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Zinnia
... war der Blickfang der Vernissage, kalt und schön wie ein Herbstmorgen, wenn der Nebel wie Watte in den Senken liegt, rosig von den ersten Sonnenstrahlen, und der Geruch nach feuchter Erde hochsteigt wie von einem frischen Grab. Zinnia trug eine Corsage aus altrosa Seidenrips, verziert mit braunen Samtlitzen und bestickt mit Blumenranken. Unter ihrem langen weiten Rock aus feinem rostbraunem Tüll schimmerte ein Rock aus altrosa Waschseide hindurch. Der Tüll war mit Satinröschen in Altrosa und Braun bestickt. Solche Röschen waren auch in Zinnias Frisur befestigt. Sie trug ihr kupferfarbenes Haar aufgesteckt und mit feinen Zöpfchen drapiert. Zinnias Halsband war aus braunem Samt und trug in der Mitte ein altrosa Satinröschen. Zinnia war hell und matt geschminkt, die Augen waren ummalt in lichtem Rosé und Rostbraun. Die Lippen schimmerten perlrosa.
Zinnias Aufgabe war nicht ihre eigene Anwesenheit. Ein Designer kleidete und schmückte sie und führte sie auf Veranstaltungen vor, wo er mit seiner Kundschaft rechnen konnte. Zinnia bewegte sich in den teuren Kostümen so natürlich, daß man meinen konnte, sie hätte ihr Leben lang nichts anderes angehabt, auch wenn sie es zum ersten Male trug.
Die Halle, in der die Vernissage stattfand, war beinahe rundum verglast. Draußen ließ die tiefstehende Sonne die kahlen Zweige blutrot aufleuchten. Die Bäume warfen lange Schatten über die im Rauhreif erstarrten Wiesen.
EIn morgendlicher Sektempfang, das war es, worauf Cato heute Lust gehabt hatte. Und dann Zinnia ... sie schaute ihn an, als wenn er ein Außerirdischer wäre, der nur für sie zur Erde gekommen war. Ein junger Mann im hellen Seidenanzug näherte sich ihr, hauchte ihr einen Kuß in den Ausschnitt und warf einen mißtrauischen Blick zu Cato herüber.
"Der ...", dachte Cato, "der glaubt wohl, sie gehört ihm. Das werden wir noch sehen."
Junge Mädchen brachten Tabletts mit Aperitifs. Zwischen den Gläsern flackerten Teelichte in eisernen Haltern.
"Darienne ist der Aperitif", dachte Cato, "und Zinnia ist der Hauptgang."
Er freute sich, daß Darienne nicht hier war. Darienne war Fotomodell, ebenso wie Zinnia, doch bewegte sie sich nicht in Zinnias Kreisen, weder in beruflicher noch in finanzieller Hinsicht. Cato fand die eben erst volljährige Darienne entzückend. Darienne schwieg, wenn er redete, und sagte auch sonst nicht viel. Sie schrieb aber mit einem rosafarbenen Stift seitenlange Schwärmereien über Cato in ihr Diarium und scannte die Seiten ein, um sie in ihrem Weblog online zu stellen. Sie malte rosa Sternchen, rosa Herzchen und ineinander verschlungene Ringe. Cato nannte sie "meine Frau", und sie fühlte sich mit ihm verheiratet.
"Es ist so einfach mit Darienne", dachte Cato. "Man muß ihr nur ein paar Nettigkeiten erzählen, und sie glaubt, sie lebt mit einem Märchenprinzen in einem Schloß aus rosa Zuckerwatte."
In Gedanken verglich Cato Darienne mit Zinnia. Er fand, Darienne sah perfekt aus, aber sie hatte nicht Zinnias unterkühlten Charme, den Charme eines Vamps, dem die Welt und die Menschen egal sind.
Cato fand, all die jungen Mädchen, die Aperitifs und flackernde Teelichte auftrugen, sahen anmutig und lieblich aus. Mit einem dieser Mädchen hatte er vor einiger Zeit ein Verhältnis gehabt; sie redete aber nicht mehr mit ihm, seit er sie betrogen hatte. Sie hieß Dolly und hatte blondes Haar und ein so ebenmäßiges Gesicht, daß Cato es sich kaum merken konnte, gerade wie bei einer Schaufensterpuppe.
"Die meisten Frauen wollen, daß ich ihnen etwas verspreche", dachte Cato. "Es hat ja auch etwas für sich, wenn sie mich anbeten und glauben, ich sei ihr strahlender Held. Ein wenig Abwechslung könnte aber nicht schaden."
Zinnia schickte den jungen Mann im hellen Seidenanzug fort, indem sie ihm erzählte, er müsse sie bei einem geschäftlichen Termin vertreten. Dann setzte sie sich vor einer der großen Fensterscheiben auf ein zierliches Sofa. Cato ging wie zufällig an ihr vorbei und fragte, ob sie wüßte, wann das Buffet eröffnet wurde.
"Hast du denn schon Hunger?" fragte Zinnia und klopfte mit ihrer Hand neben sich auf das Sofa.
Als Cato sich zu ihr setzte, hatte er das Gefühl, von glutroten Sonnenstrahlen eingehüllt zu werden. Mit seinen Lippen tastete er nach Zinnias Schulter und versank in dem Duft ihres Parfüms.
