Netvel: "Im Netz" - 11. Kapitel































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Ted war schon in der "Halle", als ich dorthin kam. Er hatte seinen Freund Cyan mitgebracht. Auch Daria schien bereits auf mich gewartet zu haben. Sie war heiser und konnte kaum sprechen; sie meinte, deswegen habe sie mich noch nicht angerufen. Daria bezieht im Juli eine Wohnung in H.
Ich entdeckte Rafa auf dem Bühnenpodest. Er war am Mikrophon beschäftigt. Mit Kappa, der oben auf dem Balkon am Mischpult stand, machte Rafa den Soundcheck für die Band PP?.
"Laber, laber, tötet Onkel Mario", sagte Rafa durchs Mikrophon. "Alles toll, alles gut, alles bestens."
Er wirkte aufgedreht und heiter. Ich beobachtete sein wildes Gestikulieren und mußte lachen. Rafa hatte sich feingemacht. Er trug das Spitzenhemd mit den breiten Manschetten und eine schwarze Weste, in die Ornamente eingewebt waren. Seinen Pferdeschwanz zierte eine schwarze Samtschleife, und er hatte sich eine ovale Brosche an die Brust gesteckt.
Nach dem Auftritt der Band gab es Merchandising. Rafa war häufig am Verkaufstisch zu finden. Er unterhielt sich mit den Bandmitgliedern und trank Bier. Ich ging an den Verkaufstisch, als Rafa gerade nicht da war und nahm mir einen Handzettel, auf dem die Eröffnungsparty für das neue "Future", das "Nachtlicht", angekündigt wurde. Rafa will donnerstags im "Nachtlicht" mit Kappa Industrial auflegen. Ich frage mich, ob ihm das gelingen wird.
Auch an den anderen Tagen will Rafa im "Nachtlicht" Dienst tun, bis auf den Samstag.
Ich beschloß, zu der Eröffnungsparty zu gehen, die Anfang August stattfindet. Ich sehe es kommen, daß die Feier viele Neugierige anziehen wird.
Daria und ich standen gerade am Rand der Bühne, als Rafa über das Podest auf uns zumarschierte. Er lächelte. In der Hand trug er einen von den gelben Ankündigungszetteln für das "Nachtlicht". Ich stieg auf die Bühne und hielt mich von außen am Geländer fest. Es schien erst so, als wollte Rafa an mir vorbeigehen. Er drehte jedoch mit einem entschlossenen Ruck den Kopf und reichte mir die Hand. Das Geländer war zwischen uns; viel konnte ihm nicht passieren.
"Na?" grüßte Rafa.
"Na?" grüßte ich zurück. "Wie geht's?"
"Oh. Gut."
"Fein."
Ich griff mit dem linken Arm nach seiner Schulter. Er beugte sich vor, und ich legte meine Wange an seine. Er duldete das für einen Augenblick, dann gab er mir den gelben Zettel und sagte:
"Hier. Eröffnungsparty am 06.08. Unbedingt kommen. Unbedingt kommen."
"Das kann schon sein, daß ich komme."
"Hm?"
"Ich denke, ich komme."
Ich betrachtete Rafa und griff vorsichtig nach seiner Hand. Er wehrte sich nicht; er fragte nur:
"Und? Was 's' los?"
"Ich will dich so viel fragen."
"Ruf' mich doch mal an", forderte er mich auf.
"Ja, gut", sagte ich. "Es ist nur die Frage, wo du zur Zeit mehr bist, bei Kappa oder zu Hause."
"Mehr bei Kappa."
"Ja, dann müßtest du mir Kappas Nummer geben."
Rafa zögerte kurz und sagte schnell:
"Also gut, ich bin mehr zu Hause. O.k.?"
Ehe ich etwas einwenden konnte, war er wieder beim Verkaufstisch.
Ich mußte immer noch lachen, wenn ich Rafa dabei zusah, wie er schwätzte und mit den Armen herumfuchtelte. Er wurde dessen gewahr. Lächelnd blickte er zu mir her und hob sein Glas. Ich stützte meine Arme auf das Geländer und lachte weiter. Rafa schien Spaß daran zu haben, mich zum Lachen zu bringen. Er stand auf und zog seine Spiegelbrille hervor. Mit "verspiegelten" Augen und Bierglas warf er sich in Pose.
Daria meinte, es gebe durchaus Tage, an denen ich Rafa zu Hause erwischen könnte. Am vergangenen Dienstag etwa soll er in SHG. gewesen sein. Daria traf ihn mittags beim Einkaufen.
"Was machst du denn hier, Daria?" fragte er streng. "Mußt du nicht arbeiten?"
"Das mußt du gerade sagen!" gab Daria zurück.
Rafa soll noch immer nicht arbeiten. Als ich Daria erzählte, daß Rafa behauptete, Friseur werden zu wollen, winkte sie lachend ab. Ihr hat Rafa erzählt, er wolle in SHG. eine Disco eröffnen. Das wirkt auf mich ebenso unglaubwürdig. Ich kann mir viel eher vorstellen, daß Rafa in Zukunft wie Kappa sein Geld mit der Organisation von Tanzveranstaltungen und Auftritten verdienen will.
Die Sängerin ist laut Daria mit ihrem neuen Freund zum "Zillo"-Festival nach KA. gefahren.
"Aber Tessa kommt bestimmt auch zur Eröffnungsparty", meinte Daria. "Ich denke schon, daß du sie nochmal wiedersiehst."
"Ich auch", sagte ich. "Leider."
PP? traten noch ein zweites Mal auf. Eve war ganz vorne im Publikum. Mit ihr soll Rafa kein Wort mehr wechseln.
"Der will über Eve auch nichts mehr sagen", erzählte Daria. "Es ist gut, daß er nichts mehr über sie sagt."
Als PP? fertig waren, ging Rafa auf der Bühne ans Mikrophon und feuerte das Publikum an:
"Zugabe! Jetzt will ich was hören!"
Ein paar Stimmen baten um Zugabe. Kappa rief durch das Mikrophon auf dem DJ-Pult, das sei nicht genug, doch Rafa meinte:
"Ach, eins können sie noch spielen. Ein kurzes."
Während des Stücks suchte sich Rafa einen Platz am Ende der Bühne. Er sprach mit einem unscheinbar wirkenden Mädchen. Rafa hatte seine Augen längst wieder "entspiegelt", versorgte sie nun aber mit der silberrandigen Sehhilfe, die ich so furchtbar häßlich finde. Nach der Zugabe trat er wieder vor, nahm sich das Mikrophon und bat um Applaus.
"Rafa!" rief Kappa vom Balkon herunter. "Hast du aber eine schöne Brille auf!"
Kappa hatte mir aus der Seele gesprochen. In seiner Stimme war ein Zynismus, den ich ihm nicht zugetraut hätte.
"Hier seht ihr noch einmal Rafa live!" schallte Kappas Stimme durch den Saal. "Rafa! Du hast aber eine schöne Brille auf!"
Damit ein jeder es sehen konnte, richtete Kappa einen grellweißen Lichtkegel auf Rafa.
"Los, nun sing' mal was!" verlangte Kappa. "Sing' 'Tötet Onkel Mario'!"
"Da brauch' ich Musik zu!" zierte sich Rafa.
"Ach, ein guter Sänger kann's auch so", drängte Kappa. "Komm', wir singen zusammen!"
Und er ahmte Rafas Krächzen nach:
"Die Nacht ist wieder da,
der Kontakt ist hergestellt!"
Dann pries er Rafa an:
"Und ich sage euch, Leute: Dieser Mann ist noch besser!"
Ehe Rafa nicht mehr wußte, was er sagen oder tun sollte, erbarmte Kappa sich seiner, schaltete den Scheinwerfer aus und den CD-Player ein.
Die Musik fand ich nicht besser als am vergangenen Freitag. Unter den wenigen Stücken, die ich noch hören konnte, waren "Das zweite Leben" von den Serpents und "Claustrophobia" von Kabelbrandt. Als "Claustrophobia" kam, fragte ich Cyrus auf der Tanzfläche, ob nicht mehr Musik laufen könnte wie eben jetzt; ansonsten werde fast nur abgedroschenes Zeug gespielt. Cyrus meinte, die Leute würden dieses totgespielte Zeug eben hören wollen. Ich erzählte ihm, daß genau das meine Leute weitgehend aus der "Halle" vertrieben hat.
"Außerdem kann man die Leute auch an andere Musik gewöhnen", meinte ich.
Daria wollte wissen, ob ich am kommenden Freitag in der "Halle" sein würde.
"Da ist nur New Wave, das lohnt sich für mich nicht."
"Denk' an Rafa", bat Daria, wobei es ihr wohl eher um meine Gesellschaft ging.
"Ich denke auch an Rafa", sagte ich.
"Dann komm'!"
"Nein, dann würde ich ihn zu sehr verwöhnen. Ich darf nicht immer überall sein. Er muß auch lernen, daß er zu mir kommen muß."
Rafa blieb meistens bei Kappa am Pult, war nur zwischendurch kurz unten; einmal redete er in meiner Nähe mit einigen Leuten, einmal ging er an der Ecke vorbei, wo wir saßen. Rafa lächelte mir zu und winkte, blieb aber nicht stehen.
"Wart ihr denn schon im Bett?" erkundigte sich Daria.
Ich erklärte ihr, daß ich es Rafa nicht so leicht machen kann, weil ich nicht so enden will wie die vielen Mädchen, die er schon verschlissen hat.
Daria meinte, sie habe noch niemanden kennengelernt, der es mit den Mädchen so schlimm treibe wie Rafa.
"Viele sagen, wenn ein Mann untreu ist, kann man den nicht mehr zur Treue bringen", sagte ich. "Aber ich bin mir da nicht sicher. Ich will es selbst herausfinden. Außerdem, wenn man einen Mann liebt, dann liebt man den."
Zu dem unscheinbaren Mädchen, mit dem Rafa geredet hatte, gehörte noch ein zweites. Daria zeigte sie mir. Sie sollen Bekannte von Rafa sein.
Es wurde drei Uhr. Ich tanzte gerade, da sah ich Rafa mit geschultertem Rucksack zum Bühnenpodest gehen. Er wollte fort, doch zögerte er noch. An der Stelle, wo der Verkaufstand gewesen war, unterhielt er sich mit mehreren Leuten. Hin und wieder sah er mir ins Gesicht. Ich sah ihn ebenfalls an, ohne mich jedoch im Tanzen zu unterbrechen. Rafa schien sich von mir verabschieden zu wollen, sich aber nicht zu trauen. Er ging, ehe das Lied zuende war.
Daria hatte von ihrem Platz aus beobachtet, daß Rafa seine beiden "Bekannten" mitnahm. Ich hatte die Mädchen wohl deshalb nicht gesehen, weil der große Lautsprecher sie vor meinem Blick verbarg.
Rafa und zwei Mädchen ... Ich weiß nicht, ob er schon mit zweien auf einmal geschlafen hat.
Ted und Cyan fuhren mit dem Taxi, Daria und ich nahmen die erste Bahn. Auf dem Weg zur Haltestelle erzählte Daria, Dolf sei etwas größer als sie. Sie selbst mißt einen Meter siebenundfünfzig. Als sie zu Rafa sagte, er sei so groß, meinte er, er sei doch nicht groß; das würde für sie wohl nur so aussehen, bei ihrer Minigröße.

Am Morgen habe ich geträumt, ich würde in der "Halle" vor der Tanzfläche stehen. Rafa ging von hinten an mir vorbei, so dicht, daß er mich fast streifte.

Abends gab es bei Constri ein Treffen. Ich bat Derek, mir einige seiner neuen Stücke aufzunehmen. Sie klingen wie eine depressive Version von Dive.
Unser Treffen war ein Treffen von Sorgenkindern; alle waren Sorgenkinder bis auf Ted und mich. Constri, Derek, Talis, Carl, Ortfried und Malda haben alle unbewältigte Probleme, die ihre Existenz in Frage stellen.
Ortfried rief U.W. an. Er reichte den Hörer an mich weiter, und U.W. fragte mich:
"Soll ich dich mal ein bißchen ärgern?"
"Ja, was gibt's?"
"Rafa hat eine neue Freundin."
"Und, wer soll das sein?"
"Meta, die Tochter von dem Chef vom 'Future'."
"Von wem hast du das gehört?"
"Ach, von jemandem, den ich kenne."
"Und wann hast du das gehört?"
"Ach, letzte Woche."
"Und an welchem Tag?"
"Dienstag war's, glaub' ich."
"Letzte Nacht hat Rafa mich in der 'Halle' gebeten, ihn anzurufen, und er war meistens allein."
"Wann war das?"
"Letzte Nacht in der 'Halle'. Ich habe zu ihm gesagt:
'Ich will dich soviel fragen.'
Und da hat er zu mir gesagt:
'Ruf' mich doch mal an.'"
"Oh, dann bin ich ja nicht auf dem neuesten Stand. Dann muß ich meine Informanten mal wieder ausschicken."
Ich halte es trotz allem nicht für abwegig, daß Rafa mit Meta ein Verhältnis hat. Sie wird eines der unscheinbaren Mädchen gewesen sein, mit denen er die "Halle" verließ. Sie kann ihm nützen, weil ihr Vater Macht und Geld hat, und das reizt ihn. Er hat schon die Sängerin auszunehmen gewußt. Nun wäre Meta an der Reihe. Vielleicht war sie es, die Rafa dazu verholfen hat, mit Kappa das "Future" zu übernehmen.
Ich glaube, Rafa wird noch viele solcher Zweckbeziehungen eingehen. Er fesselt sich an Geldgeberinnen und Bettgespielinnen. Er behauptet, mich kennenlernen zu wollen, doch wie will er das machen, wenn er nicht frei für mich ist?
Dolf war ohne Daria im "Elizium", dafür mit der Sängerin. Sie war vielleicht da, weil Dolf ihr gesagt hatte, daß Rafa nicht kommen würde. Mir wird übel, wenn ich die Sängerin sehe. Früher wurde mir im "Elizium" schlecht, weil ich den Sockenschuß sehen mußte. Nun hat Rafa den entfernt und mir dafür ein anderes Brechmittel beschert.
Die Musik im "Elizium" gefiel mir sehr. Xentrix erfüllte mir einen Musikwunsch, "Hope like a Candle" von Blackhouse.
Wie eine Kerze, die nicht ausgeht, soll mir auch die Hoffnung nicht ausgehen.
Rikka war mit ihren neuen Freund im "Elizium", dem neunzehnjährigen Seth. Es erleichterte sie, daß Talis nicht da war. Seth wirkte auf mich etwas schüchtern, aber durchaus nett. Er war luschiger und teenagerhafter gekleidet als der wesentlich ältere Talis, und ich fand ihn auch weniger hübsch als Talis. Ich konnte nicht umhin, Rikka zu stechen:
"Talis hat ganz strähnige Haare vor Kummer."
"Oh, bitte, erzähl' mir das lieber nicht."
"Ist gut; ich weiß, ich sollte dir das besser nicht erzählen."
Kurz nach vier Uhr graute der Morgen. Ich dachte an Rafa und vergaß dabei, an mich zu denken; immerzu dachte ich an ihn. Allerdings wollte ich auch an ihn denken.

Kein Ort und keine Stunde
Im Traum suchte ich in einem Restaurant einen Platz, aber keiner war mir recht. Dann sah ich einen Schwarzgekleideten vor einer Tankstelle, die er führte. Er meinte, die gutgehende Tankstelle würde ihn überfordern, er könne das alles nicht mehr.
In einem Zug fand ich auch nicht den richtigen Platz für mich. Außerdem hatte ich in der Eile keinen Fahrschein mehr lösen können, und ich wußte auch nicht, wie spät es war. Alle Leute, die ich nach der Uhrzeit fragte, wunderten sich darüber; einige lächelten oder lachten.
"Das ist ein Nachtzug, und ich muß wissen, wieviele Stunden es bis zu meiner Ankunft sind", erklärte ich. "Ich möchte nämlich noch schlafen. Einen Wecker habe ich schon nicht; da brauche ich wenigstens die Uhrzeit."
Die meisten Leute hatten gar keine Uhr; sie hielten es nicht für wichtig, zu wissen, wie spät es war. Immerzu wiederholte ich:
"Ich brauche unbedingt eine Uhr!"
Schließlich entdeckte ich eine Uhr am Handgelenk eines Mädchens. Als ich darauf gucken wollte, hielt das Mädchen sie scherzhaft zu. Es gelang mir aber mit etwas Geduld doch noch, einen Blick auf das Ziffernblatt zu werfen.
"Viertel nach elf!" sagte ich beruhigt.
Da erschien an meinem Handgelenk meine Armbanduhr mit der Inschrift:
"Fugit tempus irreparabile."
Die Uhr hatte zunächst noch keine Zeiger, doch als ich sie ein wenig hin- und herwendete, erschienen auch die Zeiger. Weil ich die Uhrzeit erfahren hatte, konnte ich meine Uhr stellen und mir selbst helfen. Ich hatte mein eigenes Maß und brauchte die Maßstäbe der anderen nicht mehr.

