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Das Treppenhaus
... befand sich in einem vierzehn Stockwerke hohen Gebäude aus Beton, entstanden in einer Zeit, als größtmögliche Schlichtheit und Schmucklosigkeit mit Fortschrittlichkeit gleichgesetzt wurden. Mittlerweile schrieb man das Jahr 1979, doch in diesem Gebäude schien die Zeit irgendwann in den sechziger Jahren stehengeblieben zu sein. Der klotzförmige Bau wurde von einer Behörde genutzt, dennoch wirkte er leer und verwaist. Danielle irrte auf Waschbetonwegen mehrmals um das Gebäude herum, ehe sie den Eingang fand. Mit ihren dreizehn Jahren fühlte sie sich eingeschüchtert durch die langen, kahlen Flure, die von der Eingangshalle abzweigten. Hier drinnen war es so dunkel, daß die Türen in der Halle kaum zu erkennen waren. Danielle drückte auf die Klingel am Sims der Pförtnerloge. Wie ein grauer Schatten kam der Pförtner aus einer Nische hervor und trat an die Sprechluke.
"Was willst du denn?" fragte er.
"Danielle Gardain heiße ich", antwortete sie, "und ich sammle Material für ein Referat. Deshalb habe ich einen Termin in Zimmer 7092."
"Den Flur bis hinten durch und mit dem Aufzug in den siebten Stock."
Nach der dritten gläsernen Flügeltür stand Danielle vor dem Aufzug. Ein Papierbogen war darangeklebt mit der Aufschrift "Defekt". Danielle ging durch eine weitere Flügeltür und kam ins Treppenhaus. Fenster gab es hier nicht, nur Leuchtröhren, die ein kaltes, müdes Licht verbreiteten. Das Treppenhaus war ganz und gar grau gekachelt und erinnerte an ein Schwimmbecken. Danielle stellte sich vor, das Treppenhaus wäre mit Wasser gefüllt, bis hinauf in den vierzehnten Stock, und sie sollte im Schwimmunterricht bis auf den Grund tauchen.
Danielle war schon im dritten Stockwerk angekommen, als sie sich zu wundern begann, weshalb hier noch immer keine Tür kam. Sie drehte sich um und stellte fest, daß alle Stufen hinter ihr verschwunden waren. Nur die Stufen, die weiter nach oben führten, waren noch da. Danielle stieg zögernd eine weitere Treppenstufe hinauf und dann noch eine; sie ging rückwärts und sah, wie sich die Stufe auflöste, auf der sie eben noch gestanden hatte, und mit ihr der zugehörige Teil des Geländers. Danielle betrachtete den Absatz des dritten Stockwerks; darunter lagen die Absätze des zweiten und ersten Stockwerks. Ansonsten war das Treppenhaus unter ihr leer, auch die Absätze auf halber Höhe zwischen den Stockwerken waren fort. Und die Absätze der drei unteren Stockwerke hatten keine Geländer mehr.
"Zurück in den dritten Stock könnte ich springen", dachte sie, "aber nicht bis ins Erdgeschoß. Da breche ich mir die Knochen oder falle mich tot. Ich kann nur hoffen, daß es weiter oben eine Tür gibt und daß sie sich öffnen läßt."
Im siebten Stockwerk gab es endlich eine Tür in der Kachelwand, aus beschichtetem Stahl, wie eine Heizraumtür. Sie war abgeschlossen. Danielle schlug dagegen, es öffnete aber niemand, und dahinter war auch nichts zu hören.
Danielle setzte sich auf den Boden und tastete in die Leere unter ihr, um herauszufinden, ob die Treppen wirklich fort waren oder nur unsichtbar. Sie waren wirklich fort.
"Schau immer nach vorn", stand in Danielles Poesiealbum.
"Vielleicht ist hier die einzige Tür, und weiter oben gibt es keine mehr", dachte sie, "aber ich bekomme sie nicht auf, und es ist auch niemand da, der mir öffnet."