"Gibt es Ärger für dich, wenn dein Freund das mitkriegt?" fragte er.
"Die Leute wissen, daß es sie nichts angeht", erwiderte Zinnia.
Als Cato nach Hause kam, saß Darienne an seinem Rechner und spielte ein Spiel, in dem es darum ging, Außerirdische zu erschießen. Darienne unterbrach das Spiel, stand auf und sagte:
"Dolly hat mich angerufen. Du hast was mit dieser ... Zinnia."
"Und das glaubst du auch, was Dolly dir erzählt", sagte Cato leichthin.
"Dolly hat serviert bei diesem Empfang bei der Vernissage, und sie hat dich gesehen, dich und diese ... Zinnia."
"Und jetzt glaubt sie, ich hätte was mit der. Zinnia hat zufällig einen Freund."
"Das ist dir egal, und das ist ihr egal", schrie Darienne. "Dir ist ja auch egal, daß du eine Freundin hast."
"Das ist mir nicht egal."
"Du lügst!" schrie Darienne und weinte. "Du lügst, du lügst, du lügst!"
Cato schätzte, daß er sie eineinhalb Stunden lang küssen, umarmen und ihr seine Liebe beteuern mußte, ehe sie ihm wieder vertraute. Nachdem er sie eineinhalb Stunden lang geküßt, umarmt und ihr seine Liebe beteuert hatte, schien sie ihm wieder zu vertrauen. Sie lächelte und zündete sich eine Zigarette an.
"Hast du das Gästebuch fertig?" fragte sie. "Für unsere Homepage?"
Cato zeigte ihr am Rechner, wie weit er damit gekommen war.
"Das ist wie letzte Woche", bemerkte Darienne.
"Nein, die Grafik da oben", entgegnete Cato, "die ist neu. Guck' mal, da sind lauter Sterne, die schweben über den Balken, nach dem Zufallsprinzip."
"Dann mache ich weiter mit der Foto-Seite", beschloß Darienne.
"Dann will ich dich mal nicht stören", sagte Cato.
"Wo gehst du hin?" wollte Darienne wissen.
"Ich denke, du vertraust mir", sagte Cato mit Verwunderung in der Stimme. "Vertrauen ist doch das Wichtigste in einer Beziehung."
Zinnia empfing Cato in einem durchsichtigen Negligé aus schwarzem Chiffon. Sie wohnte in einem Atelier, hoch oben in einem ehemaligen Fabrikgebäude, das hergerichtet war für Designer und Firmenverwaltungen. Zinnias Wohnzimmer war kaum möbliert. Das Bett in der Mitte hing an Drahtseilen.
Für Zinnia schien Geld nichts zu bedeuten. Um ihren Haushalt kümmerte sich das Personal, und sie mußte nicht einmal ihr Auto selbst aus der Garage fahren.
Cato konnte sich erst seit zwei Jahren teure Kleider und einen teuren Wagen leisten. Das wußte Zinnia nicht. Cato erzählte ihr nichts von dem Kampf um seine Firma und den Auseinandersetzungen mit dem Finanzamt. Zinnia fragte auch nicht nach seinen Lebensumständen und wollte nicht einmal wissen, ob er liiert war. Sie schien aus Langeweile ein Verhältnis mit ihm zu beginnen. Cato gefielen ihre Eleganz und ihr Desinteresse an Versprechen und Verbindlichkeiten.
"Oh, eine SMS", sagte Cato, als er sein Handy wieder einschaltete.
"Von meinem Freund habe ich auch eine SMS gekriegt", berichtete Zinnia. "Er wartet im Suite-Hotel auf mich. Ich finde, er kann noch ein bißchen warten."
Cato hatte eine SMS von Dolly erhalten. Sie bat ihn, sie anzurufen.
"Was verschafft mir die Ehre?" meldete Cato sich bei Dolly.
"Dariennes Ex-Freund Ferry hat dich bei Zinnia ins Haus gehen sehen", erzählte Dolly. "Und er hat Darienne bescheidgesagt. Und dann ..."
"Was 'dann'?" wurde Cato ungehalten.
"Dann hat Darienne mir eine SMS geschickt: 'Ich kann nicht mehr.'"
"Und warum erzählst du mir das?"
"Weil Darienne danach ihr Handy ausgemacht hat, und ich konnte sie nicht mehr anrufen", schluchzte Dolly. "Und gerade jetzt hat die Mutter von Darienne mich angerufen."
"Immer diese Frauen, die sich untereinander ... und diese Leute, die mich nicht in Ruhe lassen können ... das nervt echt so ... du hast echt keine Ahnung, wie mir das auf die Nerven geht."
"Darienne ist tot. Sie ist vor den Zug gelaufen, der hinter ihrem Haus langfährt."
"Na ... daran kann ich doch nichts mehr ändern. Wer meint, er muß sowas machen, macht es."
Cato klappte sein Handy zu.
"War was?" fragte Zinnia vom Bett her.
"Nichts", antwortete Cato. "Nichts ist."
Er suchte in seinem Inneren nach Trauer und Mitgefühl, fand aber nichts dergleichen, und das beruhigte ihn. Es war ein gutes Gefühl, nichts zu fühlen.
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