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Wie aus dem Nichts erschien er in der Discothek "Elizium" vor mir und streckte mir seine Rechte hin. Ich konnte nicht viel mehr als seine Umrisse sehen, denn er stand mit dem Rücken zur Tanzfläche und im Gegenlicht. Zuerst fragte ich mich, ob ich überhaupt gemeint war. Ich blickte um mich; es war aber niemand in meiner Nähe. Der Mensch wartete geduldig, bis ich seine Hand ergriff. Er trug Handschuhe aus schwarzem Leder, und das gab mir das merkwürdige Gefühl, ein Kunstwesen anzufassen.
"Ein frohes neues Jahr", sagte er.
"Gleichfalls", antwortete ich etwas verwirrt.
Es war kurz nach Silvester, aber in meinen Augen war das nicht Anlaß genug, um auf Leute zuzugehen, mit denen man vorher nie zu tun hatte.
Der Mensch ging ein Stück um mich herum, und ich konnte sein Gesicht erkennen. Ich hatte ihn nie zuvor gesehen; davon war ich überzeugt. Er war mittelgroß und stämmig und hatte fremdartige Züge, etwas wie ein "X" im Gesicht. Unter seinen Augen trug er lang ausgezogene Kajalstriche. Die dunklen Haare hatte er sich bis über die Ohren rasiert und zu einem Zopf gebunden. Er trug ein schwarzes Stirnband. Sein weißes Hemd hatte einen Stehkragen, den eine Fledermausbrosche zierte. Die Jacke war schwarz, mit Metallknöpfen und lila Aufschlägen. Dazu hatte er Kniehosen und Strümpfe an und nadelspitze Schuhe.
"Ist das etwas für mich?" überlegte ich. "Eigentlich nicht; der Mann, nach dem ich suche, müßte kurze blonde Haare haben und schlichter gekleidet sein. Wozu ist dieser dann geeignet? Kann ich durch ihn vielleicht den Mann kennenlernen, der zu mir paßt?"
Nun hatte er mich einmal angesprochen, und da wollte ich auch ein wenig mit ihm plaudern.
"Was rauchst du da?" fragte ich.
"Indonesische Zigaretten. Weihrauch."
"Sowas rauchen die in Indonesien?" wurde ich neugierig.
"Ja. Tabak und so haben die da gar nicht."
"Das riecht gut. Wo kriegt man das?"
"Kriegt man hier überhaupt nicht. Ein Kumpel hat die von da mitgebracht. Hier, probier' mal."
"Ich weiß nicht", zögerte ich. "Ist da irgendwas drinne?"
"Nichts, nur Weihrauch. Los, probier'."
Ich nahm einen Zug und gab ihm die Zigarette wieder. Wir kamen auf Parties zu sprechen. Der Fremde lud mich zu seinem Geburtstag ein.
"Es ist unhöflich, wenn ich ihn nicht einlade", ging mir durch den Sinn.
Ich gab mir einen Ruck und lud ihn auch zu meinem Geburtstag ein.
"Das wird meiner Schwester gar nicht gefallen", dachte ich bei mir. "Vor Menschen wie dem da hat sie mich immer gewarnt."
Er war ein Schwarzgekleideter wie meine Schwester Constri und ich, aber von einer Sorte, die wir bislang gemieden hatten. Er gehörte zu den aufwendig verzierten "Pfauen" unserer Kulturszene, die sich nicht nur schön machen, sondern sich regelrecht kostümieren. Man sieht Nonnen und Huren unter ihnen, Priester, Vampire, Hexen, Bräute, Ritterfräulein, Leichen aus der Barockzeit und alles andere, was lebendig begraben oder wieder auferstanden sein kann.
So prächtig diese Leute anzuschauen sind, so ungenießbar sollten sie angeblich sein. Man sagte ihnen Oberflächlichkeit, Arroganz und Charakterlosigkeit nach. Es hieß, die männlichen "Pfauen" wären keinen Tag ohne Freundin.
"Die Parties bei mir sind kult", warb der Fremde. "Seit '91 geht das immer kultmäßig ab. Wir gehen auf den Friedhof und zerschlagen Sektgläser und trinken 'Dracula'."
"'Dracula'? Was ist das denn?"
"Ein Likör. Der enthält gar nicht soviel Alkohol, der ist nur so scharf gewürzt, das macht es. - Meine Parties gehen immer schon nachmittags los. Danach fahren wir nämlich noch ins 'Elizium'. Wie ist das - kommst du? - Natürlich. Du kommst."
Sein Bitten hatte einen seltsam verlangenden, flehenden Unterton. Ich bekam den Wunsch, ihm die Bitte zu erfüllen. Außerdem hoffte ich, auf der Party jemandem zu begegnen, in den ich mich verlieben konnte. Allerdings bestand die Gefahr, daß unter den Gästen auch Leute waren, die mir übelwollten. Es gab einen im "Elizium", der hieß Jochen Hockerfuß. Wir nannten ihn aber nur den "Sockenschuß". Der Sockenschuß hatte seit Jahren den Plan, mich zu erobern, und er versuchte es in so aufdringlicher Weise, daß ich nachts nie unterwegs sein durfte ohne Begleiter, die mich gegen ihn abschirmten.
"Wenn ich meine Freunde mitnehmen kann", machte ich dem "Pfauen" zur Bedingung. "Dreh' dich um. Die Leute am Tisch und auf dem Podest sind das alle."
"Drei", legte er fest. "Drei kannst du mitnehmen. - Übrigens, wenn du zu mir fährst, wirst du Geld los. Das ist in SHG. Die Fahrkarte für Hin und Zurück kostet zwanzig Mark."
Einen Tag vor der Party wollte er zur Electronic Body Music-Nacht in die "Halle" kommen.
"In der 'Halle' können wir alles Nähere besprechen", sagte er. "Ich gebe dir dann auch meine Adresse."
"In Ordnung ... nur - du müßtest dich dann genauso zurechtmachen wie jetzt", empfahl ich. "Sonst erkenne ich dich nicht. Ich kann mir keine Gesichter merken, wirklich nicht. Also denke daran."
Zwei Wochen später ging ich wie verabredet zur EBM-Nacht. Ich fand den Fremden dort nicht. Also beschloß ich, nach einem Menschen zu suchen, der ihm von der Statur und von den Zügen her ansatzweise ähnelte.
"Kennst du jemanden, der vorletzte Woche im 'Elizium' indonesische Zigaretten geraucht hat?" fragte ich den.
"Rafa", verriet er mir sogleich den Namen des fremden "Pfauen".
"'Rafa' ist doch bestimmt nur sein Rufname", dachte ich. "Das ist wohl eine Abkürzung von 'Rafael'."
"Der will morgen eine Party geben", erzählte ich, "und ich frage dich: Kann das sein, daß der den Sockenschuß einlädt?"
"Wer ist Sockenschuß?"
"Der widerliche Irre mit der John-Lennon-Brille."
"Ach -. Meinst du Jochen?"
"Genau, das ist der Sockenschuß. Sag' mal ... wie ist das ... glaubst du, der ist auf Rafas Party?"
"Der wird wohl da sein."
"Igitt", sagte ich angewidert. "Dann bin ich nicht da."
"Was hast du gegen den?"
"Der ist ein gefährlicher Irrer."
"Findest du? Ich kann nur sagen, wir verstehen uns."
"Oh ... ehem ... Was mach' ich nur ... ich wollte eigentlich schon zu Rafa zu der Party ... aber nicht, wenn der Sockenschuß da auch hinkommt ..."
Der Mensch konnte Abhilfe schaffen. Er lud mich samt meinen Freunden zu einer anderen Party ein, die am selben Tag wie Rafas Party stattfand. Er feierte in einem Wohnheim für Zivildienstleistende in Kth. Um dorthin zu kommen, mußten wir keine teuren Fahrkarten kaufen, und wir entgingen mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Sockenschuß.
Meine Freunde und ich fuhren also am nächsten Tag nach Kth., einem Dorf, das nur aus einem Irrenhaus besteht. Im Bus trafen wir zwei Schwachsinnige, die uns den Weg zum Wohnheim zeigten. In diesem Heim empfing uns ein Berg von Sperrmüll und Unrat. Außer einem DJ-Pult war nichts für die Party vorbereitet. Zu essen gab es auch nichts. Wir waren die ersten Gäste und langweilten uns. Schließlich kamen doch noch einige Leute, auch der Mensch, den ich in der "Halle" angesprochen hatte. Er nennt sich "Toro". Mit ihm und zwei Freunden von mir, Derek und Talis, fuhr ich erst einmal zur nächsten Tankstelle, um Essen zu kaufen. Ich nahm dort auch die Gelegenheit wahr, auf eine saubere Toilette zu gehen. Wer auf die Toilette im Wohnheim ging, kam mit großen Augen zurück und schüttelte den Kopf. Man flüsterte sich Einzelheiten zu wie "Deckel liegt hier, Brille liegt da" oder "Ich hab' mich draufgestellt". Constri und Talis' Freundin Rikka tranken, um sich bei Laune zu halten, und mußten öfter hingehen. Vorher machten sie sich gegenseitig Mut und ließen sich von mir mit Papiertaschentüchern versorgen. Ich kenne meinen Ekel vor Toiletten und trank außer einem halben Glas Cola nichts. Ich wollte unbedingt vermeiden, von ekelerregenden Erinnerungen heimgesucht zu werden. Bei Constri hatte der stille Ort tatsächlich Nachwirkungen. Ihr gegenüber durfte man später das Dorf Kth. nicht mehr erwähnen.
Ein kleiner Unfall ereignete sich auch noch. Ein Wecker fiel vom Kleiderschrank und einem Mädchen auf den Kopf. Er fing an zu klingeln. Toro nahm den Wecker, drehte die Klingelglocken zweimal herum und sagte:
"So, der hat zum letzten Mal geklingelt."
Gegen elf Uhr kam der Sockenschuß.
