rafa, als ich zurückkomme. "Da mußt du dir einen Schwimmring mitnehmen."
Ich schaue mir seinen Talar an, den Talar mit dem Samtkragen.
"Das ist ein Talar."
"Ja, das ist ein Talar", nickt er.
"Mit Samt."
"Ja, da sind zwei Arten drin, Samt und Pannesamt."
"Und das da ist der Samt."
Ich zeige auf den Kragen.
"Ja, das ist der Samt."
Den Pannesamt finde ich am Saum. Das Gewebe paßt nicht so recht zu dem Kleidungsstück.
"Ja, warum ist denn da Pannesamt dran?" frage ich.
"Ja, der war ja auch nicht immer dran."
"Das sieht aus, als sei der Mantel mit dem Pannesamt verlängert worden."
"Ja, war auch so."
"Hast du den drangemacht?"
"Jja."
Rafa erzählt, der Mantel sei einmal länger gewesen.
"Aber bei diesem Gruftschritt, so vor und zurück und so, da ging dann immer mehr von weg. Dann tritt man da drauf, und dann schrammt der Hacken da entlang, und da wurde der dann immer kürzer und immer kürzer. Und jetzt habe ich ihn wieder verlängert."
"Ja, aber jetzt geht das ja wieder kaputt, wenn du den Schritt machst."
"Nein, den mach' ich nicht mehr. Die Zeiten sind vorbei."
"Das hätte besser gepaßt, da echten Samt dranzumachen", finde ich.
"Na, nun ist es Pannesamt."
Ich nehme seinen Überwurf vom Haufen, das Kleidchen aus schwarzem Samt, das ich schon einmal an Rafa gesehen habe.
"Da - ist das gar nicht? - Doch, da ist Samt."
"Ja, da vorne ist Samt, damit es wärmer ist", erklärt Rafa.
"Das hast du also im Antiquitätengeschäft gekauft."
"Ja."
"Wie kommt das denn? Normalerweise kriegt man das eher im Second-Hand-Laden."
"Was kann ich dafür, wenn meine Sachen in Antiquitätengeschäften 'rumhängen?"
"Ach, wenn deine Sachen in Antiquitätengeschäften 'rumhängen."
"Ja", sagt Rafa. "Sind ja wohl meine Sachen. Und die muß ich dann ja kaufen, weil's ja meine Sachen sind."
"Ja, ich habe auch schon mal was ... aber das habe ich dann in Second-Hand-Läden gefunden. Das Spitzenkleid, das du hier siehst" - ich zeige auf die Garderobe neben der Zimmertür - "das ist aus einem Second-Hand-Laden, und die Corsage mit den Trägern auch. Die hatte die Besonderheit, daß sie mir auf Anhieb paßte. Sonst lasse ich meine Sachen fast nur anfertigen, weil ich die Sachen, die ich haben möchte, von der Stange nicht bekomme."
"Na, das ist ja wohl auch nicht gerade von der Stange", sagt Rafa und deutet auf den Überwurf.
"Nein", bestätige ich.
Ich schaue mir das weiße Hemd an.
"Und das ist ein Totenhemd?" frage ich.
"Das ist ein ganz normales Spitzenhemd. Oh, Mann, das ist voll dreckig. Jetzt seh' ich das erst."
Ich wundere mich darüber, wie zerfetzt und zerlumpt das Hemd ist. Eine Seitennaht ist fast ganz aufgerissen.
"Ja, das ist eins von den beliebten, von den viel benutzten Hemden", sagt Rafa entschuldigend.
Die Spitzenmanschetten sind schwarz vor Dreck.
"Dreckig ist das ...", staune ich.
"Ja, das wird so dreckig, dann ... Echt, du wirst es nicht glauben, aber das war heute früh noch sauber, als ich es angezogen habe. Aber dann ist man in der Disco, und dann wälzt man hier lang, und dann wälzt man da lang ... schlabber ... und dann wird das dann dreckig."
Er sieht sich um.
"Wie oft räumst du dein Zimmer auf?" fragt er.
"Na ja, das ist ... unterschiedlich", antworte ich zögernd, weil ich erst einmal darüber nachdenken muß. "Ich räume es nie ganz auf, sondern ich räume immer nur einen Teil auf, und einiges öfter als das andere. Hier und da zum Beispiel wische ich jeden Tag Staub; da auf dem Schrank schaffe ich es nur alle paar Wochen."
Ich setze mich zu Rafa und umarme ihn. Ich kuschle mich an ihn, während er raucht. Ich trage noch meine Tanzkleidung und darüber ein Jäckchen aus schwarzem Kunstleder.
Rafa entdeckt rechts neben dem Sofa meine Zoids, waffenstarrende Urzeitwesen aus Plastik. Er nimmt den Säbelzahntiger in die Hand.
"Was 's' das?" fragt er angewidert.
"Das ist ein Zoid", erkläre ich.
"Was?"
"Ein Zoid. Das ist ein Spielzeug von Thomy."
"Wer ist Thomy?" fragt Rafa, Argwohn in der Stimme.
"Das ist eine Spielzeugfirma", beruhige ich ihn. "Von denen sind doch die Zoids. Die haben die hergestellt."
"Also, wenn mein Sohn mit sowas spielen würde, dann würde er welche gejuckt kriegen."
"Ja? Warum?"
"Das ist, das ist ja wohl ... ja, das ist wirklich, also ... ha ... wenn ich sagen würde, das ist abartig, dann hebt das die noch in den Himmel. Das ist ja gar nicht zu beschreiben. Ich weiß gar kein Wort dafür, um diese Dinger zu beschreiben."
"Findest du die so scheußlich?"
"Scheußlich. Genau. Genau das ist das Wort. 'Scheußlich' ist gar kein Ausdruck mehr dafür. Das ist wirklich, also, das ist ..."
Fassungslos sieht er das Plastiktierchen an.
"Ja, die habe ich mir '89 mal gekauft", erzähle ich.
"Sowas hast du dir selber gekauft?"
"Ja."
Als Rafa die Kreatur hin- und herdreht, fällt die Frontscheibe von dem Führerhäuschen am Kopf des Tigers ab, und auch das winzige goldene Männchen, das das Urzeitmonster lenkt, fällt auf den Teppich.
"Oh! Das geht ja gleich kaputt", stellt Rafa fest. "War das so zusammengebaut?"
"Nein, das mußte man selber zusammenbauen."
Er klaubt die Teile vom Boden, setzt das goldene Männchen sorgsam wieder ins Führerhaus und baut auch die Frontscheibe wieder ein.
"Ja, gehört das so?" fragt er schließlich.
"Ja, ja."
Er stellt den Spielzeugtiger zurück an seinen Platz. Beim weiteren Umherspähen entdeckt er die Barbiepuppen, die meinen Stahlschrank zieren. Ich habe sie auf Möbel aus Aluminiumprofilen gelegt und gesetzt. Eine Puppe liegt wie hingegossen auf einem Bett aus Beton. Sie trägt eine Corsage aus durchsichtigem Verpackungsmaterial und einen Rock aus hautfarbener Seide. Eine andere Puppe sitzt auf einem Aluminiumschemel, im kurzen Kleidchen und mit hochgesteckten Haaren. Die dritte ist nur ein Skelett, aufgebahrt unter einem Spitzentüchlein.
"Was ist denn das?" fragt Rafa. "Warum liegen die denn da so?"
"Ach, das ist ... das ist da schon seit '89 drauf. Da habe ich seit '89 fast nichts mehr dran geändert. Nur die Kerze in Form eines Pflastersteins, die habe ich dann noch dazugetan. Und das Barbiegrab, das stammt von '92. Ich wollte ja schon immer ein Barbiegrab haben."
Das Barbiegrab ist aus Styropor und gefüllt mit Bausand. Auf der steinernen Grabplatte steht in schwarzen Lettern:
.

HIER RUHT BARBIE
1992

"Warum liegen die da so?" fragt Rafa noch einmal.
"Ja, ich habe das immer gern gemacht, so ... Barbies quälen", erzähle ich. "Das ist eine Phase gewesen. Das haben wir als Kinder immer gemacht. Ich mache das schon lange nicht mehr."
"Ich meine, was bedeuten die Barbies?"
"Also, die Barbies, das bin eigentlich immer ich. Aber ich mache das, wie gesagt, nicht mehr, dieses ..."
"Ich frage mich nur, wieso der Jochen mich fragt, ob ich einen Skalpell hätte, mit dem er Barbiepuppen aufschlitzen kann."
"Ja, das hat folgenden Grund: Der Sockenschuß hatte sich doch mal bei mir eingenistet und da wohl auch gesehen, daß ich einige Barbies gequält hatte. So schlimm haben wir es eigentlich nicht getrieben. Wir haben die nicht zerschnitten. Wir haben nur die Beine abgetrennt und gebündelt. Meine Schwester und ich, wir haben die auch mit Ketten gefesselt und aufgehängt, und wir haben denen Gipsbeine gemacht. Oder ich habe auch mal einer ein Skelett angezogen. Da habe ich den Kopf abgemacht und dann ein Skelett über den Körper gezogen. Meine Schwester hat hier ja sehr lange gewohnt, und nun ist sie endlich ausgezogen und hat ihre eigene Wohnung. Es wurde auch Zeit, daß sie ihr eigenes Reich bekommt."
"Und vorher habt ihr zu dritt hier gelebt?"
"Ja, meine Schwester, Carl und ich."
"Hat deine Schwester mit Carl geschlafen?" fragt Rafa schnell.
"Das geht nicht", antworte ich. "Carl liebt nur Männer."
"Hat sie nicht mit ihm geschlafen?"
"Nein. Carl liebt nur Männer."
"Carl ist schwul?"
"Ja, Carl ist schwul. Wir sind wie Geschwister miteinander, wir drei. Und nun ist Constri ja endlich ausgezogen."
"Ist Carl der, der mir damals die Zitrone an den Kopf geschmissen hat?" fragt Rafa.
"Ja, das ist der."
"Ach, das weißt du."
"Ja, das weiß ich."
"Das weißt du ... asst-rein", sagt er lächelnd und wie zu sich selbst. "Asst-rein. Ist Carl derjenige, der immer so komisch geschminkt ist?"
"Ja. Der schminkt sich immer die Augenbrauen lila oder nur halb oder weiß."
"Ja, dann weiß ich, wer gemeint ist."
Rafa sieht auf seine Uhr, die er umbehalten hat.
"So", sagt er. "Halb sechs. Schlafen."
"Ja, gut, gleich ... Ja, gut, gehen wir schlafen. Ich gehe nochmal kurz ins Bad."
Ich hänge das Jäckchen über einen Stuhl. Dann ziehe ich den Organzarock aus.
"Wozu brauchst du deinen Computer?" will Rafa wissen.
"Für verschiedenerlei Dinge", antworte ich. "Es gibt hundert verschiedene Dinge, die man damit machen kann."
"Was hast du für einen Computer? Einen Amiga?"
"Macintosh. Mit einem Amiga könnte ich doch die Programme gar nicht fahren, die ich brauche."
"Und was machst du mit dem Computer immer so? Meistens?"
"Ja", sage ich lachend, "du stellst aber auch so Fragen, ne?"
"Ja, jetzt frage ich mal."
"Ja, jetzt fragst du mal, ne? - Ich benutze den für verschiedene Dinge. Ich muß da fürs Institut auch was machen, unter anderem. Der Professor will, daß ich mich mit den Programmen auskenne. Kürzlich konnte ich wieder ein neues lernen. Der Professor will mich halt fragen können. Er will, daß ich über die Programme bescheidweiß."
Ich nehme das lange Nachthemd aus weißer Waschseide mit ins Bad. Es hat Spitzenträger und ist bodenlang. Der Stoff umfließt den Körper; er ist hauchdünn und leicht durchsichtig. Das Hemd ist verführerisch und verschwenderisch geschnitten, ohne im Mindesten aufdringlich zu wirken. Es ist genau das, was ich brauche.
"Ja, stimmt, das sieht wirklich wie ein Saustall aus", sage ich anerkennend zu der Wasserschlacht, die Rafa im Badezimmer veranstaltet hat.
"Siehst du?" kommt es vom Sofa her. "Ich hab' nicht zuviel versprochen!"
Nach dem Duschen laufe ich geschäftig zwischen Zimmer und Flur hin und her.
"Ich bringe noch meine Kleider in den Schrank", sage ich entschuldigend. "Ach - ich bin jetzt blind. Ich hab' meine Kontaktlinsen 'rausgenommen. Ich seh' jetzt fast nichts mehr."
"Wie oft räumst du deinen Computer auf?" fragt Rafa.
"Ja, den habe ich erst kürzlich aufgeräumt, letztens. Da mußte ich ein neues Programm laden. Und da habe ich wirklich aufgeräumt, um genug Speicherplatz zu bekommen, um das Programm laden zu können. Da mußte ich wirklich alles 'rausschmeißen, was überflüssig war."
"Ja, ich meinte das nicht so. Ich meinte mehr so ... wie er da steht, wie oft du den aufräumst."
"Ach, so? Der steht da immer so."
"Arbeitest du öfter dran?"
"Ja."
"Wann das letzte Mal?"
"Ja, vor zwei Tagen, oder was. Ich meine, ich bin eh fast immer am Schreibtisch. Ich arbeite fast jeden Tag dran."
"Warum hast du heute Tagebuch geschrieben?"
"Ich schreibe immer Tagebuch."
"Aah. Aha. Astrein. Asst-rein", sagt Rafa vor sich hin wie ein Forscher, dessen Versuch das gewünschte Ergebnis gebracht hat. "Die Tastatur von deinem Computer liegt da nämlich so, daß man überhaupt nichts sieht, wenn man dadran sitzt."
"Ja, normalerweise ist das so, daß die Tastatur hier so vorne liegt und daß das Mousepad und dann die Maus ..."
"Genau, genau."
Ich zeige ihm das Mousepad.
"Guck' mal, süß, nicht? Das habe ich von so einem ..."
Auf dem Mousepad sagt eine Frau zu einem Mann:
"Don't byte me again tonight, Brad!"
"Wenn ich schreiben möchte, räume ich es nämlich zur Seite", fahre ich fort.
"Siehst du?" sagt Rafa. "Genau."
Das Letzte, was ich am Schreibtisch getan habe, bevor Carl und ich ins "Elizium" gingen, war tatsächlich, Tagebuch zu schreiben.
"Was bedeutet das Plakat?" fragt Rafa.
"Das, das da in der Mitte hängt?"
"Ja."
"Das hat Rikka gemalt für mich."
"Wer ist Rikka?"
"Das ist eine Freundin von Constri. Die kennst du auch. Die ist auch schon oft im 'Elizium' gewesen. Die hat bei dem Bild natürlich auch Hintergedanken gehabt", lache ich. "Man hat immer Hintergedanken, wenn es um dich geht. Bei mir muß man schon immer Hintergedanken haben."
Ich setze mich neben Rafa aufs Sofa und lege die Arme um ihn.
"Ja, dann war ich am Freitag bei der Industrial-Nacht im 'Crucifiction'", erzähle ich. "Morgens, das war geil, da waren wir noch bei Folter und haben da CD's aufgenommen, und dann haben wir da noch eine Weile gepennt, meine Schwester und ich auf dem Bett und er auf dem Fußboden. Ich habe so viel schöne Industrial-Musik aufgenommen."
"Ich war am Freitag bowlen, mit Kappa."