Sie ging also weiter nach oben, an den Kachelwänden entlang.
"Manchmal gibt es auch in der Ausweglosigkeit einen Ausweg", ging ihr durch den Sinn, "aber nur einen einzigen: man wacht auf."
Sie machte sich bewußt, daß das Verschwinden von Treppenstufen nicht mit der ihr bekannten Realität vereinbar war.
"Es kann sein, daß ich in einem Traum gefangen bin", überlegte sie.
Stufe um Stufe stieg sie hinauf und wartete darauf, daß sie erwachte.
"Wenn es ein Traum ist", fragte sie sich, "was will er mir dann sagen? Was bedeutet er?"
Sie suchte in ihrer Lebensgeschichte nach Erfahrungen, die etwas mit diesem Treppenhaus gemeinsam hatten. Ihr fiel zuerst der Schwimmunterricht ein:
"Kalt und gefährlich."
Sie hatte beim Schwimmen nie Angst, unterzugehen. Doch sie stellte sich im Schwimmbad jedesmal vor, auf welche Weise jemand dort zu Tode kommen konnte - etwa indem man ihm nicht ermöglichte, an den Beckenrand zu gelangen und aus dem Wasser zu steigen ... oder indem man ihn mit einem Betongewicht an den Füßen ins Wasser warf, so daß er ertrinken mußte.
"Wie komme ich bloß immer auf solche Geschichten?" wunderte sie sich. "Das hat doch mit meinem Leben nichts zu tun."
Ihr kam ein Gedanke:
"Vielleicht ist mein Leben so unausgefüllt, daß ich schauerliche Geschichten erfinden muß, um Abwechslung zu haben."
Ihr bisheriges Leben fühlte sich so leer an wie das Treppenhaus unter ihr, und sie befürchtete, daß es in der Zukunft nicht anders wurde.
"Was werde ich verändern, wenn ich hier wieder herauskomme?" überlegte sie. "Was kann ich verändern?"
Ein Mensch, der den Tod vor Augen gehabt hatte, bekam dadurch vielleicht mehr Mut, sich gegen herrschsüchtige Erwachsene aufzulehnen und sich gegen hämische Mitschüler zu verteidigen. Die Todesgefahr, in der Danielle schwebte, ließ die Lehrer, Eltern und Mitschüler zu unbedeutenden Gegnern werden.
"Ihr seid mir allesamt egal", dachte sie. "Es geht um mich und mein Leben, sonst um nichts."
Danielle zeichnete gerne Bilder von einer Welt, in die sie sich hineinwünschte. Sie war in dieser Welt erwachsen und durfte über ihr Leben selbst entscheiden.
"Ach, wenn es schon so weit wäre", seufzte sie manchmal.
Sie zeichnete auch ihre Mitschüler, um sich später daran zu erinnern, wie ihre Kindheit gewesen war - und sich darüber zu freuen, daß sie vorbei war.
Danielle war gespannt, wie das oberste, das vierzehnte Stockwerk aussah. Hier würde die Entscheidung über Leben und Tod fallen, ob im Traum oder in Wirklichkeit.
"Wie soll das Stockwerk denn aussehen?" fragte sie sich. "Es könnte eine Tür haben, die keine ist, weil sie nur zu einem Schaltkasten führt. Es könnte eine Tür mit einem Fenster darin haben, das kann ich einschlagen, dann bin ich nicht davon abhängig, ob die Tür abgeschlossen ist oder nicht. Am besten wäre es, wenn es keine Tür gibt, sondern einen Mauerdurchbruch, der auf den Flur führt."
Danielle war noch damit beschäftigt, sich das vierzehnte Stockwerk vorzustellen, als der Traum zerfiel.
"Jetzt kann ich nicht mehr herausfinden, ob es im vierzehnten Stockwerk eine Tür gibt oder nicht", bedauerte sie. "Eines weiß ich aber, und ich darf es nie vergessen: Der Traum war grausiger als die Wirklichkeit, er war grausiger als die Wirklichkeit, viel grausiger ..."
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