Ein "Nneinn!" ging durch unsere Gesichter. Es war, so fanden wir, nicht von der Hand zu weisen, daß ein Irrenhaus eine gewisse Anziehungskraft auf einen Geistesgestörten ausüben konnte. Dennoch versetzte uns sein Erscheinen in Schrecken. Und es versetzte uns in Aufbruchstimmung. Wir fuhren mit dem Bus in die Stadt zurück und gingen ins "Elizium". Das war weise. Die Musik gefiel mir in dieser Nacht ganz besonders gut. Ich tanzte und tanzte. Ich hatte zu meinem silbernen ärmellosen Oberteil einen Taftrock an, kurz, weit, schwarz und mit einer Schärpe. Es war bisher nicht meine Art gewesen, figurbetonende Kleider zu tragen und Haut zu zeigen. Doch seit Neuestem fühlte ich ein Bedürfnis nach Zierat, Ausschnitt und Schnürtaille.
Mitten im Tanzen hörte ich neben mir eine aufgebrachte Stimme:
"Wo warst du denn?"
"Ich habe dich in der 'Halle' nicht gefunden", sagte ich entschuldigend zu Rafa und griff nach seinem Revers.
"Ich war da!" versicherte er. "Unsere Party war witzig. Du hast echt was verpaßt."
"Erzähl' es mir gleich", bat ich. "Erzähl' es mir unbedingt - wenn ich fertig bin mit Tanzen."
Am Ende eines Liedes stellte ich mich an den Rand der Tanzfläche und sah mich um nach Rafa. Er kam, als eben das nächste Lied anfing, und sagte vorausahnend:
"Sag' bloß, du willst tanzen. Sag' bloß, du willst zu dem Lied tanzen."
"Nicht gerade zu dem hier", beruhigte ich ihn. "Erzähl' mir von der Party."
Er erzählte nicht viel mehr, als daß es wieder "kultig" gewesen sei.
Rafa und ich tanzten miteinander zu einem Stück, das ich nicht kannte. Ich fragte Rafa nach dem Titel. Er hatte sogar die CD dabei, auf der sich das Stück befindet. Es heißt "Eine neue Zeit" und ist vom Liederkranz.
"Kannst du mir das aufnehmen?" fragte ich.
"Das kann ich."
"Können wir das so machen - ich gebe dir eine Kassette ... oder du mir die CD ..."
"Wie?" fragte Rafa verständnislos. "Ich schlage vor, du kommst zu mir, und wir machen uns einen schönen Abend!"
"Doch, das wäre mir recht", erwiderte ich nachdenklich. "Ich müßte deine Adresse haben und dir meine geben."
Wir holten uns einen Handzettel, eine Reklame für sündige Mode, und rissen den in der Mitte durch. Auf jede Hälfte kam eine Adresse. Rafa las meinen Namen, Hetty Lerag, und sagte versonnen:
"Das also bist du."
Er schrieb seine Adresse in verschnörkelten, nach unten lang ausgezogenen Buchstaben auf.
"Rafa Devin" stand da.
"Er hat einen Hang zur kitschigen Übertreibung", dachte ich. "Ich frage mich, wie der wohnt ... wer weiß ... vielleicht ganz unordentlich ... hin will ich, einfach mal sehen ..."
Ich tuschelte mit Constri ein bißchen über ihn.
"Meinst du, der ist ein bißchen doof?" fragte sie.
"Könnte sein", erwiderte ich.
Ich traute Rafa nicht viel zu, weder an Begabungen noch an Intelligenz.
Auf dem Podest stand noch ein Stuhl, der frei war, und auf dem nahm ich Platz. Rafa setzte sich neben mich auf das Podest und zog die Beine an. Eine ganze Weile saß er so. Hin und wieder drehte er den Kopf und sah zu mir hoch. Ich fragte mich, was in ihm vorging.
Über einige Stücke, die gespielt wurden, sagte Rafa, die wären von ihm, und wie ich die denn fände?
"Sie wirken auf mich recht unausgereift, recht flach", antwortete ich ehrlich. "Wenn ich sie mit dem vergleiche, was Ivo macht, ist Ivo weiter als du."
Ivo Fechtner hatte vor kurzem ein düster-hypnotisches und gleichzeitig rhythmisches Stück mit ins "Elizium" gebracht, das mich an die Musik von The Klinik und auch an die des Klinik-Mitglieds Dirk I. erinnerte. Ich fragte Ivo, von wem das sei, und er erzählte, daß er das Stück zusammen mit seinen Freunden gemacht hatte und daß es "Black Sun" heißt. Im weiteren Gespräch stellte Ivo erfreut fest, daß ich einen ähnlichen Musikgeschmack habe wie er selbst. Ich höre viel brüchig-rauhe, atonale Musik mit sakralen Elementen, wie sie Whitehouse, Blackhouse und Autopsia machen. Diese Musik fällt in den Bereich des Industrial und der Neoklassik.
Ivo wollte nicht mit zum Elektrofestival kommen, das Ende Januar im "Jugendhaus" stattfand. Vielleicht waren ihm die Bands nicht bekannt genug. Für mich waren die Bands nicht so wichtig; ich ging erster Linie hin, um Leute zu treffen.
Auch Rafa traf ich bei diesem Festival. Er erzählte mir, eine der angekündigten Bands hätte abgesagt, und er ginge nun mit einer anderen Band auf die Bühne und hätte seinen ersten Auftritt. Als dieser Auftritt an die Reihe kam, verließ ich meinen Platz neben dem Lautsprecher, wo ich während der ersten beiden Konzerte geschlafen hatte. Der Vorhang schob sich zur Seite, und man sah Rafas Freund Dolf an einem Strick baumeln, von künstlichem Nebel umwallt. Die Musik fand ich nicht schlecht. Es war ein leicht melancholischer Synthi-Pop.
Nach dem Festival unterhielt ich mich vor der Saaltür mit Rafa. Er war unzufrieden mit seinem Bühnendebut. Ich sagte ihm, daß ich sein Konzert deutlich besser fand als die vorherigen.
Als drei meiner Bekannten auf mich zugingen, suchte Rafa sofort das Weite.
"Wir sehen uns!" rief ich ihm nach.
Ich wollte Rafas Freunden auch nicht zu nahe kommen. Ich konnte ihn und seine Leute nicht einordnen; ich fühlte nur, daß ich in Rafa einen schwierigen Menschen vor mir hatte. Wenn ich mich ihm zuwandte, konnte ich mich währenddessen niemand anderem mehr zuwenden. Er nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich beschloß daher, ihn nicht zu meinem Geburtstag einzuladen, ohne ihn vorher allein getroffen und besser kennengelernt zu haben. Daß ich ihn längst eingeladen hatte, war mir entfallen.
In der darauffolgenden Woche rief ich Rafa an, um mich mit ihm zu verabreden. Vor dem 01.02. hatte er keine Zeit. Meine Party fand jedoch schon am 30.01. statt.
"Dann kann er halt nicht kommen", sagte ich mir.
Rafa wollte mich in SHG. vom Gleis abholen.
"Bis zum 01.02.", verabschiedete ich mich.
"Halt - vorher sehen wir uns doch nochmal", meinte er. "Am Samstag im 'Elizium' ..."
"Da nicht. Da gebe ich meine Geburtstagsparty ..."
"Was!" rief er entsetzt. "Und mich lädst du nicht ein? Ich habe dich auch eingeladen!"
"Das ist richtig", erinnerte ich mich mit Schrecken. "In Ordnung, du kannst kommen. Ich wollte dich gerne einladen; ich war mir nur noch nicht so sicher. Ich bin neugierig darauf, ob du kommst. Im Grunde - ich schare gerne Leute um mich."
"Ja, ja, ich merk' das schon."
Rafa kam nicht zu meiner Geburtstagsparty. Ich fragte mich, ob ich ihn vermißte, konnte aber darauf keine Antwort finden.
Am Abend des 31.01. rief ich Rafa widerwillig an, damit unsere Verabredung nicht in Rauch aufging.
"Nachträglich herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!" hörte ich da als Erstes. "Ich wollte kommen. Ich hatte fest vor, zu kommen. Ich hatte schon zu meinen Leuten gesagt, daß ich nach H. fahren muß. Dann habe ich festgestellt, daß ich deine Adresse verloren habe."
"Hast du keinen Terminkalender?"
"Ich habe einen Kasten, da lege ich das alles 'rein."
"Und trotzdem hast du die Adresse verloren?"
"Ja."
Nun war ich ihm gegenüber endgültig mißtrauisch. Ich konnte mir schon nicht vorstellen, daß er mich in der "Halle" wirklich nicht gesehen hatte. Und jetzt hatte er angeblich meine Adresse verloren. Ich weiß, wie sehr ich auf solche Zettel achtgebe. Ich machte aber gute Miene zum bösen Spiel, denn ich wollte mehr über diesen Menschen erfahren ... und außerdem wollte ich mir die CD vom Liederkranz aufnehmen.
Am 01.02. gab es strengen Frost. Ich hatte in der Stadt noch zu tun und erreichte den Zug nur knapp. Die Leute saßen auf den Gängen, und die Luft war stickig. Ich hatte das Gefühl, viel zu warm angezogen zu sein. In einem Abteil fand ich noch einen freien Platz.
"Einmal mache ich das - und dann nie wieder", beschloß ich verärgert. "Das ist ja schauderhaft - und dann so teuer. Ich frage mich schon, weshalb ich da überhaupt hinfahre, nur wegen einer CD. Man soll den Leuten nicht so entgegenkommen."
Als der Zug in SHG. hielt, war es eben dunkel geworden. Ich zog einen Mantel an, den anderen hängte ich mir über den Arm. Draußen fror ich dann doch und versuchte, den zweiten Mantel über den ersten zu ziehen. Ich sah mich um, entdeckte aber kein bekanntes Gesicht und machte mich auf den Weg zum Ausgang.
"Darf ich dir in den Mantel helfen?" fragte es hinter mir.
Rafa erschien, ungeschminkt und mit einem schlichten Pferdeschwanz.
"Ich habe eben ein Lied geschrieben", erzählte er. "Du kennst doch vom Liederkranz 'Eine neue Zeit'. Das habe ich gecovert."
"Dann spiel' mir das doch gleich vor."
Auf der Straße vorm Bahnhof stiegen wir über Haufen von Schnee und Eis. Ich hängte mir meinen Schal über den Kopf und hielt ihn vorne zusammen.
"So - jetzt können wir drei Stunden lang durch die Kälte latschen", kündigte Rafa an.