Wahrscheinlich war er zu diesem Zeitpunkt schon von der Sängerin getrennt; sonst wäre sie kaum ohne ihn nach HB. gefahren.
"Schlafen", sagt Rafa.
"Gut", sage ich. "Schlafen."
Ich gehe zum Bett.
"Du hast ja noch Unterwäsche an", stellt Rafa fest.
Durch die weiße Seide sieht man den Tanga durchschimmern.
"Das ist ja nur ein Höschen", entgegne ich.
"Ja, aber warum hast du das an?"
"Ich kann's absolut nicht ab, wenn ich kein Höschen anhabe. Dann fühle ich mich so ausgezogen."
"Ja, wieso? Du hast doch noch was an."
"Ja, aber nur ein Nachthemd, kein Höschen."
"Ja, warum magst du das denn nicht?"
"Ich kann es eben nicht ab, kein Höschen anzuhaben. Ja ... wir werden wohl einige Decken 'rausschmeißen müssen, weil es dir sicher zu warm sein wird."
"Ich schlafe auch mit drei Decken", sagt Rafa.
"Ich schlafe mit vier Decken."
"Ich schlafe mit drei Decken - eine für den Kopf und zwei zum Drüberlegen."
"Aha? Ein richtiges Kopfkissen reicht dir gar nicht?"
"Nee. Ist nicht genug."
"Reicht dir dann das denn auch, das Kissen, das ich habe?" frage ich und zeige auf mein Kissen.
"Ach, ja", antwortet er, "das ist schon gut. Das ist gut."
"Ja, ich nehm' aber ruhig eine Decke 'raus; das ist etwas zuviel."
"Ja, mach' ruhig, wie du möchtest."
Ich nehme die rote Strickdecke heraus und lege sie über die Sofalehne. Dann schlage ich das Bett halb auf. Ich habe es vor Kurzem wieder mit der rosa Bettwäsche bezogen, die mein Monogramm trägt. Damit war es auch in dem Traum bezogen, in dem Rafa und ich uns in mein Bett gelegt haben.
"Ich muß noch die Heizung 'runterstellen", erkläre ich und gehe zum Fenster.
"Ja, von mir aus kann die Heizung ganz klein", sagt Rafa. "Und die Tür muß zu. Die muß zu. Sonst kann ich nicht schlafen."
Ich mache die Musik aus und lösche das Licht. Die Flurlampe brennt noch. Sie wirft einen blauen Streifen an die Wand hinter dem Bett.
"Was ist das Blaue da?" fragt Rafa ängstlich.
"Ach, das ist nur das Flurlicht."
Ich zeige es ihm, indem ich meine Hand vor die blaue Fläche an der Wand halte, woraufhin das Blau durchbrochen wird. Dann mache ich die Flurlampe aus und schließe die Tür. Durch die Jalousie schimmert das erste graue Tageslicht.
"So, willst du nach hinten? Soll ich nach hinten?" frage ich.
Rafa meint, das sei ihm egal.
"Weil, sonst lege ich immer die Gäste nach hinten und gehe selber nach vorne", erzähle ich.
Da will Rafa nach vorne und läßt sich nicht mehr davon abbringen.
"Ich muß nach vorne", sagt er.
"Ja, aber meine Taschentücher sind vorne."
"Ja, dann nimmst du die eben mit nach hinten."
"Ach, laß' ... ist gut. Ich geh' schon nach hinten."
Ich lege mich zuerst ins Bett, dann legt sich Rafa neben mich - gerade wie in dem Traum.
"So, und damit geht wieder ein Traum in Erfüllung, den ich hatte", teile ich ihm mit, als ich die Decke über uns ziehe. "Ich sage dir das immer erst, wenn es eingetreten ist, was ich geträumt habe, damit du mir nicht vorwerfen kannst, ich hätte dich provoziert."
Wir liegen beide auf dem Rücken, wie es in dem Traum war. Rafa hat den rechten Arm ausgestreckt und unter meinen Hals geschoben.
"Oh, ich lieg' auf deinem Abendkleid", erkennt er und zieht ein Stück von meinem Nachthemd unter seinen Beinen hervor.
"Ja, aber das ist doch gar kein Abendkleid", sage ich belustigt. "Das ist doch nur ein Nachthemd."
"Ja, ich nenn' das aber 'Abendkleid'. Ich find', das paßt."
"Ja, aber ich würd' doch mit so 'nem Ding nie auf die Straße gehen."
Ich kuschle mich an Rafa.
"Erzähl' was", fordert er mich auf.
Ich liege da und schweige. Es fällt mir schwer, zu sprechen.
"Ja - erzähl' was", wiederholt er.
"Was ... sollte ich denn erzählen?"
"Du weißt hunderttausend Sachen. Du weißt so viel. Erzähl' doch irgendetwas davon."
Ich denke nach. Wieder vergeht Zeit mit Schweigen.
"Nun, erzähl' etwas", bittet Rafa.
"Am besten ist es, wenn du mir sagst, worüber ich was erzählen soll", meine ich. "Dann kann ich etwas heraussuchen. Denn ich weiß wirklich vieles. Stimmt, ich weiß so unheimlich viel; da ist es schwer, zu entscheiden, was ich dir erzählen soll. Also gib mir einen Anhaltspunkt dadurch. Also, worüber soll ich sprechen?"
"Granatäpfel."
"Granatäpfel ... schon mal gegessen ... haben so rote Dinger innen drin, und die ißt man. Ja, das weiß ich eigentlich so darüber. Aber ich weiß nicht sehr viel mehr."
"Aber du weißt doch so viel."
"Ja ... ja, doch ... da gibt es noch dieses Märchen von dem Granatapfelbaum. Da ist ... da hat jemand wohl eine Maharani ermordet ..."
"Eine Maharani?"
"Ja, eine Maharani, die Frau von einem Maharadscha."
"Ja."
"Und dann wird die begraben, und an der Stelle, wo das Grab ist, wächst ein Granatapfelbaum. Und dann hängen da so zwei Früchte dran. Das sind dann wohl die Kinder; die haben die wohl auch umgebracht."
"He, hier keine Horrorstories!" beschwert sich Rafa.
"Ja, aber in den Früchten sind die Kinder drinne", fahre ich schnell fort, "und als die geschält werden, kommen die Kinder lebend wieder 'raus."
"He, he, keine Horrorstories."
"Na ja, die leben ja dann wieder."
Bisat maunzt vor der Zimmertür.
"Oh, jetzt will der 'rein", stöhne ich. "Na? Sollen wir ihn 'reinlassen?"
"Hm ... mußt du sehen ..."
"Ach, ich laß' ihn 'rein; der hört ja sowieso nicht auf."
"Ja, laß' ihn 'rein. Obwohl ich nichts mehr hasse als ... Katzen, die hier irgendwo 'rumlaufen."
"Ja ... und ...?" zögere ich.
"Ach, laß' ihn rein", sagt er. "Ich will ja keine Tiere quälen."
"Ach, der rollt sich auf dem Sofa zusammen und schläft."
Ich wälze mich über Rafas Körper, ein wenig zu schwungvoll, wie ich an seinem Keuchen merke. Als ich wieder ins Bett steige, mache ich es vorsichtiger.
"Was bin ich für dich?" fragt Rafa.
"Ein Mensch", antworte ich nachdenklich. "Ja, ein Mensch ... Du redest viel über Jesus Christus ... Was gefällt dir so an Jesus Christus? - Ach, ich wollte dich ja nicht mehr fragen."
"Der hatte so eine Aura, mit der er Menschen in seinen Bann gezogen hat", geht er auf meine Frage ein. "Diese Aura hatten auch Hitler und David Koresh. Das hat die alle miteinander verbunden. Und diese Aura fasziniert mich total."
"Ah, ja."
"Das ist die Aura, das sind die Leute, die wollen die Welt verändern und gehen dabei drauf. Jesus wollte die Welt verändern und ist dabei draufgegangen. Hitler wollte auch die Welt verändern und ist auch dabei draufgegangen. Wenn du die Welt verändern willst, gehst du dabei drauf. Echt, das ist immer so. Die Revolution frißt ihre Kinder. Sie können sich selber nicht retten. Ich habe auch zwei Lieder gemacht, die davon handeln."
"Ich weiß, 'Der strahlende Held' und 'Helden sterben früh'."
"Woher weißt du denn das?"
"Das hast du mir selber erzählt."
"Aast-rein", findet Rafa. "Aast-rein. Erst das mit der Zitrone, daß du das noch weißt, und jetzt, daß ich dir das erzählt habe. Aastrein."
"Ich glaube, du hast schon so dein Bildchen von mir. Ich glaube, du hast schon so dein Raster, in das du mich einordnest. Du kannst dir schon so ungefähr vorstellen ... Du hast dir schon einiges an Gedanken über mich gemacht. Du hast dir schon ein Bild geformt."
"Ja. Ich habe aber schon alle tausend Teile vom Puzzle zusammen."
"Ja, du hast also von dem Puzzle alle tausend Teile zusammen?"
"Ja."
"Ich meine, daß es zwischen Adolf Hitler und Jesus Christus sehr große Unterschiede gibt und daß die nicht sehr viel miteinander gemeinsam haben", sage ich nach einer Pause.
"Ja, darum geht's ja auch nicht", meint er. "Das, was die vermitteln wollten, was die gemacht haben, das kann man ja auch überhaupt nicht vergleichen. Juden vergasen, sowas ist doch die größte Schweinerei, die es überhaupt nur gibt. Was der Hitler gemacht hat, das war ja überhaupt, da war ja wirklich nichts Gutes dran, da finde ich nichts Gutes dran, im Gegenteil; das ist ja wirklich die größte Schweinerei, die man sich überhaupt vorstellen kann. Nein. Mir geht es da nur um die Aura, die sie an sich hatten."
"Willst du denn auch so früh draufgehen?" frage ich nach.
Nein, das möchte er nicht.
"Du hattest ja mal gesagt, daß früh Sterben doch nicht so schlecht wäre", erinnere ich ihn.
"Ja, wenn die Zeit gekommen ist, dann muß man eben gehen", verallgemeinert Rafa.
"Ich habe so das Gefühl, daß du dich mit Jesus Christus vergleichst", wage ich mich weiter vor. "Mit sieben hatte ich ein Lieblingsbuch, das war die Kinderbibel. Ich muß dazu sagen, ich habe nie an Gott geglaubt, damals auch nicht. Aber ich fand die Geschichten immer sehr interessant und habe die gerne gelesen. Ich habe mir dann immer welche ausgedacht von Jesus und mir."
"Willst du mich ausziehen?" haucht Rafa.
"Hörst du mir denn zu?" frage ich. "Willst du das nicht, daß ich weitererzähle?"
"Doch. Ich höre dir absolut zu."
"Also ... ich habe mir von Jesus und mir immer ziemlich abgefahrene Geschichten ausgedacht. Das war eigentlich nicht so sehr der biblische Jesus, aber ... Ich habe dann die Verantwortung für ihn übernommen; das war ihm gar nicht recht. Das waren echt ... abgefahrene Geschichten."
Rafa wird schweigsam.
"Ich meine schon den biblischen Jesus", sagt er schließlich.
Bisat maunzt.
"So, jetzt fliegt der 'raus, und jetzt kommt der nicht mehr 'rein", bestimme ich und öffne ihm kurz die Tür.
Dann kuschle mich wieder an Rafa und erzähle weiter:
"Das waren echt interessante Geschichten, weil, Jesus war ja eigentlich so der, der immer die Verantwortung für die ganze Menschheit übernehmen will, aber für sich selber nicht, und die Lücke habe ich dann ausgefüllt."
Rafa bleibt ungewöhnlich still.
"Nun? Fühlst du dich immer noch von mir bedroht?" frage ich.
"Ja."
"Du hattest zu mir gesagt, du glaubst, daß ich dich gegen Dämonen schützen könnte."
"Nein", erwidert er. "Das glaube ich nicht."
"Du hast es aber mal geglaubt."
Ich ziehe ihn an mich und fahre fort:
"Ich würde es aber tun. Ich muß es ja sogar tun. Ich habe ja keine Wahl. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig."
Ich kann das Fragen nicht lassen. "Gibt es denn außer mir noch mehr Menschen, vor denen du dich fürchtest?" erkundige ich mich.
"Phantomas ... Dracula ...", zählt Rafa auf.
"Dracula?" wundere ich mich. "Aber ich denke, du magst Dracula doch so gern."
"Ja - vielleicht gerade deshalb?"
"Aha, du hast ihn gern, weil du dich vor ihm fürchtest?"
"Vielleicht."
"Hast du mich auch vielleicht deshalb gern, weil du dich vor mir fürchtest?"
"Das habe ich damit nicht gesagt", wehrt er ab und haucht:
"Willst du mich ausziehen?"
"Ja, gut, das mach' ich."
Er hebt die Arme. Ich ziehe ihm das T-Shirt über den Kopf und werfe es aufs Sofa. Ich freue mich darüber, endlich auf ihm liegen und in seinem dichten, weichen Haar wühlen zu können. Ich wühle viel in seinen Haaren. Er verwuschelt auch meine und streichelt mein Gesicht.
"Willst du mich ausziehen?" fragt Rafa noch einmal.
Er spielt darauf an, daß ich ihn noch nicht völlig entkleidet habe.
"Soll ich dich denn ausziehen?" frage ich.
"Ja, wenn ich dich ausziehen darf."
"Den Tanga mußt du anlassen; das geht nicht."
"Wenn das nicht geht ... Du hast ja dann weiter nicht mehr viel an."
Nach einer Weile fragt Rafa wieder: "Darf ich dich ausziehen?"
"Ja, schon, aber den Tanga kannst du nicht ausziehen."
"Warum kann ich das nicht?"
"Ja, das ist das Rätsel, das Rätsel, das ich nicht lösen kann. Das ist in meiner Vergangenheit begründet."
"Du bist aber nicht vergewaltigt worden?"
"Nein. Aber es ist was passiert."
"Ja, was ist passiert? Was ist passiert?"
"Das weiß ich nicht."
"Ja, aber das mußt du doch wissen", meint er. "Das ist doch so wichtig."
"Ja, manchmal weiß man eben gerade ganz wichtige Dinge nicht. Und wenn das so früh in der Kindheit passiert ist, so mit einem Jahr oder was, das kann man sich nicht merken. Meine frühesten Erinnerungen datieren in die Zeit zurück, als ich ein Jahr alt war. Was davor zum Beispiel passiert ist, konnte ich mir nicht merken. Und es können auch viele Dinge unterschwellig passieren, die man sich dann nicht merken kann."
"Seit wann sind deine Eltern geschieden?" fragt Rafa.
"Seit '87."
"Wie alt ist dein Vater?"
"Ein Jahr älter als meine Mutter. Sechsundfünfzig wird er jetzt in den nächsten Tagen."
Rafa möchte etwas über unser früheres Familienleben wissen.
"In unserer Familie hat es eigentlich immer nur Streit gegeben", erzähle ich. "Die Ehe meiner Eltern war nie heile. Mein Vater hat sich kaum um uns Kinder gekümmert. Meine Mutter hat uns sozusagen fast alleine erzogen."
"'Uns Kinder', wer ist das noch?"
"Nur meine Schwester. Jedenfalls ... es hat bei uns zu Hause eben immer nur Krach geherrscht. Das ist nur nach außen eine heile Familie gewesen. Mein Vater ist außerdem dauernd fremdgegangen ..."