Der Schwarzgekleidete vor der Tankstelle erinnert mich an Derek, der sich mit seinem ganzen Leben überfordert zu fühlen scheint und gar nicht so recht würdigen kann, was er hat. Bei Constri sorgt er gern für Aufregung, indem er behauptet, sich umbringen zu wollen. Das Fatale ist, daß man bei Derek so etwas wirklich nicht ausschließen kann, hat er doch schon einmal einen Selbstmordversuch unternommen.
Nachmittags um halb sechs versuchte ich, bei Rafa anzurufen. Statt seiner meldete sich die Mutter:
"Ja? Dawyne?"
"Ja, hallo, ich wollte nur fragen, ob Rafa da ist."
"Das weiß ich nicht. Ich bin gerade unten im Laden. Ich kann mal nachgucken."
Sie ging.
"Der ist nicht da", sagte sie, als sie wiederkam. "Soll ich was bestellen?"
"Nein, ich versuche es dann ein andermal nochmal."
"Gut - tschüß."
"Tschüß."
Ihre Stimme klang nicht unfreundlich, dabei aber kühl. Sie redete schnell und in einem geschäftsmäßigen Tonfall. Auch ihre Schritte waren schnell und kurz. Sie trug Schuhe mit Absätzen.
Ich fragte mich, ob sie überhaupt wissen möchte, was Rafa alles so macht.
Am nächsten Tag rief ich gegen viertel vor vier noch einmal an und erreichte Rafa.
"Ja? Dawyne?" meldete er sich mit der mir vertrauten, fremd klingenden Stimme.
"Ja? Rafa?"
"Hm?"
"Na? Ich bin's."
"Ach, ja."
"Na? Wie geht's?" erkundigte ich mich.
"Oh, ganz gut."
"Und, was machst du gerade so?"
"Ja, was mache ich gerade ... Eben bin ich aufgestanden ... hab' mich ein bißchen schön gemacht ..."
"Ein bißchen schön ..."
"Ja, was heißt 'schön'?" lacht Rafa. "Ich hab' mich angezogen. Und dann hab' ich ein bißchen Fernsehen geguckt."
"Was kam denn so? Die Sesamstraße?"
"Ich weiß nicht mehr, was kam; ich war da ja noch nicht wach."
"Ach, du warst noch nicht wach. Jedenfalls, ob die Sesamstraße kam, weißt du nicht?"
"Wenn's die Sesamstraße gewesen wäre, wäre ich schneller wach geworden."
"Ah, ja. Und was machst du dann nachher so alles?"
"Nachher sitz' ich wieder den ganzen Tag am Computer."
"Genau wie ich. Ich sitze auch den ganzen Tag vor dem Computer. Vorhin im Institut auch, da habe ich auch die ganze Zeit am Computer gesessen. Ich mache da Layouts für so ein Forschungsprojekt. Heute war einer da von einem großen Fachverlag. Vielleicht kann ich für so ein Fachbuch layouten. Dann gibt es vielleicht irgendwann auch mal echt Geld."
"Ah, so."
"Und, was machst du so am Computer? Musik?"
"Auch."
"Hast du eigentlich einen DOS-Rechner oder einen Mac-Rechner?"
"Wie? Ich weiß da jetzt nicht so genau den Unterschied."
"Na, es gibt doch einmal die Macintosh-Rechner und einmal die DOS-Rechner. Und ich habe einen Macintosh-Rechner."
"Ich habe Atari."
"Na, das ist wahrscheinlich ein DOS-Rechner."
"Ich weiß jetzt, ehrlich gesagt, nicht so recht, was du meinst."
"Also, Mac-Rechner sind Computer von der Firma Apple."
"Apple! Dann sag' das doch gleich!"
"Ja, Apple Macintosh. Der Atari, das ist doch der einzige mit diesem Midi-Anschluß, nicht?"
"Ja."
"Das hattest du mir doch erzählt. Über den Midi-Anschluß kann man doch die Keyboards direkt an den Computer dranschließen."
"Ja."
"Das hast du doch sicher schon gemacht, die Keyboards an den Computer drangeschlossen, nicht?"
"Ja, klar."
"Was machst du denn noch so am Computer außer Musik?"
"Unterschiedlich. Im Moment sitz' ich gerade an dem Handzettel für die Gothic Night."
"Ah, ja."
"Meine Telefonnummern habe ich jetzt auch alle im Computer gespeichert."
"Meine hast du aber nicht mehr, oder?"
"Nein, die habe ich nicht mehr."
"Oh, dabei hattest du sie dir so schön auf eine Zigarettenschachtel geschrieben."
"Ja, deine Nummer könntest du mir überhaupt ... nochmal geben. Also ... Zettel ... ja. Sag'."
Ich diktiere ihm die Nummer. Wenn er sie wirklich in den Computer eingibt, kann er sie nur noch verlieren, indem er sie löscht, und das wird er unabsichtlich kaum tun.
Rafa wiederholt die Nummer zur Sicherheit.
"Zur Zeit wohnst du ja vorwiegend bei Kappa, nicht?" erkundige ich mich.
"Also, im Augenblick bin ich in SHG.", sagt Rafa überflüssigerweise.
Als ich ihn auf seinen Plan anspreche, demnächst nach H. zu ziehen, fragt er:
"Wer hat dir das erzählt?"
"Das hat mir Daria erzählt", antworte ich. "Willst du mit Kappa zusammenziehen?"
"Nein."
"Mit wem willst du denn zusammenziehen?"
"Mit keinem."
"Ach, du willst dir allein eine Wohnung nehmen."
"Was heißt 'Wohnung' ... es kann auch ebensogut eine WG sein ... ein Zimmer tut's auch ... einfach etwas, wo ich am Wochenende die Nacht über bleiben kann. Das geht ja auch nicht, daß ich immer bei Kappa hänge."
"Hast du denn schon etwas gefunden?"
"Nein."
"Ah, ja", sage ich nachdenklich. "Und, hast du dich schon etwas mehr an H. gewöhnt? Du hast ja sonst immer so von SHG. geschwärmt ..."
"Ja, ich habe mich schon mehr daran gewöhnt."
"Ist das eigentlich so, daß du beruflich jetzt so etwa das Gleiche machen willst wie Kappa?"
"Warum sollte ich das machen?"
"Na, weil du es im Grunde schon machst."
"Nein, ich mache meinen eigenen Kram, schon W.E-mäßig. Aber irgendwo mache ich mit Kappa schon was gemeinsam."
"Ja, Discos, Veranstaltungen und solche Sachen ... Wirft es denn was ab?"
"Na, im Moment ja noch nicht."
"Stimmt, ihr mußtet ja erstmal nur investieren."
"Ja, sicher."
"Woher hattest du denn das Geld, um zu investieren?" frage ich lauernd.
"Ich hab' Geld", kommt es von Rafa.
"Ach, du hast Geld."
"Ja", bestätigt Rafa. "Aber wir mußten dann doch nicht so viel ausgeben, wie wir gedacht hatten. Es hielt sich dann doch in Grenzen."
"Aus deinem Beruf wolltest du ja 'raus wegen deinem Rücken."
"Ja, das auch, aber das war nicht das Eigentliche. Das war nicht das Wesentliche."
"Was war denn das Wesentliche?"
"Ja, mit meinem Rücken, also ... ich bin jetzt kein Invalide", bemüht sich Rafa um Klarheit; es scheint mir fast, als würde er sich davor fürchten, öffentlich als Behinderter zu gelten. "Ich hatte nur ab und zu mal einen Hexenschuß, und das sollte eigentlich nicht sein in meinem Alter, finde ich."
"Nein, das sollte auch nicht sein. Was war es denn nun eigentlich, weswegen du aus deinem Beruf 'rausgegangen bist?"
"Ja, das waren ja auch andere Sachen, die ... Lacke."
"Ja klar, diese Dämpfe, das sind ja Chemikalien."
"Das war sowieso klar, daß das nicht der Beruf fürs Leben ist. Das war aber wichtig, weil, das ist die Basis, das ist die Versicherung. Jetzt kann mir nichts mehr passieren. Ich kann theoretisch als Maler fast überall arbeiten und die dicke Kohle machen."
"Ja, eine abgeschlossene Ausbildung ist wichtig."
"Der Beste - in Niedersachsen", erinnert Rafa an seine Gesellenprüfung.
"Ah, du warst der Beste in Niedersachsen."
"Ja."
"Dann bist du ja schon fast ein Künstler. Nicht?"
"Bin ich das? Weiß ich nicht."
"Na ja, du wolltest doch auch mal Kunst studieren, nicht?"
"Ich weiß auch nicht mehr, ob das jetzt so geht. Ich glaube irgendwie, ich kann nichts mehr dazulernen."
"Du kannst nichts mehr dazulernen? Du bist doch erst dreiundzwanzig. Ich kann doch auch noch etwas dazulernen, und ich bin achtundzwanzig. Man hört doch nie auf zu lernen."
"Ja, nein - so meine ich es nicht", erklärt Rafa. "Es ist nur ... ich will nicht zuviel wissen."
"Ich verstehe schon. Wenn du Kunst studierst, weißt du so viel, daß du nicht mehr über deinen Instinkt, über dein Empfinden arbeiten kannst. Ich kenne das selber vom Schreiben."
"Ich will mich weiterbilden", meint Rafa. "Klar will ich mich weiterbilden."
"Ja, das weiß ich."
"Ich will aber nicht zuviel wissen, verstehst du? Dem Lexx von Kappas Band habe ich mal ein Stück von mir vorgespielt, da hat der gesagt, das würde aufgebaut sein wie eine Fuge. Ich wußte nicht, was eine Fuge ist, und da hat der mir die Prinzipien der Fuge erklärt. Und da habe ich gesagt:
'Ein Glück, daß ich das nicht gewußt habe. Sonst hätte ich das Stück nicht machen können.'
Verstehst du, was ich meine?"
"Ja, ich verstehe das. Ich arbeite ja auch künstlerisch. Da ist es ähnlich. Ich lese nicht, um besser schreiben zu können. Wenn ich überhaupt lese, lese ich nur Fachzeitschriften und Märchen. Das war's. Ich möchte nicht meine Sprache verlieren. Ich sehe dann immer, wenn ich sowas lese, so hat der das gemacht, so hat der das gemacht, so hat der das gemacht ..."
"Ja, und dann hältst du dich dran."
"Genau", bestätige ich. "Und das will ich nicht. Ich möchte meine eigene Sprache behalten."
"Na, siehst du."
"Ja, und deshalb lese ich höchstens diesen Fachkram ... Man muß die Reize sorgfältig auswählen, die man sich zumutet. Für dich ist das zum Beispiel die Sesamstraße."
"Die Sesamstraße ... Enterprise ..."
"Ich bin vor allem in den Bereichen kreativ, die ich nicht konsumiere. Ich schreibe, also lese ich nicht; ich höre aber Musik, und die mache ich nicht."
"Ich ... mach' alles, und das ... geht gut."
"Ja, und jetzt muß nur noch die Vermarktung kommen."
"Ich bin dabei."
"Du hast mir damals nur Bilder gezeigt, die du bis 1989 gemalt hattest", erinnere ich Rafa. "Hast du seitdem ...? Ich meine, du hast seitdem Bilder gemalt; eines hast du mir ja gezeigt, das stand unten im Fenster, das war rosa. Das weiß ich noch. Aber hast du seit damals denn weniger gemalt?"
"Ja ... natürlich habe ich weiter gemalt. Die meisten Bilder habe ich aber irgendwie ... verschenkt."
"Warum hast du keine Farbkopie davon gezogen? Ich mach' das auch immer."
"Ich hab' sie fotografiert."
"Oh, die würde ich auch gerne mal sehen, die Fotos. Ach ja, das Foto, das du damals von mir gemacht hast, ist das eigentlich was geworden?"
"'türlich."
"Und, gefällt es dir?"
"Nö."
"Es ist also blöd geworden."
"Na ja ... nicht, daß es blöd geworden ist, aber es ist ... irgendwie ..."
"Ja klar, wenn man nur ein Bild macht, ist das meistens nicht so, daß es einem gefällt. Da muß man dann meistens mehrere machen. Was findest du denn am blödsten an dem Bild?"
"Ach, das weiß ich jetzt auch nicht; das liegt irgendwo dahinten; das will ich jetzt auch nicht holen."
"Ja, ist gut", beende ich das Thema und stelle Rafa eine andere Frage, die mir wichtig ist:
"Hast du denn eigentlich auch mal Frauen gemalt oder Pärchen?"
"Ja, 'türlich habe ich schon mal Frauen oder Pärchen gemalt."
"Ach, doch."
"Ja, sicher. Ich hab' da auch so ein Bild, das ist voll das Liebesbild."
"Oh, wie sieht das denn aus? Beschreib' mal."
"Ja, das ist so ... Also, in dem unteren Teil von dem Bild sieht man so ... eine Schädeldecke. Aber man kann da auch gar nicht richtig erkennen, daß das eine Schädeldecke ist. Man sieht da nur die ... wie heißt das ..."
"Die Schädelnähte. Und die Fontanelle."
"Ja, klar, die Fontanelle sieht man sowieso. Aber dann eben auch diese ... wie heißen diese ... über den Augenbrauen, diese Wülste ..."
"Ja, ja, die Augenbrauenwülste."
"Jedenfalls, die Augenbrauenwülste sieht man noch. Das Ganze ist im Wasser; also, da ist überall blaues Wasser, und das ragt da so 'raus."
"Der Schädel ragt aus dem Wasser."
"Ja. Da ist überall blaues Wasser drumherum. Und in dem Schädel, da ist ein Loch, also nicht, wie wenn da einer 'reingehackt hat, sondern wie wenn das so durchschlagen worden wäre, so von innen."
"Brutal, das ist ja brutal wieder."
"Das ist so ähnlich wie auf dem Cover von 'Frontalaufprall' ..."
"Ja, ich weiß, wie das aussieht."
"... und aus dem Loch kommt Jesus' Hand 'raus mit den Stigmata drauf. Ach, nein, das ist, wo die den Nagel durchgeschlagen haben; das ist ja jetzt gar kein Stigmata, das ist ja das andere gewesen ..."
"Doch, schon, das ist das wohl gewesen."
"Nein, das ist doch nur das gewesen, was die Römer da gemacht haben."
"Ach so, den Schnitt an der Seite."
"Ja, das, das ist das Stigmata."
"Ja, ich meine, ich habe gehört, daß das auch das an den Händen ist, wo die die Nägel durchgeschlagen haben."
"Ja, Stigmata, das heißt ja'Schandmal'."
"Es heißt nicht 'Stigmata'; 'Stigmata' ist der Plural", erkläre ich. "Der Singular ist anders, der ... ja, genau. 'Stigma' ist der Singular. Und das heißt 'Schandmal', das stimmt. Aber ich weiß jetzt auch nicht, ob das jetzt alle sind; ich meine, es gibt mehrere Stigmata. Na, jedenfalls war da also diese Hand mit diesem Mal drauf."
"Ja, und das war der untere Teil von dem Bild", erzählt Rafa weiter. "Und aus dem Loch in dem Schädel kommen dann auch noch so schwarze Wolken 'raus, so bis oben hin."
"Oh, wieder düster. Wieder düster."
"Ja, und oben sieht man dann so zwei Lianen, und daran hängen dann links eine Frau und rechts ein Mann, und die schwingen dann mit verbundenen Augen aufeinander zu."
"Erreichen sich aber nicht", vermute ich.
"Na ja, wenn sie sich erreichen würden, würden sie vielleicht - sterben", sagt Rafa und lacht ein wenig.
"Oh, das Bild hat ja eine ganz andere Atmosphäre als die Pärchenbilder, die ich male."
"Wieso, du hast es doch gar nicht gesehen."
"Ja, aber du hast es mir doch beschrieben. Ich kann es mir vorstellen. Ich kenne doch auch deinen Stil. Ich weiß, wie du malst. Das Bild ist viel düsterer als das Pärchenbild von mir. Die beiden können ja auch die Lianen gar nicht steuern. Da steuern ja die Lianen."
"Die Lianen steuern gar nicht", meint Rafa. "Das kommt doch darauf an, von welchem Platz man abspringt."
"Ja, und in welche Richtung man schwingt."
"Genau."
"Aber wenn man einmal abgesprungen ist, dann kann man nichts mehr machen; dann ist es einmal passiert ..."
"Ha! Genau!" lacht Rafa und scheint sich verstanden zu fühlen.
"Ja, dann hat man nichts mehr in der Hand", ergänze ich. "Dann kann man nichts mehr beeinflussen. - Was haben die beiden denn an?"
"Ach, was haben die an? Halt ... Kleider."
"Und der Mann, der hat wieder dieses ... Du hattest doch immer dieses Männchen gemalt, der hatte immer Oberteil und Hose an und spitze Schuhe und keine Haare."
"Genau."
"Und der sieht bei dir jetzt auch wieder so aus."
"Genau."
"Und die Frau? Was hat die an?"
"Na ja, ein langes Kleid ..."
"Und die hat Haare."
"Ja."
"Lange Haare."
"Ja."
"Und ich hab' kurze", bemerke ich. "Tja."
"Mensch, wenn man eine Frau malt, dann malt man die doch immer mit langen Haaren; das ist doch klar. Das kann doch irgendeine Frau sein."
"Ich meine, bei mir haben die Frauen ja alle kurze Haare", erzähle ich. "Wenn ich wollte, daß da etwas flattert, dann habe ich das immer mit einem Schleier gelöst, den ich der Frau um den Kopf gebunden habe."
"Ah, ja."
"Früher hatten die Frauen bei mir auch lange Haare, aber das war vor fünfzehn Jahren oder so. Ich mag das eben, wenn da sowas Langes, Wallendes ist, und deshalb binde ich denen heute einen Schleier um."
"Das Bild, das habe ich mal für meine Ex-Freundin gemalt", erzählt Rafa. "Und das habe ich dann ausgeschnitten und lose in den Rahmen gesteckt, und wenn man den Rahmen abmacht, dann fällt das einem entgegen ... haha ..."
"Deine Ex-Freundin", wiederhole ich und denke an die Sängerin.
"Ja, Sanna", nennt Rafa den Namen dieser Ex-Freundin, und ich bin froh darüber, daß er das "Liebesbild" nicht der Sängerin gewidmet hat.
"Wann warst du denn mit Sanna zusammen?" erkundige ich mich.
"Ende '92 bis Anfang '93."
"Hm ... Mich hast du aber bestimmt noch nicht gemalt."
"Nein."
"Ah, ja. Du hast mir gesagt, daß du 1988 das Gedicht 'Sinnlos' geschrieben hast. Das war aber genau in der Zeit, in der das mit Luisa anfing. Warum zu dieser Zeit schon ein Gedicht wie 'Sinnlos'?"
"Moment ... war das '88? Mit Luisa, das war, als das mit dem 'Elizium' losging. Mit Luisa bin ich zum ersten Mal ins 'Elizium' gegangen. Und vorher war ich auch schon mit der zusammen. Dann muß das '89 gewesen sein. Da habe ich auch angefangen, Musik zu machen."
"Ach, '89 hast du angefangen, Musik zu machen."
"Ja."
"Das ist aber auch seltsam. '89, das war doch gerade, als eure Beziehung auf der Höhe war. Wie kam es, daß du da ein Gedicht wie 'Sinnlos' geschrieben hast?"
"Na, das ... da war wohl vielleicht auch mal zwischendurch Schluß", erinnert sich Rafa. "Da hat sie so geklammert. Und ... ich habe das 'Sinnlos' wohl auch eher unbewußt an Luisa geschrieben. Ich habe das mehr so aus einem Gefühl geschrieben. Aber so ... klammern tun ja wohl auch ... andere Leute."
"Aha, du denkst wohl an mich?"
"Mh, warum soll ich an dich denken?"
"Na ja, war ja nur so ein Gedanke. - Du warst doch mit Luisa drei Jahre zusammen ..."
"Das war länger. Luisa kannte ich ja schon, als ich vierzehn war."
"Eine richtige Beziehung."
"Von '88 bis '91. Und '92 auch noch ein bißchen."
"Ach, '92 auch noch ein bißchen."
"Ja, da ging das so hin und her."
"Das waren ja auch über drei Jahre", rechne ich aus. "Und Inya, wann warst du mit der zusammen? Mit der warst du doch auch anderthalb Jahre zusammen, hast du erzählt."
"Nein, das war nur ein halbes Jahr. Das war kürzer. Das war zwischen Luisa und ... Tara."
"Aha, also von '88 bis '92 warst du mit Luisa zusammen, im Sommer '92 mit Inya, dann mit Tara ..."
"... und dann mit Sanna", setzt Rafa die Reihe fort. "Und dann mit Tessa."
"Aha, da haben wir ja wieder den Casanova."
"Wieso, das waren doch alles Jahresbeziehungen, na ja, längere Sachen. Ich bin doch deshalb kein Casanova."
"Ja, aber ... angeblich sollst du das halbe 'Elizium' ..."
"Quatsch."
"Tja ... unbefangen können wir uns nicht mehr kennenlernen", sage ich bedauernd. "Dazu war einfach schon zuviel zwischen uns."
"Ja?" tut Rafa ahnungslos.
Ich werde zynisch:
"Ja, sicher ... ich bin ja auch nur irgendwer, den du irgendwie so irgendwie mal kennst."
"Ich kenne dich nicht."
"Oh, vielleicht kennst du mich besser, als dir lieb ist."
"Ich kenne nichts von dir."
"Ich glaube, du kennst mich schon ganz gut", widerspreche ich. "Ich kenne dich ja auch. Ich weiß, was für ein Mensch du bist und nach welchen Gesetzen du lebst und empfindest. Ich kenne dich nur nicht im Alltag."
"Alltag ist immer", entgegnet Rafa. "Auch am Wochenende ist Alltag."
"Dann kenne ich ja doch deinen Alltag."
"Ha! Du kennst höchstens ein Siebtel von meinem Alltag!"
"Trotzdem, man kann ja auch jahrzehntelang nebeneinander herleben, ohne sich jemals richtig kennenzulernen. Man kann aber auch sich nur wenige Male treffen und sich besser kennenlernen, als man je einen anderen kennengelernt hat. Ich glaube, du kennst mich schon. Vielleicht kennst du mich auch besser, als dir das so recht ist. - Im 'Elizium' war übrigens am letzten Samstag auch wieder voll gute Musik. Wo warst du eigentlich am Samstag?"
"Am Samstag? Wo war ich am Samstag? Jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich am Samstag war."
"Ach, du weißt das nicht mehr."
"Halt, doch - da war ich im 'Reentry'."
"Ach, in BS. Und was war da?"
"Das war ganz witzig. Und danach war ich noch im 'Nachtlicht'."
"Ach, im 'Future'. Bald heißt es ja 'Nachtlicht'."
"Ab 06.08. Da ist offiziell Eröffnungsparty. Eigentlich war die Eröffnungsparty ja schon vorher."
"Ja, an dem Mittwoch; das weiß ich noch. Da hast du U.W. angerufen und ihn gebeten, mich auch anzurufen. Er wollte aber nicht hin, und von meinen Leuten wollte auch keiner hin, und alleine gehe ich zu sowas nicht. Ich bin ja auch in dem Sinne nicht richtig eingeladen worden. Ich habe ja nur erfahren, daß irgendwo was stattfindet. Das reicht mir nicht aus. Ich meine, du hättest dir ja auch von U.W. meine Nummer geben lassen können und mich selbst anrufen können. Dann wäre ich gekommen."
"Ja, daran hatte ich auch gedacht. Aber ich dachte, daß U.W. sowieso an dem Abend noch zu dir wollte, und da habe ich gedacht, ich erledige das in einem Abwasch. Da waren nämlich noch so viele tausend Leute, die ich anrufen mußte, und da wollte ich Zeit sparen."
"Du, U.W. wollte an dem Abend nicht zu mir. Der wollte zu einem Kumpel, aber nicht zu mir. Das war so:
Du hast U.W. gebeten, mich anzurufen, und er hat mich angerufen. Er hat mir erst nicht gesagt, daß du meinen Namen erwähnt hast, aber ich habe trotzdem gewußt, daß du willst, daß ich komme.
'Klar, der Rafa will, daß ich komme', habe ich zu U.W. gesagt.
Da hat er mir gesagt, daß du tatsächlich meinen Namen erwähnt hast. Aber das war trotzdem noch keine richtige Einladung. Ich wäre also nur ins 'Future' gegangen, wenn jemand mitgekommen wäre. Und U.W. wollte nicht mit. Das hatte auch einen Grund. Er hat sich nämlich irgendwann mal irgendeine Art von Hoffnung auf mich gemacht. Die habe ich ihm aber schnell zerschlagen. Und jetzt wollte er natürlich nicht derjenige sein, der mich da noch begleitet ...
Wie gesagt, wenn du mich richtig eingeladen hättest, dann wäre ich gekommen. Wenn du mich angerufen hättest, dann wäre ich gekommen. Es war eben keine richtige Einladung. Jetzt hast du mich ja richtig eingeladen", nehme ich Bezug auf Rafas Bitte, am 06.08. ins "Nachtlicht" zu kommen. "Außerdem ... damals an dem Mittwoch wußte ich ja nicht, ob du dir inzwischen wieder irgendeine Freundin angelacht hast. Und du weißt ja, daß alle Partyeinladungen in dem Moment hinfällig werden, in dem du eine Freundin hast. Das ist doch selbstverständlich."
"Wieso, das weiß ich nicht."
"Natürlich, das weißt du. Das ist doch sonnenklar. Das ist doch selbstverständlich, daß jede Einladung an mich nichtig wird, wenn du eine Freundin hast."
"Wieso, ich darf doch eine Freundin haben."
"Sicher darfst du das. Aber du kannst dann nicht erwarten, daß ich zu einer von deinen Parties komme."
"Wieso ... das ist doch ... Unsinn ist das ... Unsinn."
"Ah ja, du stellst dich wieder dumm", winke ich ab. "Du stellst dich wieder dumm, ich weiß. Das ist doch klar, daß alle Einladungen an mich nichtig werden. Das ist selbstverständlich."
"So? Wieso? Wieso ist das selbstverständlich? Wieso?"
"Ja", lache ich, "das weißt du ganz genau."
"Wie? Das weiß ich nicht."
"Aber sicher weißt du das. Eine Freundin ist ein Ausschlußkriterium. Wenn du eine Freundin hast, ist selbstverständlich jede Partyeinladung nichtig."
"Das ist doch ... Schwachsinn ist das."
"Warum ist das Schwachsinn, hm?"
"Das ist absoluter Schwachsinn!"
"Und warum ist das Schwachsinn?"
"Warum soll denn eine Einladung nichtig werden, nur weil ich eine Freundin habe?"
"Es wird ja auch nur eine Einladung an mich nichtig, wenn du eine Freundin hast."
"Wieso ... an dich?"
"Das ist doch logisch, selbstverständlich."
"Moment, ich muß mal kurz in die Butze, was holen", unterbricht Rafa das Gespräch. "Ich bin sofort wieder da."
Er läuft in sein Zimmer. Ich nehme an, daß er sich ein Taschentuch holt; er wirkt ein wenig verschnupft. Als er wiederkommt, sagt er:
"So, jetzt habe ich es auch gerade noch geschafft, auf den Knopf des Videorecorders für 'Raumschiff Enterprise' zu drücken."
"Ach, jetzt gibt es ja wieder 'Raumschiff Enterprise'. Ich bin ja auch ein alter 'Enterprise'-Fan."
"Ich dachte, 'Raumpatrouille Orion'."
"Ja, da habe ich mir die Folgen auch mal so alle auf einmal gekauft. Aber 'Enterprise' ... eben auch. Jetzt gibt es also wieder eine neue Folge."
"Ja. Es ist sechzehn Uhr."
"Ich habe ja immer die alten Folgen gesammelt. Da habe ich auch die Originale davon. Aber die neuen, die gucke ich gar nicht."
"Ja, ja, die alten, die habe ich mehr so aus sentimentalen Gründen", erzählt Rafa. "Die neuen sind echt besser."
"Das glaube ich wohl. Aber ich finde da einfach keine Identifikationsfigur. Ich kann mich da mit niemandem identifizieren."
"Data ... ist doch nicht schlecht."
"Na ja, aber Mr. Spock war für mich eher eine Identifikationsfigur. Ich weiß nicht; es ist vielleicht das Charisma, die Ausstrahlung ..."
"Wieso, zwischen Mr. Spock und Data ist doch nicht so ein großer Unterschied."
"Na ja, es war einfach so spontan gewesen. Ich habe einfach festgestellt, daß ich die neuen Folgen eben einfach nicht gucke, fertig. Ich meine, heute ist das auch nicht mehr so aktuell mit 'Enterprise'. Das war mehr eine Sache von '89 und '90. Mich hat im Grunde an den Folgen auch nur interessiert, was zwischen Kirk und Spock abgeht."
"Ach, das andere nicht?"
"Doch, schon auch, aber mehr sekundär, mehr als Drumherum. Das mit Kirk und Spock war mir wichtiger. '89, da stand ich voll auf 'Enterprise'. Da war ich wirklich auf dem Trip. Da war ich doch in England, sechs Wochen, und da habe ich mir für vierhundert Mark die Originalkassetten gekauft, und da bin ich immer nachts in diesen Aufenthaltsraum gegangen, wo die Ärzte immer waren von dem Krankenhaus, in dem ich famuliert habe, und habe mir dann nachts die Videokassetten 'reingetan. Und ich habe mir auch bewußt immer nur die Folgen gekauft, in denen es um Gefühle ging. Darum ging es mir eigentlich auch; das war für mich das Wesentliche an den Folgen. Ich habe mir immer bewußt die Folgen ausgesucht, in denen es um Gefühl ging. Das Gefühl, das war für mich das Entscheidende. Deswegen habe ich das auch immer geguckt."
"Ah, so", sagt Rafa, und seine Stimme klingt wach und lauernd.
Er ist nicht lauernder als ich. Um das deutlich zu machen, horche ich ihn ein wenig aus:
"Wie kam das eigentlich, daß ihr, du und Kappa, nun doch recht schnell das 'Future' übernehmen konntet?"
"Schnell?"
"Ach, das war ein zähes Verhandeln, das sich über Monate hinstreckte. War es so?"
"Na ja, wir mußten ja erstmal ein Konzept ausarbeiten."
"Ja, du willst doch am Donnerstag Industrial machen, nicht?"
"Am Mittwoch", berichtigt Rafa. "Ab August. Woher weißt du das eigentlich?"
"Das stand doch auf dem Handzettel, der in der 'Halle' 'rumlag."
"Ach, ja. Stimmt. Ich bin am Mittwoch, am Donnerstag, am Freitag und am Sonntag im 'Nachtlicht'."
"Den Samstag hast du dir ja freigehalten."
"Habe ich das?"
"Ja, für den Samstag steht nur Kappa drauf."
"Ja, da bin ich vielleicht ab und zu auch im 'Nachtlicht'."
"Aber nicht immer."
"Nein."
"Es gibt ja schließlich auch noch das 'Elizium'."
"Zum Beispiel."
"Und Kappa hat sich den Freitag freigehalten für die 'Halle'."
"Ja."
"Dann muß Kappa ja am Freitag ganz allein in die 'Halle'."
"Na, ich mach' das im 'Nachtlicht' ja nicht allein. Das mach' ich ja mit jemandem zusammen. Da kann ich dann auch schon mal in die 'Halle' gehen."
"Ach, das ist ja schön. Dann muß sich der arme Kappa ja doch nicht allein in der 'Halle' langweilen."
"Na, Cyrus ist ja auch noch da."
"Stimmt, der Cyrus ist auch noch da. Ja ... wieviele werden denn dann am Mittwoch im 'Future' sein?"
"Ja, nicht viele. Wahrscheinlich nur du - und Ivo. Haha ..."
"Oh, der Ivo Fechtner, der sieht ja jetzt auch wie ein Skinhead aus."
"Das weiß ich", sagt Rafa leise und kurz, und ich fühle, daß er Ivo Fechtner nicht leiden kann und es für müßig hält, länger über ihn zu sprechen.
"Ich meine, das ist ja klar, daß nicht viele Leute kommen, wenn du mitten in der Woche Industrial spielst", greife ich das vorherige Thema auf.
"Das weiß ich auch", sagt Rafa. "Aber das läßt sich nicht anders legen. Ich dachte erst, daß wir es auf den Freitag tun, aber dafür ist das Thema zu schlecht."
"Ja, aber vielleicht könnte man Sonderfreitage oder Sondersamstage machen, wie im 'Elizium' das auch ist. Das wäre dann so, daß das halt einmal im Monat gespielt wird."
"Vielleicht; müssen wir mal sehen."
"Wenn du Industrial auflegst, spielst du dann eigentlich auch Sachen wie Blackhouse, Whitehouse und Autopsia?"
"Wenn du die CD's mitbringst. Ich habe solche Sachen nämlich nicht."
"Ach, ich brauche das nur mitzubringen, und du spielst das dann."
"Ja."
"Ja, fein, bringe ich es einfach mit. - Das finde ich aber schön, daß du im 'Nachtlicht' Industrial auflegen willst."
"Wir spielen alles", versichert Rafa. "EBM, Industrial, New Wave ... und am Samstag spielen wir sogar Techno, ganz spät, so morgens von sechs bis zwölf."
"Ach ... kann man da auch was mitbringen?"
"Das weiß ich nicht. Techno macht jemand anders. Ich kenne mich damit nämlich nicht aus. Da haben wir jemanden für eingestellt."
Rafa lacht kurz.
"Am Montag machen wir vielleicht einen Spieleabend", kündigt er an.
"Einen Spieleabend."
"Ja. Da spielen wir Gesellschaftsspiele."
"Gesellschaftsspiele."
"Ja. Brettspiele und Computerspiele."
"Videospiele?" frage ich belustigt. "Auch Mario?"
"Das ist noch nicht 'raus, wie wir das machen; das soll schon mit Musik sein, so cafémäßig."
"Spielt ihr denn da auch Mario? Ich meine, das ist doch der, den du umbringen lassen wolltest."
"Sicher gibt es da auch Computerspiele. Aber Brettspiele fördern irgendwie mehr die Kommunikation."
"Das stimmt natürlich. Na ja, jedenfalls ist es gut, daß du auch Industrial spielen willst. Dann spielt ihr dann da vielleicht nicht immer das Gleiche. In der 'Halle' spielt ihr ja schon immer das Gleiche."
"Es geht ja nicht darum, immer das Abwechslungsreiche zu spielen", meint Rafa. "Es kommt auch darauf an, daß die Leute das hören."
"Aber so eine gewisse Mauser wäre doch manchmal gar nicht so schlecht ... daß man mal ein paar Stücke ersetzt."
"Das tue ich immer, das mache ich jedesmal; hast du das nicht gemerkt? Jedesmal, wenn ich aufgelegt habe, ich habe mindestens zwei, drei neue Stücke gespielt."
"Ja, 'Das zweite Leben' von den Serpents ..."
"Siehst du!"
"... und kürzlich von Skinny Puppy 'The Choke' ..."
"Ja! Sag' ich ja!"
"... oder 'Song of the Winds' von Project Pitchfork, das weiß ich noch, das hast du im letzten Herbst gespielt."
"Echt, ich weiß gar nicht, warum du meinst, ich würde immer nur dasselbe spielen. Das ist doch ... ja, da lügst du doch jetzt schon."
"Ja, aber du wiederholst ja dann die Stücke nicht. Du spielst die einmal und dann nie wieder."
"Oh, erst sagst du, ich soll nicht immer das Gleiche spielen, und dann sagst du, ich soll die wiederholen. Das ... paßt doch nicht."
"Ja, ich rede vom Goldenen Mittelweg."
Ich führe mit Rafa ein Gespräch über Alltägliches, eine Plauderei. Er soll die Erfahrung machen, daß er sich mit mir auch "nur so" unterhalten kann. Allerdings muß er auch lernen, daß dafür bestimmte Voraussetzungen erforderlich sind. Eine dieser Voraussetzungen ist, daß er keine Freundin hat.
Ich lege meine Arme aufs Bügelbrett und seufze:
"Es ist schon schade, daß wir uns nicht einfach so treffen können."
"Haben wir doch schon", entgegnet Rafa. "Ich habe sogar schon bei dir geschlafen."
"Ja, dann machen wir das doch einfach wieder."
"Hm?"
"Dann machen wir das doch wieder."
"Warum sollen wir das jetzt wieder machen?"
"Na ja, guck' mal, ich habe jetzt so lange darauf gewartet, daß du endlich zum achten oder neunten Mal mit der Sängerin Schluß machst, und jetzt ist Schluß, und das neunte oder zehnte Mal steht noch bevor."
"Moment - du hast mich kürzlich danach gefragt, ob ich wieder mit jemandem zusammen bin."
"Ja."
"Ja."
"Du bist also wieder mit jemandem zusammen."
"Ja."
"Und mit wem?"
"Das", erwidert Rafa lächelnd, "sage ich dir nicht."
"Und warum sagst du mir das nicht?"
"Damit du nicht schon wieder ein neues Haßobjekt findest."
"Das ist kein Haßobjekt. Die Wut habe ich auf dich."
"Warum hast du Wut auf mich?"
"Weil du es bist, von dem das ausgeht. Weil du es bist, der die Fäden in der Hand hat."
"Ich habe nicht die Fäden in der Hand."
"Doch, das hast du", widerspreche ich. "Du suchst dir immer die Mädchen aus, die gerade für deine Zwecke genügen. Du suchst dir immer die Zweckbeziehungen, die du brauchst. Gefühl darf dabei nie eine Rolle spielen. Du liebst die Mädchen nicht, und sie lieben dich nicht; sie mögen dich höchstens."
"Woher willst du denn wissen, daß sie mich nicht lieben?"
"Sie lieben dich nicht, weil sie dich nicht durchschauen. Du kannst mit denen machen, was du willst. Sie erfassen dich nicht. Sie begreifen nicht, was für ein Mensch du bist. Sie begreifen nicht, nach welchen Gesetzen du lebst, nach welchen Gesetzen du empfindest. Und auf der Frau, die dich wirklich liebt, trampelst du herum, in der Hoffnung, daß sie eines Tages aufhört, dich zu lieben. Ich höre aber nicht auf, dich zu lieben. Und irgendwann schadest du dir nur noch mit dem, was du tust, denn du leidest darunter, wenn du jemanden verletzt. Du fängst immer wieder diese Zweckbeziehungen an, um dich deinen Gefühlen nicht auszuliefern. Das ist wie eine Sucht."
"Und wie soll das aussehen, wenn ich mich meinen Gefühlen ausliefere?"
"Ja, dann würdest du dich zu mir bekennen. Du würdest dich frei zu mir bekennen."
"Ah! Daher weht der Wind!" freut sich Rafa über die "Entlarvung". "Daher weht der Wind!"
"Ja, dann würdest du dich zu mir bekennen und sagen:
'Ja, ich liebe dich.'"
"Ich liebe dich aber nicht."
"Das sagst du so."
"Das sage ich nicht so, das ist so. Ich liebe dich nicht."
"Ja, ja, das hast du mir schon oft erzählt. Das glaube ich nicht. Dazu ist einfach schon zuviel zwischen uns passiert. Ich weiß doch, wie du mich geküßt und gestreichelt hast und wie du mich an dich gerissen hast. Das ist eindeutig, daß du mich liebst. Das ist völlig klar."
"Ja, wieso - das kann ich ja auch sagen, das sagst du so, wenn du sagst, daß ich dich liebe."
"Das sage ich nicht so. Das weiß ich."
"Das weißt du. Oh, ooh. Mädchen, du erzählst vielleicht einen Schwachsinn."
"Das ist kein Schwachsinn."
"Das ist Schwachsinn."
"Und warum hast du dann Angst vor mir?"
"Ich habe Angst vor dir, weil du mich beobachtest."
"Aber ich beobachte dich doch, weil ich dich liebe."
"Hm?"
"Ja, ich beobachte dich, weil ich dich liebe."
"Haha! Aber wenn man jemanden liebt, dann beobachtet man den doch nicht die ganze Zeit über!"
