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Die Lilie
Als Maleen die Wohnungstür öffnete, stand ihre Freundin Griseldis im Treppenflur, ein Hauskaninchen auf den Händen tragend.
"Das habe ich an der B8 gefunden", erzählte Griseldis. "Es hat wohl jemand ausgesetzt."
Sie bat Maleen, es ihren eigenen Kaninchen zur Gesellschaft zu geben.
"Weshalb nimmst du es nicht?" fragte Maleen. "Du hast doch kein Tier?"
"Es täte mir leid", seufzte Griseldis. "Es wäre so viel allein."
"Wie eine Madonnen-Lilie siehst du aus", fand Maleen, "mit deinen langen blonden Locken. Du bist von solcher Sanftmut, an dir ist so gar nichts Böses."
"Ich habe wieder einen Freund", berichtete Griseldis zögernd. "Nach Eric."
"Wer ist es denn?"
"Du weißt doch, auf der Vernissage."
"Wer?"
"Er heißt Zino."
"Ach ... der ist doch viel älter als du."
"Ja, er ist fast doppelt so alt, fast fünfzig. Aber er ist so wunderbar."
"In jeder Hinsicht?"
"Ach, ich kann es gar nicht beschreiben. Diese Art, die er an sich hat ... diese Ausstrahlung ... ich kann noch gar nicht fassen, daß er ausgerechnet mich wollte ..."
"Weshalb sollte er dich nicht wollen?" war Maleen erstaunt. "Du warst doch schon immer unser Engel, schon damals in der Schule."
Als Kind war Griseldis besonders folgsam gewesen und galt als Vorbild für ihre Geschwister und Mitschüler.
"Sieh zu, daß du es den Leuten recht machst", sagte ihre Mutter. "Sei ein gutes Kind."
Und Griseldis wollte gut sein. Sie hörte im Unterricht zu und antwortete, wenn sie gefragt wurde. Sonst meldete sie sich nicht. Sie kam nie zu spät, hatte stets ihre Hausaufgaben gemacht und schrieb ordentlich.
Als Griseldis kurz vor der Konfirmation mit ihrem ersten Freund zusammenkam, hatte die Ehe ihrer Eltern schon seit zwanzig Jahren Bestand. Griseldis bewunderte ihren Vater, der eine gehobene Position bekleidete und selten zu Hause war.
"Wie hast du es damals nur geschafft, ihn zu heiraten?" fragte sie ihre Mutter.
"Die Jungen fanden mich alle toll", erzählte die Mutter, "und dein Vater, der war ... eben keiner, der mich einfach so verehrte. Den mußte ich erst erobern und verführen."
"Wie verführe ich denn einen Mann?"
"Das Wichtigste: Tu alles, was ihm gefällt, und wenn du das besser kannst als die anderen, bevorzugt er dich. Du mußt ahnen, was er will. Du mußt lernen, es ihm von den Augen abzulesen. Dann bist du für ihn die vollkommene Frau."
Als Griseldis Maleen besuchte und nach ihrem Kaninchen sah, wunderte sich Maleen:
"Du hast dir die Haare rot getönt, Griseldis?"
"Zino hat gesagt, ich würde toll aussehen mit roten Haaren."
"Und, wie findest du es?"
"Ist richtig mal was anderes, was Besonderes."
"Wäscht sich das wieder 'raus?"
"Na ja ... irgendwie ... Zino hat gemeint, so blond, das sieht irgendwie so naiv aus, so nach Engelchen, eben unbedarft. Rot, das ist interessant und verführerisch."
"Will der dich nicht so, wie du bist?"
"Oh, er hat gesagt, ich bin die vollkommene Frau!"
"Du hast doch blaue Augen ...?"
"Grüne Kontaktlinsen. Er findet grüne Augen so ... geheimnisvoll."
"Will er dich heiraten?"
"Er hat gesagt, er will wieder heiraten."
"Dich?"
"Ich hoffe, daß wir heiraten."
"Wollt ihr Kinder?"
"Nein, das ist nicht geplant. Er hat zwei aus seiner geschiedenen Ehe, das reicht ihm. Für die muß er nämlich noch zahlen."
"Und wenn das nicht so wäre? Würdest du Kinder wollen?"
"Was ich vor allem will, ist, daß wir zusammenbleiben und daß ich ihm nicht zu langweilig werde."
"Du glaubst, du wirst ihm langweilig?"
"Nein, er betet mich an. Aber er ist so ein faszinierender Mensch, und ich ..."
Maleen nahm ein Buch aus dem Regal und reichte es Griseldis. Es hatte den Titel:
"Die magische Ausstrahlung - Auch Sie können verzaubern!"