"Hast du denn wirklich nie einen Freund gehabt?"
"Nein."
"Aber du hast schon mit jemandem geschlafen."
"Nein, das habe ich nicht."
Rafa glaubt mir nicht.
"Nein, wirklich nicht", beteuere ich.
Die Wohnungstür wird aufgeschlossen.
"Carl kommt heim", sage ich.
Carl geht nur kurz ins Bad und dann rasch in sein Zimmer. Rafa dämpft seine Stimme noch mehr als ohnehin.
"Du hattest nie was mit jemandem", versichert er sich.
"Nein, das hatte ich nicht."
"Ich muß dir dein Nachthemd ausziehen, so schön es auch ist", sagt er.
Ich lasse es mir ausziehen. Rafa macht wie schon einst die traurige Feststellung, daß er mich nicht überall anfassen kann. Seine Versuche, mir den Tanga abzustreifen, scheitern.
"Ist das so schlimm?" fragt er. "Ist das denn so schlimm?"
"Es geht eben nicht."
"Wieso willst du es nicht? Du willst es nicht."
"Nun, so ist es nicht. Aber ich darf es eben nicht."
"Und warum darfst du es nicht?"
"Ich weiß es nicht", antworte ich müde. "Außerdem ... liegst du auf meinem Arm ..."
"Oh - Entschuldigung."
Er hilft mir, den Arm unter seinem Körper hervorzuziehen.
"Laß' dich doch mal gehen", bittet er.
"Das kann ich nicht. Ich fühle mich von der Sinnlichkeit angegriffen."
"Fühlst du dich von mir angegriffen?"
"Nein, ich fühle mich nicht von dir angegriffen."
"Nimm' deine Hand da weg", fordert Rafa mich auf, als ich ihm kichernd dazwischenfahre. "Nimm' deine Hand da weg."
"Das ist elektrisch, weil es eine fremde Hand ist. Ich verstehe das nicht ... ich will doch, daß du mich anfaßt."
Er streichelt mich wieder, und wieder halte ich seine Hand fest. Er möchte mich verschonen, doch ich lege seine Hand zurück auf meine Flanke.
"Du sollst mich doch anfassen", sage ich. "Es muß doch irgendwie gehen, echt ... ich verstehe das auch nicht ... Ich will ja, daß du mich anfaßt. Du sollst mich ja anfassen. Ich möchte das ja. Aber das ist so elektrisch. Das geht echt kaum."
Ich bin erstaunt darüber, daß mein Körper auch "unschuldige" Berührungen ablehnt, die ich zulassen kann. Allerdings behält Rafa recht; mit der Zeit elektrisiert mich die fremde Hand weniger.
"Ist das denn so schlimm? Ist das denn so schlimm?" fragt Rafa ein ums andere Mal, während er weitere erfolglose Versuche anstellt. "Ich tu' dir doch nichts. Ich will dich doch nur ein bißchen streicheln."
"Das geht aber nicht."
"Und wenn ich es jetzt einfach mache?"
"Dann würde ich sagen: 'Laß' es sein.'"
"Ich fühle deinen Herzschlag", sagt er. "Ich fühle deinen Herzschlag."
"Ja."
"Hast du dich nie selbst befriedigt?" möchte er wissen.
"Nein. Ich brauche das nicht. Ich will das nicht."
"Warum nicht?"
"Weil ich das nicht will. Ich gehöre dir, nicht mir. Das ist deine Aufgabe, mich anzufassen, nicht meine."
"Ich soll dich anfassen."
"Ja."
Er greift meine Hand und legt sie mir auf die Haut. Ich wehre ab.
"He! Das ist dein Körper!" mahnt Rafa. "Das ist dein Körper!"
"Ja ... ich will das nicht. Ich möchte das nicht."
"Das ist dein Körper! Faß' das an! Faß' das an! Das ist doch dein Körper!"
"Daß ich mich gut anfasse, weiß ich. Aber ich will mich nicht anfassen. Das sollst du machen."
"Faßt du dich nie an?"
"Nein, nie."
"Ich fasse mich ja auch an."
"Ja. Das ist ja auch dein gutes Recht. Das mußt du ja auch dürfen. Aber ich möchte es einfach nicht. Du sollst mich anfassen, nicht ich."
"Mach' doch mal. Nun faß' dich doch mal an."
"Nein. Das mußt du machen. Das mach' ich nicht."
"Faßt du dich denn nie an?"
"Nein."
"Empfindest du gar nichts?" fragt Rafa. "Gar nichts?"
"Doch. Es ist ja so: ich empfinde halt zuviel. Aber ich kann das eben nicht zulassen. Du hast auch einen Defekt. Ich muß bei dir auch etwas vermuten, etwas annehmen. Es ist ja so, daß ich Gefühle habe, und du kannst die nicht wahrnehmen. Ich zeige sie nicht; ich kann sie nicht zeigen. Und du kannst auch deine Gefühle mir nicht sagen, deine Gefühle nicht zugeben. Ich fühle mich von dir geliebt, auch wenn du das nicht zugeben kannst. Und ich liebe dich. Aber das glaubst du mir nicht."
"Ziehst du mich aus?" bittet er.
"Du möchtest, daß ich dir den Schlüpfer auch noch ausziehe?"
"Ja."
"Na ja, dann muß ich dir den wohl ausziehen."
Ich streife ihm den Schlüpfer vorsichtig ab und werfe ihn auf den Boden. Dann kuschle ich mich wieder an Rafa und decke uns zu.
"Faß' mich an", sagt er mit geschlossenen Augen, "bitte, faß' mich an, überall, bitte, faß' mich an."
Ich beschränke mich auf das, was ich vorher auch schon getan habe.
"Carl ist doch nebenan", versichert sich Rafa.
"Ja", bestätige ich. "Aber der wird schon schlafen."
Er scheint beruhigt.
"Weißt du eigentlich, daß ich hier splitternackt neben dir liege?" fragt er nach einem Augenblick des Schweigens.
"Ja, klar, das weiß ich", gebe ich zur Antwort. "Ich habe dich ja schließlich ausgezogen."
Ich schiebe meinen Arm unter seinen Nacken. Ich lege mich über ihn und kuschle mein Kinn in seine Halsbeuge. Rafa schnappt nach meiner Kehle und zwickt sie vorsichtig.
"Bitte, faß' mich an ... überall ...", wiederholt er.
Er greift sich meine Hand.
"Wie fühlt sich das an?" fragt er.
"Ich weiß es nicht."
"Merkst du den Herzschlag?"
"Ja, merke ich."
"Ach, du willst mich ja gar nicht anfassen", zeigt er sich enttäuscht. "Du magst mich ja gar nicht anfassen."
"Das ist es nicht", erkläre ich. "Ich weiß nur nichts davon."
"Nimm' deine Hand da weg", sagt er. "Nimm' deine Hand da weg."
Er legt meine Hand dahin, wo er sie haben möchte und versucht, auch seine Hand dahin zu legen, wo er sie haben möchte. Ich vereitle ihm das, und wieder kommt:
"Nimm' deine Hand da weg. Nimm' deine Hand da weg. Faß' mich an."
"Ja, aber erst muß ich hier noch aufpassen."
Ich fahre fort, ihn zu stören.
"Es wird hier immer heißer", stelle ich fest. "Ich muß ein paar Decken abschmeißen."
"Nein, laß' das", bittet Rafa. "Das ist doch geil. Schwitzen ist doch geil."
"Das finde ich auch, aber es ist einfach zu heiß."
"He, das ist aber nicht ... von zu vielen Decken", meint er und streicht über meine nasse Haut. "Das ist ja ... du bist völlig gebadet."
"Du klebst ja auch."
Es ist nicht einfach, einen Körper zu streicheln, der naß ist. Meine Versuche ersticken meistens.
"Eine Decke muß ich aber loswerden", sage ich.
"Ach, nein", erwidert Rafa und möchte mich zurückhalten. "Schwitzen ist geil", flüstert er.
"Ja, das ist aber echt unangenehm heiß."
Ich werfe eine Decke aus dem Bett.
"Hoch", sagt er und faßt nach meinem Becken. "Hoch."
Ich merke rechtzeitig, was Rafa vorhat.
"Du willst mir den Tanga ausziehen."
"Ja", bestätigt er.
"Das geht aber nicht."
"Warum geht das nicht? Mensch, Mädchen, warum geht das nicht? Du bist doch auch manchmal nackt."
"Ja, nur in der Dusche."
"Nur in der Dusche?"
"Ja. Nur in der Dusche."
"Dann stell' dir doch mal vor, du würdest duschen."
"Das geht aber nicht."
Er greift sich wieder meine Hand.
"Zeig' doch mal Gefühle", seufzt er. "Du bist echt ein Eisblock."
"Das stimmt nicht. Ich darf das nur nicht erlauben."
"Ja, warum denn nicht? Warum denn nicht? Warum darfst du es nicht erlauben?"
"Ja, das weiß ich doch nicht."
"Wie fühlt sich das an? Wie fühlt sich das an?"
"Ich weiß es nicht."
"Aach, du weißt es wieder nicht ... Ich lieg' hier echt mit einer Leiche im Bett."
"Ja, ich bin wirklich kaputt."
"... mit einer warmen Leiche, die spricht", ergänzt er.
"Ja, du bist aber auch kaputt", entgegne ich. "Du hast auch einen Schaden. Du kannst einfach nicht zugeben, daß du schwierig bist."
"In der, ach, in der Beziehung bin ich nicht, überhaupt nicht schwierig. Nein, in der Beziehung nicht. In der Beziehung bin ich völlig normal."
"Das ist richtig", stimme ich ihm zu. "In der Beziehung bist du auch völlig normal. Aber du hast ganz große Schwierigkeiten damit, deine Gefühle zuzugeben. Du bist sehr enttäuscht worden in deiner Kindheit."
"Meine Kindheit ist völ-lig normal verlaufen", wehrt er sich gegen solche Zweifel an seiner heilen Welt. "Nun, mit zwölf, dreizehn ist mein Vater gestorben, aber sowas hat ja jeder in seinem Leben."
"Das ist richtig, das ist so auch, aber das meine ich nicht. Das, was ich meine, ist viel früher passiert."
"Da ist gar nichts passiert", beharrt er. "Meine Kindheit war hundertprozentig perfekt. Ich muß es ja wissen. Und ich denke doch, daß jeder selbst am besten über sich bescheid weiß."
"Ja, ja, das ist es eben. Du streitest eben immer nur ab, daß da was nicht gestimmt hat. Das ist es halt. Du streitest immer nur trotzig alles ab. Du wehrst das nur völlig ab. Du hast da sehr dunkle Schatten gehabt in deiner Kindheit."
"Ich hatte eine super Erziehung. 'Anders sein', haben meine Eltern zu mir gesagt, 'das ist das, worauf es ankommt. Anders sein ist das Wichtigste. Wenn man nicht anders ist, dann nützt man der Welt nichts. Und kreativ sein. Kreativ sein ohne Ende.'"
"Ich bin auch anders als die anderen, und ich bin auch kreativ ohne Ende."
"Ich komme aus einer ganz normalen Familie."
"Was ist eine normale Familie?"
"Ach, daß alles normal gewesen ist", meint Rafa. "Eltern nicht geschieden ..."
"Ja, damals, als ich klein war, waren meine Eltern auch nicht geschieden. Das war nach außen hin auch eine heile Familie."
"Gut, in der Beziehung ist deine Familie normal gewesen", lenkt er ein.
Nach kurzem Schweigen meint er:
"Du wirkst irgendwie aufgesetzt in deinem Verhalten."
"Ich wirke aufgesetzt."
"Ja."
"Ich überlege ... ich denke nach ... ich versuche, herauszufinden, inwiefern und warum ich aufgesetzt wirken könnte ... Wirke ich künstlich?"
"Ja. Künstlich."
"Was ist an mir im Einzelnen künstlich?"
"Das eben wieder, dieses 'Das ist richtig', das war wieder so."
"Ja, du beobachtest eben Dinge an mir, die ich selber nicht recht weiß. Du siehst Dinge an mir klarer, die ich nicht so klar sehe. Ich lerne durch dich erst Seiten von mir kennen, die ich bisher noch nicht kannte."
"Ich denke, ich weiß über mich besser bescheid als du über dich", meint Rafa.
"Du meinst, du weißt über dich besser bescheid als ich über mich."
"Ja."
"Und, warum?"
"Du hast doch selber gesagt, daß es ein Rätsel gibt, das du nicht lösen kannst."
"Und es gibt kein Rätsel über dich, das du nicht lösen kannst."
"Nein", behauptet er.
"Ich meine, auch an dir Dinge zu entdecken, die du über dich nicht weißt", erwidere ich. "Ich weiß nicht viel über deine Vergangenheit und deine Familie. Aber ich weiß viel über dein Verhalten. - Du wirst bestimmt finden, daß ich nicht zärtlich genug zu dir bin ..."
Er sagt dazu nichts.
"Gefällt dir das nicht, mit einer Leiche im Bett zu liegen?" frage ich.
"Na, ich sage ja, mit einer warmen Leiche, die spricht. Also bist du doch keine richtige Leiche."
"Außerdem ... hast du mich heute noch gar nicht geküßt ..."
Rafa küßt mich und sagt:
"Ich will dich ganz woanders küssen."
"Ah, ja."
"Leg' dich mal auf den Rücken."
Er steigt über mich hinweg und beschäftigt sich mit meiner Halsbeuge. Das mag ich besonders gern. Rafa leckt und beißt mich und geht dann abwärts. Ich bin stets darauf bedacht, ihn rechtzeitig zu bremsen.
Was ich genieße, kann ich im Vertrauen genießen. Ich habe erfahren, daß Rafa sich von mir lenken läßt und nichts tut, was ich nicht möchte.
"Nimm' deine Hand da weg", befiehlt er, als ich wieder seine Versuche störe. "Nimm' deine Hand da weg."
"Gern", antworte ich, "aber ich muß doch hier aufpassen."
"Ach, ich will dich doch nur ein bißchen streicheln. Ich tu' dir doch nichts."
"Das weiß ich. Aber es geht nicht."
"Süß", sagt er lachend. "Mit ganzer Kraft zieht sie die Hand da weg."
Er bekommt die graue Flauschdecke zu fassen und wirft sie uns über die Köpfe.
"Ist das so schlimm?" fragt er. "Ist das wirklich so schlimm?"
"Es geht halt nicht."
"Ach, Mensch, ich tu' dir doch nichts. Ich will dich doch bloß ein bißchen streicheln."
"Ich kann das wollen, aber nur in bestimmten Träumen kann ich das wollen."
"Laß' dich doch einfach gehen. Laß' dich doch einfach mal gehen."
"Ich kann mich nicht einfach gehen lassen. Ich kann das nur in bestimmten Träumen. Das ist keine Sache des Willens. Ich kann mir selbst nicht helfen. Das ist keine Sache des Willens."
"Da war ich doch schon ... da war ich doch schon mal ... Wie fühlt sich das an?"
"Ich weiß es nicht."
"Ist das unangenehm oder angenehm?"
"Es ist beides zugleich."
"Fünfzig-fünfzig?"
"Fünfzig-fünfzig."
"Das geht doch gar nicht", meint er.
"Ja, doch", entgegne ich. "Das ist ein Widerspruch. Das ist der Widerspruch zwischen der Sinnlichkeit und den Verboten."