"Doch, na klar! Ja, nur! Wenn man jemanden liebt, dann muß man ihn doch die ganze Zeit beobachten, ununterbrochen! Jede Minute, die man mit ihm zusammen ist, muß man ihn doch beobachten! Das ist doch Zeitverschwendung, irgendetwas anderes als den anzusehen, den man liebt, zumindest in der entsprechenden Situation. Der ist doch dann das Wichtigste, was es gibt auf der Welt! Das ist doch Zeitverschwendung, irgendetwas anderes anzusehen. Das ist doch gerade, wenn man jemanden liebt, guckt man den doch die ganze Zeit an."
Rafa scheint nicht so recht zu wissen, ob er mir zustimmen oder widersprechen soll.
"Du fürchtest dich vor mir, weil ich dich liebe", fahre ich fort. "Du fürchtest dich vor Gefühlen. Du fürchtest dich davor, zu lieben, und du fürchtest dich davor, geliebt zu werden."
"Weißt du, das ist echt so ein Schwachsinn, was du da erzählst", sagt Rafa wieder.
"Das ist kein Schwachsinn."
"Doch, das ist Schwachsinn."
"Du suchst dir immer neue Zweckbeziehungen ohne Gefühl, und du suchst sie dir immer an mir vorbei - bloß nicht zu Hetty gehen, da wartet die Hölle. Dabei kannst du dich mir nicht entziehen. Du warst mit der Sängerin mindestens achtmal zusammen, da konnte ich das gut beobachten."
"Ich war mit Tessa einmal zusammen, und lange."
"Oh nein, du warst mindestens achtmal von ihr getrennt."
"Woher willst du das wissen?"
"Du hast es mir doch gesagt."
"Das war aber nie zuende, weil es danach immer weiterging."
"Doch, da war Schluß."
"Aber ich hatte doch zwischendurch nichts. Also war das auch nicht zuende."
"Doch, da war jedesmal Schluß, und wenn Schluß ist, ist Schluß. Du hattest mit der Sängerin mindestens acht Liaisons, das steht fest.
Erst geht das ja noch alles ganz toll. Du verdrängst deine Gefühle und lebst deine Lebenslüge. Aber dann beginnt die Fassade zu bröckeln. Jetzt ging das sogar mit der Arbeit nicht mehr, und du hast am Wochenende immer mehr getrunken. Und dann hast du mich so unglücklich angesehen, daß ich dachte, hoffentlich bringt der sich nicht um. Da soll der sich lieber wieder irgendeine Zweckbeziehung suchen. Das darf nicht sein, daß der sich umbringt.
Jetzt letztens konnte ich dich ja noch nicht mal anfassen. Nicht mal das hast du ausgehalten.
Wie ist das eigentlich ... du hast doch gesagt, es geht dir gut."
"Habe ich das gesagt?"
"Ja. Ich habe dich vorhin gefragt, wie es dir geht, und du hast gesagt:
'Oh, ganz gut.'
Und ... wenn es dir gut geht, trinkst du dann eigentlich auch weniger am Wochenende?"
"Könnte sein", antwortet Rafa. "Weiß ich jetzt aber nicht genau."
"Das wäre ja gut, wenn das so wäre."
"Oh, ooh", sagt Rafa mit einem Kopfschütteln in der Stimme. "Echt, wann hört das auf ... dieses Schauspiel ..."
"Schauspiel?"
"Ja, dieses Schauspiel."
"Das ist doch alles echt. Du bist der, den ich gesucht habe. Ich weiß auch, woran ich das erkennen kann. Mit dreizehn hatte ich einen Traum. Da saß ein Pärchen auf einem Sofa, und da kam eine Eifersüchtige 'rein und erschoß das Mädchen. Und das Mädchen war ich. Wohlgemerkt, ich habe das nur geträumt. Ich kann ja nichts dafür, daß ich das geträumt habe.
Die beiden, das Mädchen und der Junge, waren noch sehr jung; ich war ja damals auch noch sehr jung. Die mußten beide zum Unterricht. Und der Junge kam zu spät zum Unterricht, weil seine Freundin ja erschossen worden war; ist ja klar. Das Mädchen, daß die Freundin erschossen hatte, kam rechtzeitig zum Unterricht. Der Junge kam also zu spät in den Raum, und der Lehrer fragt:
'Ach, kommen Sie jetzt erst?'
... oder ...
'Kommst du jetzt erst? Und was ist mit deiner Freundin? Was ist mit der?'
Und dann hat der Junge geantwortet:
'Nichts ist mehr. Tot.'
und ist gegangen.
Und dieses Gefühl, das in dieser Stimme war, in seinen Gesten, seinen Bewegungen, das hat mich von da an völlig auf den Kopf gestellt. Ich habe seitdem gewußt: Wenn ein Mensch in mir dieses Gefühl auslösen kann, liebt er mich. Und dann, nach über dreizehn Jahren, habe ich das gefunden."
"Und weißt du was? Das ist so weit an den Haaren herbeigezogen", will Rafa mich verunsichern.
"Das ist es nicht", entgegne ich ruhig. "Diese Träume stehen ja in enger Verbindung mit der Wirklichkeit. Ich denke so viel an dich. Ich investiere so viel in dich. Da müssen extreme Gefühle im Spiel sein. Das kann nicht ohne Belang sein."
"Meinst du nicht, daß ich dafür ein bißchen nah bin, dafür, daß ich genau das bin, was du gesucht hast?"
"Na ja, vergiß nicht - ich habe über dreizehn Jahre nach dir gesucht. Sicher, über die Statistik habe ich mir auch Gedanken gemacht. Aber es kommt ja schließlich auch noch dazu, daß wir beide in der Szene sind. Für mich war immer klar, daß der, den ich suche, in der Szene sein muß. Und die Szene, die bezieht ja auch das gesamte Umland von H. mit ein. Und die Szene ist ja überhaupt sogar bundesweit übergreifend. Das ist sicher schon eine Einschränkung in der Population. Außerdem, wenn man sich nie nahe sein würde, dann würden sich ja nie Menschen finden, die sich lieben. Dazu kommt auch noch, daß ich immer frei für dich gewesen bin. Wenn ich mir jetzt zum Beispiel irgendeinen Freund zugelegt hätte, nur um einen Freund zu haben - das machen ja viele -, dann hätte der Freund mich ja blockiert, und dann hättest du mich nicht ansprechen können.
Furcht, Angst spielt eine wichtige Rolle in deinem Leben", komme ich zurück auf Rafas "Blockade". "Die Angst lähmt deine übrigen Empfindungen. Du merkst nicht mehr, daß du mich liebst. Wenn du zu mir sagst, du liebst mich nicht, dann stimmt das schon, weil du deine Liebe zu mir in dem Moment wirklich nicht fühlst. Du hast deine Gefühle für mich in deinem Innern vergraben."
"Echt, wenn man dich so erzählen hört, könnte man denken, du liest das alles aus einem Buch ab", äußert Rafa einen Verdacht.
"Das tue ich aber nicht", antworte ich wahrheitsgemäß.
"Ja, wo hast du das dann?"
"Das habe ich alles in meinem Kopf."
"Aber warum klingt das dann so?"
"Ja, ich muß doch das alles ordnen, was ich über dich denke."
"Aber man muß doch nicht immer alles ordnen."
"Du hast doch aber selbst gesagt, du hättest dein Bild von mir zusammengesetzt wie ein Puzzle", erinnere ich ihn. "Und genau das Gleiche mache ich mit dir."
"Man muß doch nicht immer alles mit Worten machen. Ich wünsche mir das, daß ich einfach nur jemandem in die Augen sehe, und das ist es. Ohne Worte kann man oft viel mehr sagen."
"Genau das meine ich! Wir haben uns so viel ohne Worte gesagt. Das war immer, wenn unsere Blicke ineinandertauchten. Du hast mir ohne Worte gesagt, daß du mich liebst. Daher habe ich das ja."
"Ach, nein ...", seufzt Rafa.
Ich möchte verhindern, daß in ihm ein falsches Bild von mir entsteht, und ich erkläre:
"Ich bin nicht der Typ, der einfach irgendwie so auf irgendjemanden zugeht und sagt:
'Du liebst mich.'
Nein, weiß Gott nicht. Ich meine, das, was ich tue, tue ich ja nicht grundlos. Ich habe da schon meine Gründe dafür, wenn ich das zu dir sage.
Ich meine, du bist ja immer wieder zu mir gekommen. Du konntest es ja nicht lassen. Du bist ja immer wieder gekommen."
"Gut, dann versuche ich jetzt mal, ohne dich zu leben", schlägt Rafa nach kurzem Schweigen vor.
"Ja, gut", stimme ich zu. "Du versuchst, mich nicht anzusehen, nicht mit mir zu sprechen und - vor allem - mich nicht anzufassen."
"Na ja, was heißt, nicht mit dir zu sprechen ... ich rede in der 'Halle' mit dir nicht mehr, als ich mit Leuten rede, die ich irgendwie so kenne."
"Ja, das wäre ein ganz interessanter Versuch."
"Das ist doch echt spitze", freut sich Rafa. "So können wir arbeiten."
"Ja? Findest du?"
"Ja. Ich hab' immer darauf gewartet, daß wir uns endlich mal miteinander absprechen."
"Das freut mich aber, daß dir das so gefällt. Jetzt bin ich richtig stolz darauf, daß ich so deinen Wünschen entsprechen kann. Das freut mich, das Kompliment."
"Wir wollen beide etwas herausfinden", faßt Rafa zusammen. "Du willst mir beweisen, daß du mich liebst, und ich will dir beweisen, daß ich dich nicht liebe und ... daß du mich auch nicht liebst."
"Ich liebe dich."
"Ja, woher willst du das denn wissen?"
"Ja, ich weiß, daß ich dich liebe. Da hatte ich auch so einen Traum, da habe ich das erfahren."
"Wem hast'n du das schon alles erzählt, daß du ... jemanden liebst?"
"Daß ich dich liebe?"
"Daß du jemanden liebst."
"Ja, ich liebe dich. Das ist doch klar."
"Das weiß ich doch nicht, ob du mich liebst."
"Doch, ich liebe dich. Und nur dich."
"Tja - wer weiß!" zweifelt Rafa.
"Nein, nein", sage ich bestimmt, "das bist nur du. Ich weiß, das glaubst du mir nicht, daß ich dich liebe. - Ja, meine Freunde wissen alle, daß ich dich liebe. Es ist klug von dir, das vorzuschlagen, daß du versuchst, ohne mich zu leben. So merkst du am Ehesten, daß du nicht ohne mich leben kannst. Das hat sich auch im letzten Sommer schon bewährt. Ich konnte das damals im 'Elizium' einfach nicht mehr sehen, immer du und die Sängerin, du und die Sängerin. Ich hatte echt so die Schnauze voll, das gibt's gar nicht, und das habe ich dir auch gesagt. Ich hätte echt nur noch kotzen können. Deshalb bin ich dann auch erstmal nicht mehr ins 'Elizium' gegangen. Und die Entziehungskur hat gewirkt. Ein paar Wochen später warst du mit der Sängerin auseinander. Ich weiß gut, wie du auf mich zugestürzt bist. Ich weiß, wie du mich angesehen hast. Das vergesse ich nicht, weil du es immer wieder tust.
Also, der Einfall ist wirklich gar nicht so schlecht."
"Nicht?"
"Du kannst auch erstmal für eine Weile ohne mich auskommen. Jetzt habe ich dich ja erst mal gestreichelt. Jetzt reicht das erstmal wieder für ein paar Wochen. Und du kannst dich freuen:
'Ha, ha, ich brauch' dich nicht! Ich brauch' dich nicht!'
Du hast jetzt deine Zweckbeziehung, um nicht in die Arme der Frau zu sinken, die dich liebt, und um bloß keine Beziehung zu haben, in der Gefühl schwingt.
Es ist wirklich schade, daß ich deine Haare jetzt so lange nicht anfassen kann. In der 'Halle' konnte ich es auch nur kurz. Ich will dich so gerne küssen und streicheln. Ich will dich am liebsten andauernd küssen. Und ich will auf dir sitzen und in deinen Haaren herumwühlen. Und auf dir draufliegen will ich auch. Aber ... wenn man liebt, muß man auch etwas tun.
Ach, ja ... kann es sein, daß du vor einigen Jahren deine Haare nicht hochgestellt hattest, sondern zu einem ... Strahlenkranz?"
"'türlich", sagt Rafa.
"Und schwarz?"
"Ja."
"Und hattest du da deinen schwarzen Talar an?"
"Ja."
"Und ... hast du immer getanzt zu Das Ich, 'Gottes Tod' und so weiter?"
"Weiß ich heute nicht mehr; kann aber sein."
"Hast du viel getanzt? So vor und zurück?"
"Kann sein."
"Dann warst du's wirklich", staune ich.
"Wer?"
"Ja, es gab da im 'Elizium' einen, um 1990, 1991, der hatte immer so einen schwarzen Strahlenkranz und einen Talar um. Und dann habe ich immer mit ihm getanzt, mit Strahlenkränzchen. Ich wußte nicht, wer das war. Und dann warst das du", kann ich erfreut feststellen. "Du hast damals den Saum von deinem Talar kaputtgetreten."
"Woher weißt du denn das?"
"Das hast du mir doch erzählt. Du bist beim Vor- und Zurückgehen immer auf den Saum von deinem Talar getreten, und davon ist der kaputtgegangen, und du hast eine Borte aus Pannesamt drangesetzt."
"Und das weißt du."
"Ja. Du hast mir das doch gezeigt. Ich habe den Talar doch selber aus der Nähe gesehen."
"Da hast du aber gut aufgepaßt."
"Ich passe immer gut auf."
"Ich finde, du paßt erschreckend gut auf."
"Das ist ja auch alles wichtig."
"Ach, dann muß ich ja ganz schön aufpassen, wenn ich was zu dir sage."
"Allerdings, das mußt du!" bestätige ich und fahre fort, zu erzählen:
"Es ist nämlich so; du bist mir früher ja nie aufgefallen, bevor du mich angesprochen hast. Aber anscheinend hat es doch mal eine Phase gegeben, wo du für mich sichtbar warst. Das muß '91 gewesen sein; da war ich gerade fünfundzwanzig. Wir haben so oft miteinander getanzt, Strahlenkränzchen und ich. Einmal hast du mir auf den Fuß getreten und gesagt:
'Oh, jetzt habe ich dir aber auf den Fuß getreten.'"
"Oh, da habe ich mich aber wohl entschuldigt", meint Rafa.
"Sicher, du hast dich entschuldigt", fällt mir ein. "Du hast gesagt:
'Oh, Entschuldigung. Jetzt habe ich dir aber auf den Fuß getreten.'
Weißt du, ich fand dich nämlich echt süß. Aber dann habe ich gesehen, daß du eine Freundin hast, und da habe ich gedacht:
'Vergiß' es.'
Ich konnte dich nicht ansprechen, weil du nie frei für mich warst, im Gegensatz zu mir. Ich war immer frei für dich, und ich bleibe es auch. Ich bin frei für dich; deshalb kann ich ganz für dich da sein.
Es gibt niemanden, der sich so um dich kümmert wie ich. Es gibt niemanden, der so die ganze Verantwortung für dich übernimmt. Es gibt niemanden, der so viel in dich investiert wie ich."
"Woher willst du das wissen?"
"Das ist ein Faktum. Das tut eben keiner außer mir."
"Aber was bringt dir das?"
"Wenn man jemanden liebt, tut man doch alles für den."
"Aber da hast du doch nichts von."
"Ich hatte doch schon etwas davon", entgegne ich. "Ich hatte so viel davon. Ich konnte nach vierzehn Jahren endlich den Mann umarmen, den ich liebe. Endlich hat mein Leben mal einen Sinn. Davor hatte es nämlich keinen. Vierzehn Jahre lang habe ich nur gesucht, nein, dreizehn waren es. Und jetzt habe ich gefunden, was ich suche. Ich habe echt schon gedacht, ich muß aus dieser Welt gehen, ohne im Leben einen Sinn oder einen Inhalt gefunden zu haben."
"Und das bin ich."
"Ja, sicher! Wer denn sonst? Du bist es und kein anderer. Ich habe das auch mit daran gemerkt, wie du den Sockenschuß aus der Szene vertrieben hast. Das hat nämlich vor dir keiner geschafft, und ich glaube, das hätte außer dir auch keiner geschafft. Der hat mich nämlich fünf Jahre lang verfolgt."
"Der hatte doch letzten Sommer in der 'Halle' noch kein Hausverbot. Und da habe ich dafür gesorgt, daß er Hausverbot kriegt. Und dann habe ich den irgendwann später noch einmal in der Stadt gesehen, und das war's."
"Genauso war es bei mir auch! Ich habe den seitdem auch noch ein-, zweimal gesehen, und das war's. Und fünf Jahre lang hat der mich verfolgt!"
"Ist auch lustig ... da muß der Rafa nur für eine halbe Stunde kommen, und schon ..."
"Ja, und von daher weiß ich, daß du mir helfen kannst. Und ich kann dir auch helfen."
"Du hilfst mir nicht."
"Doch, ich helfe dir."
"Davon merke ich nichts."
"Sicher, du merkst davon nichts, weil du dich vor mir fürchtest. Du merkst jetzt nicht, was ich für dich empfinde und was du für mich empfindest.
Ich helfe dir, indem ich dein Selbstbild wandle. Du hast nämlich ein ziemlich schlechtes Selbstbild. Du siehst in dir immer nur den schlechten Rafa."
"Ich bin nur gut!"
"Ja, ja."
"Ich bin der Beste!"
"Du hältst dich für wertlos. Du meinst, daß du es gar nicht wert bist, geliebt zu werden."
"Ich bin wert, geliebt zu werden! Ich bin absolut wertvoll!"
"Ja, ja, deine Minderwertigkeitskomplexe", falte ich Rafas Äußerungen zusammen. "Was übrigens auch noch ein Hinweis ist darauf, daß ich dich liebe: Ich hatte mal so einen Traum."
"Ich gebe nicht viel auf Träume."
"Ich finde sie sehr wichtig, eben weil ..."
Ich möchte nicht anfügen "... Träume oft wahr werden", denn der Traum, den ich Rafa erzähle, handelt von seinem Tod.
"... sie sehr viel über die Wirklichkeit aussagen", verallgemeinere ich. "In dem Traum ... da warst du tot, und von dem Tag an saß ich im Rollstuhl und war gelähmt, und ich wurde auch langsam blind. Und ich habe mir gesagt, ein Glück, daß ich mir sein Gesicht immer so genau angesehen habe; jetzt erinnere ich mich wenigstens noch für eine Weile daran; das ist doch das Einzige, was mir bleibt."
"Ja, und dieser Traum sagt genau aus, daß es nicht schlecht wäre, wenn du dir mal einen anderen aussuchen würdest, den du liebst."
"Aussuchen!" rufe ich. "Das kann man sich nicht mit dem Verstand aussuchen! Die Liebe überfällt einen. Sie ist da oder nicht. Und wenn sie da ist, ist sie da; daran kann man nichts ändern."
"Liebe ist eine Sache, die sich im Gehirn abspielt."
"Nein. Das heißt, doch; so gesehen spielt sich Liebe schon im Gehirn ab. Aber man hat keinen Einfluß darauf, wen man liebt und wen nicht. Es gibt keinen verstandesmäßigen Grund dafür, daß man jemanden liebt.
Das hat mich erst auch gestört, daß ich dich nehmen mußte, weil du so schwierg und verschlossen bist. Aber dann habe ich mir überlegt, daß es nur einer sein kann, der schwierig ist, weil ich selber schwierig bin. Wenn der einfach wäre, das würde nicht hinhauen. Da wäre keine Gegenseitigkeit.
Ich muß für dich viel tun, und du mußt auch für mich viel tun."
"Bitte nochmal den ersten Satz."
"Ich muß für dich viel tun, und du mußt auch für mich viel tun."
"Was tust du denn für mich?"
"Ich mache mir Gedanken über dich."
"Ach, du machst dir also nur Gedanken über mich", zeigt Rafa Enttäuschung.
"Ja, ich überlege mir etwas."
"Was ist dein Ziel, was mich betrifft?" möchte Rafa wissen.
"Eine lebenslängliche Beziehung, bis zum Grab", gebe ich Antwort. "Das ist doch selbstverständlich."
"Aber wenn du die Beziehung hast, was ist dann dein Ziel? Dann brauchst du doch ein neues Ziel."
"In einer Beziehung ist jeder Tag eine Herausforderung. Jeder Tag bringt wieder etwas Neues. Es gibt in so einer Beziehung keinen Trott, keinen Alltag in dem Sinne. Es ist nie Ruhe."
"Ich will aber meine Ruhe haben."
"Ruhe und Ruhe sind zwei Sachen."
Nach einer Pause fahre ich fort:
"Moment mal, jetzt muß ich mal überlegen, ob mir noch eine Frage einfällt ... ich meine, jetzt ist ja erstmal für eine Weile die Kommunikation unterbrochen ... ach, ja ... was die Family angeht, habe ich mir über einige Sachen Gedanken gemacht."
"Was was angeht?"
"Was die Family angeht."
"Ach, was die Familie angeht."
"Ja. Da hattest du mal gesagt, du würdest irgendwie null Verhältnis haben."
"Zu wem?"
"Na ja, zu deiner Mutter und zu deinem Bruder. Und da frage ich mich, ob das jetzt immer noch so ist."
"Ja, das war damals so", bestätigt Rafa. "Aber das ist jetzt anders. Besonders mit meinem Bruder ist das jetzt anders."
"Ach, das heißt, daß du auch mal öfter zu dem gehst und daß ihr miteinander Kaffee trinkt und euch ein bißchen unterhaltet ..."
"Ja, wir machen schon mal was zusammen."
"Daria hat mir ja erzählt, dein Bruder würde sich sehr zurückziehen."
"Ja, der zieht sich ziemlich zurück. Aber ich unternehme schon mal öfter was mit dem. Wir gehen mal in eine Kneipe, was trinken. Oder wir sammeln Fossilien."
"Ach, Fossilien. So richtig, in der Tonkuhle?"
"Ja, genau."
"In Awb. hatten wir auch mal eine Tonkuhle. Da haben wir auch mal Fossilien gesammelt. Im Winter sind wir da unten auch Schlittschuh gelaufen. Aber jetzt ist die voller Wasser."
"Mein Bruder macht das aber richtig ... professionell."
"Das ist ja schon ... Biologie."
"Ja, oder ... Geologie. Oder, wie heißt das noch ..."
"Geologie und Biologie."
"Oder ... jetzt fällt mir das Wort nicht ein ... ja: Archäologie."
"Na, das ist doch eigentlich mehr das mit den Kulturen und so."
"Stimmt eigentlich, das ist, wenn man versunkene Städte ausgräbt."
"Ja, und das mit den Fossilien ist ja mehr Biologie und Geologie."
"Ja."
Der korrekte Begriff "Paläontologie" fällt uns einfach nicht ein.
"Und deine Mutter, wie ist das eigentlich jetzt mit der?" erkundige ich mich.
"Ja, wir reden schon miteinander; so ist das nicht."
"Und dann habe ich noch über etwas nachgedacht: Wie feiert ihr eigentlich heutzutage Heiligabend?"
"Ja, wie feiern wir das?" überlegt Rafa. "Ganz normal eigentlich."
"Das heißt, ihr seht euch auch und eßt zusammen Abendbrot ..."
"Ja, ganz normal. Wir haben auch einen Tannenbaum."
"Ach, ihr habt auch einen Tannenbaum. Das ist ja schön, daß ihr doch ein einigermaßen normales Familienleben habt."
"Ja, zu Weihnachten."
"Ach, nur zu Weihnachten."
"Na ja, sonst ... Muttchen hat ein Reisebüro, die war erst kürzlich drei Wochen lang weg. Und abends hat sie auch noch die Galerie."
"Ja, die habe ich gesehen."
"Im Grunde hat sie kaum Zeit."
"Ja, das ist klar ... Und da ist noch etwas, da habe ich mir immer Gedanken drüber gemacht: Du hast erzählt, als dein Vater gestorben ist, hat deine Mutter vier Tage lang durchgeheult, und dein Bruder ist in sein Zimmer gegangen und hat laut Musik angemacht. Aber was hast du denn gemacht? Das hast du mir nämlich nicht erzählt."
"Ach, ich weiß nicht mehr, mit dreizehn ... ist das doch mehr wie ein Film. Da steht man da und denkt nur, was ist das denn jetzt?"
"Das kann ich mir bei dir gut vorstellen. Ich kenne diese Reaktion auch von dir. Wenn dich etwas überfordert, bist du perplex. Dann schaltest du dich einfach aus."
"Ja, das ist wie im Traum", erklärt Rafa. "Da wartet man echt nur darauf, daß der Wecker klingelt und daß man aufstehen und zur Schule muß."
"Ja, das verstehe ich. Das kann ich mir vorstellen.
Wie war das eigentlich damals ... das war in der Schule ... du hattest mir das erzählt ... da war dein Vater vor Kurzem gestorben, und ein Lehrer hat zu dir gesagt, er will deinen Vater sprechen. Warum wollte der deinen Vater sprechen?"
"Ach, das - das weiß ich nicht mehr", antwortet Rafa, und ich habe das Gefühl, daß das nicht stimmt.
Unruhig fragt mich Rafa:
"Warum willst du eigentlich das alles wissen?"
"Das ist doch wichtig."
"Das ist doch nicht wichtig!"
"Doch, das ist wichtig."
"Warum soll denn das wichtig sein?"
"Ja, das gibt mir Aufschluß über dich und deine Gefühle. Du kannst nämlich sehr stark empfinden. Deine Fähigkeit, zu lieben, ist extrem."
"Ach?"
"Ja, du kannst sehr starke Gefühle für jemanden haben."
Rafa mag mir nicht glauben.
"Es ist schon schade, daß ich deine Haare nicht anfassen kann", seufze ich. "Aber das geht ja nicht durch die Leitung. Na, vielleicht kann ich es ja irgendwann für immer."
"Mal abwarten."
Wir schweigen. Keiner scheint sich so recht vom anderen trennen zu können. Schließlich wagt Rafa den Abschied:
"Ja, dann, würd' ich sagen, sag' ich mal tschüß."
"Ja."
"Also, tschüß dann. Mach' noch was Feines nachher."
"Das tue ich."
Es gibt wieder eine Pause.
"Also, dann - tschüß", sagt Rafa.
"Ja", sage ich und warte.
"Ja, du mußt den Hörer auflegen", meint Rafa.
"Ja", sage ich wieder.
"Also, um ... unsere Vertragsdauer zu erstarken, lege ich jetzt den Hörer auf", kündigt Rafa an.
"Ja."
"Also ... tschüß dann."
Er legt auf.
Ist es ihm vielleicht doch schwer gefallen, sich von mir zu verabschieden, nun er weiß, daß wir uns lange nicht sehen werden? Sonst war Rafa immer bemüht, unsere Gespräche möglichst kurz zu halten. Mal hatte er angeblich keine Zeit, mal wollte seine Mutter telefonieren. In mehreren Gesprächen fiel der Satz:
"Ja, ich muß jetzt auch Schluß machen."
Dieses Mal war von Zeitdruck nie die Rede.
Rafa wird den Entzug schon gefühlt haben, den Entzug, durch den er lernen soll, daß er an mich gebunden ist. Rafa braucht mich, denn außer mir macht sich niemand die Mühe, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Niemand außer mir ist bereit, mit ihm zu kämpfen. Ohne mich bleibt Rafa unergründet, unerforscht, unerobert, und das quält ihn. Ein Mensch leidet, wenn niemand etwas von ihm wissen will. Ein Mensch leidet, wenn sich niemand um ihn sorgt und für ihn sorgt.
Rafa fürchtet die Abhängigkeit. Er möchte nicht wahrhaben, daß er mich braucht. Also versucht er mir zu beweisen, daß er mich nicht braucht. In der Liste seiner Freundinnen führte er mich nicht auf. Ich passe nicht in das Bild, das Rafa von einer "Freundin" hat. Es darf mich nicht geben.
Ich will auch nicht das sein, was Rafa sich unter einer "Freundin" vorstellt. Seinen Äußerungen zufolge wünscht er sich eine harmlose, "einfache" Beziehung. Nun ist er selbst aber höchst schwierig und für eine "einfache" Beziehung gar nicht geschaffen. Er möchte wohl gerne verdrängen, daß er ein schwieriger Mensch ist.
Ich setze mich dem Kampf um ihn aus. Ich habe nichts zu verlieren, denn außer Rafa kommt für mich kein Mann infrage. Es ist mir recht, daß meine Zeit ihm gehört.
Rafa soll sehen, daß ich mich auf mich verlassen kann; dann ahnt er, daß er sich auch auf mich verlassen kann.
Das Zurückrufen und Festhalten der Erinnerungen an meine Erlebnisse mit Rafa ähnelt dem Fischen in einem Aquarium. Man läßt die Fische langsam an sich vorbeiziehen und betrachtet sie mit gedämpfter Aufmerksamkeit. Dann wählt man sich einen Fisch aus, der einem besonders wichtig erscheint. Man versucht, ihn zu fassen. Das ist nicht leicht, denn Fische sind glatt und entschlüpfen einem rasch. Außerdem entsteht Bewegung im Wasser, wenn man den Fisch ergreift, und um den Fisch herum nehmen die anderen Fische Reißaus. Man muß warten, bis sie sich wieder heranwagen und das Spiel von Neuem beginnen kann. So sammelt man die Fische einen nach den anderen. Eine Erinnerung nach der anderen hält man fest auf dem Papier oder auch zunächst nur auf dem Tonband. Anschließend beginnt das Sichten und Ordnen des "Fangs".
Constri meint, so sei es auch, wenn sie sich an ihre Träume erinnert.
Ich freue mich darüber, daß ich Rafa gesagt habe, daß ich ihn liebe. Ich freue mich darüber, daß ich ihm das sagen kann. Es wird herausfordernd für ihn klingen, daß sich jemand so selbstverständlich zu ihm bekennt. Er wird wissen wollen, was dahintersteckt.
Rafa möchte einen Beweis haben für meine Liebe. Ich denke, daß man keinen sicheren Beweis dafür erbringen kann. Die Tatsache allerdings, daß Rafa von mir einen solchen Beweis haben möchte, werte ich als Hinweis auf seine Liebe zu mir.
In HB. waren Talis, Constri und ich bei Folter zu Besuch. Talis erklärte, er wolle mit Rikka gar keine Beziehung mehr haben. Dann ging er auf den Balkon und weinte. Als er wieder hereinkam, sagte er, er fühle sich wie ein verbrauchtes Taschentuch von Rikka, in das sie all ihren Frust hineingeweint habe und das sie nun fortwerfe. Natürlich wolle er Rikka gern wiederhaben, doch nach all dem, was passiert sei ...
"Es gibt Sprüche, die gelten nur für mich", erzählte ich. "Die sage ich zu mir:
'Was man nicht verlieren kann, hat man nicht. Was man verliert, hat man gehabt.'
Wie gesagt, das sind so Sprüche."
"In denen viel Wahrheit steckt", fand Talis.
Im "Crucifiction" kam Daria mir entgegen.
"Wie kommst du denn hierher?" staunte sie. "Rafa ... das war voll süß, muß ich dir gleich erzählen."
Sie hatte ihn am vergangenen Mittwoch in SHG. getroffen. Er fuhr in einem fremden Wagen und soll am Steuer recht verkrampft gewirkt haben.
Am Freitag hatte Daria mit Rafa telefoniert und ihm erzählt, daß sie vorhatte, mit Ivco nach HB. ins "Crucifiction" zu fahren.
"Ach, du kommst nicht in die 'Halle'?" fragte Rafa enttäuscht. "Ach, schade!"
Als Daria ihn fragte, wie es ihm ginge, antwortete er:
"Sehr gut."
Es soll sich allerdings nicht so angehört haben.
Ich erzählte Daria, daß U.W. mir den Namen von Rafas neuer Freundin gesagt hat - Meta.
"Nein! Dann ist das doch die!" lachte Daria. "Mein Gott, die ist vielleicht fünfzehn! Letztes Mal hat in der 'Halle' hat Rafa mir ja schon erzählt, daß er eine Freundin hat. Aber er ist mit mir allein gekommen, und er hat sich um die auch gar nicht weiter gekümmert."
"Ja, er wollte zwei Dinge: er wollte sie vor mir geheimhalten, und er wollte mich vor der geheimhalten. Vielleicht ist ihm das ja auch peinlich, sich mit der zu zeigen. Ich habe den Verdacht, daß er sich die nur genommen hat, um das 'Future' zu kriegen. Er hat sich ins 'Future' geschlafen. Jetzt ist er an Meta gefesselt. Er kann nicht mit ihr Schluß machen, weil er sonst das 'Future' verliert."
"Ach, nein! Ach, nein! Also, da muß ich ihn echt mal drauf ansprechen! Ich hab' sowieso noch was mit ihm zu bereden ..."
"Was denn?"
"Erzähl' ich dir nachher ..."
Ivco, Rafas langjähriger Weggefährte, begrüßte mich mit Handschlag, dabei hatte ich noch nie ein Wort mit ihm gesprochen.
"Brauchst du noch ein Tape von W.E?" fragte Ivco.
"Zeig' mal, wie sieht das denn aus?"
Ich sah es mir an. Der Titel "Schneemann" war darauf vermerkt, das Stück, das Rafa für mich gemacht, mir aber nie gegeben hat.
"Und was kostet das?" fragte ich.
"Fünfzehn."
"Fünfzehn will er dafür haben", sagte ich nachdenklich. "Na, ich nehm's mal, als Gag."
"Na, was hat er dir verkauft?" fragte Daria später.
"Ach, so ein Tape von Rafas Neuer Welle."
"Rafa hat mir fünfzig Tapes gegeben", erzählte Daria, "die soll ich verteilen. Zum Glück hat Ivco jetzt auch ein paar genommen."
Rafa hat Daria all seine musikalischen Erzeugnisse geschenkt, nach und nach. Als sie ihn fragte, was seine MCD kostet, sagte er:
"Zwölf Mark."
"Zwölf Mark?" wiederholte Daria.
"Ach, vergiß' es, schenk' ich dir", kam es da von Rafa.
So ähnlich ging es auch mit der Kassette und dem Full length-Album. Mir wollte Rafa auch schon etwas schenken, doch dazu ist es nie gekommen. Das Einzige, was ich von ihm habe, ist seine erste Aufnahme von "Auf nach Golgatha"; das allerdings hat außer mir keiner. Es gehört zu einer Zeit, als mir das, was Rafa gemacht hat, wirklich noch gefallen hat und als mir auch der Name, unter dem er gearbeitet hat, noch gefallen hat.
Ich erzählte Daria von meinem Telefongespräch mit Rafa am Dienstag.
"Du hattest recht", meinte ich, "der ist wirklich am Anfang der Woche gegen vier zu erreichen."
"Siehst du? Hab' ich dir doch gesagt, der steht immer erst gegen vier Uhr auf."
Ich beschrieb meinen "Vertrag" mit Rafa:
"Ich versuche ihm zu beweisen, daß ich ihn liebe und er mich, und er versucht mir zu beweisen, daß er mich nicht liebt und daß ich ihn auch nicht liebe."
Daria war am vergangenen Samstag nicht im "Elizium", weil sie wegen ihrer Erkältung im Bett lag.
"Rafa wollte an dem Samstag eine Sauftour mit Kappa machen", wußte sie.
"Das hat er auch", konnte ich ergänzen. "Er ist in BS. gewesen im 'Reentry' und danach im 'Future'. Ins 'Elizium' kann er nicht mehr gehen, da bin ja ich."
"Ach, und du sprichst ihn dann wahrscheinlich auch an."
"Ich spreche ihn nur an, wenn er auf mich zugeht."
"Ach, dann kann er ja doch ins 'Elizium' gehen, ohne mit dir zu reden."
"Nein, das hält der seelisch nicht durch. Das macht der vielleicht einmal, aber auf Dauer hält der das seelisch nicht durch."
"Sollst du ihn denn wieder anrufen?" erkundigte sich Daria.
"Oh, nein", winkte ich ab. "Er darf ja nicht mit mir reden."
Im "Crucifiction" gab es ausgefallene, düstere Musik zu hören, aus dem elektronischen Bereich und der Industrial-Avantgarde, daruner "Sacrosancts bleed" von In Slaughter Natives, "Nazis of the night" von Club Moral Antwerpen, "Bloodmoney" von Dive, "Sinaya" von Esplendor Geometrico und etwas von Leæther Strip. Es wurde viel getanzt, auch zu den seltsamsten Stücken. Leon tanzte mit mir zu "Bloodmoney". Später unterhielt ich mich mit ihm.
"Der hat voll den Schaden", meinte Folter.
"Der kennt seinen Schaden", hielt ich Leon zugute, "und er gibt ihn auch zu."
Das Mädchen aus HH. war im "Crucifiction", das in einem Meßgewand ins "Elizium" gekommen war. Es trug jetzt ein langes schwarzes Samtkleid mit Schleppe, das hatte vorn einen Brokatstreifen von oben bis unten. Rechts und links waren an dem Streifen lauter Schleifchen aufgenäht, und zwischen zwei Schleifchen hing jeweils eine Kette, von rechts nach links herüber. Oben hatte das Kleid einen Paillettenbesatz. Die Ärmel liefen am Ende in lange Spitzen aus.
Daria staunte besonders über ein enges Kleid, das am Boden auseinanderlief wie der Fischschwanz einer Nixe. Das Mädchen, das dieses Kleid trug, konnte sich kaum bewegen. Es sah auch deshalb wie eine Nixe aus, weil es sich ein meterlanges Haarteil angesteckt hatte.
Daria meinte, Rafa würde am besten aussehen, wenn er geschminkt sei.
"Du findest ihn wahrscheinlich immer schön", vermutete sie.
"Ja", bestätigte ich. "Er findet sich ja wohl gar nicht schön."
Zwei Besucher des "Crucifiction" fragten mich, wann es in HH. wieder eine Industrial-Veranstaltung gibt. Ich konnte ihnen schon Auskunft geben, weil Mal mich benachrichtigt hat. So gibt es einer an den anderen weiter.
Gegen vier Uhr gingen Talis, Folter, Constri und ich im ersten Licht des Tages zurück zu Folters Wohnung. Wir kamen an einer Straßenbaustelle vorbei. Die Baustelle hatte ich schon auf dem Hinweg bewundert. Dort lagen die Gossenwürfel aus Müllschlacke, die für Gleisauspflasterungen verwendet werden, frisch ab Werk und noch etwas staubig. Sie sind grauschwarz und haben eine körnige Oberfläche. Die Jungen meinten einhellig, sie hätten keine Lust, die Steine für mich zu tragen.
"Wenigstens ansehen will ich sie mir", sagte ich und lief hin.
Begeistert griff ich mir einen der schweren Würfel. Ich konnte ihn nicht mehr fortlegen. Ich trug ihn einfach weg.
"Mensch! Wenn das die Bullen sehen!" rief Folter.
Die besorgte Constri gab mir eine Tüte, mit der ich den Stein unsichtbar machte. Aus meiner Tasche holte ich einen Baumwollbeutel, und in den kam der Stein.
"Nimmst du den einen Henkel und ich den anderen?" fragte ich Talis.
Im Laufe des Weges ließ Talis sich von Folter ablösen. So halfen mir nun doch beide Jungen, bis der Stein endlich bei Talis im Kofferraum lag. Talis übernachtete bei Folter, Contri und ich fuhren nach einer Tasse Kamillentee mit dem Zug.