Ich sah das gelassen:
"Ach, dann tun wir das eben."
"He, das sind drei Minuten. Ich wohne hier gleich."
Auf unserem Weg verriet er, er mache gerade eine Scheindiät.
"Eine Scheindiät?"
"Eine Scheindiät geht so: Ich esse nichts, und wenn ich Hunger habe, esse ich doch."
Ich mußte lachen.
Rafa wohnt in einem älteren Haus, von dem ich nicht weiß, ob es mehr ein Stadthaus oder ein Landhaus ist. Es müßte noch vor den Weltkriegen gebaut worden sein.
Im Hochparterre waren die Fenster erleuchtet, und dahinter waren lauter Bilder und Skulpturen ausgestellt. Auf einem Schild neben dem Eingang stand "Die kleine Galerie".
"Das ist das Hobby von Muttchen", erklärte Rafa. "Die Galerie ist nur eine Stunde am Tag offen."
"Nur eine Stunde?"
"Muttchen arbeitet bis sieben, und dann macht sie die Galerie auf."
"Aber dann mehr für Freunde und Bekannte ... wie es sich herumspricht ..."
"Ja, die Leute kommen da hin, und die sagen das weiter. Ich verkaufe auch ab und zu etwas, dreihundert Mark pro Bild. Hier, das ist auch von mir."
Er zeigt auf ein Fenster neben der Haustür. In dem Fenster sehe ich ein weißes Stück Leinwand, davor hängt an zwei Schnüren ein Brett. Winzige Männchen stehen darauf und streichen die Fläche rosa an.
Ich muß mich doch ein wenig über Rafa wundern. Zuerst kann ich gar nicht recht glauben, daß das Bild wirklich von ihm ist. Ich sage ihm das aber nicht.
Im ersten Stock gehen wir durch einen dunklen Flur. Rafa öffnet die Tür zu seinem Zimmer und macht Licht. Ich muß lächeln und dann lachen; allerdings tue ich das nur sehr vorsichtig. Ich befinde mich in einer Mischung aus Kabinett und Grabkammer. Gedimmte Lampen leuchten hinter Wandschirmen hervor. Die Wände sind im Schachbrettmuster gehalten, und auch der Bodenbelag aus PVC hat Schachbrettmuster. Überall stehen Grabsteine, auf dem Fußboden und auf Simsen. Zwischen den Grabsteinen kleben Sterbeanzeigen. Ein Filmplakat von Herzogs "Nosferatu" sehe ich, unter Rosenkränzen und Fotos von kostümierten Geschöpfen. Den meisten Platz nehmen Keyboards und die Anlage ein. Es gibt auch sonst nur noch ein Regal mit Tonträgern und zwei Hocker in dem kleinen, fast quadratischen Raum. Innen an der Tür sind Haken; dort hat Rafa Kleider aufgehängt. Sie sind fast alle schwarz.
Die Wand zum Nachbarzimmer ist durchbrochen. Dieses zweite Zimmer ist vom Grundriß her nicht viel anders als das erste. Es erinnert an ein barockes Gemach und ist in Altrosa gehalten. Ein breites Bett mit Zierkissen steht darin. Hinter dem Nachttisch hängen zwei große Spiegel, die mit Lichterketten umrahmt sind. Diese schaffen eine sanfte Helligkeit. Der Kronleuchter scheint nur Schmuck zu sein. Unter der Decke läuft ein Fries aus rosa Blümchen an der Wand entlang.
Ich lege meinen Mantel auf das Bett.
"Darf ich dir was anbieten?" fragt mein Gastgeber.
"Was hast du denn?"
"Kaffee, Bier und Sekt."
"Etwas anderes nicht?"
"Nein."
"Dann Sekt."
"Nicht? Sekt", freut er sich. "Hole ich Sekt."
Das soll wohl eine Feier geben.
Ich ziehe meine Schuhe und die Strickjacke aus, weil mir noch immer sehr warm ist. Ich ahne, daß es in der Nacht kälter werden wird. Dennoch stört es mich, daß ich die Hose angezogen habe. Sie ist schwarz und schmal geschnitten; das ändert aber nichts daran, daß es eine Hose ist. Und in einer Hose bin ich mir nicht schön genug.
Ich setze mich auf einen Hocker. Rafa bringt Gläser und Sekt.
"Wo hast du die Grabkreuze her?" frage ich ihn. "Geklaut?"
"Jja."
"Ist das eine Spendenbüchse?" frage ich dann und zeige auf eine Kirche aus Metall mit Schlitz im Turm.
"Jja", antwortet er. "Hier, guck' mal - ich habe ein Geldstück da. Wenn man es 'reinsteckt, bimmelt es."
"Hast du die Kirche auch geklaut?"
"Jja."
Rafa hat viel Musik, die mir gefällt. Außerdem überflutet er mich mit Vorschlägen, und das hört sich etwa folgendermaßen an:
"Das ist schick. - Das ist schick. - Und das ist auch schick. - Das mußt du haben, Mädchen. Das nehm' ich dir auf."
Berge von Platten türmen sich auf einem Hocker. Ich mache Rafa darauf aufmerksam, daß ich nur zwei Kassetten dabeihabe. Dennoch sucht er immer mehr Platten und CD's heraus.
"Dies ist auch ein Industrial-Sampler", wirbt er. "'Ohrenschmalz' heißt der."
"Ach. Von dem habe ich schon gehört."
"Moment ... den könnte ich dir eigentlich auch schenken."
Ich nicke leicht. Ich kann das nicht so richtig glauben.
"Ich wollte eigentlich einen anderen kaufen, der heißt 'Ohrensausen', und da habe ich mich vertan", sagt Rafa etwas verlegen.
"Ah, ja."
Es scheint ihn zu verunsichern, daß ich sein Geschenk nicht wie ein Geschenk annehme. Nachträglich möchte er den Eindruck erwecken, er hätte den Sampler ohnehin nur loswerden wollen. Das macht mich in meinem Innern traurig. Ich stelle mir die Frage, ob Rafa in seinem Leben zu oft erfahren hat, daß andere Menschen seine Geschenke - Vertrauen und Zuneigung - nicht annehmen wollten.
"Was nun zuerst?" geht er zur Tagesordnung über.
Während er mir die Musik aufnimmt, gerate ich ins Staunen darüber, wie nachlässig er mit seinen CD's umgeht. Es scheint schon Folgen gehabt zu haben.
"Die ist auch nicht mehr, die hakt auch, die nimmt der Player nicht mehr an, die geht auch nicht", höre ich dauernd.
Diese Schlurigkeit wirkt auf mich sehr kindlich.
Stolz zeigt mir Rafa die Bilder, die er gemalt hat. Es ist ein ganzer Stapel. Eins nach dem anderen legt er mir auf die Knie. Ich sehe einen Hund auf einem Friedhof, nachts im Mondenschein. Auf dem Blatt klebt ein schmaler weißer Zettel, auf den ein Gedicht gedruckt ist. Ich gehe nicht davon aus, daß das Gedicht von Rafa stammt, finde aber auf anderen Bildern noch mehr solcher Zettel.
"So - machst du Bilder immer mit Text?" frage ich.
"Immer. Muß."
Auf vielen Bildern ist ein einzelner Mensch zu sehen, ein haarloses Männchen mit spitzen Schuhen, ganz schlicht gekleidet, ohne Rüschen und Schleifchen. Ich erkundige mich danach, warum das Männchen keine Haare hat. Rafa meint, er wolle die Gestalt nicht auf einen bestimmten Stil festlegen. Wenn der Mann keine Haare habe, könne er alles sein; er sei universell.
"Übrigens sind die Bilder hier alle nur aus dem Kunstunterricht", sagt Rafa wie entschuldigend. "So viel konnte ich in letzter Zeit nicht mehr machen. Steht hinten immer drauf: '1' ... '1+' ..."
Ich drehe die Bilder um. Auf einem steht "Dawyne '89 1", auf einem anderen "Dawyne '88 1+", und so geht das weiter.
"Dawyne" ... nicht "Devin". Er hat seinen eigenen Nachnamen falsch geschrieben, als er mir seine Adresse gegeben hat.
"Wie alt bist du eigentlich?" erkundige ich mich.
"Ich bin fünfzehn."
"Ach, Unsinn."
"Nein, ich bin wirklich fünfzehn."
"Noch so einer von diesen Leuten, die ihr Alter nicht sagen können", seufze ich. "Mit dir wären es drei, und einer kann noch nicht mal seinen Beruf sagen. Was der ist, habe ich von jemand anderem erfahren: Gas- und Wasserinstallateur. Als wenn das so schlimm wäre!"
"Das Alter hat für mich keine Bedeutung."
"Fein, dann kannst du mir ja doch sagen, wie alt du bist."
"Hab' ich doch schon. Ich habe dir gesagt, daß ich fünfzehn bin."
"Mal sehen ... dieses Bild ist von '88 ... dieses von '89 ... neuer ist keines, und überall steht eine Zensur drauf. Das heißt, du bist '89 aus der Schule gekommen."
Rafa schweigt.
"Du warst auf der Realschule?"
"Ja."
"Wenn du zehn Jahre zur Schule gegangen bist, dann bist du ..."
"Halt, ich kann ja auch zwei-, dreimal sitzengeblieben sein."
"Nehmen wir an, du bist zweimal sitzengeblieben, dann warst du '77 sechs, '87 sechzehn, und jetzt wärst du zweiundzwanzig", rechne ich, "und wenn du mit sieben eingeschult worden und dreimal sitzengeblieben bist, dann bist du jetzt vierundzwanzig."
Er zuckt mit den Schultern.
"Was für einen Beruf hast du eigentlich?"
"Maler / Lackierer", antwortet er sogleich. "Und irgendwann will ich vielleicht mal Kunst studieren, das ist mein Traum."
"Ich mache Medizin. Und dann arbeite ich im Augenblick Vollzeit im Kaufhaus, aber das ist nur für ein paar Monate."
Rafa führt mich in sein Schlafzimmer, das barocke Gemach.
"Hier, das Zimmer habe ich für die Gesellenprüfung gestaltet. Natürlich bestes Gesellenstück ... is' mit rosa Blümchen, so - fast schwul ..."