"Was für Verbote? - Ich nerv' dich mit den Fragen ..."
"Nein, du nervst mich nicht."
"Ach, Mann!" seufzt er. "Warum geht das nicht? Warum geht das nicht? Warum ist das nicht möglich?"
Dann lacht er kurz und meint:
"Nerv' ... nerv' ... Ich nerv' dich ganz schön, ne?"
"Nein. Du nervst mich nicht."
"Ist dir zuviel, ne? Zu viel Sex, ne?"
"Nein."
"Ist es dir zu wenig?"
"Nein. Es ist mir nicht zu viel und nicht zu wenig. Es ist genau richtig. Du richtest dich ja nach mir. Du stellst dich ja auf mich ein."
"Ist doch logisch", meint er und lacht wieder. "Was soll ich denn auch sonst machen? Ich muß mich ja nach dir richten. Ich kann ja nur machen, was du willst. Ist ja logisch. Das geht ja nicht; ich kann dich ja hier nicht vergewaltigen oder sowas."
Ich liege auf ihm und rühre mich nicht.
"Ich kann von dir einfach nicht genug kriegen", versuche ich, ihm zu bedeuten, wie schwer jeder Augenblick in seiner Nähe für mich wiegt. "Du wirst mir einfach nicht über, im Gegenteil. Ich will dich die ganze Zeit umarmen. Und du bist auch der Einzige, von dem ich das will."
"Aach?" kommt es zweifelnd von Rafa.
"Aaha. Da haben wir wieder einen, der eifersüchtig ist", bemerke ich. "Hör' mal. Ich will nur dich. Das steht fest. Und wer soll denn das bitte sein, den ich sonst noch will? Wer soll denn das sein? Welche Leute sollen denn das angeblich sein, die ich sonst noch will? Nun sag' mal."
"Na, ja! Irgendwelche Captain Kirks!"
"Hahaha! Ha! Die habe ich jetzt vielleicht noch von früher an der Wand hängen. Aber die kommen ab, wenn ich richtige Fotos von dir habe."
"Wieso, du hast doch zwei Fotos von mir", meint er.
"Ich brauche aber richtig gute Fotos von dir an der Wand. Das bringt's."
"Was bringt das?"
"Ja, ich will dich immer um mich haben, am besten natürlich lebend, aber sonst eben halt als Foto."
"Wußtest du eigentlich, daß ich sexsüchtig bin?" fragt Rafa.
"Ja, das hast du mir doch schon mal gesagt. Sicher."
"Ich brauche Sex. Ich brauche Sex."
"Ich weiß. Ich weiß ... Schlimm ist für mich, daß du mich immer noch irgendwie ersetzen kannst, ich meine jetzt nicht, als Mensch, sondern im Bett. Das im Bett, das kannst du immer noch von jemand anderem haben."
"Vielleicht will ich das gar nicht von jemand anderem haben", offenbart er.
"Ah, ja ...!"
Er zieht mich an sich und drückt mich. Er hält mich so, daß ich nur seine Schultern greifen, ihn aber nicht umarmen kann. Er steigt wieder über mich und legt sich nach innen. Dabei findet er die weiß bezogene Decke, die ich vom Bett geworfen habe.
"Hui!" ruft er. "Die ist ja viel schöner und viel größer! Und die wolltest du mir vorenthalten?"
Er belegt die Decke mit Beschlag. Mir läßt er das Federbett. Eine Zeitlang sieht es so aus, als wollte er schlafen, doch er öffnet seine Augen bald wieder.
"Ich brauch' echt - Liebe ohne Ende", sagt er.
"Ja, ich liebe dich ja ohne Ende."
"Ja, ich brauch' aber auch Sex ... ganz viel Sex."
"Es ist gut, daß du Sex brauchst. Es muß so sein. Es ist ja sogar notwendig, denn sonst würdest du es nie schaffen können, mit mir zu schlafen. Das dauert lange und ist anstrengend."
"Und ich soll das ertragen."
"Ja. Der Mann, der mich liebt, der muß all das tragen, was andere mir angetan haben."
"Und wie lange soll das noch so gehen?"
"Mh, ja - solange es eben noch dauert. Eines Tages schaffst du's. Das ist eine Frage der Zeit und des Willens."
"Ich brauch' aber dauernd Sex, du", warnt Rafa. "Ich brauch' dauernd Sex."
"Ja, wenn, dann machen wir das sowieso die ganze Zeit."
"Ja? Und das weißt du?"
"Ja, doch. Du mußt es eben ... nur einmal muß es dir gelingen. Das dauert eben lange."
"Ich liebe die Innenseiten von Oberschenkeln", flüstert er.
"Was?" frage ich nach; ich muß öfters nachfragen, wenn er etwas zu mir sagt, so leise haucht er die Worte.
"Ich liebe die Innenseiten von Oberschenkeln", wiederholt er.
"Ich auch", sage ich.
"Wieso? Du faßt sie doch gar nicht an."
"Doch", widerspreche ich. "Erstens habe ich das schon gemacht, und zweitens liege ich gerade bei dir drauf."
"Faß' mich an ... bitte, faß' mich an ... überall ... Ich will mit dir schlafen. Bitte, laß' uns doch ... laß' mich doch mit dir schlafen."
"Ich kann das nicht. Ich kann das nicht."
"Dann laß' es dir doch beibringen."
"Das ist keine Sache des Lernens", sage ich mit müder Stimme. "Das ist eine Sache von Verboten."
"Was für Verbote? Wieso Verbote? ... Na, ich nerv' dich ganz schön, nicht?"
"Nein, du nervst mich nicht."
"Warum zitterst du?" fragt er.
"Tu' ich eben. Weiß ich auch nicht", entgegne ich; mir fällt nichts dergleichen auf. "Kann ich ja nichts für. Weiß nicht."
"Darf ich dich ausziehen?"
"Den Tanga kannst du nicht ausziehen."
"Aber du bist doch alt genug."
"Das ist es nicht. Wenn's nur das wäre ... wenn's nur das wäre, dann wäre das schon vor zwölf, dreizehn Jahren gegangen. Aber das ist es ja nicht. Das ist ja etwas anderes."
"Bist du denn gar nicht neugierig?"
"Nein."
"Du bist überhaupt nicht neugierig?"
"Nein."
"Du hast noch nie mit jemandem geschlafen?"
"Nein."
"Und davor hast du Angst."
"Das ist es nicht. Das nicht. Ich darf es einfach nicht. Es ist verboten. Das ist eine Barriere."
"Was mach' ich nur?" fragt Rafa verzweifelt. "Was mach' ich nur? Ach, Mann! Ach, Mann! Ach, Mann, was mach' ich nur? Was mach' ich nur?"
"Ich will doch mit dir schlafen, ich will auf jeden Fall. Aber ich darf es nicht."
"Wer verbietet dir das?"
"Das ist kein Verbot von außen. Das ist von innen. Das ist einprogrammiert. Das ist ein Programm, das mir das verbietet."
"Und wenn ich dich ganz zärtlich vergewaltige?" schlägt er vor.
"Nein, das geht nicht", antworte ich. "Dann machst du etwas kaputt in mir, das kann man nicht mehr heilemachen."
Rafa zieht mich an sich, so fest er kann, und auch ich umarme ihn, so fest ich kann.
"Es könnte so schön sein", sagt er. "Es könnte so schön sein."
"Ich weiß."
"Wie kann man dir bloß helfen? ... Es wäre doch so schön."
"Das weiß ich."
"Woher weißt du das denn? Du kannst das doch gar nicht wissen. Du hast das doch noch nie gemacht. Woher willst du das denn wissen?"
"Ich habe es auch noch nie gemacht, aber ich weiß es trotzdem."
"Hetty, ich brauche Sex. Ich brauche unbedingt Sex. Du, das ist wichtig."
"Ich weiß."
"Tu's für mich", bittet er.
"Ich kann es nicht", entgegne ich. "Ich will mit dir schlafen, aber das ist keine Sache des Willens."
Rafa rollt sich zusammen und fragt leise:
"Was soll ich bloß machen?"
"Das ist eben anstrengend, und das dauert lange."
"Und ich soll das tragen."
"Ja. Der Mann, der mich liebt, muß all das ertragen, was andere mir angetan haben, so wie ich auch all das ertrage, was andere dir angetan haben ... Fürchtest du dich eigentlich immer noch vor mir?"
"Ja."
"Warum findest du mich so bedrohlich?"
"Weil du ein gestörtes Liebesleben hast."
"Ja, das habe ich wirklich. Oft ist in uns Menschen gerade das kaputt, was für uns wichtig ist. Was ist das eigentlich genau, was an mir so bedrohlich ist?"
"Ja, weil du keine Gefühle zeigst."
"Ich habe sie aber, auch wenn du sie nicht merkst, wenn ich sie nicht auslebe; ich habe diese Gefühle", versichere ich. "Ich muß bei dir auch blind arbeiten. Ich fühle mich von dir geliebt, aber du kannst es nicht zugeben. Ich muß auch ganz allein mit dir fertigwerden. Da kann mir auch keiner bei helfen."
Rafa hebt den seitlichen Strang meines Tangas in die Höhe und schaut darunter hindurch.
"Das ist so schön, dieses durchgehende Weiß, wenn es durchgehend wäre", sinniert er und verbessert sich lachend:
"Mensch, was rede ich denn da ... Es wäre so schön, dieses durchgehende Weiß ..."
"Ja? Nicht durchgehend?"
Er zieht an dem elastischen Spitzenstreifen, der das Weiß meiner Flanke unterbricht und zeigt mir so, was ihn stört. Mein Tanga ist ihm überaus lästig. Dementsprechend hat er ihn zugerichtet.
"Du bist ja echt krank", meint er schließlich.
"Ja", erwidere ich. "Und das gebe ich auch offen zu."
Inzwischen ist es hell geworden. Rafa mustert das Bett mit dem Blick des Fachmanns.
"Hast du das Bett lackiert?" erkundigt er sich.
"Nein. Der Mann von meiner Mutter hat das gemacht."
"Das Bett ist mit dem Pinsel lackiert, nicht?"
"Ich glaube, ja. Ich glaube nicht, daß er das gespritzt hat."
"Wenn der erste Anstrich mit dem Pinsel gemacht ist, dann kann man auch, wenn man das spritzt, das nachher immer noch sehen."
"Ich bin mir aber relativ sicher, daß das mit dem Pinsel gestrichen ist. Das war aber auch nicht der erste Anstrich."
"Das war mindestens der dritte bis vierte Anstrich", meint Rafa. "Da sieht man auch noch Weiß."
"Das Bett hatte ganz lange ein scheußliches Grün. Da konnte man das nicht aufstellen."
Mein Stahlschrank fällt ihm als Nächstes ins Auge.
"Die Glasplatte, gehört die da so auf den Schrank drauf, so original?" möchte er wissen.
"Klar."
"Per-fekt", staunt er. "Und so geschliffen?"
"Ja."
"Per-fekt. Wer hat sich das ausgedacht?"
"Ja, der Schrank war so. 'Cassettiera' heißt der. Der war auch sehr teuer. Der hat zweitausend Mark gekostet."
"Hm."
"Ich mag grau. Ich hab's halt immer gerne kühl und nüchtern."
"Du hast auch nicht so sehr viel übrig für Romantik, nicht?"
"Oh, ich hatte durchaus meine romatische Phase", widerspreche ich. "Als ich dreizehn, vierzehn war, stand ich auf Friedhöfe, Grabsteine, Rosen und Totenhemden. Und ich stand auf Raumschiffe und Digitaluhren. Und eben auf ... Friedhöfe und wallende Gewänder."
"Und du hast das seit '89 nicht mehr verändert?" möchte Rafa zu der Skulptur aus Barbies und Aluminium wissen.
"Nein. Das steht seitdem so da."
"Ja, aber hast du es denn nicht mal abgestaubt?"
"Natürlich."
"Und wie hast du es abgestaubt?"
"Na ja, da habe ich es hochgenommen und dann wieder hingestellt."
"Dann hast du es ja doch wieder verändert."
"Na ja, in dem Sinne ..."
"Nein, man stellt das ja nie wieder genauso hin wie vorher."
"Ja, da hast du natürlich recht."
"Siehst du? Das war also schon mal gelogen", freut er sich.
Endlich kann er mich auch einmal der Lüge bezichtigen.
Rafa setzt sich auf mich und sagt nachdenklich:
"Echt, du bist wirklich ganz schön krank."
"Ja", bestätige ich. "Sicher."
Er langt herunter vom Bett und bekommt seinen Schlüpfer zu fassen.
"Was machst du?" frage ich.
"Ich ziehe meinen Schlüpfer an. Rauchen, rauchen, rauchen."
"Ach, laß' doch das Rauchen. Dann kann ich dich doch gar nicht küssen. Komm', leg' dich wieder hin."
"Nein, nein, dann schlaf' ich ein, das geht nicht. Ich muß jetzt 'raus. Ich muß jetzt 'raus. Ich hab' um zwölf einen Termin mit einem Fernsehsender. Ich muß jetzt 'raus. Ich schaff' das sonst nicht. Ich muß den Zug um 11.05 nehmen."
"Den Termin hast du ja wieder sehr günstig gelegt", bemerke ich. "Wie spät ist es denn jetzt?"
"Neun."
"Das ist doch viel zu früh. Ha. Den Zug kriegst du auf jeden Fall. Das muß nicht so bald sein."
Er steigt aus dem Bett und greift nach seinem Spitzenhemd.
"He! Du ziehst dich ja wieder an!" beschwere ich mich. "Ich hab' dich lieber, wenn du nichts anhast. Was soll denn das?"
"Ich zieh' mir nur ein Oberteil an."
"Schade. Ich hab' dich immer am liebsten, wenn du überhaupt nichts anhast. Je weniger du anhast, desto besser."
Er läßt sich auf dem Sofa nieder und nimmt eine Zigarette aus seiner Schachtel.
"Was ist 'Streß im Kopf'?" fragt er.
"Wie?"
Ich sitze auf dem Bett und gucke verständnislos in seine Richtung. Mit meinen kurzsichtigen Augen kann ich Rafa kaum erkennen.
"Was ist 'Streß im Kopf'?" fragt er noch einmal.
"Ich verstehe gar nicht, was du meinst."
"Was da unter dem Bild steht von mir aus dem Stadtmagazin."
"Da steht 'Alpha est et Omega'. Unter dem einem von mir steht 'Alpha est' und unter dem von dir halt 'et Omega'. Sonst nichts."
"Nein, was heißt das hier, was hier steht, an der Wand?"
"Was an der Wand!" rufe ich entgeistert. "Was steht an der Wand? Was ist denn das?"
Ich habe die weiß bezogene Decke um meinen Körper geschlungen und gehe so zu Rafa hinüber. Ich entdecke unter dem Foto, das ihn in seinem Priesterkleidchen zeigt, einen Schriftzug.
"Streß im Kopf!" hat da jemand mit Bleistift an die Tapete gekritzelt.
"Von Rafa kann das nicht sein", denke ich. "Der bekritzelt keine Tapeten."
"Das war bestimmt Ortfried, dieser Schuft!" rufe ich.
"Ortfried?" fragt Rafa, argwöhnisch wie immer.
"Ja, klar, Ortfried Brinkus. Das ist ein alter Kumpel von mir."
"Kenn' ich den? Den kenn' ich nicht."