Am Morgen träumte ich, zwischen Rafa und mir würde ein Wettkampf toben. Jeder versuchte, den anderen in den Schatten zu stellen. Wir sammelten Punkte und prahlten damit.



Im "Elizium" stand ich gegen halb zwei auf der Treppe zur Galerie. Ich hatte einen Handschuh ausgezogen und suchte in den Taschen meines Mantels herum, der neben der Treppe auf einem Stuhl lag. Rafa huschte wie ein schwarzer Schatten an mir vorbei, so dicht, daß er mich fast berührte. Er rannte hoch zum DJ-Pult und gab dort eine Plastiktüte ab. Rafa trug die schwarze Reißverschlußjacke und die schwarze Pluderhose. Er hatte die Haare zum Pferdeschwanz gebunden ohne zusätzliche Zier wie Strähnchen oder auffällige Schleifchen.
Ich stellte mich an die schwarze Wand gleich am unteren Ende der Treppe. Es dauerte nicht lange, da kam Rafa wieder nach unten gerannt und schoß ein zweites Mal dicht an mir vorbei. Einen Schritt entfernt von mir stellte er sich neben ein Mädchen, das wohl seine neue Freundin ist. Es war sehr schlicht gekleidet, in einem untaillierten schwarzen Oberteil und einer schwarzen Hose. Die Haare waren lang und lockig und mit einer Klemme zusammengesteckt. Das Mädchen wirkte auf mich insgesamt unscheinbar.
Rafa und das Mädchen standen abgewandt von mir. Links neben ihnen saß die Sängerin auf einem Hocker. Ich sah sie nicht mit Rafa sprechen. Es vergingen nur etwa anderthalb Minuten, bis Rafa forteilte, das Mädchen im Schlepptau. Ich sah die beiden nicht mehr wieder. Rafas Besuch im "Elizium" war so kurz, daß ich vermute, es ging ihm wirklich nur darum, Kappa die Plastiktüte zu geben. Kappa hatte in dieser Nacht seinen letzten "Auftritt" im "Elizium", und man hätte eigentlich annehmen können, daß Rafa ihm etwas länger Gesellschaft leisten würde.
Kappa brachte ein selten gespieltes Stück, das stimmungsvolle, melancholische "Ulysses" von Dead can dance. Neben der Theke wurden Dias an die Wand geworfen, die Xentrix Ende Februar im "Elizium" gemacht hat. Auf einem der Dias bin auch ich zu sehen. Constri, Carl, Talis und Derek erscheinen ebenfalls auf den Dias, Rafa jedoch nicht.
Über das "Nachtlicht" sagte Luc:
"Ist ja ganz gut, eine neue Independent-Disco. Aber wenn ich daran denke, welche Leute das aufziehen, kann ich nur sagen: Das dauert nicht lange, und die können den Laden dichtmachen."