Er zeigt auf den Fries.
"Ich weiß - es klingt immer so überheblich, sich selbst zu loben", meint er.
"Ich finde es wichtig, von sich überzeugt zu sein", entgegne ich. "Wenn man das gut findet, was man gemacht hat, weshalb soll man das nicht sagen? Sicher, die meisten finden das dann überheblich."
"Ich zeige dir gleich noch mehr Bilder", sagt Rafa und holt sie. Eins stellt eine Personengruppe dar, die nur hingewischt ist mit wäßriger schwarzer Farbe.
"Das habe ich in fünf Minuten gemalt", erzählt Rafa. "Da sollten wir eigentlich ein Bild abmalen, und ich hatte das nicht fertig an dem Tag, an dem wir das abgeben sollten. Da habe ich einfach das eben so draufgeknallt. Habe ich auch noch eine Vier für bekommen."
"Das sieht wirklich nicht schlecht aus. Das hat eine eigene Sprache."
Ich finde es mutig, eine Sache auch dann nicht verlorenzugeben, wenn man weiß, daß man sie nur unzureichend bewältigen kann. Das Unzureichende gewinnt oft einen eigenen Reiz. Und man beweist die Fähigkeit, zu seiner Unzulänglichkeit zu stehen.
Nach den Bildern kommen Fotos an die Reihe. Rafa hat mehrere Einsteckalben voller Blitzlichtaufnahmen von Parties und Veranstaltungen. Mir sind einige Gesichter vertraut. Ivo ist zu sehen - und auch der Sockenschuß.
"Ih!" rufe ich. "Ih, dieser widerliche Kerl!"
"Was ist mit dem?"
"Das ist ein gefährlicher Irrer. Der hat mir jahrelang vor der Haustür aufgelauert und mich verfolgt und angefallen, nur weil der sich einbildet, ich sei mit ihm zusammengewesen. Dabei hat der sich nur mal für ein paar Wochen bei mir eingenistet - bis ich ihn 'rausgeworfen und nie wieder 'reingelassen habe."
Rafa sagt mir, von welcher Party welches Foto stammt.
"Meine Party habe ich auf Video", erzähle ich. "Da kannst du dir ansehen, was du verpaßt hast."
"Ach - ich hole jetzt mal den 'Dracula'. Damit können wir dann endlich auf unsere Geburtstage anstoßen."
Auf dem Nachttisch steht die Flasche mit der Aufschrift "Dracula's Blood", dabei ein Ständer mit Reagenzgläsern.
"Besonders bissig bei Vollmond", lese ich auf dem Etikett.
Rafa legt uns zwei Kopfkissen zum Sitzen auf den Boden. Dann gießt er uns ein. Wir lassen die Reagenzgläser aneinanderklirren.
"Auf ...", sagt er.
"Auf ...", sage ich. "Auf uns."
"Mußt du in eins trinken", weist er mich an.
"Kann ich nicht."
Ich trinke schluckweise.
"Mensch! Das muß man in eins trinken!" scheucht mich Rafa, der mit seinem Glas schon fertig ist.
"Wann hast du eigentlich nochmal genau?" frage ich.
"Am 11."
"Dann bist du ..."
"Steinbock."
"Was haben die für Eigenschaften?"
"Nur gute", behauptet er. "Jesus war auch Steinbock."
Ich gieße mir "Dracula's Blood" nach, und es geht etwas daneben. Eilig hole ich Papiertaschentücher hervor und wische die tiefrote Flüssigkeit weg.
"Immer verschütte ich etwas", tadele ich mich selbst.
"Das macht nichts", tröstet Rafa. "Der Boden dient bei mir auch als Tisch, da kann das ruhig passieren."
Wir schauen weiter die Fotos an. Zu dem Portrait eines Mädchens sagt Rafa:
"Das ist Luisa. Mit der war ich drei Jahre zusammen. Die ist auch noch mal hier drauf ... und hier ... und da ist die auch ... und das ist auch ... Louise ..."
Das Mädchen hat lange, dunkle, toupierte Haare und ist geschminkt. Es hat ein hübsches, kindlich wirkendes Gesicht.
"Ich kenne Luisa gar nicht", sage ich.
"Du kennst sie nicht? Sie hatte mal so eine Nonnentracht an."
"Ach - ach, die ist das! Natürlich habe ich die schon gesehen. Letztes Jahr hatte die diese Tracht immer an. Ich fand das immer so geil."
"Haben wir zusammen genäht."
"Wirklich geil."
"Heute läuft sie leider nicht mehr so 'rum."
"Stimmt, ich habe diese Nonnentracht schon lange nicht mehr gesehen. Wie sieht sie denn jetzt aus?"
"Ach, die trägt jetzt mehr so Zwanziger-Jahre-Look, so mit Pagenkopf. Hier, auf dem Foto hat die das schon."
"So schlecht sieht das gar nicht aus", meine ich. "Geschminkt ist sie auch immer noch."
"Ja, aber ... sie hat das halt nicht mehr so wie früher."
"Du - wie lange gehst du eigentlich schon ins 'Elizium'?" erkundige ich mich.
"Wie lange gibt es das 'Elizium'?" fragt Rafa zurück.
"Seit '89."
"Also."
"Also gehst du seit '89 ins 'Elizium'", folgere ich.
"Ja."
"Ich gehe auch seit '89 ins 'Elizium'", sage ich und werde nachdenklich. "Eigenartig ... ich habe dich da nie gesehen. Du bist mir einfach nie aufgefallen. Ich verstehe das gar nicht."
"Das ist Inya", sagt Rafa über ein anderes Portrait. "Die kennst du aber."
"Inya? Ja ... sicher ... doch ..."
"Mit der war ich eineinhalb Jahre zusammen. Die ist ... dreiunddreißig. Ja, so alt müßte die sein."
Jetzt hat er mir schon zwei seiner Verflossenen gezeigt. Ich frage mich, wen es da sonst noch so alles gab oder gibt. In meinem Leben gab es noch keinen Freund, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mann, der schon Freundinnen hatte, mit jemandem wie mir zufrieden wäre.
Besonders stolz scheint Rafa auf seine verschiedenartigen Kostüme zu sein. Immer wieder hat er sich in vollem Prunk und Putz fotografieren lassen.
"Hier - da haben wir uns als Frauen verkleidet", sagt er über ein Bild von ihm und Dolf.
Es gibt nur ein einziges Foto, auf dem Rafa und Dolf nicht geschminkt sind und ihre Alltagskleidung tragen. Es ist ein Automatenportrait in Schwarzweiß. Das grelle Blitzlicht fiel so ein, daß die Gesichtszüge deutlich herauskamen. Das Bild gefällt mir, und ich sage das auch.
Rafa scheint nach immer neuen Dingen zu suchen, die er mir vorführen kann. Vielleicht glaubt er, mit mir sonst über nichts reden zu können oder zu dürfen.
"Das Geburtstagsgeschenk von Muttchen", weist er auf einen schwarzen Kutschermantel mit drei Volants und ohne Ärmel. "Hat vierhundert Mark gekostet."
Ich bewundere den Mantel. Alsdann reicht mir Rafa ein schwarzes Hemd und sagt geheimnisvoll:
"Hier, sieh' dir das mal an."
"Ein Priesterhemd", erkenne ich. "Ich habe eins, richtig mit so einem Reifen, den man durch den Halsbund ziehen kann."
"Was - so richtig mit Reifen?"
"Mit einem silbernen Reifen."
"Wieviel?" fragt Rafa sofort.
"Das kriegst du nicht", winke ich ab. "Das kriegst du niemals."
"Was hat's gekostet?"
"Hundertachtzig."
"Von mir aus braucht es kein Geld zu geben", behauptet Rafa. "Geld ist mir egal."
"Dann gib' mir von deinem was ab."
"Nein, ich brauche es, um meinen Lebensstandard zu halten."
Nun kommen Rafas Kataloge für Underground-Mode an die Reihe. Weil er schon so viel hat und so viele Leute kennt, erkundige ich mich danach, wie lange Rafa schon in der Szene der Schwarzgekleideten ist.
"Seit ... ungefähr '85."
"Ich auch seit ungefähr '85", erzähle ich. "Ich meine - es wäre besser für mich gewesen, schon '81 in die Szene zu kommen. Aber ich hatte die Leute nicht."
"'81 ... da war ich eigentlich noch nicht ganz in dem Alter ...", sagt Rafa zögernd.
Nach meiner Berechnung war er damals zwischen zehn und zwölf Jahren alt.
"'81 war ich fünfzehn", teile ich ihm mein Alter mit. "Wie alt warst du eigentlich 1981?"
Er schweigt. Er hat die Falle erkannt.
Während Rafa und ich beieinandersitzen, erhält er mehrere Anrufe, die er rasch beendet. Seine Mutter nimmt den Hörer ab, wenn das Telefon klingelt, und ruft ihn dann. Sie ist im Nebenzimmer. Ich sehe sie nie. Es kommt mir vor, als wenn Rafa in seinem Leben verschiedene Bereiche hat, die er streng voneinander trennt. Jeder Anrufer oder Besucher ist ein solcher Bereich, und ebenso sind es seine Familienangehörigen. Es will mir fast scheinen, als wenn Rafa ein doppeltes, wenn nicht mehrfaches Spiel spielt - keiner soll erfahren, was er mit dem jeweils anderen bespricht ... oder hat.
Mir fällt der patchouliähnliche Geruch in Rafas Zimmern auf. Ich frage mich, ob er Räucherstäbchen abgebrannt hat. Und ich frage mich, ob es hier drinnen eigentlich kalt ist. Ich habe mir Strickjacke und Schuhe wieder angezogen; Rafa allerdings hat nur eine enge Kniehose und ein weißes Hemd an und scheint nicht zu frieren.
Ich gieße mir Sekt nach und verschütte auch davon etwas.
"Ich raff' es wirklich nicht."
Ich suche wieder nach Taschentüchern.
"Das macht doch nichts", sagt Rafa. "Nur in das Teil da" - er zeigt auf das Deck, auf dem wir unsere Gläser stehen haben - "sollte es nicht 'reinkommen. Das war nämlich eher teuer."