"Den kennst du. Den hast du schon mal gesehen."
"Woher?"
"Der war mal im 'Elizium'. Den hast du gefragt nach Musik von dir. Der hat dazu getanzt. Na, vielleicht weißt du es auch nicht mehr. Oh, Mann, dieses alte, verdammte Miststück! Kann es nicht lassen ... Der ist nämlich ziemlich oft hier zu Besuch, und da ... Mann, dieses Miststück, dieser Schuft ... das ist ja echt eine Frechheit."
Ich hole ein Radiergummi. Der Übeltäter hat beim Schreiben so sehr aufgedrückt, daß die Schrift vom Radieren nur verschmiert, anstatt zu verschwinden.
"Haha", lacht Rafa, der mir von der Sofaecke aus zusieht. "Schmier'! Hahaha!"
"Ach, ich muß das überstreichen", gebe ich auf und lege das Radiergummi zurück. "Weißt du, wo mein Nachthemd liegt?"
"Wohl so auf dem Boden."
Ich finde es unter einer Decke. Mein Bett erinnert an ein Schlachtfeld. Ich ziehe mir das Hemd wieder über.
"Kommst du mit zum Automaten?" fragt er.
"Ach, das ist nur um die Ecke."
"Wie geht der Weg dahin?"
"Ach ... ich komme doch noch mit. Ich gehe mit dir dahin. Da ist auch ein Taxistand."
"Auf deinem Schreibtisch stirbt gerade eine Fliege", stellt Rafa fest.
"Ja, ja. Das tut sie wohl."
"Wußtest du, daß Fliegen meine Lieblingstiere sind?"
"Ja, das hast du mir erzählt. Warum sind denn Fliegen deine Lieblingstiere?"
"Sie sind ... völlig geil", findet Rafa. "Man beachtet sie kaum, und die schwirren unheimlich schnell durch die Gegend, und sie können einen total nerven, und wenn man sie genau anguckt, sehen sie unheimlich schön aus. Wenn die größer wären, wären sie uns um ein Vielfaches überlegen."
"Aber sie leben nicht sehr lange."
"Nein. Aber sie können fliegen. Allein schon fliegen - fliegen können, das ist doch, das ist doch alles. Wenn man das kann, dann hat man doch alles."
"Na, ja ... hat man dann wirklich alles?"
"Nun ... nicht alles ...", lenkt er ein, "aber doch ... Ist doch schick, fliegen zu können."
"Ich möchte eigentlich gar nicht fliegen können. Ich bleibe lieber mit den Beinen auf dem Boden."
"Hier, diese ... die macht auch nicht mehr lange", sagt Rafa.
"Was?"
"Die Fliege da vorne, die macht auch nicht mehr lange."
"Ach, jetzt sehe ich die. Findest du es denn gut, wenn man jemanden total nervt?"
"Ja, ich meine das nicht so ..."
"Ja, ich nerve dich auch total; das müßte dir sonst eigentlich gefallen."
"Nein, das mit den Fliegen ist anders", meint er. "So, hast du mal ein bißchen leise Musik zum Anmachen?"
"Ja, schon was ..."
"Was zum Aufbauen."
Ich drehe einige Kassetten um und suche.
"Ja, ich hab' eben nur ... Industrialmusik", sage ich.
"Hast du nicht sowas wie Heaven 17?" fragt er.
"Nein", winke ich lachend ab. "Da bist du bei mir wirklich an der falschen Adresse. Damit kann ich nicht dienen."
So leichte Musik höre ich seit vielen Jahren nicht mehr.
Ich spiele Whitehouse kurz an.
"Das Stück lief auch auf der Industrial-Nacht. Aber das ist dir wohl zu düster."
"Ja. Zu düster."
"Ach, Mensch, ich könnte doch mal Autopsia ... Autopsia, ich liebe Autopsia, ich stehe auf Autopsia, ich sammle alles von denen."
Ich lege "Death is the Mother of Beauty" ein, doch bevor etwas zu hören ist, warne ich:
"Ist aber dann eher düster."
"Nichts Düsteres", bittet er. "Nichts Düsteres."
"Ich hab' hier was", sage ich und lege eine Kassette ein. "Das sind Sachen von den letzten 'Grenzwellen'."
Ich setze mich auf Rafas Schoß. Dadurch beantworte ich mir selbst eine Frage, die ich mir vor zwei Jahren gestellt habe: Wie würde ich mit dem Mann, den ich liebe, auf einem Sofa sitzen? Damals bin ich nicht darauf gekommen, daß ich auf dem Mann Platz nehmen könnte. Nun erscheint mir nichts selbstverständlicher als dies.
Weil die rechte Seitennaht von Rafas Spitzenhemd fast ganz aufgetrennt ist, kann ich ihm bequem ins Hemd fassen und meinen Arm um seinen bloßen Rücken legen. Rafa duldet das, wehrt sich aber, als ich ihm ins Haar fasse und darin wühle.
"He! Laß' das!" ruft er. "Du sollst nicht in meinen Haaren herumfummeln! Laß' das doch mal sein! Laß' das doch mal sein!"
"Ach, jetzt darf ich das nicht."
"Genau."
"Erst durftest du etwas nicht, und jetzt darf ich etwas nicht."
"Genau."
"Ich mach' das aber so gerne."
"Du denkst aber nur an dich."
"Vorhin habe ich aber auch in deinen Haaren gewühlt. Ich wühle gern in deinen Haaren."
Mir fällt auf, daß Rafas Haare nicht mehr auf einer Länge sind und insgesamt viel kürzer als im letzten Frühjahr. Sie sind unregelmäßig gestuft, als hätte sie jemand mit dem Rasenmäher geschnitten. Man konnte das schon ahnen bei dem Haarturm, mit dem Rafa ins "Elizium" gekommen ist. Die Turmfrisur war im letzten Jahr höher und gleichmäßiger.
"Warst du kürzlich beim Friseur?" erkundige ich mich.
"Nein", antwortet Rafa überrascht. "Die sind doch länger geworden."
"Deine Haare sind viel dunkler als meine."
"Das kannst du wohl sagen."
"Ja, du hast gesagt, als du ein Kind warst, waren sie weißblond."
"Ja. Laß' dir deine Haare doch schwarz färben", schlägt er vor.
"Nein, das tue ich auf keinen Fall", erwidere ich. "Ich habe lieber meine natürliche Haarfarbe. Das ist übrigens das erste Mal, daß ich dich bei Tageslicht sehe ... Na? Aber fotografieren darf ich dich nicht, hm?"
"Nnein", sagt er kurz.
"Schade ..."
Ich betrachte seine hellgrauen Augen. Die Irissen haben einen dunklen Ring.
"Ja, sie sind wirklich grau", stelle ich fest. "In deinem Perso steht ja, sie wären blau."
"Deine Augen sind marmoriert", sagt Rafa über meine graublauen Augen. "Das ist nicht gut."
"Letztes Mal hast du ja gesagt, ich hätte ein gutes und ein böses Auge."
"Ja."
"Das heißt, daß ich zur Hälfte gut und zur Hälfte böse bin?"
"Das ist damit nicht gesagt", meint er.
"Und? Wie findest du es, mit einer Leiche im Bett zu liegen?"
"Na, du bist ja keine Leiche."
"Ich bin keine Leiche?"
"Nein", versichert er.
Als auf der Kassette klassisch anmutende Klänge zu hören sind, fragt Rafa:
"Von wem ist das?"
"Das ist von Eden. Das ist von einem Sampler."
"Von welchem?"
"Das weiß ich nicht genau. Vielleicht 'Bouquet of Dreams'."
"Nein, der ist doch schon 1990 'rausgekommen."
Nun - es gibt von Samplern oft mehrere Teile.
"Da seh' ich gerade die CD vom Liederkranz", sagt Rafa, als er in die Zimmerecke schaut, in der mein CD-Regal aus Beton steht. "Kannst du die einlegen? 'Ersatz für ein Raumschiff'."
"O.k. Du möchtest also 'Ersatz für ein Raumschiff' hören."
"Ja."
Ich mache das Stück an, das von den Abenteuern in der Welt der Videospiele handelt. Ich glaube, daß Rafa von Videospielen beeindruckt ist, obwohl er sich in seinem Clubhit gegen sie wendet.
"Welche Hintergedanken hat das Plakat?" kommt er auf Rikkas Geschenk zurück.
"Darauf steht 'Spirit of Kombat'."
"Das seh' ich von hier."
"Und darunter steht dieses 'Elektro Betty vs Black Nasty Ninja', und der Black Nasty Ninja versucht immer, Elektro Betty dazu zu bringen, ihn zu hassen, und das geht dann aber nicht. Und das hatte Rikka so dargestellt. Das hatte sie wohl so gesehen und mir zum Geburtstag geschenkt. Ja ... ich zeig' dir mal, was die Constri mir zum Geburtstag geschenkt hat."
Ich nehme das Kartenspiel von meinem Schreibtisch und öffne die Schachtel.
"Hier, guck' ... Schwarzer Peter ..."
Rafa sieht sich die Karte mit dem Schwarzen Peter an, den keiner haben will. Er wirkt belustigt.
"Und wer ist der Schwarze Peter?" fragt er.
"Tja", entgegne ich lachend, "das ist doch wohl klar, wer das ist. Wer soll denn das sonst sein?"
Es ist unverkennbar der schwarze Rafa mit Pferdeschwanz und Mikrophon, der "Ganz in Weiß" von Roy Black nachsingt.
Die restlichen Karten des Spiels schaut sich Rafa nur sehr flüchtig an; meine Ausgehgarderobe mit den vielen Haken, die Constri auch für mich gemalt hat, scheint er jedoch wiederzuerkennen. Er ordnet die Karten zu einem Stapel. Ich lege das Spiel weg und nehme wieder auf Rafa Platz.
"Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß,
so siehst du in meinen schönsten Träumen aus", sagt er.
"Ja, das Lied mag ich doch besonders gern. Das Lied mag ich so. Ja, das gefällt mir. Natürlich habe ich mir die Spielkarte auch gleich vergrößert und an die Wand gehängt."
Er blickt um sich.
"Wo?" fragt er schnell. "Wo ist das denn hier?"
"Das ist im kleinen Zimmer, dem Zimmer mit dem Betonfußboden. Aber ich zeige dir das nachher. Jetzt sitze ich gerade auf dir drauf. Wie geht eigentlich der Text von 'Ich träum' von dir'? Den kann man so schlecht verstehen."
Er sagt ihn mir auf. Unter anderem heißt es darin:
"Die Gefühle sind neu, die Welt ist schön."
Rafa erzählt, daß "Ich träum' von dir" eine Coverversion ist - wie "Ganz in Weiß". Diese beiden Stücke sind die einzigen Liebeslieder, die ich von ihm kenne, und ich kenne allerlei von ihm. Sollte er die Liebeslieder von anderen übernehmen, weil er selbst keine zu schreiben wagt?
Diese Frage stelle ich ihm noch nicht. Ich habe zu "Ich träum' von dir" zuerst eine andere Frage:
"An wen richtet sich das?"
"Hm?" macht er.
"An wen richtet sich das?"
"An alle. An die Leute, die es hören. Für die ist das gedacht. Hast du unsere CD?"
"Nein. Ich habe sie mir aufgenommen."
"Von wem?"
"Steini hat sich die gekauft. Steini ist ein Kumpel von mir."
"Wo hat der die her?"
"Die hat der in der 'Halle' gekauft."
"Ah, ja."
"Du bist echt gut, immer das 'unsere CD'", bemerke ich. "Die Musik machst du doch alleine. Das ist doch deine CD. Du hast die doch allein gemacht."
"Woher weißt du denn das?"
"Das hast du mir doch selber erzählt."
"Ich mache die Musik nicht", erklärt er, "ich schreibe sie nur auf, damit die Leute sie hören können. W.E gibt es außerdem schon seit 1924."
"Ich weiß."
"Echt wahr! Das Lied 'W.E' auch! Das habe ich übrigens ausnahmsweise mal geklaut. Das habe ich ausnahmsweise mal geklaut, nicht selbst gemacht. Ja ... du mußt dir mal meine neue CD anhören. Da ist auch teilweise eine Art Industrial - nicht ganz, aber so eine Art Industrial."
"Ja, dieses ... 'Schneemann', das du da mal gemacht hast, so?"
"Ja, so in dem Stil."
"Ja, dann bring' mir doch mal eine CD mit und schenk' sie mir."
"Mal sehen."
Die Zoids fesseln wieder seine Aufmerksamkeit.
"Was ist das?" fragt Rafa und nimmt ein kleines schwarzes Kissen vom Transporter-Zoid.
"Das Kissen habe ich genäht", erzähle ich, "und das ist gefüllt mit den Samen von Pappeln, und ich habe das mit Glitzerkleber bemalt, mit einem Motiv, das die Virgin Prunes beim Konzert '86 im 'Flash' an die Wand geworfen haben."
Es ist ein mit wenigen Strichen gezeichnetes Häuschen mit einem Baum daneben. Dazu sang Gavin Friday "Sweet home under white clouds" in der Maxi-Version, die unterlegt ist mit einem schleifenden, maschinell klingenden Rauschen.
"Der da ist ja nicht ganz so schlimm", sagt Rafa gnädig über einen gewaltigen Archaeopteryx.
"Ach, der ist nicht ganz so schlimm."
"Nein, der geht noch, so von den Farben her. Aber der da -" er zeigt auf den verhaßten Säbelzahntiger - "der ist echt unmöglich, schon diese Farbe allein ..."
Er scheint Vergißmeinnichtblau nicht leiden zu können.
"Was ist eigentlich so Schlimmes dran an den Zoids?" frage ich belustigt.
"Ja, was ist das da?" fragt Rafa und zeigt auf den Schwanz des Säbelzahntigers. "Was ist das da?"
"Ja, das sind Waffen."
"Ja, und was ist das da?" fragt er und zeigt auf den Rücken des Tieres.
"Das sind Waffen. Die haben überall Waffen, die Viecher."
"Und sowas findest du gut?"
"Ach, das ist doch nur Plastik. Das ist doch ganz harmlos. Das ist doch alles nur Plastik."
"Haha, das ist alles nur Plastik", ahmt Rafa mich nach. "Haha. Die Kinder werden damit verführt! Ja, ich wollte auch mal eine Pistole haben, als ich klein war. Bin ich froh, daß Muttchen gesagt hat:
'Das gibt's nicht.'
Ich hatte immer meine Bauklötze."
"Ich habe früher auch kein Kriegsspielzeug gehabt", erzähle ich. "Wir hatten auch Bauklötze ... und Puppen ... und jede Menge Papier und Stifte ... Wenn du mal Kinder willst, müßtest du ja auch treu sein, denn sonst würde dir deine Frau weglaufen. Dann kannst du die Kinder alleine erziehen."
"Ich würde ein Kind auch alleine erziehen."
"So, du willst auch gar keine richtige Familie haben oder so."
"Nein, ich würde ein Kind auch alleine erziehen."
"Na ja, so, so ist das also. Die Frau soll dann wohl die Kinder kriegen, und danach kann sie gehen, wohin sie will und so."
"Nein, ich hab' nur gesagt, ich würde die Kinder auch alleine erziehen. Außerdem bin ich gar nicht untreu."
"Ach, du bist gar nicht untreu."
"Nein."