In einem Traum ging ich mit Talis durch einen dunklen hochstämmigen Wald, durch den eine rote Aschenbahn führte. Talis und ich wollten dort laufen. Die Aschenbahn war breit wie eine Autobahn und in viele Einzelbahnen unterteilt, die durch Geländer voneinander getrennt waren. Überall wurde an der Bahn gebaut und etwas erneuert. Der Laufbetrieb war aber nicht unerbrochen. Am Ende der Strecke sahen wir viele verschwitzte Leute ankommen. Eben wollten Talis und ich loslaufen, da wurde ich hungrig, und wir gingen in eine feines Restaurant neben der Aschenbahn. Ich wußte, daß es dort für fünf Mark eine delikate Lauchsuppe gab. Als ich an der Theke danach fragte, hieß es, der Kellner, der die Suppe gewöhnlich zubereitete, sei nicht da. Der Kellner war aber Rikkas neunzehnjähriger Seth. So war seine Abwesenheit mir ein Schaden und Talis ein Nutzen. Ich wollte dann doch nicht in dem Restaurant essen, weil mir die anderen Gerichte zu teuer waren.
"Also, beim nächsten Mal gibt's Lauchsuppe, hm?" sagte ich zu dem Menschen an der Theke.
Talis und ich gingen nach draußen, liefen aber nicht auf der Aschenbahn, sondern machten uns auf den Weg zu einer Haltestelle. Wir mußten durch eine Unterführung, an deren Eingang uns ein dicker Kerl aufhielt, der Michal hieß und mich ein wenig an U.W. erinnerte. Michal hatte eine Warnung für uns:
"Vorsicht, der Hund ist wieder da."
Er begleitete uns, die wir uns nicht abschrecken ließen. Vor einer Stahltür begegnete uns Rafa mit einem wilden Schäferhund.
"Ich will dir das Gefühl geben, einmal in diese großen blauen Augen geguckt zu haben", sagte Rafa.
Ich sollte die Augen des Hundes sehen, der in Wirklichkeit ein Mädchen war. Ich sollte Rafa bewaffnet sehen, bewaffnet mit einem Mädchen. Rafa wollte mich abschrecken. Er forderte Talis und mich auf, durch die Stahltür zu gehen. Wir taten das ohne ängstliches Widerstreben. Sowie die Stahltür geschlossen war, machte Rafa den Hund nieder. Er wollte nicht, daß ich das Gemetzel mitansah.

In einem anderen Traum zeigte Rafa am Ende einer Nacht auf ein Lager und sagte zu mir:
"Hier schläfst du doch eh morgen früh, ne?"
"Ja", sagte ich.

In einem weiteren Traum stand Rafa mit Kappa und mir vor einer Turnhalle, ging aber nicht mit mir hinein.

In einem weiteren Traum lud Rafa mich ein, in einem Team mitzumachen:
"Das Team, das sind sechzehn bis achtzehn Leute. Kannst dir ja aussuchen, wie das ist, ob du Lust hast, ob du keine Lust hast."

Es geht in den Träumen viel um Einladungen und sportliche Wettkämpfe. Zusammenfassend könne man sagen:
Rafa lädt mich ein, mich mit ihm zu messen.

In einem anderen Traum sah ich ein Mädchen im weißen Brautkleid im Dunkeln auf einer Treppe liegen. Das Mädchen hatte sich eine schwarze Jacke über das Kleid gezogen, um den feinen weißen Stoff zu schonen. Anscheinend rechnete es damit, das Kleid eines Tages doch noch brauchen zu können.

Das Tape von Rafa, das Ivco mir verkauft hat, enthält außer dem Cover noch mehr Zettelchen mit Werbung für Rafas Band. Auf dem unbeholfen-schülerhaft gestalteten Cover ist ein kleines, in Blau gehaltenes Bild zu sehen, das zu dem sonst kindlichen, kitschigen Stil einen Widerspruch darstellt. In einem Lichtschein steht ein Sensenmann mit Kapuze. Links von ihm, im Dunkeln, erahnt man die Umrisse eines Bettes und einer Gestalt, die am Fußende steht. Auf dem Bett liegt jemand, der nur schemenhaft und undeutlich gezeichnet ist. Die Formen in dem Bild sind schwer und dicht, die Stimmung ist ernst und düster.
So stelle ich mir Rafas wahres Innenleben vor, und so, finde ich, sollte seine Musik eigentlich auch klingen. Aber er macht nur noch harmlosen Kitsch, etwas, das mich nicht überzeugt.
"Schneemann" gehört zu einer Zeit, in der Rafa wohl noch mehr Mut zur Tiefe gehabt hat. Auf dem Tape ist dieses Instrumentalstück auffällig kurz, kaum eine halbe Minute lang. Es wirkt wie ein Intro, zusammengeschnitten aus Kraftwerk-Bruchstücken. Ich kann mir nicht vorstellen, daß das schon alles gewesen ist. Ich glaube, das Stück ist in Wahrheit viel länger, aber Rafa hat es gleich nach dem Beginn abgeschnitten.
Vielleicht soll der Titel aussagen, daß ich kalt bin, und Rafa wollte nicht so viel Kälte auf dem Tape haben. Er will mich vielleicht nur als kurze, frostige Begegnung verbuchen und zu den Akten legen.
Weil ich mich innerlich so viel mit Rafa beschäftige und ansonsten im Institut bin, äußerte Carl seinen Unmut über meine geistige und körperliche Abwesenheit.
"Ich werde meine Leute wieder einsammeln", versprach ich.
Seit Rafa über Kinder geredet hat, geht mir das Thema nicht mehr aus dem Sinn.
"Ich glaube, wenn es mir gelingt, Rafa in den Griff zu bekommen, dann kann ich auch ein Kind erziehen", vermutete ich.
Carl ergänzte diese Vermutung:
"Ich glaube auch, wenn Rafa dich in den Griff kriegt, wenn er deine armen, strapazierten Nerven in den Griff kriegt, könntest du fähig werden, ein Kind zu erziehen. Wenn du jemanden hast, der Ruhe vermittelt - und das wird Rafa sein -, könnte sich etwas tun."
Mit dem "Einsammeln" meiner Leute begann ich, indem ich Sator anrief. Er berichtete, daß er seit Kurzem donnerstags und freitags im "Trash" auflegt und deshalb samstags kaum noch zum Weggehen kommt. Er bat mich, Daria zu grüßen. Mit Janine ist Sator immer noch zufrieden, ohne in sie verliebt zu sein. Diandra hat ihm eine Karte geschrieben, auf der steht, er solle damit aufhören, sie anzurufen. Die Möglichkeit einer Freundschaft habe er sich verscherzt. Sie wolle ohne ihn leben und sei sehr glücklich so. Sator möchte sich über die verletzende Karte und die verlorene Liebe keine Gedanken mehr machen; er meint, das koste ihn zu viel Kraft.
Sator kennt Meta. Ein Arbeitskollege stellte sie ihm vor. Zu dritt waren sie im letzten Winter im "Raveyard". Erstaunt traf Sator Meta unlängst im "Future" wieder. Meta soll eine Banklehre gemacht haben und Anfang zwanzig sein, also nicht fünfzehn, wie Daria vermutet hat. Vielleicht war es auch eher Darias Wunschdenken, das Meta auf sie so jung wirken ließ, weil Daria selber erst achtzehn ist.
Sator findet, daß Rafa und Meta überhaupt nicht zusammenpassen. Meta sei für Rafa viel zu unauffällig und durchschnittlich. Sator meint wie ich, daß es sich hier um ein reines Zweckverhältnis handelt.
Sator hat sich einen sehr kurzen Fassonschnitt machen lassen, von einem Friseur namens Henk. Es kann sich dabei durchaus um meinen Friseur Henk gehandelt haben, der für kurze Zeit nach H. zurückgekehrt war. Henk soll Sator im Handumdrehen die Haare geschnitten haben, ohne Maschine, nur mit Schere und Kamm. Ich weiß, daß Henk ein wahrer Künstler im Haareschneiden ist. Sator konnte das nur bestätigen. Henk soll noch immer kurze, blond gefärbte Haare und lässige Kleider im Techno-Stil tragen. Er soll schon bald wieder nach B. gezogen sein, wo es ihm besser gefiel.
Henk ist ein ungewöhnlicher Mensch, ein Ausnahmegeschöpf. Ich hoffe, ihn einmal wiederzutreffen.
Es ist schon seltsam, was für Leute Sator kennt, nicht zuletzt auch Joël, mit dem er als Kind im Sandkasten gespielt hat.
Talis hat Rafa am vergangenen Samstag im "Elizium" vor den Toiletten gesehen. Rafa soll dort mit der Sängerin geredet haben.
Kürzlich hat Talis von Rikka geträumt:

Rikka ging allein durch eine Schlucht, und Talis gesellte sich zu ihr. Rikka versuchte oft, die steilen Wände der Schlucht zu erklimmen. Talis achtete darauf, daß sie nicht abstürzte. Bei einem dieser Versuche kletterte Rikka auf Talis, um über den Rand der Schlucht zu kommen. Da näherte sich von oben eine Hand und ergriff die Hand Rikkas. Rikka stieß sich von Talis ab und gelangte ganz hinauf, Talis aber verlor durch den Schwung, mit dem Rikka sich abgestoßen hatte, den Halt und stürzte hinunter ins Tal. Nun baute Talis eine Leiter. Er verwendete dazu auch seine eigenen Rippen, die er sich aus dem Brustkorb holte. Er schaffte es auf diese Weise ebenfalls, über den Rand der Schlucht zu kommen. Dort reichte Rikka ihm neue, stabile Rippen, mit denen Talis seinen Körper wieder heil machte.

Das hört sich für mich so an, als wenn Talis und Rikka immer noch viel verbindet.

In einem Traum war ich mit einer Gruppe von Menschen unterwegs. In einem himmelhohen Dom wollten wir bis zur Turmspitze klettern. Der Dom war innen voller Streben und Gerüste, so daß man von einer Wand aus die andere nicht sehen konnte. Unten in dem dunklen, schmucklosen Bau wurden Scharen von Ausflüglern herumgeführt. Sie fragten nicht danach, wie man höher hinaufkommen konnte. Ihnen reichte das, was sie zu sehen bekamen; sie verlangten nicht nach mehr. Meine Begleiter und ich hingegen kletterten in schwindelerregender Höhe Gittertreppen hinauf und fuhren in schwankenden Fahrkörben.

In einem anderen Traum habe ich Rafa auf einem Foto gesehen. Die Aufnahme war vor langer Zeit gemacht worden, Rafa trug aber schon seinen Pferdeschwanz. Er saß mit mehreren Mädchen an einem Tisch.

Talis wollte sich etwas gönnen, und ich beriet ihn beim Kleiderkauf. Er suchte etwas Gewagteres, das nicht so brav aussah wie seine bisherige Garderobe. Er kaufte eine eng geschnittene Lederhose mit Schnürung an der Seite und ein nicht ganz billiges schwarzes Hemd aus einem schweren Material, mit eingewebtem Muster.
Rikka hat oft darüber geklagt, daß Talis zu brav herumliefe.
"Rafa läßt in dieser Hinsicht keine Wünsche offen", meinte ich.
Dennoch überlege ich, was ich Rafa gerne noch alles anziehen würde, wenngleich mir wichtiger ist, daß ich ihm möglichst viel ausziehen kann.
Talis ging mit Kuhn in die "Halle". Dort begegneten ihm Rikka und Steini. Talis und Rikka gaben sich gelassen, obwohl es in ihrem Inneren brodelte. Als Talis auf der Tanzfläche war, hatte er sogar den Wunsch, sich zu erschießen.
Rafa war nicht in der "Halle", dafür aber die Sängerin. Kappa soll über seinen Schatten gesprungen sein und ein lyrisches, mittelalterlicher Musik nachempfundenes Stück von Love is colder than Death gespielt haben. Am Ende lohnt sich die "Halle" wieder.
Einen Tag später war die Sängerin mit Dolf im "Elizium", Rafa war wieder nicht da. Ich habe Xentrix an einer Haarsträhne gezogen, und er hat gerufen:
"Runter! Auf die Tanzfläche, Weib!"
Luie und Xentrix haben auch etwas geboten, unter anderem "Power of Passion" von Dive und das fast vergessene "Mexican Radio" von Wall of Voodoo.
Talis beobachtete die Sängerin von einem Barhocker aus. Ich setzte mich zu ihm. Er nahm Dolf nicht wahr, der ganz in unserer Nähe stand, und lästerte munter über die Sängerin:
"Ich weiß jetzt, an welches Tier mich die Sängerin erinnert – an einen Raubvogel. Bei 'Alfred J. Kwak' gibt es doch diese Raubvögel, und die sind da auch immer die Bösen. Die Sängerin hat richtig böse Schlitzaugen und so eine spitze, nach vorn gereckte Nase. Und sie schlägt immer mit den Flügeln, als würde sie sich jeden Moment auf ihre Beute stürzen."
Darias Freundin Laura gab mir ihre Karte und bat mich, sie anzurufen. Laura ist erst achtzehn, wie Daria. Carl hält Laura für ziemlich oberflächlich.