"Ist noch viel Platz auf der Kassette?" frage ich nach. "Das ist ja jetzt schon die zweite."
"Ein bißchen Platz ist da noch. Da nehm' ich dir noch eins von Laibach 'rauf, das ist geil, das muß sein."
"Wie heißt das?"
Er sieht nach.
"'Great Seal'."
Das Stück klingt düster und hymnisch. Rafa freut sich, als es mir gefällt.
Schließlich sind nur noch etwa zehn Minuten unbespielt. Da erst erinnere ich mich wieder an Rafas neues Stück.
"Dein Stück wolltest du mir vorspielen. Du kannst mir das ja gleich aufnehmen."
"Aufnehmen ...", sagt er nachdenklich. "Das ist witzig, weil, das Tape hast dann echt nur du."
Er hantiert mit Kabeln und Schaltern und stellt sich hinters Keyboard.
"So richtig mit Singen?" fragt er schüchtern. "'Am Stahlträger gekreuzigt ...'"
"Ja, sicher mit Singen."
Rafa intoniert das Stück "Auf nach Golgatha", das gecoverte "Eine neue Zeit". Er erzählt mir, welche seiner neuen Sounds ihm besonders gefallen. Dann nimmt er das Stück auf. Er singt nicht wirklich; er ruft den Text mit klagender, verzerrter Stimme:
"Am Stahlträger gekreuzigt,
befreit von seiner Not,
im Geiste wird er auferstehn
und ist doch klinisch tot.
Schickt ihn zum Altar!
Auf nach Golgatha!
Propaganda für die Religion,
ich bin Gottes neuer Sohn.
Seht mich übers Wasser gehn,
der Verführung widerstehn!"
Als das Stück zuende ist, fragt Rafa:
"Und? Wie fand'st du's?"
"Oh, es hat mir gefallen."
Ich habe zuerst "Schleppt ihn zum Altar!" verstanden, und als Rafa erklärt, daß es "Schickt ihn zum Altar!" heißt, meine ich, "Schleppt ihm zum Altar!" sei passender.
Rafa hält mir das Mikrophon hin.
"Nun sag' was", fordert er mich auf.
"Mir fällt nichts ein."
"Irgendwas. Ein Wort. Irgendein Wort."
"Wirklich ... mir fällt nichts ein."
"Los", scheucht er. "Nur ein Wort. Egal, was für ein Wort."
"Hinrichtung."
"Lauter. Das geht noch nicht."
"Hinrichtung."
"Lauter. Das ist noch nicht drinne."
"Hinrichtung."
"Das reicht. - So, das ist jetzt auf jeder Taste drauf."
Er klimpert auf dem Keyboard herum.
"Laß' mich mal", bitte ich. "Ich will mir das noch aufnehmen. Ist auf der Kassette noch Platz?"
Rafa klimpert weiter.
"Läßt du mich mal?" dränge ich. "Wie ist das, ist da noch Platz auf der Kassette?"
"Noch ganz bißchen."
"Also. Laß' uns das machen. Bist du auf Aufnahme?"
"Ja."
Ein wirrer Chor entsteht, ein vielstimmiges "Hinrichtung" in verschiedenen Tonlagen.
Ich erzähle Rafa, daß ich gerne mit Betonteilen Geräusche herstellen und diese auf Datenträger laden möchte.
"Ich stehe so auf Beton", schwärme ich. Dieses Kalte, Rauhe ... diese Klänge, die man damit erzeugen kann, wenn man darauf geht oder Betonsteine aneinander reibt, das ist irre. Das hört sich so hart an und so abgründig."
"Ich habe auch schon mal daran gedacht, etwas Industrialmäßiges zu machen", sagt Rafa, "etwas, das wäre dann auch ... wie Beton."
Es kommt mir vor, als wenn er das nur mir zu Gefallen sagt.
"Von 'Auf nach Golgatha' mache ich noch eine Endfassung, die kommt auf unsere nächste Kassette", kündigt Rafa an.
"Eure Band, das sind Dolf und du?"
"Eigentlich nur ich. Die Musik ist nur von mir. Dolf ist ... mein Manager."
"Dein Manager", wiederhole ich und muß lächeln. "Ach, so."
"Am 19. treten wir übrigens wieder auf, im 'Volvox'. Wir wollen da mit einem Bus hinfahren. Das wird geil. Kommst du mit?"
"Ich habe euch doch erst gesehen. Außerdem wird das wieder ziemlich teuer."
"Der Bus fährt in H. vom Omnibusbahnhof ab. Achtzehn Mark für jeden."
"Und nach der Rückfahrt für mich Taxigeld für nach Hause. Und dann der Eintritt. - Spielen außer euch denn noch mehr Bands?"
"Ich glaube, noch zwei."
"Und welche?"
"Das weiß ich nicht."
"Naa ... da soll ich mit euch ins 'Volvox' fahren, nur um euch nach weniger nach einem Monat noch einmal zu sehen, und wer sonst noch spielt, weiß ich noch nicht mal. Das lohnt sich nicht für mich."
"Das lohnt sich", wirbt Rafa. "Das ist doch geil, das ist voll Party. - Ja, du kommst mit."
"Nein, das tue ich nicht."
Rafa redet wie ein Reiseunternehmen, und das macht mich mißtrauisch. Ich will mich nicht wie ein Kunde fühlen, den man ausnehmen kann.
Wir kommen auf Rafas musikalische Anfänge zu sprechen. Etwas scheu und verlegen kramt er seine erste Kassette hervor, und ich darf sie mir anhören. Die Stücke unterscheiden sich von "Auf nach Golgatha" nicht wesentlich.
"Hier, das sind die Texte."
Er reicht mir einen Stapel länglicher Zettel, wie sie auch auf seinen Bildern kleben. Ein Stück heißt "Todeslied", und ähnliche Titel tragen auch die anderen. Die Zeile "Und der Tränenbach versiegt ..." fällt mir ins Auge.
"Du hast Mut zum Kitsch", stelle ich fest. "Du überlädst deine Texte. Du traust dir das. Bei mir muß immer alles kühl und nüchtern sein. Ich könnte es mir nie gestatten, so zu schreiben. Dabei hat das was, es hat durchaus was, so übertrieben es wirkt."
"Ich verkaufe das Tape heute nicht mehr. Es ist mir peinlich."
Daß Rafa den Text von "Todeslied" nicht selbst verfaßt hat, sondern aus einem historischen Gesangbuch abgeschrieben hat, fand ich erst viel später heraus.
Auf den Zetteln entdecke ich einige Rechtschreibfehler und kann es nicht lassen, Rafa darauf aufmerksam zu machen.
"Ist ... auch mehr eine Vorschrift, nicht die Reinschrift", entschuldigt er sich.
Das Stück "Todeslied" findet er besonders gelungen.
"Das ist das beste", sagt er. "Die Melodieführung ist geil. Los! Zuhör'n! Hör' dir die Linie an!"
Pflichtbewußt höre ich zu. Ich weiß nicht, ob es wirklich die Melodie oder nicht doch eher etwas an Rafa selbst ist, was mich nachdenklich, vielleicht auch traurig stimmt.
Die seltsamen länglichen Zettelchen, auf die Rafa seine Texte gedruckt hat, erinnern mich an Kassenzettel aus einem Kaufmannsladen für Kinder.
"Was hast du denn für einen Computer?" frage ich, um die Herkunft der Zettelchen herauszufinden.
"Commodore 64."
"Dann sind die Texte hier auch alle mit C64 gemacht."
"Ja."
"Wie lange machst du eigentlich schon Musik?"
"Seit letztem Sommer."
Rafa hat manchmal eigenartige Ideen. Über ein Stück auf seiner Kassette erzählt er:
"Hier, da habe ich alle möglichen Leute gefragt, was für sie der Sinn des Lebens ist. Das habe ich dann auf Band genommen und versampelt. Auch dein Jochen spricht da."
"Igitt, der widerliche Kerl", schüttele ich mich bei dem Gedanken an den Sockenschuß. "Wie kannst du den da bloß draufsprechen lassen?"
"Ich habe in dem Büro vom 'Autodafé' angerufen, und da war der gerade da, kann ich ja nichts für. Ich habe das vom Telefonhörer aufgenommen."
"Ich frage mich, was der Sockenschuß in der Redaktion vom 'Autodafé' zu suchen hat. Na, der hat sich wohl mal wieder an Kappa 'rangeschmissen. Der schmeißt sich an alle möglichen Leute 'ran."
Kappa, ein DJ des "Elizium", gibt auch die Zeitschrift "Autodafé" heraus. Der Sockenschuß ist anscheinend in der Redaktion zu Gast gewesen.
In Rafas Stück höre ich tatsächlich die leiernde Stimme vom Sockenschuß etwas über des Sinn des Lebens erzählen. Es sind nur wenige Sätze mit Belanglosigkeiten, die ich mir gar nicht erst merken kann.
Rafa gibt mir die Hülle, die er für sein erstes Tape gestaltet hat. Das Vergrößerungsfoto einer Fliege ist darauf. Die Fliege stiert mit nichtssagendem Blick aus einer Venusfalle, in der sie gerade zersetzt wird.
"Echt, das ist das Foto", sagt Rafa erschauernd. "Das muß so eine Qual sein ... Die Spinne betäubt ihre Opfer wenigstens vorher. Außerdem ... die Fliege ist mein Symbol, die ist auf jedem von meinen Bildern drauf. Und - das ist es überhaupt: Die Venusfalle will auch leben. Da sind zwei Lebewesen auf dem Bild."
"Allerdings ... das muß man sich vergegenwärtigen ... Ich hätte das Tape schon gerne. Ich sammle solche Erinnerungsstücke."
"Zwölf Mark. Ich mache dir eins."
"Du mußt mich auch mal besuchen und dir die Bilder von mir ansehen", ahme ich Rafas bestimmende, fordernde Art nach.
"Nach dem 19.", erwidert er schnell.
Das klingt, als wenn er dieses Treffen möglichst weit hinausschieben möchte. Entweder legt er keinen besonderen Wert darauf, mich näher kennenzulernen, oder er zieht es vor, sich besuchen zu lassen, anstatt die anderen zu besuchen.