"Wenn man Liebe zuläßt, dann kann man auch gar nicht mehr jemandem untreu sein. Es legt sich etwas wie ein Film um einen herum und macht einen immun gegen jede Art von Untreue."
"Sex geht immer."
"Vorhin hast du gemeint, du wolltest Sex vielleicht gar nicht von jemand anderem."
"Das habe ich nicht gesagt."
"Doch, doch, das klang so."
"Wer hat die Türen lackiert?" erkundigt sich Rafa.
"Ich."
"Nicht schlecht."
"Die Türen habe ich auf Böcke gelegt und mit der Rolle gemacht, das andere mit dem Pinsel. Ich mußte es ja machen; es blieb mir nichts übrig. Ich konnte dieses vergammelte Weiß nicht mehr ertragen."
"Wer hat diese Wand gestrichen?" fragt er und zeigt auf die Wand mit den Bildern.
"Ach ... die Decke habe ich gar nicht gestrichen, die Wand habe ich gestrichen, aber das ist auch schon fünf Jahre her ... sechs Jahre her ... Da war so ein scheußlicher himbeerrosa Anstrich, den mußte ich erstmal überstreichen. Aber den Teppichboden, den habe ich verlegt, und den Schreibtisch habe ich lackiert und den Hocker. Das mußte sein; das sah so blöd aus ..."
"Der Farbton ist hundertprozentig", sagt Rafa über das zarte Hellgrau.
"Ja, nun, wie gefällt dir mein Zimmer?"
"Es wirkt irgendwie ... geordnet."
"Aufgeräumt."
"Nicht nur aufgeräumt. Geordnet. Kann es sein, daß bei dir jedes Ding seinen Platz hat?"
"Ja, hier hat jedes Ding seinen Platz."
"Das meine ich. Es ist wie eine Skulptur, das ganze Zimmer."
"Gefällt dir das?"
"Ja, es sieht so ein bißchen aus wie 'Bloß nichts anfassen'."
"Ja, man kann hier doch Einiges anfassen."
"Ach, nein, nein. Das wohl nicht."
"Ja, meine Gäste gehen immer zuerst an meine CD's. Die wühlen immer in meinen CD's herum."
"Ich habe genug CD's", meint er. "Ich brauch' keine."
"Ja, für dich sind die CD's ja auch gar nicht interessant. Für dich ist nur das Bett interessant."
"Ja, für mich ist nur das Bett interessant."
"Wie findest du das denn, das Bett?" möchte ich wissen.
"Ja, ein bißchen klein."
"Na ja, ein mal zwei Meter."
"Aber meins ist breiter."
"Ja, eins-vierzig."
"Ich weiß nicht. Jedenfalls 'n Tick breiter."
"Eins-vierzig. Das sind Normgrößen."
"Ich hab' mein Bett mir selbst gebaut."
"Ach, du hast dir dein Bett selber gebaut?"
"Ja, ich hab' mir das selber gebaut. Aber ich schmeiß' das auch bald 'raus. Ich will ein anderes haben."
"Ja, was denn für eins?"
"Ach, ich träum' immer noch von einem runden Bett mitten im Raum."
"Dann paßt ja in den Raum was anderes nicht mehr 'rein."
"Das soll ja auch nicht. Das ist ja auch nur da, um zu schlafen. Aber meistens bin ich in dem anderen ... haha, hm ..."
"Ja, weil du da Musik machst."
"Ja."
"Ja, ja. Die Grabkammer, ne?"
"Ja. Oh, das sieht jetzt ganz gut aus. Da habe ich jetzt lauter Borde angebracht, auf denen stehen jetzt die ganzen Computer da, die stehen da alle drauf, und das sieht jetzt schon richtig aus wie Raumschiff Enterprise."
"Ja, also doch mehr ... zukunftsorientiert."
"Nee, nee, das sind alles Geräte aus den Achtzigern. Die Computer natürlich nicht."
"Was hast du denn für einen Computer?"
"Ja ... Atari ... und Commodore."
Ich weiß, daß Rafa einen C 64 besitzt, doch ein C 64 gilt bei mir nicht als Computer, sondern als Spielzeug.
"Na ja, Commodore", sage ich denn auch. "Na, Atari ist denn wohl schon was Neueres."
"Ja, der ist der einzige mit Midi-Anschluß. Der Midi-Anschluß, das ist eine Buchse, über die kann man den Computer unmittelbar mit den Synthesizern verbinden. Das ist toll; dann kann man die Synthesizer alle hintereinanderschalten und den Computer da in die Mitte. Das ist wie im Orchester. Der Computer ist der ..."
Ihm fällt das Wort nicht ein.
"Also, wie im Orchester, und der Computer ist der Dirigent", zeichne ich seine Gedanken nach.
"Jaa! Genau! Dirigent! Dirigent! Was fällt mir das Wort auch nicht ein!"
Ich muß daran denken, wer ihm die teuren Geräte bezahlt hat. Ich frage mich, ob Rafa ebenfalls daran denkt. Für wen er seine Liebeslieder auch singen mag, die Geräte, auf denen er sie spielt, werfen einen Schatten darüber. In meinen Augen sind die Synthesizer Eigentum der Sängerin. Ich kann mich nicht mit ihnen anfreunden.
"Wie sind eigentlich die Leute an dem Mario-Spiel gestorben?" möchte ich wissen. "Denn durch epileptische Anfälle stirbt man ja nicht."
Das stimmt nicht ganz; jedoch werden solche Anfälle in der Regel überlebt.
"Ja, Herzinfarkt", sagt Rafa. "Herzschlag. In England sind da zwei dran gestorben."
"Wie alt sind die denn gewesen?"
"Der eine war fünf, und der andere war zehn."
"Wie soll denn das da zum Herzinfarkt kommen?"
"Ja, die Spiele verführen ja. Das spielt man ja Tag und Nacht, und dann ißt man nicht richtig und trinkt man nicht richtig ... Das macht ja süchtig."
Das hat dann wohl, denke ich, weniger mit den Spielen als mit der fehlenden Aufsicht durch die Eltern zu tun.
Rafa sieht die "Raumpatrouille Orion"-Videobox vor dem Drucker stehen.
"Bist du 'Raumpatrouille Orion'-Fan?" fragt er.
"Ich mag die Filme echt gerne", antworte ich. "Ich finde die echt voll süß."
Er singt die Titelmelodie.
"Wer hat das Nachthemd genäht?" erkundigt er sich.
"Damit hat mich meine Mutter zum Geburtstag überrascht."
"Hast du's falschrum an?"
"Na - warum? Sind die Nähte außen?"
"Ja."
"Oh. Dann ist es falschrum."
Ich ziehe es aus und halte es prüfend vor mich:
"Hinten."
Dann ziehe ich es richtigherum wieder über. Rafa kichert, weil ich ihm den Rücken zugedreht habe. Er zupft mir den Tanga zurecht.
"Hast du das Mobile gemacht?" fragt er, als ich wieder auf ihm sitze.
"Die Fischchen hat meine Mutter vor dreißig Jahren gemacht", erzähle ich. "Und ich habe sie aber aufgehängt, daß heißt, das Mobile dann daraus gemacht."
"Als was sieht mich deine Schwester?"
"Nun ... sie meint, daß sie dich nur aus meinen Erzählungen kennt .... und daß du halt ein Mensch bist, der sich vor einer Beziehung mit dem Menschen fürchtet, den er liebt. Aber das weiß sie eben auch nur von mir. Sie sagte mir, sie wüßte das nur von mir."
Ich will ihm vermitteln, daß Constri ihn nicht ablehnt und keine Vorurteile gegen ihn hat.
Etwas zögernd stelle ich ihm eine Frage, die mich schon seit Langem beschäftigt:
"Was war dein Vater von Beruf?"
"Elektriker."
"Dann hat er aber doch wohl auch ganz gut Geld verdient, ne?"
"Na ja, eigenes Haus halt ..."
"Ja, ich meine, wenn jemand so eine Rolex-Sammlung hat ..."
"Nein, das waren keine Rolex-Uhren. Das waren Omega-Uhren."
"Ah, ja."
"Ja, meine Mutter aber auch", fügt Rafa hinzu.
"Was macht die?"
"Die ist stellvertretende Chefin in so einem Reisebüro ... dann hat sie auch noch die kleine Galerie ..."
"Ja, die kenne ich ja schon. Meine Eltern sind Lehrer."
Ich bin mir nicht sicher, ob und inwiefern Rafa etwas über die Berufe meiner Eltern erfahren möchte. Ich frage mich, ob es ihn stört, daß er selbst keine akademische Ausbildung hat. Er könnte mich und meine Eltern beneiden. Er sieht, daß wir etwas erreicht haben, das auch er hätte schaffen können. Rafa hat die Denkweise eines Akademikers, ohne einer zu sein. Wahrscheinlich fühlt er sich in seinem Beruf nicht richtig zu Hause.
"So, ich muß jetzt los, ich muß jetzt los", strebt er fort.
"Komm', du hast noch jede Menge Zeit."
"Nein, das ist wichtig, ich muß jetzt los."
Er zieht seine Hose an.
"He!" rufe ich. "Was machst du?"
"Ich ziehe meine Hose an."
"Laß' das. Ich möchte das nicht, daß du deine Hose schon wieder anziehst. Ich mag das nicht, wenn du dich anziehst."
Er schnürt sich die Hosenbeine.
"Was soll das?" frage ich ärgerlich. "Du mußt dich doch noch gar nicht anziehen."
"Doch. Es ist sogar noch besser, wenn ich den Zug um 10.05 kriege."
"Naa. Nee, also das ist doch wirklich Unsinn. Das reicht doch völlig, wenn du den um elf Uhr bekommst."
"Nein, ich möchte aber", sagt Rafa störrisch. "Es ist wichtig. Ich muß. Ich muß."
"Du mußt gar nichts. Du kannst durchaus noch bleiben. Du mußt nicht so schnell weg."
"Das ist aber wichtig."
Er beginnt, seine spitzen Schnallenstiefel anzuziehen.
"Aach, ja, nein, jetzt zieh' dir doch nicht auch noch die Schuhe an!"
"Ja, warum nicht?"
"Ich mag das lieber, wenn du keine anhast."
"Ich ziehe sie aber an."
"Ich will das nicht", entgegne ich und setze mich auf seinen Schoß.
"Siehst du? Ich zähle mal wieder gar nichts", meint er sanft.
Unbeirrt schließt er weiter die Schnallen.
"He, das wird voll das Hindernis-Anziehen", lacht er.
Am Ende wird es ihm zuviel mit mir, und er trägt mich durchs Zimmer und wirft mich aufs Bett. Ich springe sogleich auf und setze mich wieder auf seinen Schoß. Rafa packt mich und wirft mich wieder aufs Bett. Nun setze ich mich neben ihn, umarme ihn aber weiter.
Etwas fällt auf den Boden. Ich bücke mich.
"Ja, was ist?" fragt Rafa.
"Ja, ich wollte nur gucken, was dir 'runtergefallen ist."
"Das ist mein Feuerzeug", sagt er und zeigt es mir.
Es ist rötlich marmoriert.
"Los! Auf! Fertigmachen!" drängt er.
"Das ist aber doch noch viel zu früh."
"Durst", sagt er. "Durst."
"Was willst du denn trinken?"
"Ich brauch' irgendwas Durchsichtiges, Nichtalkoholisches."
"Irgendwas Durchsichtiges, Nichtalkoholisches."
"Ja. Vitamintablette oder'n ... Orangensaft ... Cola ... Apfelsaft ..."
"Ja. Eine Vitamintablette, das könnte noch da sein."
"Mit Packung - her", verlangt er.
"Mit Packung - her."
"Ja, mit Packung - her."
"Ja, gut, dann hol' ich sie mal."
Ich bringe ihm das Röhrchen mit den Vitamintabletten. Er nimmt eine Tablette in seine Hand und urteilt:
"Ja."
"Noch ein Glas Wasser."
Ich gebe ihm das Glas, und er läßt die Tablette hineinfallen.
"Hast du ein Haargummi?" ist sein nächster Wunsch.
"Sicher. Natürlich."
Ich gebe ihm eines wie das, das ich selbst verwende. Im Bad versucht er, sein Haar zu einem Pferdeschwanz zu binden. Unverrichteter Dinge kommt er zurück und meint:
"Ach, vergiß' es mit dem Pferdeschwanz."
Er nimmt wieder auf dem Sofa Platz und stellt seine Füße auf eine Leiste unten an meinem Schemel.
"Besser nicht draufstellen, da unten", bitte ich. "Der Lack geht sonst ab. Das ist doch nur so ein Acryllack."
"Hast du das da abgemacht, als du den Schreibtisch lackiert hast?" fragt Rafa und zeigt auf das Schloß und den Griff.
"Ja."
Er sieht meine nackten Füße neben seinen Stiefeln und streicht mir über den Spann. Er entdeckt eine Verletzung und fragt:
"Wo kommt das her?"
"Ja, da bin ich gegen das Betonbrettspiel gelaufen, das Steini mir zum Geburtstag geschenkt hat. Hier, da ist das, neben dem Sofa."
Er beugt sich über die rechte Sofalehne und sieht sich das Spiel an, das ich vor dem Schränkchen mit den Zoids aufgebaut habe.
"Das ist Tic Tac Toe", erkläre ich.
"Was?"
"Tic Tac Toe. Da muß man immer drei in eine Reihe bringen. Steini, der ist ja Steinsetzer von Beruf, und der hat das mit der Trennschleifmaschine ... ssst ..."
Ich fahre an den Rillen entlang, die die neun Felder auf dem Spielbrett eingrenzen.
"Mit Beton kann man so geile Geräusche machen, das gibt es gar nicht", sage ich schwärmerisch und klopfe und scharre mit einem Stein auf der Gehwegplatte herum, die als Spielbrett dient.
Rafa schaut und lauscht.
"Du hast mich bestimmt noch nie gemalt, nicht?" vermute ich.
"Kann ich malen?" stellt er sich ahnungslos.
"Ja, warum, du malst doch immer so gern."
"Ach, tu' ich das?"
Ich lache und sage:
"Du würdest dir wohl bestimmt nie ein Bild von mir an die Wand hängen, nicht?"
"Ich bin nicht der Typ, der sich Bilder an die Wand hängt", entgegnet er. "Ich habe nur so ein paar Erinnerungsfotos an der Wand hängen und ein Bild von Jesus Christus und eins von Dracula."
Er steht auf.
"Darf ich dich fotografieren?" fragt er und nimmt eine kleine Kamera vom Schemel, die ich noch gar nicht gesehen hatte.
"Ja", antworte ich. "Darf ich mich vorher noch nachschminken?"
"Nein, nein", sagt er schnell. "Nein, nein, nein, nein."
Ich bleibe auf dem Sofa sitzen und greife mir in das verwuschelte Haar. Rafa fotografiert mich mit Blitzlicht.
"So, ich hab' jetzt ein Foto von dir; das reicht mir", meint er.
"Du hast ja noch gar nicht die Bilder von mir gesehen", sage ich.
"Doch", erwidert er, der wohl in der Zeit, in der ich geduscht habe, mein Zimmer ausgiebig betrachtet hat. "Das ist ja wohl eindeutig, welche von dir sind."
"Ich habe aber doch noch gar nicht gesagt, welche das sind."