In einem Traum sah ich in einer Zeitschrift eine Werbeanzeige für Rafas Band. Er bot ein Abonnement an für alle Artikel der Band. Vielleicht wollte er damit ankündigen, daß es die Band in der Besetzung mit Dolf und der Sängerin noch lange geben würde.

Lego rief an und erzählte, daß er mit Till bei der Eröffnung des "Nachtlicht" auftreten wird. Lego wußte noch gar nicht, wie oft Rafa schon von der Sängerin getrennt war.
"Ich dachte, die sind schon ganz lange zusammen", sagte er. "Jetzt verstehe ich auch, warum Rafas Freundin nicht mit zu Tills Party gekommen ist."
Lego kennt Meta und glaubt ebenfalls nicht, daß Rafa und sie zueinander passen. Meta ist mit einem von Legos Bekannten zur Schule gegangen.
Laura meldete sich bei mir und erzählte, Daria sei schon mit Dolf zusammengewesen, als "Dark Zone" stattfand.
"Sie wollte das aber nicht zeigen", meinte Laura.
"Und warum nicht?" wollte ich wissen.
"Na, das war wohl noch nicht so sicher", vermutete Laura. "Und die Leute tratschen ..."
Es soll immer wieder auseinandergehen mit Daria und Dolf. Dann spreche man sich aus, und es gehe weiter.
Laura hat auch von der Beerdigung eines siebzehnjährigen Jungen aus dem "Elizium" erzählt. Ich kannte ihn nicht, aber Carl kannte ihn. Der Junge hat sich vor einen Zug geworfen. Am Morgen vor dem Selbstmord hat er Charlene auf ihrem Schulweg seinen Abschiedsbrief gegeben. Charlene sollte ihn erst mittags öffnen, und sie konnte ihn auch nicht eher öffnen, weil sie eine lange Carlur schrieb. Dann war das Entsetzen groß, als Charlene feststellte, daß es sich um einen Abschiedsbrief handelte und daß der Schulfreund bereits tot war. Auf der Beerdigung waren viele seiner Freunde und Bekannten aus dem "Elizium". Sie mußten sich anhören, wie der Pastor ihnen die Schuld am Tod des Jungen zuschob, bei denen er doch Halt und Anerkennung gefunden hatte. Ich glaube, die Eltern hatten den Pastor mit dieser Trauerrede beauftragt, um ihre eigene Schuld und ihr schlechtes Gewissen auf jemanden abwälzen zu können. In den Augen der Eltern war es leicht, schwarzgekleideten Leuten vorzuwerfen, sie könnten lebensbejahende junge Menschen in den Selbstmord treiben, weil sie eben schwarze Sachen anziehen und düstere Musik hören; das würde schon ausreichen. Daß die Eltern das Vertrauen ihres Sohnes verloren hatten und daran gewiß nicht unschuldig gewesen sind und daß in der Regel ein Selbstmord eine viel längere Vorgeschichte hat, die mit dem Alleingelassenwerden und dem Unverständnis durch die Eltern in die frühen Kindheit schon beginnt, wäre für sie wohl eine zu anstrengende und schmerzvolle Erkenntnis gewesen.
Laura hat mir ein Foto geschenkt, auf dem sie mit Daria zu sehen ist. Sie gab mir auch die Kassette von Revco mit dem Stück "Zivilisation", das ich mir überspiele.
Laura hat Anfang Juli einen Auftritt von Rafa gesehen, wo die Sängerin nicht mitwirkte. Ich erklärte Laura, daß das wohl an Rafas neuer Verbindung mit Meta liegt.
"Was macht die Sängerin überhaupt?" erkundigte ich mich. "Beruflich, meine ich?"
"Nichts", wußte Laura.
"Nichts", staunte ich. "Die soll ja mal eine Friseurlehre angefangen haben, da ist die aber wohl geflogen."
"Das kann ich mir bei der vorstellen."
Dolf soll erzählt haben, daß es im "Nachtlicht" nicht darum gehen soll, daß der Laden beliebt und gut besucht ist, sondern darum, mit einer "Auslese" von Leuten unter sich zu sein.
"Na, ob ich dann draußen bleiben muß?" überlegte ich.
Zu Merles Geburtstagsfeier kam auch U.W. Er bezweifelte, daß Rikka und Talis wirklich getrennt sind; er habe sie zusammen in der Innenstadt gesehen. ich konnte U.W. erzählen, daß sich die beiden tatsächlich getroffen haben und miteinander essen gegangen sind. Dennoch sind sie getrennt. Allerdings haben sie sich heute schon wieder getroffen.
Zu ihrem Geburtstag schenkte ich Merle ein rotes Baby-T-Shirt mit schwarzen Punkten. Das Aussuchen in der Babyabteilung war für mich etwas ungewohnt. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wirklich eigene Kinder zu haben. Das scheint mir so unerreichbar wie eine ferne Galaxie.
"Rafa kriegst du nicht", sagte U.W.
"Und du kriegst mich nicht", sagte ich.
"Naa, ich weiß nicht", meinte U.W.
"Aha!" rief ich. "Ja, ich habe Rafa schon gesagt, daß du dir auf mich Hoffnungen machst. Ich wollte dich nämlich ärgern."
Widerwillig rückte U.W. damit heraus, daß Rafa ihn öfter anruft, mein Name würde nicht fallen; man würde nur über Musik reden.
Angeblich will U.W. nicht mit der Sängerin ins Bett, weil er sie zu "abgenutzt" findet.
Brinkus erzählte etwas, das in der Runde noch mehr Fröhlichkeit auslöste, als ohnehin herrschte:
"Nein, ich hab' mir nie in der Öffentlichkeit einen 'runtergeholt. Nur einmal im 26er. Da war eine Alte, ich sach dir, die hatte einen kurzen Rock, da sah man voll den Schlüpfer ... da konntich nich anders ... da hab' ich mir den Schwanz genommen ..."
"Hat die Alte das mitgekriegt?"
"Nein, ich hab' tonlos gewichst. ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit. Und dann kam ich in die Teppichabteilung, und ich hatte einen Anzug an, und die Hose war natürlich eingesaut. Da war aber eine ganz nette Kollegin in der Abteilung, die hat das gesehen und wußte gleich bescheid. Und die hat mir erstmal Geld für eine neue Hose gegeben."
Ich stelle mir vor, wie sie in der Kantine gelacht haben müssen, als die Kollegin das erzählt hat.
Talis war am Vortag in der "Halle" gewesen und hatte dort Leute getroffen, die er kannte, aber sie waren ihm zu fröhlich für seine niedergeschlagene Stimmung. Da setzte er sich lieber zu Daria und lauschte der Musik. Daria und er reichten sich stumm Feuer und Zigaretten. Rafa kam sehr spät, eine weibliche Begleitung war nicht zu sehen. Er soll kurz mit Daria geredet haben, durch die "Halle" gelaufen sein und sich dann allein vor das "Crystal Palace" gesetzt haben. Er trug seine "rosa Brille" und war in Schwarz und Weiß gekleidet. Er soll müde und etwas herabgestimmt gewirkt haben.
Talis nahm Daria mit, als er ging, und fuhr sie nach Hause. Auf der Fahrt erzählte Daria, sie wolle mich anrufen. Sie schaffe das ja meistens nicht. Sie wollte auch wissen, wie lange ich Talis schon kenne. Talis fragte Daria, wie ihr die Rolle der "Übermittlerin" gefällt. Daria findet es spannend, mitten im Geschehen zu sein und das Hin und Her zwischen Rafa und mir so hautnah zu erleben.
"Ist sie wirklich so, wie sie ist?" wollte Daria über mich wissen.
"Ja, die ist so", antwortete Talis. "Da kann man auch nichts mehr dran ändern."
Wir blieben ungefähr bis Mitternacht bei Merle. Constri war lange im Bad, weil wir noch ins "Elizium" wollten. Derek und ich hämmerten gegen die Badtür, und Derek sprühte Haarspray durch die Lüftung. Einer der Jungen, die Ortfried mitgebracht hatte, verwandelte die Spraydose mit dem Feuerzeug in einen Flammenwerfer. Constri ließ sich davon nicht weiter stören.
Im "Elizium" berichtete Xentrix, daß Rafa und Kappa in der vergangenen Nacht auf dem Schützenplatz waren, bevor sie in die "Halle" kamen. Im Festzelt gaben sie eine Karaoke-Vorstellung. Die Musik von "99 Luftballons" von Nena wurde gespielt, und Rafa und Kappa sangen im Duett den Text. Xentrix meinte, er hätte fast gekotzt und hätte immer noch Bauchweh.
"Rafa und Kappa haben ein untrügliches Gespür für alles, was peinlich wirkt", meinte ich.
"Das kannst du wohl sagen", bestätigte Xentrix.
Ich glaube, Rafa und Kappa geben mit Absicht solchen peinlichen Vorstellungen. Beide sind Außenseiter. Man lacht und lästert über sie. Sie flüchten nach vorn, indem sie erst recht Anlaß geben zum Lachen und Lästern.
Die Sängern küßte im "Elizium" einen langhaarigen, schlaksigen, nachlässig gekleideten Jungen. Das kann der Freund gewesen sein, von dem ich vor einigen Wochen habe erzählen hören.
Carl traf im "Elizium" einen Jungen aus SZ., Thorlev Rees. Thorlev hatte eine Nuckelflasche mitgebracht und gab sie an der Theke ab. Der Barkeeper stöhnte, weil die Flasche so schwer aufzukriegen war. Thorlev ließ sich die Flasche mit Bier füllen und trank das dann genüßlich.
Chantal, ein Mädchen im Schotten-Mini, saß längere Zeit neben mir auf dem Podest. Dolf stand bei ihr.
Gerrit und ich wollten Industrial hören und bekamen diese Wünsche auch erfüllt. Als die Sängerin sich von Gerrit verabschieden wollte, wartete sie, bis ich ein wenig zur Seite gerückt war, dann redete sie kurz mit Gerrit und ging mit Dolf und dem Schlaksigen weg.
"Wir bringen wahrscheinlich bald selbst was 'raus", kündigte Gerrit an. "Etwas mit Industrial-Einflüssen."
Ein Dutzend Leute habe er schon, um die Bühne zu füllen, und ein weiteres Dutzend, um die Musik unters Volk zu bringen.
"Jetzt fehlt nur noch die Musik", sagte ich. "Das ist das Wichtigste."
Auf meine Frage, mit wem er musizieren will, antwortete Gerrit:
"Das wird wahrscheinlich so aussehen, daß Fräulein Tessa singt."
"Aber die kann doch gar nicht singen", entgegnete ich freundlich.
"Na, die nimmt ja Gesangsunterricht", hielt Gerrit ihr zugute.
"Ach so", meinte ich. "Ja, das könnte noch was 'raushauen."
"Ein bißchen Technik ..."
"Ja, das könnte schon was bringen."
"Außerdem, melodische Stimmen sind ja sowieso nicht unbedingt in."
"Darauf kommt es doch gar nicht an. Es kommt doch darauf an, daß die Stimme ausdrucksvoll ist, und das ist die von der nicht."
"Na, vielleicht mache ich auch Instrumental; das weiß ich noch nicht."
"Mit Frauenstimmen ist das sowieso schwierig; das wird meistens nicht gut. Aber das mit dem Gesangsunterricht wäre einen Versuch wert. Mit Gesangsunterricht könnte man noch einiges retten."
"Na, ich brauche auch vor allem jemand, der vorne auf der Bühne steht, damit die Leute was zum Angucken haben, und ich glaube, die kann das ganz gut."
"Ja, den Zweck würde sie erfüllen."
"Sie soll ja dann auch noch was mit der Elektronik machen."
"Ja, ein paar Knöpfe drücken."
"Ich will dann auch so ein paar orientalische Melodiebögen entwickeln. Das soll so ägyptisch werden."
Derek trank viel im "Elizium" und schien zu Missetaten aufgelegt zu sein; jedenfalls war mit ihm nicht mehr viel anzufangen.
Velvet trug wieder ihre schulterfreie Samtrobe. Ich sah sie oben auf der Galerie ein Stück von Derek entfernt auf einer Bank sitzen. Derek lächelte sie an und machte ein "Victory"-Zeichen. Dann ging er durchs "Elizium" und bettelte mehrere Leute um Geld für Alkohol an, auch Constri; er bekam jedoch von niemandem etwas. Bei mir versuchte er es gar nicht erst. Am Ende verließ er das "Elizium", angeblich um heimzufahren. Constri und Carl waren eben fort, da kam Derek wieder und setzte sich oben auf die Bank. Velvet nahm bei ihm Platz. Talis beobachtete, wie Derek von der Bar zwei Gläser mit Cola Pernod holte. Ich war gerade oben und ärgerte Xentrix, da sah ich, wie Velvet die bloßen Schultern an Derek schmiegte und den Kopf hinter seinem Kopf verbarg. Velvet hatte einen Arm um Derek gelegt und streichelte seine Rasur im Nacken. Ich holte Talis, der sich das ansehen sollte, und in der Zwischenzeit löste Velvet sich von Derek und tat, als sei nichts gewesen. Wenig später rauschte Velvet im Mantel mit Derek quer durchs "Elizium" zum Ausgang. Ich griff Derek am Ärmel. Er machte sich grinsend los.
"Du weißt, was für Konsequenzen das hat", sagte ich zu ihm. "Du kannst wieder nach Wn. ziehen."
Velvet begann zu maulen:
"Was'n das jetz'?"
Sie fühlte sich wohl gestört bei ihrem Vorhaben. Ich ließ die beiden ziehen, hatte ich doch Derek alles gesagt.
"Derek ist besoffen", meinte Lenni. "Der weiß nicht mehr, was er tut."
Als ich Lena erzählte, daß ich Velvet immer wieder mit anderen Jungen gesehen habe, meinte sie:
"Da ist die doch bekannt für."
"Ach, die ist sogar bekannt dafür, daß sie jede Nacht einen anderen abschleppt?"
"Ja."
Als ich heimkam, hatte Constri mit Carl gerade Kaffee getrunken und wollte nach Hause fahren. Ich erzählte ihr alles, und sie fuhr nicht und schlief bei mir. Sie beriet sich mit mir, mit Carl und auch mit Sadia und Rikka. Derek rief am Nachmittag an und fragte nach Constri. Ihr gegenüber behauptete er, sich an nichts erinnern zu können, außer daß er am Geldautomaten zweihundert Mark für Alkohol abgehoben und auch ausgegeben hatte und daß er nicht mit zu Velvet gefahren, sondern nur mit ihr zur U-Bahn gegangen sei. Constri meinte, Derek solle in ihrem und seinem Interesse damit aufhören, im "Elizium" Cola Pernod zu trinken.
Rikka fuhr am Sonntag zu Talis, weil sie einen Traum gehabt hatte, der ihr das Gefühl gab, Talis im Stich gelassen zu haben. Sie übernachtete auch bei ihm, "weil, da fährt ja abends nichts mehr". Als sie mir das erzählte, wirkte sie recht ausgeglichen, wenngleich sie mit Seth reichlich Schwierigkeiten hat. Seth scheint Rikka immer dann verletzen zu wollen, wenn sie sich ihm vertrauensvoll zuwendet. Dieses zerstörerische Verhalten erinnert mich an das, was Rikka früher von ihrem Vater erzählt hat. Ich äußerte die Vermutung, daß Rikka in ihrer Beziehung mit Seth ihr schlechtes Verhältnis zu ihrem Vater aufarbeiten will. Sie fand das nicht abwegig.
In der Nacht hatte ich einen Traum, der auch von Vertrauen, Mißtrauen, Verständnis und Mißverständnissen handelte:

Rafa und ich waren in einem Zimmer fast ohne Möbel. Es gab aber einen Teppich darin. Rafa war ganz in Schwarz gekleidet und kaum geschminkt. Er trug einen schlichten Pferdeschwanz. Wir stritten miteinander, tauschten jedoch währenddessen Zärtlichkeiten aus. Wir sagten uns viele schöne Sachen und küßten und umarmten uns. Rafa leckte mich hingebungsvoll ab. Zwischendurch stiegen immer wieder Zweifel in ihm auf, und er zeigte Trauer, Enttäuschung und Mißtrauen. Er wirkte sehr empfindlich auf mich. Er wollte den Kampf um unsere Beziehung aufgeben. Er schimpfte und warf mir vor, ihn zu verletzen. Beleidigt wollte er aus dem Zimmer gehen. Ich erklärte ihm mit viel Mühe, daß viele unserer gegenseitigen Verletzungen auf Mißverständnissen und Unkenntnis beruhen. Nach einiger Zeit wurde Rafa innerlich ruhiger. Er lag auf mir und hörte mir zu.
"Wir beide sind als Menschen einfach zu komplex, als daß das reibungslos gehen könnte mit uns", erklärte ich. "Aber ich bin bereit, zu kämpfen. Ich tue das gern."
Ich hatte noch nicht zuendegesprochen, da ging die Tür auf, und ein Amokläufer kam herein. Es war, als hätte ich ihn mit meinen Worten herbeschworen. Der Amokläufer war ein schlampig aussehender Jugendlicher. Er richtete seine Waffe auf Rafa. Ich sprang entsetzt auf. Ich wollte meine Hand vor die Mündung halten und den Amokläufer mit Gesten, Blicken und Worten von seinem Ziel ablenken.

Mit einem Schlag wollte der Amokläufer das kunstvolle Gebäude der Beziehung zwischen Rafa und mir zerstören. Wir hatten uns mit so viel Mühe aufeinander zubewegt. Rafa war im Begriff, ein wenig Vertrauen in mich zu entwickeln. Und nun sollte innerhalb eines Augenblicks das Kostbarste von mir gerissen werden, das ich in dieser Welt habe.
Ich wachte auf, ehe sich entschied, wer siegte. Das weist darauf hin, daß ich die Gefahr, die der Amokläufer darstellte, noch nicht bewältigen kann.
Ist der Amokläufer ein Hinweis auf eine innere oder äußere Bedrohung?
Ich kann weder verhindern, daß Rafa sich gesundheitlichen Schaden zufügt, noch kann ich verhindern, daß Rafa nach jeder Annäherung an mich versucht, alles ungeschehen zu machen und die Verbindung zwischen uns zu zerstören.
"Die Beziehung zwischen Rafa und mir hat mit Mißtrauen begonnen", erzählte ich Talis am Telefon. "Jedes Bißchen Vertrauen zwischen uns ist erkämpft, nicht geschenkt. Bei Rikka und dir war es umgekehrt."
"Ja, am Anfang war da Vertrauen", bestätigte Talis, "und das ist jetzt kaputt. Das kann vielleicht nie mehr zurückkommen. Ich glaube, ich würde Rikka gar nicht mehr wollen."
Talis erinnerte sich an einige seltsame Geschichten aus seinem Arbeitsleben im Botanischen Garten. Sie müssen dort Erde "dämpfen", also durch Erhitzen keimfrei machen, um sie zum Topfen von Pflanzen verwenden zu können. In der sommerlichen Hitze kann das recht anstrengend sein. Heißer als kochend kommt die Erde aus dem Gerät. Manchmal wird auch Friedhofserde geliefert. In der Erde sind schon Sarggriffe, Sargschrauben, verschiedene Knochen und einmal auch ein halber Schädel gefunden worden.
"Die Sarggriffe, die wir jetzt gefunden haben, waren nur aus Hartplastik", erzählte Talis. "Das war wohl eine Arme-Leute-Beerdigung."
Die Erde wird vor dem Dämpfen durch den Wolf gedreht.
"Da bleibt so ein Oberschenkelknochen natürlich drin stecken", wußte Talis. "Und das Zeug dürfen wir dann da 'rausholen."
Weil die Erde beim Dämpfen so heiß wird, werfen die Gärtner manchmal eine Dose Würstchen in die Maschine. Nach dem Dämpfen wird die Dose abgewischt und geöffnet, und dann gibt es heiße Würstchen mit Senf.
In seiner BGJ-Zeit hat Talis mal auf einem Friedhof gearbeitet. Zusammen mit einem Kumpel sollte er eine große Konifere von einem Grab entfernen.
"Da haben wir gedacht, fiedeln wir erstmal oben weg die Sch... Haben das gemacht und hatten da nur noch den Stumpf. Und dann ... Trecker geholt, Ketten dran und gezogen ... und da kam dann auch gleich der Grabstein mit."
Der Stumpf riß ein so tiefes Loch, daß Talis bei einem falschen Tritt auch noch im Sarg landete.
Carl hat von Chantal gehört, daß Dolf ihr im "Elizium" sein Leid geklagt hat, weil es mit Daria wieder einmal aus sei. Dolf warb um Chantal, doch sie konnte ihm keine Hoffnungen machen.

In einem Traum konnte Rafa es zulassen, daß ich ihm wieder ein wenig näher kam.
"Du darfst mich angucken und an den vorgesehenen Griffen anfassen", sagte er.
Mit den "vorgesehenen Griffen" meinte er die Schlaufen an seinen Ärmeln.

Talis offenbarte er mir, daß Daria ihm seit dem Freitag, an dem er sie nach SHG. fuhr, im Kopf herumgeistert. Es hätte ihm gut getan, daß Daria so lieb und ruhig sei und nicht so schwierig und laut wie Rikka. Jedoch habe er sich diese schwärmerischen Gefühle verboten und sich auch körperlich dafür gestraft. Ich schalt Talis, als er berichtete und zeigte, daß er sich Zigaretten auf den Händen ausgedrückt hat. "Das wäre nicht in Darias Sinn", sagte ich. "Die will nicht, daß sich ihretwegen Männer Zigaretten auf den Händen ausdrücken. Wenn Rafa es wagen würde, zu machen, was du gemacht hast, würde ich den fürchterlich in die Mangel nehmen. Sowas ist keine Lösung." "Ich weiß, daß das keine Lösung ist. Ich hab' das sonst auch nur früher mal gemacht, als ich Rikka noch nicht kannte." "Wenn man einen Menschen liebt, kann man nicht dulden, daß er sich zerstört. Außerdem, was soll der Unsinn? Willst du nun eine kennenlernen oder nicht? Warum wehrst du dich dagegen, wenn du für eine Gefühle hast?" Talis gestand, daß er sich davor fürchtet, daß Daria ihn nicht will; außerdem sei sie erst achtzehn und wolle sich gewiß noch nicht festlegen. Auch Rikka war der Ansicht, daß sie Strafe verdient hätte, als sie sich in Seth verliebte. Sie fühlte sich Talis gegenüber schuldig. Vielleicht fühlt sich Talis Rikka gegenüber schuldig, wenn er seinen Schwärmereien nachgibt.