Noch, so denke ich mit einem Blick auf die Versandhauskataloge, ist es zwischen Rafa und mir zu keinem tiefergehenden Gespräch gekommen. Ich habe nichts über Rafas Seelenleben erfahren, und er scheint auch nichts über das meine wissen zu wollen.
"Am 19. fahre ich vielleicht mit Ivo zum 'Technolab'", erzähle ich in einem beiläufigen Tonfall. "Da stellen Front 242 ihre neue Single vor."
"Der 19.? Da mußt du doch schon mit ins 'Volvox' zu unserem Konzert."
"So? Da fahre ich aber nicht hin."
"Übrigens ... denkst du an die Zeit?" ermahnt mich Rafa. "Der letzte Zug fährt um 23.25, und den mußt du nehmen."
"Ich denke daran."
Ich blättere noch etwas in seinen Fotoalben herum. Das Verkleiden und Schminken finde ich an sich nicht falsch, im Gegenteil. Ich bin immer geschminkt, und das recht aufwendig. Ich finde, daß mein Gesicht ohne Schminke nicht zur Geltung kommt. Allerdings meine ich, daß Schminke ein Gesicht nicht nur unterstreichen, sondern auch übertünchen kann. Die Gestalten auf den Fotos wirken auf mich seltsam entpersönlicht.
"Ich sehe es kommen", denke ich, "daß Rafa und mir bald der Gesprächsstoff ausgeht. Die Themen, die wir hatten, sind alle zerredet. Es waren auch keine ergiebigen Themen. Und über Ergiebigeres läßt sich mit Rafa wohl nicht sprechen."
"Ich finde es schön, über Klamotten, Musik und Leute zu reden", bringe ich meine Gedanken zum Ausdruck. "Mir macht das Spaß. Ich tue das gerne mal, und ich tue das auch öfter. Gespräche, die mir wirklich etwas bringen, sind für mich allerdings nur die ganz persönlichen Gespräche. Die kann ich auch nur mit meinen engsten Vertrauten führen."
"Also gut", beginnt Rafa mit einem Seufzer meine Vermutungen über ihn zu berichtigen. "1984 ist mein Vater gestorben. Er ist nicht krank gewesen und hat auch keinen Unfall gehabt oder so etwas. Er ist einfach von einem Tag auf den anderen gestorben.
Es gibt so ein Alter, da braucht man seinen Vater. Nicht mit zwanzig, fünfundzwanzig, auch nicht mit sechs oder acht. Dazwischen. Da muß er das Moped reparieren und die Freundin begutachten. Und in dieser Zeit ist er mir weggestorben. An dem Tag bin ich nach Hause gekommen und habe gesehen, er liegt im Wohnzimmer und schläft. Er sah aus wie immer, wenn er schläft. Da war überhaupt nichts, was irgendwie ungewöhnlich war. Ich bin zum Telefon gerannt und habe 110 gewählt und gerufen: Mein Vater stirbt. Ich habe meine Adresse nicht mehr gewußt. Ich hatte die Vision, daß der Mercedes mit Totalschaden in der Garage steht. Mein Bruder und ich haben nachgesehen, und der Mercedes stand mit Totalschaden in der Garage. Er war völlig verdreckt."
"Das ist ja ein Zweites Gesicht."
"Mein Vater lag im Wohnzimmer wie Jesus am Kreuz. Sie hatten an ihm überall diese Knöpfe festgemacht. Ich habe die Kurven auf dem Bildschirm gesehen bei der Herzmassage und gedacht, nochmal Glück gehabt. Da sagt der eine: Aufhören. Und da kam dann diese gerade Linie. Mein Bruder ist in sein Zimmer und hat laut Musik angemacht. Meine Mutter hat vier Tage lang durchgeheult. Am 24.12. war die Beerdigung. Sie haben ihn von hier zum Friedhof überführt."
"Er war hier aufgebahrt?"
"Im Wohnzimmer.
Die Beerdigung, da mußt du dir einen Horrorfilm vorstellen. Du mußt wissen, Weihnachten war bei uns immer das Familienfest ...
In der Kapelle hat mein Bruder immer wieder gesagt:
'Er ist nicht in dem Sarg. Nein, er ist da nicht drinne.'
Meiner Mutter wurde schlecht, und sie ist in der Kirche eingeschlafen. Zwei Cousinen sind umgekippt. Und einer war da, der hatte ganz selten mal Anfälle. Der hat die Augen verdreht und ist auf die Kirchenbank geknallt. Das Blut lief auf den Boden. Da parkte dann neben dem Leichenwagen noch ein Krankenwagen. Dann hatten die den weggeschafft und saubergemacht, und dann war da immer noch so ein Rest Blut auf dem Boden. Es war zum Abdrehen. Ich find' das so ätzend mit der Schaufel, das Draufschmeißen von der Erde, alle schmeißen da sowas drauf. Ich hab' nur Blumen 'reingeworfen. Und am Grab haben alle nacheinander Hand gegeben, und 'Rafa, weißt ja, ich bin immer für dich da.'
Das Beste war eine Freundin von Muttchen. Es war ja der 24., und sie so zu ihr:
'Sera' - meine Mutter heißt Serafina, aber keiner nennt die so, die heißt nur Sera - 'Sera, dein Mann läßt sich ja was ganz Besonderes einfallen.'"
"Nein, ist das ..."
"Wie gesagt, Weihnachten war bei uns bis dahin das Familienfest. Überhaupt, wir haben alles gemeinsam gemacht, sind zusammen in Urlaub gefahren ... Wir waren eine Familie. Nach dem Tod von meinem Vater - nichts mehr. Jeder lebt nur noch sein eigenes Leben."
"Die Familie ist auseinandergebrochen."
"Ja. Völlig."
"Irgendwie muß das doch ein Unfall gewesen sein. Den Totalschaden muß der Mercedes doch irgendwo herhaben."
"Ja. Das weiß aber keiner, wie das gekommen ist."
"Haben die das nicht untersucht?"
"Die haben nichts gefunden. Da war nichts. Nichts war da."
"Die haben nicht herausgefunden, was das war."
"Was das war, das will keiner wissen."
Rafa zeigt mir seine Uhr.
"Hier, die Uhr an meinem Handgelenk ist auch fünftausend Mark wert. Das ist ein Erbstück von meinem Vater. Das ist die erste Quarzuhr überhaupt. Mein Vater war Uhrensammler. Ich habe noch ein Erbstück. Das ist die Uhr, mit der die ersten Astronauten zum Mond geflogen sind.
Mein Vater hat seine Uhr nie abgenommen, nicht einmal in der Dusche oder im Bett. Er hat immer zu mir gesagt:
'Du mußt immer eine Uhr umhaben. Das ist wichtig.'
Mit vier hatte ich meine erste."
"Da haben sie ihn sicher mit Uhr begraben."
"Eben nicht, das war es ja. Bevor er gestorben ist, hat er seine Uhr abgemacht."
"Ach! Vielleicht hast du das unbewußt bemerkt, als du ins Wohnzimmer gekommen bist und ihn wie schlafend hast liegen sehen. Vielleicht hat dich das so alarmiert."
"Der muß ... ich weiß nicht, wenn mir so schlecht ist, denke ich nur, alles weg, was einengt, ey. Und der Pastor hat das in der Kapelle so voll ... 'Er legte das Zeitliche ab' und so ... hat da aberzählt ..."
Was Rafa erlebt hat, wirkt auf mich wie die Laune eines zynischen Schicksals.
Ich denke an die Flüchtigkeit des menschlichen Lebens. Es ist kein Verlaß darauf, daß die Menschen, die man liebt, am nächsten Tag noch da sind.
So etwas wie Rafa habe ich nicht erlebt, doch sind mir Verlust und Entbehrung wohl vertraut. Umso näher geht mir das, was er erzählt.
Über den Tod sagt Rafa:
"Ich will nie sterben."
"Ich will auch nie sterben."
Ich erzähle Rafa, daß ich oft Alpträume habe und daß ich schon in vielen Träumen hingerichtet werden sollte. Ich frage ihn, ob auch er Alpträume hat und was für welche.
"Soll ich's dir erzählen?" fragt er.
"Ja."
"Echt, soll ich?"
"Ja."
"Na gut, ich erzähl's dir.
Also, es war wie ein Film. Ich bin getrampt. Da hielt ein Auto an, da saßen die vier Jahreszeiten drin. Das waren drei Frauen und ein Mann. Die Frauen hatten auch so Kleider an, die zu den Jahreszeiten paßten, was Grünes für den Frühling und dann etwas mit Braun für den Herbst ... ach, stimmt nicht, der Herbst, das war ja der Mann. Ich bin mit denen mitgefahren, und die sind dann voll gegen eine Mauer gefahren. Und von da an gab es mich zweimal. Ich stand da und habe gesehen, wie ich wegtransportiert wurde. Und zwar sind die ohne Blaulicht gefahren. Der Herbst hat zu mir gesagt:
'Du bist tot.'"
"Das ist wahrscheinlich wirklich so, daß man seinen Körper verläßt, wenn man stirbt. Ich glaube, das ist so. Ich habe mal einen Traum gehabt, da habe ich neben meiner Leiche gestanden und konnte die nicht begraben", erzähle ich. "Das war am Strand von Kalifornien. Meine Leiche lag auf einem Sandhügel, in einer Pralinenschachtel. Ein paar Mafiosi haben mir geholfen, mich in der Pralinenschachtel zu begraben. Ausgerechnet solche Menschen haben mir geholfen. Als das Grab zu war, ist mir aufgefallen, daß ich gar keinen Grabstein hatte. Ich hätte mein Grab nicht mehr wiederfinden können. Ich habe zu den Mafiosi gesagt:
'Das ist so teuer, einen Grabstein zu beschaffen, bestimmt zehntausend Mark. Und meine Familie ist weit weg in Deutschland, und die würden mir nie, niemals soviel Geld schicken. Nie würden die mir das bezahlen.'
Da haben die Mafiosi mich wieder ausgegraben. Etwas anderes blieb nicht übrig. Da stand ich also neben meiner Leiche. Von der Feuchtigkeit im Grab waren die Laschen von der Pralinenschachtel aufgeweicht, und die Schachtel war nicht mehr richtig zu. Die Spatenstiche hatten meine Leiche verletzt, und da lief nun so ein Rinnsal von Blut aus der halb offenen Schachtel in den Sand. Widerlich ..."