"Ha ... das ... das ist doch wohl eindeutig. Da muß man sich ja nur die Gesichter von den Frauen ansehen, dann ist doch alles klar. Das ist doch alles klar. Das kann ja nur von dir sein. Das kann ja von niemand anderem sein. Nicht schlecht. Nicht schlecht."
"Das ist zum Beispiel von Rikka und das von mir."
"Ja, das ist völlig klar."
"Hier, das ist auch von mir."
"Ich weiß, ich weiß, das ist von dir", fällt er mir ins Wort. "Nicht schlecht."
"Das Grüne da ist auch von mir. Das Graue da auch. Und das Schwarze."
Das eher abstrakte Bild in hellen Grüntönen, das den Tod darstellt, mag Rafa nicht so sehr leiden, doch er sieht es auch nicht genau an. Ich habe den Verdacht, daß er es nicht genau ansehen mag. Ich zeige ihm noch das sehr bewegte, rauhe, grobstrichige Bild von den fünf Tänzern, das ich nach "Mate, spawn and die" von Lard gemalt habe. Es ist in Schwarz und Weiß gehalten und lebt von harten Kontrasten.
"Geht so", sagt Rafa dazu.
Von den feinen Zeichnungen hält er mehr.
"Das Bild hier oben, das ich 1989 schon gemalt habe", sage ich zu einer dieser Zeichnungen, "damals konnte ich dich noch gar nicht kennen. Und der Kerl, den ich da gemalt habe, der hat ziemliche Ähnlichkeit mit dir. Und damals konnte ich dich noch gar nicht kennen."
Rafa erhebt sich vom Sofa. Er betrachtet das Bild aufmerksam.
"Der sieht dir doch recht ähnlich, auch wenn das nur angedeutet ist", setze ich hinzu.
"Da hast du sogar recht", findet er.
"Ist das nicht wahr? Das war auch nur der Typ, den ich mir wünsche. Das heißt, du bist nämlich der Typ, den ich mir wünsche, denn du siehst ja genauso aus wie der."
"Du hast mich aber noch nicht", freut sich Rafa.
"'89 habe ich dich schon gemalt. Das Bild -" ich zeige auf das Bild von dem umschlungenen Pärchen -, "das da ist natürlich neuer. Das hätte ich damals noch nicht malen können."
Ich setze mich wieder und fahre fort:
"Und die ja auch ... die Skulptur, die ich für Rikka gemacht habe ..."
"Skulptur? Wo?"
"Guck', da habe ich ja nur Fotos; die Skulptur hat ja Rikka. Zum Beispiel hier oben; da war die aber schon eingepackt. Aber die ist auch noch in der Eßecke. Da sind noch Fotos von. Die muß ich dir auch noch zeigen. Aber - aber jetzt sitz' ich erstmal auf dir drauf."
Mein Verlangen nach seiner Nähe ist nicht der einzige Grund dafür, daß ich ihm die Aufnahmen in der Eßecke zunächst vorenthalte. Ich finde es auch verfrüht, ihn sich selbst mit einem Reif um den Hals zu zeigen, angekettet und auf dem Boden kauernd.
"Warum hast du solche Krankenhaushände?" fragt Rafa, der auf alle Einzelheiten meines Körpers zu achten scheint.
"Ja, die sind kaputt, weil ich so lange im Krankenhaus gearbeitet habe - wenn du das meinst."
"Nein, warum hast du so kurze Fingernägel immer?"
"Na ja, das ist für mich irgendwie besser", erkläre ich. "Da fühle ich mich sonst so behindert mit langen."
"Bei was? Warum?"
"Na, es würde mich halt irgendwie stören. Du hast sehr lange Fingernägel, ne?"
Rafa zeigt mir seine Vampirkrallen. Ich mag sie, weil er mich damit kratzen kann, doch denke ich mir, daß er darauf achten sollte, sie gleichmäßig lang zu halten.
"Und woher ist das?" möchte er wissen.
"Du, das kann man sich doch mal so tun, wenn man sich an einem Stahlregal schneidet oder sowas."
"Und davon kommt das?"
"Ja, davon kommt das. Du hast ja auch rote Stellen im Gesicht. Das hat jeder, sowas, irgendwie."
"Ja", sagt Rafa lächelnd. "Das ist mir Donnerstag bei Kappa passiert, da bin ich da voll gegen ein Wandregal gelaufen."
Nach kurzem Schweigen stellt er mir die schon vertraute Frage:
"Und du hast wirklich noch nie einen Freund gehabt?"
"Nein. Nie."
"Wirklich nie?"
"Nein. Irgendwelche Urlaubsbekanntschaften, die ein paar Tage dauern und aus denen nichts wird, zählen für mich nicht. Für mich zählt nur eine richtige Beziehung. Ich brauche einfach die Sicherheit in dir. Du kannst nur mit mir schlafen, wenn ich die Sicherheit habe, daß ich dich nicht mehr verlieren muß."
"Du brauchst mich auch nicht zu verlieren", meint er.
"Ich möchte dich für immer haben."
"Du kriegst mich nicht", sagt er lächelnd und schaut in die Luft hinein. "Mich kriegt keiner."
"Vielleicht empfindest du mehr für mich, als dir lieb ist."
"Woher willst du mich so gut kennen?"
"Ich kenne dich schon gut genug ... Du fürchtest dich davor, zu lieben und geliebt zu werden."
"Ich fürchte mich nicht davor, zu lieben und geliebt zu werden."
"Du bist massiv enttäuscht worden, und zwar sehr früh in deiner Kindheit."
"Nein, in meiner Geschichte ist nichts passiert in der Hinsicht", beharrt er. "Ich will keine längere Beziehung. Ich habe jetzt eine lange gehabt und da soviel Sch... erlebt."
"Das war aber keine feste Beziehung", wende ich ein. "Du hast dich ja dauernd von der getrennt. Siebenmal."
"Nein. Höchstens viermal."
"Nein, ich habe mitgezählt. Das waren sieben Mal. 'Dreimal war schon Schluß', hast du gesagt. Das hast du wortwörtlich gesagt. Im Sommer waren das drei Mal, dann im Herbst nochmal und im Dezember nochmal und im Januar nochmal und jetzt nochmal, das macht siebenmal."
"Das war ja gerade das Zeichen dafür, daß die Beziehung fest gewesen ist", meint Rafa.
"Nein, das ist doch viel eher ein Zeichen dafür, daß die Beziehung eben nicht wirklich fest war, weil es eben doch wieder auseinanderging."
"Das Entscheidende ist ja das Zusammenkommen", verteidigt Rafa seine Ansicht.
"Ich sehe das nicht so", entgegne ich. "Ich will dich für immer haben und grundsätzlich und ganz."
"Tja, wir beide sind eben total verschieden."
"Nein. Wir haben sehr viel gemeinsam. Ich verstehe dich und du mich."
"Ich bin strohdoof", behauptet er.
"Quatsch. Unsinn."
"Ich hab'n IQ von null. Echt."
"Oh, nein", widerspreche ich. "Ich kann nur Leute lieben, die mir ähneln, wie du zum Beispiel."
"Es kommt mir ja gar nicht so an auf Sex ..."
"Du, Sex ist wichtig."
"Sex ist wichtig, aber er ist nicht das Wichtigste."
"Das Wichtigste - was ist denn das?" frage ich lauernd.
"Ja, die Frau, die mir das geben kann ... tja ..."
"Ja, was soll das für eine Frau sein?"
"Tja ..."
"Ich dachte, Sex sei dir so wichtig."
"Vorhin war das wichtig", sagt Rafa. "Aber jetzt - ist das was anderes."
"Warum fühlst du dich eigentlich genau von mir bedroht?"
"Weil du mich aushorchst. Du horchst mich ja jetzt auch aus."
"Ich horche dich aus."
"Ja", bestätigt er. "Los! Fertigmachen!"
"Wir müssen doch noch gar nicht los."
"Ich will aber früh dran sein."
"Das mußt du aber nicht."
"Ja, du bist eben egoistisch. Du denkst ja wieder nur an dich."
"Das stimmt nicht."
"Nun setz' dich nicht immer auf mich", bittet er und stöhnt. "Du bist mir so schwer."
"Aber du fandest doch, ich sei nicht schwer. Ich wiege doch nur fünfzig Kilo ..."
"He, mir geht's nicht gut", erklärt er.
"Ach, schade", seufze ich und rücke neben ihn. "Warum geht's dir nicht gut?"
"Ich bin unglücklich."
"Ich bin auch unglücklich."
"Warum bist du unglücklich?" wundert er sich.
"Weil ich immer daran denken muß, daß es Wochen dauert, bis du wieder den Weg zu mir findest."
Ihm scheinen die Kräfte geschwunden zu sein.
"Außerdem ... außerdem brauch' ich Schlaf ohne Ende", sagt er.
"Dann schlaf'", fordere ich ihn auf. "Dann leg' dich hin und schlaf'."
Sogleich legt Rafa sich nieder und schließt die Augen. Leise verlasse ich das Zimmer. Ich setze mir die Kontaktlinsen ein, schminke mich nach, binde mir das Haar zusammen und kleide mich an. Ich trödele, in der Hoffnung, daß Rafa während meiner Abwesenheit einschläft. Als ich mich wieder in mein Zimmer schleiche, ist er tatsächlich eingeschlafen. Ich setze mich zu ihm aufs Sofa und beuge mich über ihn. Ich streichle sein Haar und lege mein Gesicht auf seine Schulter. Sein Körper wärmt mich. Dennoch beginne ich zu frieren. Ich bin übernächtigt; daran liegt es. Eine Viertelstunde vergeht, dann ist es zwanzig nach zehn.
"Du", sage ich leise zu Rafa, "wenn du nicht aufstehst, verpaßt du deinen Zug."
"Hm."
"Willst du deinen Zug verpassen?"
"Ja. Hm."
Er nickt. Ich möchte mich wieder an ihn lehnen, da sagt er schlaftrunken:
"He, nichts auf mir drauflegen. Nichts auf mir drauflegen."
"Auch nicht mich?"
"Nein."
Dieser Wunsch ist mir Befehl. Ich bin selbst sehr empfindlich, wenn ich schlafe und kann Rafa verstehen. Ich kuschle mich an die rote Strickdecke, die über der Sofalehne hängt. Die Heizung habe ich voll aufgedreht; dennoch wird es mir so kalt, daß ich mich in meine graue Überdecke einwickle. Ich überlege, ob ich Rafa auch zudecken soll. Doch ich tue es nicht. Er wollte nicht, daß ich etwas auf ihn lege, und ich nehme an, daß Decken eingeschlossen sind.
Ich streichle vorsichtig Rafas Haar, das über die Sofadecke fällt. Ich berühre seinen Kopf dabei nicht, und so kann er es nicht merken.
Er liegt vor mir in der gleichen Haltung wie der Mann auf dem Bild, das ich gemalt habe. Das Bild hängt über ihm. Ich kann nun Vergleiche anstellen. Die Sonne kommt hervor und leuchtet durch die weiße Jalousie. Ich betrachte Rafa sorgsam. Dies ist mir nicht zuletzt deshalb möglich, weil seine Augen geschlossen sind, die mich sonst bannen. Seine Haut ist hell, doch nicht so hell wie meine. Sein Mund ist voll, sinnlich und geschwungen. Sein Kinn finde ich noch hübscher als das von Mr. Spock, und selbst das finde ich schon sehr hübsch.
Rafa verwendet seine Kleider als Kopfkissen. Sie zerknittern davon. Entweder merkt er das nicht, oder es stört ihn nicht. Ich frage mich, wie es ihm gelungen ist, sein Spitzenhemd so zu zerreißen und zu verdrecken. Abgesehen von seinem traurigen Zustand finde ich das Hemd niedlich, und ich finde auch, daß es Rafa hervorragend steht. Seltsamerweise riecht das Hemd nicht nach Schmutz. Es riecht nach Rafa, und das gefällt mir.
Ich schaue mir die kleinen Dinge an, die auf meinem Hocker liegen. Außer der Uhr ist es alles, was Rafa mit sich führt. Die Creolen, die er in den Ohren trug, sind auch dabei. Ich wundere mich über das abgeschabte Portemonnaie, das seine besten Tage längst hinter sich hat. Ich betrachte das Kruzifix, einen Totenschädelring und einen seltsamen grünen Anhänger. Eine Schachtel Cartier light, Feuerzeug und Schlüssel liegen ebenfalls auf dem Hocker. Es sind lauter Sachen, von denen man annehmen kann, daß sie zur Grundausstattung eines Gothics gehören. Für die Eitelkeit des Kostümierten spricht der Fotoapparat.
Ich habe zu Rafa oft gesagt, daß ich ihn fotografieren möchte. Und nun hat er mich fotografiert ...
Hilflos liegt er vor mir. Ich könnte ihn heimlich fotografieren. Doch ich will ihn nicht hintergehen. Ich glaube, es würde ihn sehr verletzen, wenn er es erführe. Das wenige Vertrauen, das er in mich hat, könnte zerstört werden.
Rafa wollte nicht, daß ich mich nachschminke, bevor er ein Foto von mir macht. Ich scheine ihm besonders zu gefallen, wenn ich nach Schlafzimmer aussehe, mit aufgelösten Haaren und verwischtem Makeup. Das gilt mir als weiterer Hinweis darauf, daß er mich als Mensch haben möchte. Für ihn zählt, wie ich bin, nicht wie ich mich zurechtmache. Er mag mein Gesicht leiden, wie es ist. Ich mag es auch, wie es ist. Allerdings gehe ich nie ungeschminkt vor die Tür, denn das wäre für mich so, als wenn ich in Unterwäsche vor die Tür ginge. Mein ungeschminktes Gesicht ist mein privates Gesicht, meine private Ansicht. Auch das Foto, daß Rafa von mir gemacht hat, ist ein sehr privates Foto. Ich glaube, es ist das einzige Foto von mir, das mich so privat zeigt. Ich bin ja auch vorher noch nie von einem Mann fotografiert worden, der mich liebt. Wenn ich das Bild sehen könnte, könnte ich erfahren, wie das Auge eines Liebenden mich sieht.
Um elf Uhr läuten die Kirchenglocken. Ich erinnere mich daran, wie ich sie an einem Sonntag im vergangenen Frühjahr habe läuten hören. Damals hatte Rafa sein Versprechen gebrochen und war nicht zur verabredeten Zeit im "Elizium" gewesen. Ich wußte damals nicht, daß er nicht aus Gedankenlosigkeit oder Böswilligkeit so gehandelt hatte, sondern aus schierer Angst. Es war seine Angst davor, sich mir auszuliefern. Wie groß diese Angst ist, erfuhr ich erst in der heutigen Nacht, als er sich dagegen wehrte, mich zu begleiten. Wenn es ihm schon schwerfällt, mit mir zu kommen, wie schwer muß es ihm erst fallen, zu mir zu kommen!
Rafa bewegt sich im Schlaf und läßt mir immer weniger Platz auf dem Sofa. Um die Mittagsstunde schiebt er mich endgültig herunter. Ich will mich aber nicht in mein Bett legen. Ich wäre Rafa nicht nahe genug. Also lasse ich mich vor dem Sofa nieder und lege meinen Kopf aufs Sitzkissen.
Einmal dreht Rafa sich zur Wand und liegt eine Zeitlang mit offenen Augen da. Er wirkt nicht wach auf mich. Er scheint ins Leere zu blicken.
Nach einiger Zeit bekomme ich Hunger. Ich lege meine Salzstangen auf den Schreibtisch und esse ab und zu davon.