Wir waren zeitig im "Elizium", früher als sonst; es war noch nicht Mitternacht. Ich stellte mich gleich in die Nähe der Bar, wo der Seitengang anfängt, denn da stand Laura und begrüßte mich, und wir unterhielten uns. Als ich mich kurz umdrehte, entdeckte ich Rafa; er saß in Türnähe vor der Bar und sprach mit mehreren Leuten. Er hatte das weite weiße Hemd und die Weste mit dem roten Rücken an. Eine toupierte Ponysträhne hing ihm ins Gesicht. Ich fand ihn wie immer einfach süß.
"Was will der bloß hier?" dachte ich.
Vielleicht war er da, weil Dolf nicht da war; nun mußte er selber "nach dem Rechten sehen".
Vielleicht wurde Rafa auch ungeduldig, weil ich mich in der "Halle" so lange nicht mehr gezeigt habe. Gestern, am Freitag, sollen die DJ's sich furchtbar betrunken haben. Kappa sagte durchs Mikrophon:
"Bald wird die 'Halle' abgerissen, und hier kommt was Neues hin. Wir machen weiter bis zum Ende."
Es war sehr heiß im "Elizium". Rafa fächelte sich fortwährend mit einem Stück Papier Luft zu. Er machte das so mechanisch, daß ich den Eindruck bekam, er wolle sich mit der Kühlung auch Ruhe und Gelassenheit zufächeln. Ich sah nur gelegentlich kurz zu ihm hinüber. Ein flüchtiger und doch tiefer Blick aus seinen hellen Augen traf mich. Ich wandte mich ab und mußte lachen. Laura wunderte sich über mein seltsames Gehabe. Sie fand es lustig, wie ich mit ihr sprach.
"Mach' nur so weiter", sagte sie, "dann kriege ich heute keine schlechte Laune mehr."
Ich fand schnell heraus, wer von den Mädchen, die bei Rafa standen, seine Freundin war. Es war das große Mädchen mit den schwarz gefärbten Haaren, die ihm über die Schultern hingen. Das Mädchen muß die Haare erst vor kurzer Zeit gefärbt haben. Es hatte sich dieses Mal ein Kleid angezogen, ein langes schwarzes Sommerkleid. Es schien sich bemüht zu haben, Rafa zuliebe ein bißchen weniger durchschnittlich auszusehen. Das Mädchen ist nicht häßlich, doch hat es auch nichts Besonderes an sich, nichts, was es aus der Masse heraushebt. Es ist eben nur die Tochter des Chefs vom "Future" und jetzt die Freundin von Rafa.
Zärtliche Gesten gab es nicht zwischen Rafa und Meta; zumindest sah ich nichts dergleichen. Sie stand nur bei ihm, und auch das nicht immer.
Hinter der Bar wurden neue Dias von Xentrix an die Wand geworfen, durchmischt mit sehr alten aus der Anfangszeit des "Elizium". Ich war auf den alten Dias nicht zu sehen, auf den neuen jedoch viel, auch ganz aus der Nähe und immer beim Tanzen. Rafa sah ich auf keinem Dia.
Das ruhige "Mercy" von Dive kam, und ich tanzte mit Laura. Wir waren auf der Tanzfläche allein. Ich frage mich, was es auf Rafa für eine Wirkung hat, wenn er mir beim Tanzen zusieht. Ich tue etwas, das er nicht mehr oder nur noch sehr selten kann oder will. In dieser Nacht tanzte er überhaupt nicht; er saß wie gefesselt. Kurz nach "Mercy" verschwand Rafa für längere Zeit. Er könnte im "Future" gewesen sein. Erst nach fast zwei Stunden kam er zurück und brachte viele Leute mit, auch Kappa. Mit seiner Begleitung marschierte er hoch zur Galerie. Ich sah ihn da oben stehen und in meine Richtung schauen. Er blickte durch ein Gitter hindurch, das unter der Decke entlangläuft. Schließlich nahm er mit seinem Gefolge Platz auf einer Bank und war damit weitgehend sichtgeschützt. Zudem "verspiegelte" Rafa seine Augen wieder mit der Sonnenbrille.
Laura schlug vor, daß sie und ich uns etwas wünschen gingen. Ich war einverstanden und ließ mich von ihr mit auf die Galerie nehmen. Aus den Augenwinkeln sah ich Rafa umringt von zahlreichen Leuten reden und trinken. Hinter Laura lief ich mit gerafftem Rock durch die Engen zum DJ-Pult. Wir lehnten uns über das Trennseil.
"Kannst du mal ...", sagten wir gleichzeitig und mußten lachen.
Laura lief eher wieder hinunter, und als ich erkannte, daß sie fort war, eilte ich ihr nach. Ich wollte nicht allein an dem Ort bleiben, den Rafa belegt hatte. Wenn er sich verstecken möchte, soll er sich verstecken können. Er baut sonst kein Vertrauen zu mir auf.
Als ich von der Tanzfläche kam, stellte ich mich auf die Treppe und suchte in meinen Sachen herum, die neben dem Treppengeländer auf einem Stuhl auf dem Podest lagen. Rafa ging dicht an mir vorbei die Treppe herunter. Eine Weile stand er mit Kappa an der Theke. Ich stand vor der Treppe bei Talis und Lenni. Schließlich ging Rafa wieder an mir vorbei, weil er nach oben wollte. Ich hatte meine Hände frei, und er kam in Griffweite. Rafa muß aus Erfahrung wissen, was in solch einem Fall passiert: ich berühre ihn. Dieses Mal faßte ich nach dem Aufschlag seiner Weste, die er offen trug, und zog einmal kurz. Danach drehte ich mich gleich weg und tat, als sei nichts geschehen.
Rafa hatte wohl nur vorgehabt, seine Freundin zu holen. Als er wieder nach unten kam, ging sie hinter ihm her. Rafa achtete auf einen großzügigen Abstand zu mir.
Talis fand, Rafa schleppte seine Freundin mit sich wie ein kleiner Junge, der ein Spielzeug an einer Schnur hinter sich herzieht. Talis findet Meta hübscher als die Sängerin; dennoch sei an ihr "nichts dran"; sie sei eben durchschnittlich. Das schwarze Kleid würde aussehen wie von Omi geliehen.
Rafa und die Freundin verließen das "Elizium" bald. Talis ging auch. Draußen sah er die beiden in Richtung Innenstadt gehen, wohl zum "Future".
Rafa wird wissen, daß er mir nicht mehr verheimlichen kann, wer seine Freundin ist. Was bedeutet es für ihn, daß ich bescheid weiß? Ist es ihm unangenehm, gleichzeitig mit mir und der Freundin im "Elizium" zu sein?
Rafas ehemalige Sängerin hielt sich manchmal drinnen im "Elizium" und manchmal draußen auf; mit Rafa sah ich sie nicht sprechen. Es störte mich, daß sie bei meinen Sachen auf dem Podest Platz nahm. Ich frage mich, was sie dort wollte. Anscheinend hat sie tatsächlich einen Freund, doch sonst soll sie nicht sehr viel Anschluß haben im "Elizium". Ich hoffe immer noch, daß sie sich eines Tages ein anderes "Revier" sucht. Es fällt mir schwer, Menschen nicht zu beachten, unter denen ich zu leiden hatte oder habe.
Laura zeigte mir einen Jungen, der ihr gefiel.
"Der hat einen Zopf", sagte sie. "Ich wollte schon immer einen Freund mit Zopf haben."
"Aber es kommt ja nicht nur auf den Zopf an", sagte ich und dachte an einen anderen Herrn mit Zopf.
"Ja, Zopf ist nicht gleich Zopf", wußte Laura. "Jedenfalls ist der voll mein Geschmack. Deiner nicht so, oder?"
"Na, ich bin da schon eher festgelegt."
"Ach, hast du schon einen?"
"Nein."
"In Aussicht?"
"Nein."
Weiter fragte Laura nicht; vielleicht kann sie sich nicht vorstellen, daß es möglich ist, zu einem Menschen eine tiefe Beziehung aufzubauen, den man weder hat noch in Aussicht hat.
Carl erzählte mir, daß man im "Elizium" wieder einmal über mich geredet hat.
"Was ist denn das für eine Marionette?" fragte ein fremdes Mädchen, das sonst nicht im "Elizium" ist und mich nicht kennen kann.
"Das ist Elektro-Betty", klärte man sie auf.
"Die hat keine Knie", behauptete der große, etwas trampelige Armin.
"Aber Ausdauer hat sie", ergänzte Hennike.
Am Sonntag kam Laura zu Besuch. Sie fand, mein Zimmer würde technisch und gleichzeitig altertümlich aussehen und genau auf mich zugeschnitten sein. Sie sah mich in einer weißen Leinenbluse staubsaugen, und sie fand, ich würde mit dem Zimmer eine Einheit bilden, ein Kunstwerk.
"Ah, den Rafa hast du aufgehängt", bemerkte sie.
"Ja, den habe ich aufgehängt", sagte ich. "Aufgehängt."
Laura kam nicht darauf, was das bedeuten könnte. Sie sah auch die gezeichneten Bilder von mir kaum an. Rikkas Darstellung tanzender Gothics begeisterte sie. Ihr gefielen auch die Fotos, die Constri von mir gemacht hat.
Laura sagte über Meta und Rafa:
"Nein, das finde ich auch nicht, daß das paßt. Rafa ist voll der Abgefahrene, und sie ... Dieses Kleid sah auch aus wie bei Otto bestellt."
Über die Szene-DJ's sagte sie:
"Xentrix, Kappa, Cyrus und Rafa, die vier, die sollen auch schon fast jede im Bett gehabt haben. Vom Weitem sehen sie toll aus, aber von Nahem ... Rafa sieht allerdings fast immer gleich aus; also, mein Fall ist er nicht."
"Trotz Zopf", dachte ich.
"Besonders blöd" fand es Laura, als Rafa nicht einmal einen Zopf trug, sondern sich die Haare hochgestellt hatte. Anfang März hat sie ihn in dieser Aufmachung im "Elizium" gesehen; das war in der Nacht, in der Rafa bei mir war. Laura ging zu früh heim, um mitzubekommen, wie ich Rafa fortschleppte.
Laura erzählte, Rafa soll im letzten Winter nicht nur mit der Sängerin, sondern auch mit einer gewissen Sina etwas gehabt haben. Sina soll in einer Nacht heulend in einem Auto gesessen haben, und da soll Rafa gekommen sein und versucht haben, sie zu versöhnen.
Ist Sina die Spitze eines Eisbergs? Wieviele Mädchen gibt es noch, mit denen Rafa im vergangenen und im laufenden Jahr etwas hatte?
Nie will Rafa sich festlegen. Er hat die, dann die, dann gleichzeitig die und die ... und nie mich. Es ist, als wollte er mir bedeuten:
"Ich bin mit allen und keiner zusammen. Es kann jedes beliebige Mädchen sein, nur du nicht."
Mein "Fehler" wäre demnach, daß ich für Rafa etwas Besonderes bin, eben nicht irgendwer. Ich bin nicht beliebig austauschbar.

In einem Traum fand ich einen Ordner, in dem Rafa Zeitungsartikel über Gothics und andere Szeneangehörige gesammelt hatte. Es waren auch viele Artikel dabei, die zeigten, welche Vorurteile es gegen Menschen gibt, die in Schwarz herumlaufen.

Von Laura habe ich mir "Ich lieb sie" von Grauzone aufgenommen, das Rafa im letzten Sommer mehrfach im "Elizium" gespielt hat. Dieses Lied paßt in einer seltsamen Art auf ihn. Es ist schlicht gesungen und klingt ein wenig kindlich und gleichzeitig traurig:

Ich lebte hinter Gitterstäben,
da kam sie. Ich begann zu leben.
Ich träumte in der Dunkelheit,
auch von diesem Übel hat sie mich befreit.
Oh, ich lieb sie, nur sie, nur sie, nur dich.

Ich lebte hinter Masken,
sie hat sie mir zerrissen.
Das war sehr nett von ihr.
Mein ganzes Herz schenke ich nur ihr.
Oh, ich lieb sie, nur sie, nur sie, nur dich.

Dann sagte sie ein Wort,
und schon war sie fort.
Ich stürzte und ich fiel
und ich schrie: "Ich begreif das nie, ich begreif das nie."
Oh, ich lieb sie, nur sie, nur sie, nur dich.

Komm, gib mir deine Hand,
wir gehen zusammen ins Wunderland.
Dort gibt es nur Honigbäume und Marmelade.
Komm, gib mir deine Hand.
Oh, ich lieb sie, nur sie, nur sie, nur dich.


Es geht in diesem Stück nicht nur darum, daß jemand zu einem anderen Menschen Vertrauen faßt, sondern er wird auch von diesem Menschen gleich wieder enttäuscht. Daraufhin zieht er sich in eine unschuldige "Kinderwelt" zurück ("Wunderland").
Rafa scheint von mir nichts anderes zu erwarten, als daß ich ihn enttäusche, sobald er zu mir Vertrauen faßt. Daß ich ihn nicht enttäusche, kann er sich anscheinend beim besten Willen nicht vorstellen.
Für Rafa und mich gibt es jeweils etwas, das für uns mit Gefahren verbunden ist und gegen das wir uns aus Selbstschutz abschirmen; für Rafa ist das vor allem die seelische Nähe und für mich vor allem die körperliche Nähe.
Ich werde den Verdacht nicht los, daß wir beide füreinander derjenige sind, der imstande ist, die Gefahr zu bannen und dem jeweils anderen das zu geben, was ihm von sich selbst fehlt.
Constri gab mir einen kurzen Überblick über die Lage zwischen ihr und Derek. Derek soll gesagt haben, daß er Constri mit Velvet nur eifersüchtig machen wollte. Er soll befürchtet haben, daß Constri ihn nicht wirklich liebt, weil sie nie Eifersucht zeigte. Derek meinte, er finde Velvet häßlich und blöd. Daran, daß sie ihn im Genick streichelte, kann er sich angeblich nicht erinnern. Constri glaubt, daß er es nur nicht zugeben will, weil es ihm peinlich ist. Velvet soll übrigens nur betrunkene Jungs nehmen. Sie muß sich ihrer Sache schon sehr sicher gewesen sein. Als sie mit Derek in die U-Bahn-Station am CITICEN kam, fragte sie ihn:
"Und, hast du heute noch was vor?"
"Jaa", will Derek geantwortet haben, "ich muß nach Hause zu meiner Freundin."
Und er will in die entgegengesetzte Richtung wie Velvet gefahren sein.
Derek schämte sich so, daß er meinte, Constri nicht mehr in die Augen gucken zu können. Deshalb wollte er sich von ihr trennen. Er legte sich mit dem Gesicht nach unten auf sein Bett. Constri setzte sich aufs Sofa und wartete. Schließlich stand Derek auf und setzte sich auf den Sessel. Constri setzte sich Derek auf den Schoß. Da umarmte er sie und wollte sich nun doch nicht mehr von ihr trennen. Er fragte sie, ob sie ihn heiraten wolle. Sie bejahte.
Derek schwankt, so wie auch Rafa schwankt. Mal spricht Derek von Heirat, mal sagt er, er wüßte nicht, wie lange er noch mit Constri zusammen ist. Ebenso wie Rafa hat Derek Schwierigkeiten damit, sich festzulegen - wohl aus Angst vor Enttäuschungen.
"Ich scheine wirklich seine Traumfrau zu sein", sagte Constri zu mir.
Als er Constri noch nicht kannte, hatte Derek folgenden Traum:

In der Ritterzeit lebte Derek bereits mit einer Frau wie Constri zusammen. Sie liebten sich sehr, und als er starb, folgte Constri ihm zwei Tage später nach.

Als Derek Constri bald darauf bei dem Konzert von Leæther Strip sah, erkannte er in ihr die Frau aus seinem Traum:
"Das ist sie."
Umso schwerer fiel es Derek, sich Constri zu offenbaren.
Derek hat Constri den Traum lange nicht erzählen wollen, weil ihm diese Liebesgeschichte kitschig vorkam.
Eine Freundin unserer Familie erzählte von einer bevorstehenden Hochzeit im Bekanntenkreis. Die Braut will alles ganz traditionell mit vielen Gästen, Gedichten und Sketchen.
"Für mich ist eine Hochzeit nichts Lustiges", sagte ich dazu. "Für mich ist sie etwas Ernstes."