Mir fällt auf, daß Rafa nur CD's einlegt. Das Gespräch scheint ihn so in Anspruch zu nehmen, daß er keine Mühe und Zeit darauf verwenden will, Vinylplatten abzuspielen. Ich frage mich überhaupt, in welchem Zustand die sind.
"Was für mich auch echt alptraumhaft ist, das sind Toiletten", fahre ich fort. "Ich ekele mich vor nichts so. Ich ekele mich davor unbegrenzt. Ekelst du dich nicht vor Toiletten?"
"Nö."
"Ich ekele mich irrsinnig davor. Ich meine - die hier ist supersauber ... aber in Kth., diesem Irrenhaus, da ist eine ... da bin ich gar nicht erst draufgegangen; ich hätte sonst einen Schock erlitten."
Rafa lächelt.
Wir haben uns so angeregt unterhalten, daß ich kaum gemerkt habe, wie die Zeit verging. Inzwischen ist es elf Uhr vorbei. Rafa drängt zum Aufbruch.
"Bis dein letzter Zug fährt, ist es nicht mehr lange hin."
"Vorher möchte ich nochmal ins Bad."
Ich schminke mich umständlich nach. Rafa wartet draußen vor der Haustür. Er hat sich den Kutschermantel über seine Jacke mit den Metallknöpfen gezogen, und es fällt gar nicht auf, daß die Ärmel nicht zu dem Mantel gehören.
"Endlich kommst du", sagt er, als ich die Haustür öffne. "Wir sollten uns nämlich langsam etwas beeilen."
"Ist noch lange genug hin", sage ich lässig. "Das schaffen wir auf jeden Fall."
Beim Gehen streifen wir uns hin und wieder. Ich halte das für unbeabsichtigt, von beiden Seiten. Ich frage mich, was für Gefühle es in mir auslöst. Ich finde keine Verliebtheit in mir. Aber ich erinnere mich an Henk, neben dem ich auch immer so dicht herging, daß ich ihn streifte. In Henk war ich verliebt. Doch aus Henk und mir konnte kein Paar werden, denn er ist schwul. Es erleichtert mich, daß ich heute nur freundschaftliche Gefühle für ihn habe. Im letzten Herbst haben wir miteinander in einem Bunker zu Techno getanzt.
Ich erzähle Rafa von meiner Begeisterung für das Tanzen.
"Ich habe nicht so einen Bewegungsdrang", sagt er dazu. "Sicher - ich tanze auch. Mit Dolf damals im 'Black Rose', das war geil, da haben wir voll abgetanzt. Dolf hat Flicflac gemacht."
"Was, der kann Flicflac?"
"Ja, der kann das."
Ich will Rafa eine Frage stellen, die mir heikel vorkommt. Ich zögere erst, stelle sie ihm dann aber doch:
"Sag' mal ... was ist eigentlich der Grund dafür, daß ich unbedingt mit zu eurem Konzert ins 'Volvox' kommen soll? Geht es dir vielleicht einfach nur darum, den Bus vollzukriegen? Ich meine - ich habe mich schon gefragt, was ist jetzt, will er mich wegen mir mitnehmen, oder will er nur den Bus vollkriegen?"
"Na - ist halt Party", windet er sich heraus. "Ist doch schön, wenn richtig Party ist."
Wir kommen zum Bahnhof.
"Und? Hat es sich für dich nun gelohnt, das Geld für die Fahrt auszugeben?" möchte Rafa wissen.
"Auf jeden Fall. Auf jeden Fall hat sich das gelohnt."
Ich sehe die Bahnhofsuhr.
"Noch ganze neun Minuten bis 23.34", denke ich. "Da haben wir noch viel Zeit."
Wir gehen durch einen Glasflur. Ich drehe mich nach meinem Spiegelbild um.
"Ich muß mich immer angucken", erkläre ich. "Ich bin nämlich echt spiegelsüchtig."
"Ja, ja, ich merk' das schon."
Von einer Unterführung aus gehen wir über eine Treppe hinauf zum Gleis. Kaum haben wir die Plattform erreicht, sagt Rafa kopfschüttelnd:
"Nein. Also, wirklich."
"Was? Was ist?"
"Dein Zug fährt weg."
Ein Zug verschwindet in der Dunkelheit. Man sieht noch die Rücklichter. Ich kann nur nicht glauben, daß es meiner ist - und mein letzter.
"Das kann nicht sein. Bis 23.34 ... Es ist doch erst 23.25."
"Der Zug fährt auch um 23.25."
"Das kann nicht sein. Das geht nicht. Ich war mir ganz sicher, daß der um 23.34 fährt."
"Mensch - und ich frage mich, was trödelt die eigentlich noch im Klo herum."
"Ey - ey, nein. Nein, das ist nicht wahr. Ich verpasse nie Züge. Ich verpasse einfach nie Züge."
"Wir können ja nochmal nachgucken."
Auf dem Weg zum Fahrplan rede ich weiter.
"Ich sehe es noch vor mir - '23.34'. Ich habe nie etwas anderes gedacht als '23.34'. Das ist einfach unmöglich. Das kann einfach nicht sein. Das kann nicht wahr sein. Das ist - pervers."
Rafa kichert.
"Wie man sich über sowas so aufregen kann", wundert er sich. "Ist doch nun mal passiert."
"Den mußt du nehmen", hatte er über diesen letzten Zug gesagt.
Ich denke immer an seine Worte und kann mich nicht beruhigen. Ich weiß wohl, was es bedeutet, wenn ich über Nacht nicht mehr nach Hause komme. Ich muß mich einem Menschen aufdrängen, einem fremden Menschen. Ich bin mit diesem Menschen eine Nacht lang eingesperrt in SHG.
"Ich fasse es nicht", sage ich außer mir.
"Wir gucken jetzt erstmal nach."
In der kleinen, fast menschenleeren Bahnhofshalle, gleich hinter dem Glasflur, hängt der Plan. Rafa fährt mit dem Finger daran entlang.
"Stimmt", sagt er. "23.25. Und der nächste? ... Heute fährt keiner mehr. Ja - 4.23."
"Oh, nein, da muß ich mir ja auch noch eine neue Fahrkarte kaufen. Meine Rückfahrkarte gilt doch nur bis drei. Dann sind das nochmal zehn Mark achtzig ... Ich will nach Hause ... Das kann nicht wahr sein. Ich wollte den Zug nehmen. Echt, ich wollte den Zug nehmen."
"Is' aus für heute. Is' aus."
Rafa und ich gehen wieder über den vereisten Vorplatz. Rafa wirkt durchaus nicht schlecht gelaunt, höchstens erheitert. Ich frage mich, was er von mir denkt. Ich will unbedingt verhindern, daß er glaubt, ich könnte absichtlich den Zug verpaßt haben, um bei ihm übernachten zu müssen. Solche Spiele sind nicht meine Art, und das will ich ihm vermitteln, indem ich mich ganz besonders keusch gebe.
"Zur Arbeit schaffe ich es schon", rechne ich nach. "Ich habe halt drei Stunden Schlaf, das kann schon ausreichen. Ich gehe sofort in die Falle. Ich haue mich sofort hin. Ich tauche nur noch ab."
"Erwarte aber nicht von mir, daß ich morgen um vier aus dem Bett steige."
"Ach, das doch nicht. Der Weg zum Bahnhof ist einfach, den finde ich schon."
"Zu Muttchen habe ich echt null Verhältnis", setzt Rafa vertrauensvoll unser vorheriges Gespräch fort.
"Null Verhältnis", wiederhole ich.
"Da ist nichts, überhaupt nichts", führt Rafa aus. "Wir reden auch nicht miteinander. Wenn's um Kunst geht, da reden wir schon mal miteinander. Aber sonst ist da nichts."
"Und vor dem Tod deines Vaters?"
"Ich sagte ja schon, wir waren eine Familie. Alles zusammen gemacht. Zusammen in den Urlaub gefahren, zusammen Weihnachten gefeiert. Erst damit dann ging alles auseinander. Mein Bruder wohnt unter mir; ich sehe den kaum; ich weiß nicht, was er macht. Jeder lebt für sich. Jeder lebt sein eigenes Leben."
"Dann seid ihr also nicht näher zusammengerückt."
"Nein, das ging nur auseinander."
Als wir wieder bei Rafa sind, rufe ich als Erstes Constri an. Sie lebt mit mir und unserem schwulen Freund Carl in einer Wohnung. Wenn sie nicht weiß, wo ich bleibe, macht sie sich Sorgen.
"Du - ich kann heute nicht mehr nach Hause", muß ich ihr mitteilen. "Ich raffe es echt nicht mehr ab, einen Zug zu erwischen. Ich war mir vollkommen sicher, daß der um 23.34 fährt. Und dann fuhr der um 23.25. Ich begreife nicht, wie ich auf 23.34 gekommen bin. Das war eine echte Fehlschaltung."
"Schaffst du das denn morgen überhaupt zur Arbeit?"
"Ja, das geht schon, das habe ich ausgerechnet. - Du hast es gut, du kannst zu Hause sein ..."
Ich habe den Eindruck, in ein schwarzes Wasserloch zu fallen und immer tiefer zu sinken, tiefer und tiefer.
"Wo willst du schlafen?" fragt Rafa, als ich aufgelegt habe. "In diesem Zimmer oder im anderen Zimmer?"
"In dem da", sage ich und zeige auf das Schlafzimmer.
In der Ecke lehnt eine Matratze. Die nimmt Rafa und legt sie neben dem Bett auf den Fußboden. Eine Decke hat er auch für mich. Als er mir die Kissen anbietet, auf denen wir gesessen haben, sind mir die zu abgebraucht. Ich nehme mir ein kleines silbernes Zierkissen.
Es gab kein Abendbrot. Ich habe nur vorhin eine Tüte mit Lakritzvampiren gegessen. Rafa scheint gar nichts essen zu wollen.
Als ich aus dem Bad komme, hat Rafa eine CD mit den "Vier Jahreszeiten" von Vivaldi eingelegt. Es läuft "L'Estate". Ich höre das Stück gerne, nicht zuletzt, weil es von Carlos Peron in der hypnotischen Klangcollage "Massacre in Frankfurt" versampelt worden ist.