"Das habe ich aus einem Esoterik-Laden", erklärte Maleen. "Es hat aber nichts mit Hexerei zu tun. Da steht drin, wie man in einzelnen Schritten lernen kann, spontan und spritzig und natürlich aufzutreten."
Als Griseldis von ihrer Schwangerschaft erfuhr, war es bereits zu spät, um etwas zu unternehmen. Ein halbes Jahr verbrachte sie im Ausland. Sie versprach sich davon bessere Zukunftschancen. Ihr Studium ging zu Ende, und sie wollte sich durch Zinos Beziehungen helfen lassen. Sie telefonierte während dieser Zeit viel mit Zino und auch mit ihren Eltern und ihren Freunden. Ihre Mutter fand, daß Griseldis etwas verändert wirkte, führte das aber auf die fremde Umgebung zurück.
Griseldis fand stets eine Begründung, um sich nicht besuchen zu lassen. Sie ging davon aus, daß Zino sie betrog, wagte aber nicht, nachzuforschen. Sie befürchtete, daß er sonst vielleicht verlangen konnte, sie zu sehen.
Kurz vor der Entbindung kehrte Griseldis zur Nachtzeit in ihre Heimat zurück. Sie verschwieg ihre Anwesenheit und verließ die Wohnung erst wieder, um mit dem Taxi zum Krankenhaus zu fahren.
"Es ist Zinos Kind", dachte sie, "aber er darf es niemals wissen."
Einige Tage später kam Griseldis wieder nach Hause. Sie trug ihr Kind in eine Decke gehüllt nach drinnen. Dann legte sie es in eine hölzerne Kiste und verschloß den Deckel. In ihrem Kleiderschrank suchte sie nach den schönsten Abendkleidern und Negligés und machte sich einen Koffer zurecht. Es war schwierig, Kleider zu finden, die ihr noch paßten. Mit ihrem Koffer setzte Griseldis sich ins Flughafen-Bistro und rief Zino an.
"Du mußt mich jetzt sehen", sagte sie weich.
"Jetzt?" fragte er. "Es ist halb eins in der Nacht."
"Ich bin im Flughafen", erzählte sie mit brüchiger Stimme. "Ich bin wieder da. Du mußt mich sehen."
"Wir haben uns ein halbes Jahr lang nicht gesehen. Da kommt es doch nicht auf ein paar Stunden an."
"Ich weiß nicht, ob du mich noch liebst."
"Weshalb sollte ich dich nicht mehr lieben?"
"Ich habe mich verändert. Ich wollte es dir schon länger sagen. Ich sehe nicht mehr so aus, wie du mich kennst. Ich habe nicht mehr dieselbe Figur."
"Und du meinst, ich liebe dich deshalb nicht mehr?"
"Komm' zu mir", bat Griseldis. "Laß' uns ganz weit wegfliegen und alles um uns herum vergessen."
"Jetzt? Um diese Zeit?"
"Du hast eine andere, stimmt's? Ich fühle es."
"Ein halbes Jahr lang habe ich auf dich gewartet, dich vermißt, und du glaubst, daß ich eine vollkommene Frau wie dich so einfach ersetzen kann."
"Laß' uns irgendwohin fliegen ..."
"Wie soll ich denn so eben mal meine Verpflichtungen absagen? Das sind Termine, die muß ich einhalten."
"Nur für mich, Zino. Nur für mich und für uns."
Als Griseldis nach fünf Tagen wieder in ihre Wohnung kam, war es still in der Kiste. Sie brachte die Kiste fort, in einen anderen Stadtteil, und warf sie in einen Container.
"Wir können es nicht glauben", stand zwei Tage später in der Zeitung, unter einem Foto der Eltern von Griseldis. "Das ist nicht unsere Tochter. Griseldis tut so etwas nicht."
Maleen war erlaubt worden, Griseldis in der Untersuchungshaft zu sehen.
"Zino hat gesagt, er liebt mich noch", berichtete Griseldis. "Aber ich glaube ihm nicht. Henriette hat ihn gesehen mit einem sehr jungen Mädchen mit schwarz gefärbten Haaren. Henriette kennt das Mädchen, das steht voll auf Zino."
Griseldis wollte an der Beerdigung nicht teilnehmen. Maleen brachte weiße Madonnen-Lilien zum Grab.
Ein halbes Jahr später wurde das Urteil geprochen, eine lebenslange Freiheitsstrafe.
"Was hat man mir angetan?" schluchzte Griseldis.
"Und was haben Sie Ihrem Kind angetan?" fragte der Richter.
"Es war noch so klein", sagte Griseldis stockend. "Da fällt es doch nicht so auf, wenn es fehlt."
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