Ich schlafe nie richtig ein. Ich bin innerlich zu angespannt. Außerdem friere ich trotz der Decke.
Bisat steht im Flur und maunzt. Ich lasse ihn in mein Zimmer. Schon kurz darauf kratzt Bisat an der Tür und will wieder hinaus. Ich mache die Tür noch einmal auf. Von nun an muß Bisat wieder draußen bleiben, so sehr er auch klagt und jammert.
Kurz nach fünfzehn Uhr klingelt das Telefon. Ich nehme den Hörer ab. Constri meldet sich. Sie bedankt sich dafür, daß ich ihr Geld gegeben habe, damit sie mit mir nach Bremen fahren konnte.
"Dann ... ich hab' hier jemand liegen", fährt sie fort.
"Ich auch", entgegne ich.
"Was - du auch?"
"Ja, ich auch."
"Ohh!" ruft Constri. "Du, das mußt du mir nachher in allen Einzelheiten erzählen. Jetzt kannst du's sicher nicht."
"Nein."
"Aah, dann wünsch' ich dir noch viel Spaß."
"Na ja, soweit es geht."
"Nun gut, ich hab' hier so jemand liegen, der hat ein medizinisches Problem."
Constri reicht den Hörer an Derek weiter, der sich von mir beraten läßt. Seine schlecht heilende Operationswunde macht ihm Beschwerden.
"Na? Hast du gestern im 'Elizium' schön abgetanzt?" möchte Derek wissen.
"Ja", erzähle ich. "Und abgeschleppt."
"Wie?"
"Und abgeschleppt."
"Ah, höre ich da richtig?"
"Jaa."
"Aaha. Kann ja nur einer sein, ne?"
"Ja."
Als ich vom Telefonieren komme, sitzt Rafa auf dem Sofa und guckt ein wenig verwirrt. Ich kuschle mich an ihn und frage:
"Na? War's richtig, daß ich dir keine Decke gegeben habe?"
"Jja."
"Weißt du, du hast nämlich gesagt: 'Nichts auf mir drauflegen. Nichts auf mir drauflegen.' Und da habe ich auch nichts auf dich draufgelegt, weder mich noch eine Decke."
"Jja", sagt Rafa und lächelt ein wenig. "Jetzt hab' ich den Termin verschlafen. Warum hast du mich nicht geweckt?"
"Ich hab' dich doch geweckt. Ich hab' gesagt:
'Wenn du jetzt nicht aufwachst, verpaßt du den Zug.'
Und du: 'Hm.'
'Und willst du denn den Zug verpassen?'
'Hm.'"
Er lacht, als er das hört.
"Ja, da konnt' ich dich ja nicht wecken", erkläre ich. "Da mußte ich dich ja weiterschlafen lassen."
"Na, toll, jetzt hab' ich den Termin verpaßt. Jetzt komm' ich echt in Teufels Küche."
"Ach, da bist du doch sowieso jetzt schon", tröste ich.
"Los!" befiehlt er. "Zieh' dich an! Zieh' dich an!"
"Ach, ich möchte noch so ein bißchen mit dir sitzen."
"Nun komm'. Nun zieh' dich an."
"Aber danach möchte ich dich weiterstreicheln."
"Nein."
"Dann muß ich dich jetzt noch streicheln."
Ich lasse mir Zeit damit, ins Bad zu gehen. Viel muß ich nicht tun; ich schminke mich nur über und binde mein Haar neu.
Rafa klagt über Hunger.
"Wir könnten doch etwas essen", schlage ich vor.
"Nein, nein. Ich muß los."
"Ach, jetzt ist doch egal, wann du nach Hause kommst."
"Nein, nein. Ich muß unbedingt los. Hast du eine Plastiktüte?"
"Ja, sicher."
Ich bringe ihm eine und frage:
"Ist die groß genug? Sonst habe ich auch noch eine andere."
"Woll'n mal sehen."
Er legt sein verknülltes Kleidchen zusammen.
"Oh, dann reicht die nicht aus", meine ich, als ich sehe, was er in die Tüte stecken möchte. "Muß ich dir eine größere geben."
"Nnein. Das reicht."
Die Tüte reicht wirklich.
Rafa nimmt das Haargummi mit ins Bad, das ich ihm gegeben habe. Carl fragt mich leise, ob er ins Bad gehen kann, und ich deute an, daß es besetzt ist. Carl trinkt etwas in der Küche. Rafa schafft es doch noch, sein Haar zu einem Pferdeschwanz zu binden, auch wenn dieser recht fransig aussieht. Rafa fühlt sich von meinem großen Flurspiegel angezogen; er zupft sich davor das Haar zurecht.
"Oh ... schade, daß ich dich nicht fotografieren darf", bedaure ich.
"Nein", sagt er unbeirrt.
"Ich darf dich nicht fotografieren, ne?" versichere ich mich.
"Nein."
"Wann darf ich dich denn mal fotografieren?"
"Morgen."
"Ha, von wegen 'morgen'! Wie denn 'morgen'?"
Rafa sieht Carl in der Küche.
"Hallo", grüßt er Carl in seiner knappen Art, die seine Unsicherheit verbergen soll.
"Hallo", sagt auch Carl, vor dem er seine Unsicherheit nicht verbergen kann.
Rafa geht zur Wohnungstür.
"Nun!" winkt er mir.
"Darf ich noch meinen Mantel anziehen?" bremse ich. "Sonst friere ich nämlich."
Als wir auf den Bürgersteig kommen, wedelt Rafa mit seinem verknitterten Talar herum. Er sieht an sich herunter und lacht:
"So - schlotter!"
Er könnte wirklich als Nachtgespenst gehen, das einer staubigen Gruft entstiegen ist.
"He, faß' mich nicht immer so an!" ruft er böse, als ich nach seinem langen, weiten Ärmel greife. "Zieh' nicht immer so an mir 'rum, Mann! Zieh' nicht immer so an mir 'rum!"
"Es ist so schade, daß ich dich nicht noch länger anfassen kann. Während du geschlafen hast, konnte ich dich ja nicht anfassen. Ich würde dich gerne noch länger anfassen."
Ich muß ihn immer ansehen und lächeln. Es stört mich sehr, daß er mir so nah ist und ich ihn nicht umarmen kann.
"Was 's' los?" fragt er.
"Ach, nichts ist los. Hast du denn wenigstens gut geschlafen?"
"Geht so."
"Geht so?"
"Ich konnte ganz gut Alkohol abbauen."
Etwas später fragt Rafa:
"Wie weit ist es noch zum Automaten?"
"Ungefähr ... zwölf Minuten."
"Ich hab' schlechte Laune. Schick."
"Ah, du hast schlechte Laune?"
"Ja. Ich bin betrunken, ich bin müde, ich hab' den Termin verpaßt ..."
"Und das alles wegen mir."
"Nein. Ich hab' den Termin verpaßt, weil ich schlafen mußte. Wenn ich schlafen muß, muß ich schlafen. Betrunken war ich auch nicht wegen dir."
"Diesen Weg gehe ich immer zum Einkaufen", erzähle ich.
"Wie lange dauert das noch bis zum Automaten?"
"Sieben Minuten."
"Ist da auch eine Sparkasse?"
"Ja, da ist eine Sparkasse. Da ist eine Commerzbank, eine Deutsche Bank und eine Sparkasse."
"Ich brauch' nur eine Sparkasse. Wie lange braucht das Taxi zum Bahnhof?"
"Zehn Minuten. Ja, man kann auch mit der Bahn von da aus fahren. Das dauert auch nur zehn Minuten."
"Nein, nein, ich nehm' ein Taxi."
"Am 16. bin ich in BO.", kündige ich an.
"Wie heißt die Stadt, wo du hier wohnst?" fragt Rafa.
"Bc."
"Wo ist das hier in der Stadt? Im Norden?"
"Nein, im Osten."
"Das ist ja noch blöder."
Bc. liegt von der Stadtmitte aus in der entgegengesetzten Richtung wie SHG. Das scheint Rafa zu stören.
"Du, das ist hier ganz zentrumsnah", werbe ich für Bc. "Das sind zehn Minuten bis zum Zentrum ... trotzdem ruhige Lage."
"So, wie weit ist das jetzt noch zum Automaten?"
"Drei Minuten."
"Wie lange braucht das Taxi nochmal zum Bahnhof?"
"Zehn Minuten. Vielleicht auch fünf oder sieben ... Ich habe ja leider gar kein Geld für ein eigenes Auto. Mein Daddy hat mit mir schon über den Führerschein geredet. Vielleicht habe ich ja irgendwann Geld, um ihn fertigzumachen."
"Irgendwann brauch' ich auch mal ein eigenes Auto", sagt Rafa.
Ich frage mich, wie weit dieses "irgendwann" noch für ihn entfernt ist.
"Morgen ... wie soll ich dich überhaupt morgen fotografieren?" nehme ich Bezug auf sein Angebot.
"Das war'n Spruch", meint er.
"Dacht' ich's mir doch. Was soll das auch sonst sein als ein Spruch?"
Rafa entdeckt ein Fachwerkhaus mit spitzem Giebel, das ein wenig verwunschen aussieht.
"Das ist schick, dieses Häuschen", sagt er und lacht, als er erkennt, daß das Haus doch nicht so klein ist. "Häus-chen ..."
Wir kommen zu einer Kreuzung.
"Wir müssen noch über drei Ampeln, die alle drei", sage ich.
"Ja, dann gehen wir doch gleich hier über die Straße."
"Ja, das mache ich sonst auch."
"Oh, ich habe Hunger", klagt Rafa. "Ich habe Hunger."
"Wir hätten bei mir etwas essen können."
"Was hättest du denn gehabt?"
"Pflaumenmus ..."
"Pflaumenmus, na ja ..."
"Guck', hier ist ein Taxi."
"Und das ist frei", sagt er mißtrauisch. "Na, warum sollte das nicht frei sein, wenn es da steht?"
Er holt sich Geld. Als er es eingesteckt hat und wir uns auf den Weg zum Taxistand machen, sieht er mich kurz an und macht große Telleraugen.
"Mann, dieser unbeschreibliche Blick", sage ich lächelnd.
"Was 's' los?" fragt er. "Was 's' los?"
"Ach, nichts ist los. Gar nichts."
Wieder klagt er über Hunger.
"Wir hätten etwas essen können", sage ich.
"Ach, nein", entgegnet er.
Wir kommen zum Taxistand.
"Noch ... vielen Dank für die Beherbergung", sagt Rafa artig.
"Na, das war ja ein bißchen mehr als nur Beherbergung", erwidere ich lachend.
"Ja, was denn?" stellt er sich ahnungslos.
"Ach, das wissen wir doch beide", sage ich und taste nach seinem kräftigen Handgelenk. "Ich bin herzlich froh, daß du bei mir gewesen bist."
Am liebsten würde ich ihn unaufhörlich streicheln.
"Was, was is', was is'?" tut Rafa erstaunt, als ich gemeinsam mit ihm auf das Taxi zugehe.
"Ich bring' dich noch zur Tür", erkläre ich.
Dann stehen wir vor der offenen Beifahrertür, und er fragt wieder:
"Ja, nun, was is', was is'?"
Er dreht sich noch einmal zu mir um und umarmt mich kurz.
"Also, denn - mach' was", sagt er zum Abschied.
"Bis bald", sage ich.
Das Taxi fährt an mir vorbei. Rafa lächelt mir zu. So hat er mir auch Ende Januar in der Hall zugelächelt, als er zu seinem Stück vom strahlenden Helden tanzte. Er gibt sich ganz geschäftsmäßig. Vielleicht könnte er sich sonst gar nicht von mir verabschieden ...
Carl und ich hatten uns längst abgesprochen und uns darauf eingestellt, daß ich Rafa eines Nachts mit heimbringen würde. Carl ist bis zum Schluß im "Elizium" geblieben, damit Rafa und ich möglichst lange allein in der Wohnung sein konnten.
"Als der da war, da hat man richtig die Unsicherheit gefühlt, die der um sich verbreitet", sagte Carl beim Abendbrot. "Man hat die Spannung in ihm gefühlt."
Von Malda hörte Carl:
"Siddra hat gesagt, Rafa hat vor ihr gekniet!"
Das fand Siddra wohl sehr eigenartig. Rafa hat ihr gegenüber theatralische Gesten gemacht und das Podest wie eine Bühne verwendet. Ich stand in der Nähe, und das wußte er. Wahrscheinlich hat er mir diese kleine Vorstellung gegeben, um mich abzuschrecken und mich glauben zu machen, er wolle von mir gar nichts.
Ich kann solche Auftritte nicht mehr ernst nehmen. In meinen Augen sind sie nur Zeichen seiner Furcht vor mir.

In einem Traum hat Rafa an eine große Rechentafel ":wumpscut:" geschrieben.

:wumpscut: alias Rudy R. gehört zur Electro-Industrial-Stilrichtung, macht aber auch getragenere Stücke. Seine Musik wirkt auf mich sehr gereift und anspruchsvoll. Könnte es sein, daß Rafa sich den Rudy R. eines Tages zum Vorbild nimmt?
Übrigens hat Ortfried Brinkus abgestritten, "Streß im Kopf" an meine Zimmerwand gekritzelt zu haben ... wer also war es dann?
Talis hat gehört, daß in England tatsächlich ein fünfjähriges Mädchen an einem epileptischen Anfall gestorben sein soll, als es ein Videospiel spielte. Allerdings, so meinte Talis, müsse man einem Kind kein solches Spiel geben, wenn die Anfallsneigung bekannt sei.

Ein Traum handelte von Asterix und Obelix. Asterix schwamm in der Dunkelheit durch ein großes Wasser, um eine Botschaft fortzubringen. Bald war er nahe daran, zu ertrinken, weil er nicht mehr weiterkonnte. Obelix verkleidete sich als Unterwassergott. Asterix erkannte ihn nicht, obwohl er immer noch seine gestreifte Hose anhatte und man immer noch seine roten Zöpfe sah. Obelix hielt Asterix über Wasser und gab ihm die Kraft, zurück ans Ufer zu schwimmen. Dann legte Obelix heimlich die Verkleidung ab. Er kam Asterix an Land entgegen und tat, als sei nichts gewesen. Asterix blieb in dem Glauben, ein Unterwassergott habe ihn gerettet. Die Botschaft, die er hatte wegbringen sollen, war beim näheren Hinsehen gar nicht besonders wichtig.

Als Obelix den Asterix packte, hielt er ihn so, wie Rafa mich im Bett umschlungen hat. Davon kann ich ableiten, wer in diesem Traum wessen Rolle spielte.
Rafa rettet mich und macht ein Geheimnis daraus.
Im Fall "Sockenschuß" hat er das auch schon getan. Der Sockenschuß läßt sich kaum noch irgendwo sehen. Malda hat Carl erzählt, daß der Sockenschuß inzwischen in einem Obdachlosenheim in einem berüchtigten Stadtrandviertel lebt. Der Sockenschuß soll vorhaben, nach BI. überzusiedeln. Außerdem soll er angekündigt haben:
"Ich mache demnächst eine Techno-Disco auf, und dann gehen alle aus dem 'Elizium' da hin, und keiner geht mehr ins 'Elizium'."
Und er soll behauptet haben:
"Im 'Elizium' sind lauter Nazis. Die Nazis haben Geld dafür bezahlt, daß sie 'reindürfen."