"So, noch schnell die Shorts an mit den vielen kleinen Vampiren drauf", sagt Rafa, als er ins Schlafzimmer kommt. "Dracula war immer mein Vorbild."
Außer den Shorts trägt er nur ein weites, ausgewaschenes TShirt.
"So, auf was stellen wir den Wecker?" frage ich. "Halb vier?"
"Nein. Nein. Auf vier."
"Dann ist aber doch die Zeit so kurz, bis ich los muß."
"Dann mach' dich halt schneller fertig."
"Na - ob ich das schaffe ..."
Ich lege mich hin, ohne etwas auszuziehen. Sogar meine Strickjacke lasse ich an, aus Furcht, zu frieren.
Rafa nimmt sich eine Zeitschrift, legt sich auf sein Bett und liest mir vor. Eine neue 'Dracula'-Verfilmung soll in die Kinos kommen, und sie erntet nicht nur Lob.
"Der Francis dachte sich wohl, mach' ich 'Dracula', is' so schön einfach", meint Rafa zu Coppolas Versuch. "Der wußte nicht, was er sich vornimmt."
"Wollen wir uns den Film im 'Cinnamon' in H. ansehen?" schlage ich vor.
"Nein, da gehen wir hier in SHG. 'rein, das steht schon fest; das wird wieder kult."
Der CD-Player hakt. Rafa rennt hin und macht ihn kurz aus und dann wieder an. Kaum liegt Rafa wieder auf seinem Bett, hakt der Player noch einmal. Die Violine vibriert immer auf einem Ton. Rafa richtet sich auf und kniet sich hin. Er sieht den Player böse an und sagt:
"Nein. Nein. Nein, ich steh' nicht auf. - Ich werf' gleich mit was."
Er nimmt ein Feuerzeug, wirft nach dem Player und trifft. Nun vibriert die Violine zwei Töne tiefer.
"Is' nich'", sage ich und lache. "Erzähl' ich Constri, und sie lacht sich tot."
Rafa schaltet die Musik ab und legt sich unter die Decke.
"So, soll ich das Licht nun ausmachen?" fragt er.
"Ja."
"Ich mach' aus. - Ist das dunkel. - Eins hab' ich sonst immer an."
Es bleiben nur noch die Standby-Lichter der Anlage, kleine rote Pünktchen. Über mir ahne ich schattenhaft den Kronleuchter.
Ein Stockwerk tiefer schaltet jemand sehr laut Musik an. Das geht etwa zehn Minuten lang, dann herrscht wieder Stille. Ich vermute, daß das Rafas Bruder war. Es kommt mir vor wie ein Spuk, ein Fluch, der einen Menschen dazu treibt, zu immer gleicher Zeit etwas Bestimmtes zu tun. Rafa erzählte mir, nach dem Tod seines Vaters sei sein Bruder als Erstes in sein Zimmer gegangen und habe laut Musik gehört. Vielleicht muß er jenes Ereignis immer wieder durchleben.
"Warst du mit dem Jochen eigentlich zusammen?" stellt Rafa mir eine Frage, die ihn schon länger zu beschäftigen scheint.
"Ach, wo!" winke ich ab. "Mit dem war ich nie zusammen. Vor fünf Jahren hat der sich mal bei mir eingeschleimt und hat andauernd bei mir abgehangen. Ich habe ihn nach ein paar Wochen achtkantig 'rausgeschmissen. Eher habe ich das nicht geschafft, weil ich erst genügend Wut ansammeln mußte. Ich bin normalerweise eher höflich und nachgiebig, und der Sockenschuß ist unglaublich dreist. Ich mußte gegen diese Dreistigkeit erstmal eine ausreichende Verteidigungsbereitschaft aufbauen. Der hat in seiner Dreistigkeit sogar gesagt, er sei ja sowieso nur noch bei mir, da könnte er doch ebensogut seine Wohnung aufgeben.
'Die behältst du mal schön', habe ich gesagt.
Und dann habe ich ihn 'rausgeworfen, und die Tür war zu. Ich bin froh, daß ich den Sockenschuß nie an mich herangelassen habe."
"Herangelassen?"
"Er hat nie bekommen, was er wollte - nie", erkläre ich. "Ich bin stolz auf mich. Seit damals belästigt der Sockenschuß mich. Er bildet sich ein, ich sei in ihn verliebt. Seit fünf Jahren lauert der mir auf, versucht, mich anzugreifen und schickt irgendwelche Briefe, die ich ungelesen in den Müll schmeiße. Von dem gibt es echt viel zu erzählen. Der ist mal in unsere damalige Stammdiscothek gekommen mit einem handgesägten Hut auf dem Kopf, der war schwarzweiß kariert. Passend dazu hatte er sich das Gesicht schwarzweiß kariert angemalt. Dann ist er so komisch über die Tanzfläche geschlichen und hat den Leuten erzählt, er hätte mal Seiltänzer werden wollen, deshalb würde er so gehen. Und einmal hat er sich mit einem schwarzen Kajal Fliegen ins Gesicht gemalt. Als ich das meiner Schwester erzählt habe, hat die gemeint:
'Ist eigentlich logisch. Er ist doch wirklich ein Stück Sch...'"
"Zieht ihr aber über die Leute her", staunt Rafa. "Hoffentlich ziehst du nicht mal über mich so her."
"Wieso? Du hast mir nichts getan. Ich ziehe nur über Leute her, die mir was getan haben."
"Liegst du überhaupt bequem?" erkundigt sich Rafa.
"Ja, sicher."
Etwas später sagt er unvermittelt in den Raum hinein:
"Eigentlich merkwürdig."
"Was ist merkwürdig?" frage ich vorsichtig.
"Wie sich unsere Beziehung entwickelt", antwortet er. "Erst talken wir nur im 'Elizium' 'rum, und jetzt reden wir über den Tod."
"Ich führe gerne persönliche Gespräche. Die sind für mich das eigentlich Wichtige."
"Über mich halte ich fast immer die Klappe."
"Mir hast du viel Persönliches von dir erzählt."
"Zu viel."
"Angenehm viel", ermutige ich ihn. "Ich war positiv überrascht. Ich will das immer erreichen. Und es ist nicht so, daß ich die anderen damit nur ausnutze. Die anderen haben oft auch etwas davon. Es gibt Leute, die können mir Sachen erzählen, die sie anderen nicht erzählen können."
"Sicher, jeder kann jedem etwas anderes erzählen", biegt Rafa ab.
In Gedanken sehe ich ihn vor mir, wie er in T-Shirt und Shorts um mein Lager herumläuft. Der Anblick von dem ungeschminkten, unkostümierten Rafa gräbt sich in mich ein. Er ist so kräftig und hat doch so leichte, verspielte Bewegungen. Er wirkt aufgekratzt und quirlig und gleichzeitig seltsam traurig. Er wirkt ehrlich und empfindsam und gleichzeitig durchtrieben und launenhaft. Ich muß wirklich in eine Falle gestolpert sein. Kurz bevor ich aufwache, wird es mir bewußt.
"Sicher", seufze ich in Gedanken. "Sicher. Was denn sonst? Das mußte ja so kommen. Das war selbstverständlich. Schade, daß diese Gefühle so sinnlos und unbrauchbar sind. Schade, daß sie so ins Leere laufen."
Es ist unvorstellbar für mich, daß jemand, den ich will, mich auch will. Außerdem müßte Rafa viel tun, um mich zu bekommen, und diese Mühe wird er sich nicht machen. Er hat schon andere gehabt, und er wird das bevorzugen, was er bekommt, ohne sich dafür einsetzen zu müssen.
Als der Wecker klingelt, schaltet Rafa das Licht an. Ich stehe sehr schnell auf. Rafa liegt auf der Seite und fragt mich:
"Brauchst du irgendetwas?"
"Ich mache nichts, außer daß ich mich nachschminke und die Haare richte. Ich mache den Rest zu Hause, auch Duschen. Ich habe soweit alles da."
"Wirklich gar nichts?"
"Nein, ich komme schon zurecht."
Rafa möchte, daß ich ins untere Bad gehe, weil es dann in der Wohnung leiser ist und seine Mutter nicht aufwacht. Ich muß mich durch den Flur zum Treppenhaus tasten und da den Lichtschalter finden. Die Stufen knarren. Es ist eins von den Treppenhäusern, in denen es unmöglich ist, leise zu gehen.
Als ich wieder nach oben komme, gibt mir Rafa den Haustürschlüssel.
"Unten ist zu", sagt er. "Du mußt dir aufschließen. Schließ' auf jeden Fall wieder ab und wirf den Schlüssel in den Briefkasten. Das ist nicht gut, wenn da offen bleibt."
Ich greife nach den Mänteln.
"Ach - und komm' gut nach Hause", wünscht mir Rafa.
Ich lasse den Schlüssel in den Briefkasten fallen und sehe noch einmal zu dem Schild neben dem Eingang hinüber.
"Die kleine Galerie - Inh. Sera Dawyne"
Es ist noch kälter geworden. Ich bin nun froh, daß ich mich so warm angezogen habe. Auf dem Bahnsteig liegen Eisbrocken. Mir fällt ein, daß ich den Sampler vergessen habe, den Rafa mir geschenkt hat. Ich hatte den Sampler ordentlich auf einen der Hocker gelegt, als er seine Platten wegräumte.
"Er kann ihn mir ins 'Elizium' mitbringen ... wenn er das packt", denke ich. "Sonst kann ich ihn auch mitnehmen, wenn ich einmal wieder hier bin ... wenn ich noch einmal hierherkomme. Im Zweifelsfall kann ich mir den Sampler immer noch bei Ivo aufnehmen."
Wenn ich Geschenke vergesse, entsteht in mir das Gefühl, daß etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ich meine dann, etwas besonders Wichtiges versäumt zu haben, das unbedingt nachgeholt werden muß.
Das neue Großraumabteil ist gut geheizt und fast leer. Ich schlafe halb und wache halb.
"Er ist überhaupt nicht dumm", erzähle ich Constri, als ich heimkomme. "Der ist intelligent und kultiviert. Er ist gar nicht so, wie ich gedacht hatte."
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