Ich kam mit Talis gegen halb eins in die "Halle". Rafa war auf dem DJ-Balkon. Er trug das Gleiche, was er am letzten Samstag im "Elizium" anhatte - ein weites weißes Rüschenhemd mit Rüschenkragen und die Weste mit dem roten Rücken. Vorn hatte er sich einige Strähnen weißblond gefärbt. Er kaute Kaugummi. Ob er das tut, um nicht zu rauchen?
Talis entdeckte Lenni und Lena. Wir stellten uns an einen Tisch in der Nähe der hinteren Bar. Daria stand auf der Tanzfläche. Sie sah mich und lief mit erhobenen Armen auf mich zu. Sie meinte, sie hätte mich deshalb immer noch nicht angerufen, weil sie mit ihrem Umzug nach H. beschäftigt war.
"Du hast ja oben immer noch keine Lidstriche", tadelte mich Daria.
Sie wollte unbedingt auf ihrem Platz vor der Box bleiben, obwohl es dort sehr laut war. Ich konnte mich nur bruchstückhaft mit ihr unterhalten.
"Ich habe gehört, du wärst mit Dolf nur fast zusammengewesen, nicht richtig", sagte ich.
"Woher weißt du das?" fragte sie.
"Das hat mir Laura erzählt."
"Paß auf, ich erzähle dir das später nochmal genauer, am besten am Telefon."
Die Sängerin lief in der "Halle" herum. Sie war in Begleitung von Dolf. Sie hatte sich einen Teil ihrer Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden; ich fand, daß sie damit besonders grob und roh aussah.
Es gab einen Auftritt von einer wenig bekannten Band. Nach dem Auftritt kam Rafa kurz herunter und holte etwas von der Bühne. Ich sah, daß er eine schwarze Leggins trug und sein Hemd darüberhängen ließ.
Laura war auch da. Sie zeigte mir ein Mädchen, von dem sie zuerst gedacht hatte, daß es Constri wäre. Es handelte sich um Rikka, die mit Seth an einer erhöhten Bar saß. Ich ging mit Laura kurz hin und begrüßte beide.
Talis redete viel mit Daria. Er meinte, er wisse nicht, wie verliebt er nun in sie sei; er müsse erst seine Gedanken ordnen.
Ich fragte Daria, ob Rafas Freundin da sei.
"Ja, die ist da", berichtete sie. "Das hat mich schon gewundert, weil, die geht sonst gar nicht in die 'Halle'. Ich habe mich überhaupt gefragt, wie die mit Rafa zusammengekommen ist. Die hat den wohl im 'Future' gesehen, als er da mal hingegangen ist ..."
"... und himmelt ihn jetzt an", ergänzte ich.
Daria erzählte mir von jenem Mittwoch, an dem die erste Eröffnungsfeier im "Future" stattfand:
"Damals kannte Rafa Meta noch überhaupt nicht. Die haben nichts miteinander zu tun gehabt. Sie hat mich aber schon böse angeguckt, weil ich mit ihm gekommen war. Die hatte wohl das Gefühl, ich wäre mit Rafa zusammen."
"Ah, schon wieder so eine Eifersüchtige."
"Ich dachte ja, daß Rafa und Tessa nochmal zusammenkommen", sagte Daria.
"Na, aber die da ist halt jetzt praktischer", meinte ich.
"Ja, aber wenn die nicht wäre, wäre er, glaube ich, wieder mit Tessa zusammen", vermutete Daria.
Seltsamerweise sah ich Daria nie mit der Sängerin sprechen. Ich glaube, daß sich auch Rafa Daria gegenüber zurückhält.
Rafas neue Freundin ließ wie am letzten Samstag ihr schwarz gefärbtes Haar einfach herunterhängen und war kaum oder gar nicht geschminkt. Sie hatte dieses Mal ein enges schwarzes T-Shirt an und eine Shorts aus Jeans; darunter trug sie eine schwarze Feinstrumpfhose.
"So vom Gesicht her sieht die ja nicht schlecht aus", meinte Daria. "Aber die könnte mehr aus sich machen."
"Ach, die ist insgesamt viel zu normal", sagte ich.
Daria stimmte mir zu.
"Echt, ich verstehe auch nicht, wie Rafa mit einer, die so aussieht ...", sagte sie.
"Eben - ich sehe ja viel besser aus!" rief ich und sprang in die Höhe.
Meta tanzte hin und wieder. Sie sprach mit einigen Mädchen, die ebenso durchschnittlich aussahen wie sie. Es schien, als würde sie Rafa gar nicht kennen. Rafa möchte seine Beziehung mit Meta vielleicht nicht nur vor mir, sondern auch vor allen anderen Leuten geheimhalten.
Einmal kam Rafa zu Meta herunter. Ich tanzte gerade zu einem längeren Stück von Skinny Puppy und konnte Rafa nicht in die Quere kommen. Er ging schnellen Schrittes zu dem Podest und sprach dort mit Meta. Ich tanzte abgewandt von den beiden; dennoch behielt ich sie im Auge. Ich sah sie keine Zärtlichkeiten austauschen. Noch bevor das Lied zuende war, eilte Rafa wieder nach oben. Meta folgte etwas später, doch sie ging nicht hinauf; sie blieb unterhalb des DJ-Balkons auf einem Hocker sitzen. Ich frage mich, wie es Meta gefällt, daß Rafa in der Öffentlichkeit nicht zeigt, daß sie seine Freundin ist.
Talis schlug vor, daß man zu Rafa hinaufgehen und sich über die Musik beschweren könnte. Der Vorschlag gefiel mir; ich war aber nicht bereit, mitzukommen. Schließlich hat Rafa eine Freundin und ist auf Entzug. So ging Talis allein hinauf. Rafa suchte in den CD's herum und wirkte furchtbar beschäftigt. Kappa stand vor ihm und nahm Talis' Beschwerde entgegen. Talis berichtete mir nachher, jede Beschwerde sei aussichtslos, da New Wave Night sei. Kappa und Rafa konnten spielen, was sie wollten, und wenn es Kim Wilde war. Talis machte in Rafas Richtung eine "Ich erschieß' dich"-Geste. Wenigstens legte Rafa noch "Love Missile" von Sigue Sigue Sputnik auf.
Till begrüßte mich. Er trug etwas Buntes, Technohaftes und hatte ein äußerlich passendes Mädchen dabei. Das Hauptmerkmal von Tills Freundinnen scheint zu sein, daß sie wechseln.
Till ging hoch zu Rafa und gab ihm ein Tape mit seiner Musik, und es wurde auch ein Lied davon gespielt. Laura freute sich.
Kappa sagte durchs Mikrophon, daß er ausnahmsweise auch mal "Hip hop" spielen würde, und es folgte ein schnelles Techno-Stück. Ich wollte mich nicht lächerlich machen, denn außer mir war nur noch ein betrunkener Buntgekleideter auf der Tanzfläche, der mich belästigt hatte. Er hatte nach meiner Taille gelangt und dafür eins auf die Finger bekommen. Ich verzichtete also schweren Herzens darauf, zu tanzen.
Rafa tanzte nur ein einziges Mal. Ich entdeckte ihn auf der Tanzfläche, als ich von der Toilette kam. Er hatte sich mit der Spiegelbrille geschützt.
"Was ist los?" fragte mich Laura, die rechts neben mir saß. "Du hast eben so böse geguckt."
Ich versicherte ihr, da sei nichts.
Das Lied, das Rafa sich ausgesucht hatte, war "Forever Young" von Alphaville. Rafa warf inbrünstig die Arme mit den weiten weißen Ärmeln in die Höhe.
"Der wird schon nicht ewig jung bleiben", sagte Laura. "Da kann er noch so toll tanzen."
Ihr war aufgefallen, daß ich Rafa beobachtete. Sie begann, lockere Sprüche zu machen:
"Ich sage immer, wenn alle DJ's oben sind, ist das 'alle Mann an Bord'. Im Moment ist 'Mann über Bord', weil der Rafa auf der Tanzfläche ist. Von mir aus kann er aber ruhig absaufen."
Auch Talis machte wüste Sprüche. Unter anderem schlug er vor, Rafa gewaltsam zu mir zu schleppen.
"Das hat keinen Sinn", entgegnete ich. "Der läuft gleich wieder weg."
"Nein, der ist doch schon festgebunden."
Inzwischen saßen wir alle in einer Reihe, Talis, Daria, ich und Laura. Auch Henriette kam vorübergehend hinzu. Ich erzählte ihr, daß es sich mehr als je lohnt, ins "Elizium" zu gehen, und sie fiepte:
"Ja! Ja!"
"Dann komm' doch auch mal wieder!"
"Ach, ich kann zur Zeit nicht aufs 'Elizium'."
"Ja, warum denn nicht?" wollte ich wissen.
"Ach ...", seufzte sie, "ich hab' keinen Nerv drauf."
"Aber da kommt ganz viel Die Form!" warb ich.
"Ja! Ja!" fiepte Henriette traurig.
Sie schien mir nicht verraten zu wollen, weshalb sie in Wahrheit das "Elizium" meidet. Es kann ein Junge dahinterstecken, der sie verlassen hat; Carl nimmt an, daß es Armin ist.
Daria erzählte mir etwas, das mich aufhorchen ließ:
"Als du einmal kurz weggewesen bist, ist in der Zwischenzeit Rafa 'runtergekommen, nah heran. Er war hier in der Ecke und hat so geguckt, als würde er dich suchen. Er ist noch ein Stück weiter nach da drüben gegangen, und dann ist er wieder umgekehrt und wieder zurückgegangen. Das war, als hätte er dich gesucht."
Es nimmt mich wunder, daß Rafa mich zu einer Zeit suchen soll, in der ich nicht da bin. Er kann vom DJ-Balkon aus leicht feststellen, wo ich mich aufhalte.
Es kam selten vor, daß Rafa für mich unsichtbar war. Ich vermutete dann immer, daß er sich mit Meta befaßte. Einmal entdeckte ich ihn in der Ferne wieder, an einer Bar hinterm DJ-Balkon. Rafa war im Gespräch mit einem Jungen. Er sah herüber zu mir.
Die Sängerin hatte sich mit Dolf aufs Bühnenpodest gesetzt, nicht weit von uns. Sie schien keinen Freund zu haben.
"Vielleicht mag sie Rafa noch", überlegte Daria.
"Ach, die ärgert sich wohl nur darüber, daß sie nicht mehr bei Rafa auf der Bühne stehen darf", vermutete ich.
"Ach, die ist nicht mehr in der Band?" wunderte sich Daria.
"Geht doch nicht", erwiderte ich. "Die ist doch nicht mehr mit Rafa zusammen."
"Ich finde, der sollte mal eine Sängerin haben, die nicht seine Freundin ist."
Es kommt mir so vor, als wenn die Sängerin noch immer mich als ihre Gegenspielerin betrachtet und nicht Rafas neue Freundin.
Gegen drei Uhr verschwanden Dolf und die Sängerin. Die "Halle" war inzwischen fast leer. Auf dem DJ-Balkon versah Rafa seine Augen mit der spiegelnden "Schutzbrille" und redete viel mit vielen Leuten. Er schien etwas vorzuhaben. Tatsächlich kam er bald herunter und rannte zum Ausgang der "Halle". Vor der Öffnung in der Zeltplane, die die "Halle" auskleidet, blieb Rafa stehen. Er setzte die Brille wieder ab, drehte sich um und rief etwas und winkte wild. Meta kam zu ihm, und mit ihr verschwand er.
"Das ist es wohl gewesen", dachte ich.
Es paßt zu Rafa, einen Aufstand zu machen, wenn er gehen will - zumal er von der Freundin begleitet wurde, die er vor mir versteckt.
Beim Tanzen berührte Daria meinen Arm und sagte:
"Rafa ist wieder da."
"Wo?"
"Da oben."
Rafa sprach auf dem Balkon mit Kappa. In der Hand trug er einen Federballschläger. Dann kamen Rafa und Kappa die Treppe herunter und begannen, auf dem Bühnenpodest Federball zu spielen. Talis, Daria und Laura und ich verfolgten den Auftritt mit Belustigung.
Der Ball flog über die Tanzfläche, und Rafa und Kappa verlagerten ihr Spielfeld dorthin.
Kappa spielte auf "meiner" Seite, Rafa auf "seiner". Er wollte mir wohl nicht zu nahe kommen. Das tat schon der Federball. Einmal fing ich ihn fast, einmal fiel er mir vor die Füße, und ich gab ihn Kappa, der sich artig bedankte.
Rafa kam mir nur kurz etwas näher. Er schlitterte auf seinen glatten Sohlen dem Ball nach, und einen halben Meter von mir entfernt hob er ihn auf. Den Kopf hielt er dabei gesenkt, und er sah zu, daß er bald wieder "Land gewann".
Rafa kaute immer noch Kaugummi, hielt beim Spielen aber eine Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug in der freien Linken. Gelegentlich schoß Rafa den Ball unter seinem Bein hindurch, oder er drehte den Schläger in der Hand. Einmal flog ihm dabei der Schläger auf den Boden.
Daria nahm links von mir, Talis rechts von mir Aufstellung. Abwechselnd gaben die beiden ihre Bemerkungen ab.
"Ouu, Mann, da hast du dir aber einen Vollidioten ausgesucht!" lästerte Talis.
Ich lachte und sagte:
"Das ist geil, das ist so geil."
"Na, vielleicht legt er sich ja noch hin; dann sieht er besser aus", kam es von Talis.
"Was hat das jetzt zu bedeuten?" wollte Daria über Rafas Verhalten wissen.
"Ja, das ist Kontaktaufnahme", meinte ich. "Das ist spielerische Kontaktaufnahme. Er versucht, sich mir zu nähern im Spiel."
Es ist auch denkbar, daß Rafa mit dem Federballspiel eine familiäre Stimmung in die "Halle" bringen wollte. Vielleicht hatte er den Wunsch, etwas aus seiner Vergangenheit wiederaufleben zu lassen. Vielleicht wollte Rafa auch erreichen, daß über Kappa und ihn gesagt wurde:
"Oh, nein, sind die blöd."
Dann konnte er sich mit Kappa als Einheit und stark fühlen.
"Irgendwie hat Rafa einen voll verbissenen Gesichtsausdruck", fand Talis.
Ich gab ihm recht. Ich kenne diesen Ausdruck. Wenn Rafa sich so zeigt, ist er innerlich angespannt. Ein Spaß war dieses Spiel für ihn demnach nicht, obwohl er oft lachte.
Der Federball flog immer wieder durch die Stangen des großen Sterns an der Decke hindurch, an dem Scheinwerfer befestigt sind. Schließlich geschah das Unglück: der Ball blieb im Stern hängen.
Meta war inzwischen auf dem DJ-Balkon. Sie stand dort mit Genna, der wasserstoffblonden Freundin von Kappa. Rafa und Kappa machten den Mädchen Zeichen; sie sollten der Stern herunterfahren. Offenbar wußten sie nicht, wo sich der Schalter befand. Rafa und Kappa gingen hinauf und ließen den Stern selbst herunter. Unweit von mir stellte sich Rafa vors Bühnenpodest und angelte mit seinem Schläger in dem Stern herum. Als er so den Ball nicht erreichte, nahm er Kappa auf die Schultern, und der mußte den Ball holen. Das Spiel konnte weitergehen. Ich war erleichtert darüber, denn nun hatte ich noch für eine Weile etwas zu gucken.
Ein Seitenwechsel wurde gemacht. Rafa fing an, auf "meiner" Seite zu spielen. Dort hielt er es allerdings nicht lange aus. Er wich zurück aufs Bühnenpodest und spielte nun quer zur bisherigen Richtung.
Was Rafa beim Spielen sagte oder rief, verstand ich meistens nicht. Einmal hörte ich sein "Asst-rein".
Das Gummistück löste sich vom Federball, und es gab eine lange Suche. Außer Kappa und Rafa suchten noch einige andere Jungen. Rafa ging zwischenzeitlich nach oben und redete mit der Freundin. Schließlich fand man das Gummistück, und Rafa kam herunter und befestigte es wieder an dem Federball. Rafa spielte mit einem dicklichen Blonden weiter. Der Platz, den sich Rafa gewählt hatte, war rechts hinten und damit weit weg von mir; ich stand links vorn.
Einmal hielt Rafa im Spiel inne und sah flüchtig zu mir herüber. Unsere Blicke trafen sich. Rafa warf unwillig den Kopf auf die Seite, als wollte er sagen:
"Ich hab' dich gar nicht angesehen, und ich brauche dich auch gar nicht anzusehen."
Rafa und der Blonde hatten noch nicht lange gespielt, da begann Rafas Version von "Ganz in Weiß". Rafa gestikulierte und rief etwas zum DJ-Balkon hoch. Daria kam zu mir auf die Tanzfläche, und wir tanzten. Ich machte langsame Schritte, vor und zurück. So habe ich auch im letzten Herbst zu dem Stück getanzt. Und wie im letzten Herbst hatte es Rafa auf einmal furchtbar eilig. Er lief, so schnell er konnte hinauf zum DJ-Balkon, griff sich das Mikrophon, stellte es ein und sang laut, so laut, daß fast die Musik übertönt wurde. Die Textzeile "Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß" sang Rafa gleich zweimal hintereinander; das hat er ebenfalls schon im vergangenen Jahr getan.
Rafa sang voller Inbrunst. Es klang etwas unglücklich. Rafa schien außer Atem oder doch zumindest müde zu sein. Gelegentlich wagte ich einen vorsichtigen Blick hinauf zu Rafa. Ich hoffte, ihn nicht beim Singen zu stören.
Als das Lied zuende war, sagte Rafa:
"So, das war's. Kommt gut nach Hause ... macht noch was Schönes ... kommt nächsten Freitag wieder. Macht eure Hausaufgaben ... putzt eure Zähne ... wascht euer Auto ... holt die dreckige Wäsche 'raus. Ja, also - tschüß."
Rafa schien es schwerzufallen, sich zu verabschieden. Sein Gruß glich einer Rede.
Ich blieb noch stehen auf meinem Platz. Daria und Talis kamen; sie wollten, daß wir aufbrachen.
"Los, komm'!" rief mich Talis. "Zu Hause kannst du weiterträumen!"
Auf der Heimfahrt meinte er, ich hätte richtig entrückt ausgesehen, als ich zu "Ganz in Weiß" tanzte - so, als würde ich jeden Moment davonfliegen.
Ich fragte Talis, weshalb er Rafa so gerne erschießen, ersäufen und foltern möchte. Er meinte, er hätte einfach nur Lust dazu. Einen schlüssigen Grund wußte Talis nicht. Ich glaube, daß Rafa die Leute durch sein Gehabe dazu reizt, auf ihn zu schimpfen und ihn zur Hölle zu wünschen. Dieses Lästern empfindet Rafa wahrscheinlich als Zuwendung. Es ist eine Art der Zuwendung, die Rafa sich gönnen kann, weil sie sein Selbstbild vom Schlechten Rafa nicht umstürzt.

Ein Traum handelte von einer neuen Discothek unterm CITICEN, wo früher das "Flash" gewesen ist. Rafa lief andauernd zwischen dem "Future" und der neuen Diskothek hin und her. Er geisterte herum wie ein Irrlicht. Ich war mit vielen Menschen unterwegs, auch Menschen, die ihn kannten. Das gab Rafa Gelegenheit, mir nahe zu sein. Er achtete stets darauf, rechtzeitig vor mir die Flucht zu ergreifen. Schließlich deutete er an, in einen Technoladen gehen zu wollen. Doch da war es schon halb sieben Uhr morgens. Ich war müde. Joël legte ein Technolied auf, und ich tanzte mit ihm den letzten Tanz.

Rafa war am Samstag nicht im "Elizium". Gerrit spielte mir in seinem Auto seine musikalischen Anfänge vor, die er aus Samples zusammengebastelt hat. Entsprechend klangen die Sachen. Von der "Bühnenreife" ist Gerrit noch weit entfernt, und das sieht er auch selbst so.
Er bat mich, nicht auszustreuen, daß er mit der Sängerin arbeiten will. Ich versprach es. Ob es ihm peinlich ist, mit der Sängerin in Verbindung gebracht zu werden?
Wie ein herrenloser Schäferhund streunte die Sängerin durchs "Elizium", wohl auf der Suche nach einem Bezugspunkt. Dolf war nicht da, und sie hielt sich viel an die Leute von Gerrit. Es kratzt sie wahrscheinlich, daß auch ich mit Gerrit rede. Nur kann sie mich deswegen schlecht anschreien.
Ich fand, daß sie ausgesprochen schlampig aussah. Sie hatte ein schlottriges T-Shirt an und platt herunterhängende Haare. Sie bildete einen krassen Gegensatz zu dem prachtvoll kostümierten Gerrit im goldglitzernden Mantel.
Im "Elizium" war es noch heißer als in der "Halle". Viele Mädchen waren bloßbeinig, auch Constri. Sie fragte mich, wie ich es in der Strumpfhose aushielte.
"Muß gehen", meinte ich. "Ich habe nur Abendgarderobe, die man mit Strumpfhose trägt."
Laura und ich zogen an unseren langen Handschuhen herum. Sie hat fingerlose; dennoch war ihr heiß.
"Habt ihr Probleme mit euren Handschuhen?" fragte uns Gerrit.
Er zeigte uns seine dünnen, aus Netzstrümpfen gemachten Armstulpen. "Tante Al-Kher" nenne ich ihn im Stillen, weil er so damenhaft wirkt.
Ein großer, stämmiger blonder Junge fragte mich, wie es Daria ginge.
"Sie wollte mich heute anrufen, hat es aber nicht gemacht", erzählte ich.
"Ja, das ist Daria!" wußte der Junge.
Daria möchte gern ein Foto von mir haben. Wie soll ich es ihr geben, wenn sie es nicht schafft, mich anzurufen und sich mit mir zu verabreden?
Ich redete mit vielen Leuten, unterbrochen durch viele tanzbare Stücke. Ich stelle fest, daß ich mich zunehmend auch mit Mädchen beschäftige, während ich sonst Jungen deutlich bevorzugt habe. Das liegt zum einen daran, daß ich in Rafa bereits den Mann gefunden habe, den ich suchte und mich nun gern mit dem von mir lange vernachlässigten eigenen Geschlecht auseinandersetze. Ein weiterer Grund ist der, daß ich bisher bei "Frauengesprächen" nie mitreden konnte, weil mir Erfahrungen fehlten. Inzwischen kann ich wenigstens eingeschränkt über Männer sprechen. Ein weiterer Grund ist der, daß ich Freude daran habe, die "Kaffeetantenrolle" zu spielen.
Die Mädchen scheinen zu merken, daß ich auch mit ihnen gern rede. Carl meint, ich würde weiblicher wirken, und das würde die Mädchen anziehen.
Talis bekam seine "'Elizium'-Depression" und ging recht früh. Rikka wagte sich mit ihrem Seth aus der Ecke links neben der Bar hervor, in der auch Rafa schon Zuflucht gefunden hat. Seth geht nun in Schlicht-Schwarz aus, nicht mehr im bunten Grunge-Stil.
Die beeindruckendste Neuheit im "Elizium" war eine Version des mittelalterlichen "Saltarello", das auch Dead can dance verarbeitet und zu einem Kultstück gemacht haben. Diese sehr rhythmische, von Dudelsäcken untermalte Version allerdings stammt von einer noch unbekannten Gruppe namens Corvus Corax. Auf einer orangefarbenen CD ohne Angabe des Labels sind mehrere Umsetzungen mittelalterlicher Stücke, und die CD gab es laut Xentrix bei einem Mittelaltermarkt. Die CD gehört Xentrix nicht, und er schaffte es auch nicht, mir den zu zeigen, der sie ihm geliehen hat. Er will aber herausbekommen, ob und wo man die CD noch kaufen kann.
Gegen Morgen kam Xentrix auf die Tanzfläche und wiegte sich mit gequälter Miene zu einem kitschigen Stück. Der punkige Foster und ich ahmten ihn nach.
"Du hast mich vorhin geärgert, ich hab's genau gesehen!" warf Xentrix mir vor, als ich wieder oben bei ihm war und mir meine Dissecting Table-CD abholen wollte.
Xentrix hielt die CD in die Höhe und rief:
"Hee, die willst du doch, nicht?"
Eines Tages kommt es soweit, daß Xentrix und ich uns um CD's hauen.
Es gibt ein Stück von Ataraxia, das Xentrix sehr mag, und er wollte unbedingt, daß ich es "noch mitnehme". Also tanzte ich mit ihm dazu, auch weil ich das Stück nicht schlecht fand.
Am Morgen habe ich Folgendes geträumt:

Ich stand im Unterholz eines dichten, verwunschen aussehenden Waldes. Die Bäume waren nicht sehr hoch, und die hellen, heißen Sonnenstrahlen erreichten den Boden. Ich entdeckte, daß dieser Boden reich bevölkert war mit fremdartigen Insekten. Sie krochen durch trockene Fichtenzweige und Haufen von rotbraunen Nadeln. Unter ihnen waren Tierlein, so groß wie Ratten, doch flach, federleicht und mit zahllosen Beinen ausgestattet. Sie trugen einen flauschigen schwärzlichen Pelz. Ein ganzes Nest mußten sie dort haben, wo ich stand. Es gab auch noch mehr Insekten, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Mir wurde die Gesellschaft unheimlich, und ich floh. Mit einem Schreckensruf erwachte ich.

Sind diese Insekten kleine, flauschige Mädchen, die um Rafa herumwuseln und ihn haben wollen? War ich in ihr Terrain eingedrungen?
Der nächste Traum war die Fortsetzung des vorherigen:

Ich wollte auf einen Empfang in einem Schloß, zu dem die Leute aus der Szene geladen waren. Vorher mußte ich aber noch Pferde füttern, die mein Vater in Pflege hatte. Er war für einige Zeit fort, und die Pferde mußten hungern und dursten, wenn ich sie nicht versorgte. Die Pferde standen aber in jenem unheimlichen Waldstück, daß von so vielen merkwürdigen Tierlein bewohnt wurde. Die Sonne brannte heiß, und ein langer Marsch über staubige Äcker lag vor mir. Da kamen zwei Jungen mit einem Karren des Wegs. Sie wollten wie ich zu dem Empfang. Sie fuhren mich auf dem Karren durch die Sommerhitze und fütterten und tränkten sogar die Pferde für mich. In ihrer Begleitung fürchtete ich mich nicht vor den Insekten, und ich hatte auch nicht mehr die Sorge, zu dem Empfang zu spät zu kommen. Rechtzeitig langten wir in dem Schloß an. Ich lief sogleich in den Fundus, um mich für den Empfang zu kleiden. Auf dem Weg dorthin sah ich die Sängerin. Sie, die sonst so schlampig herumläuft, ging in weißem Brokat. Ich befürchtete zum ersten Mal, die Sängerin nicht ausstechen zu können. Ich wußte, daß mir nur ein Blick in den Spiegel helfen konnte, der mir bestätigte, daß ich mich ihr eben doch überlegen fühlen durfte, auch ohne weißen Brokat.

In einem weiteren Traum wurde eine Gruppe von Leuten aus der Szene von Verbrechern gefangengenommen. Zu dieser Gruppe gehörten auch ich und die Sängerin. Wir wurden alle in einen fensterlosen Raum gesperrt. Dort stand ein Ring aus weißen Tischen, an denen wir Platz nahmen. Die Sängerin hielt einen ordentlichen Abstand zu mir. Man gab uns sechzehn Stunden Zeit, eine Aufgabe zu lösen; lösten wir sie in dieser Zeit nicht, sollten wir sterben. Die Aufgabe bestand darin, den Inhalt eines englischen Liedtextes zu erfassen und in deutscher Sprache wiederzugeben. Dies war mehr als bloße Übersetzungsarbeit. Ich las mir den Text durch. Die ersten Zeilen verstand ich auf Anhieb, und ich sagte in die Runde:
"Na, dann fangen wir mal mit der ersten Hälfte an."
Die Sängerin frohlockte. Ich hatte Wissen, das ihr nützte, und das gefiel ihr. Ebenso hat es meinen Widersacherinnen in der Schule gefallen, wenn ich ihnen bei ihren Aufgaben helfen konnte. Sie umwarben mich gerade so lange, wie ich ihnen dienlich war. Danach wurde ich wieder ihr Opfer.
Ich dachte an diese früheren Zeiten und beschloß, mir von der Sängerin nicht schmeicheln zu lassen. Ich kümmerte mich nur um die Aufgabe, deren Lösung uns das Leben retten sollte. Ich arbeitete mit meinen eigenen Leuten zusammen und achtete auf die Sängerin nicht.

In einem weiteren Traum tanzte ich in Fensternähe quer zu den Bahnen, die sonst im "Elizium" getanzt werden. Ich entdeckte, daß Rafa mir gegenüber tanzte, auch quer zu den Bahnen. Wie ich schritt er vor und zurück, was er doch eigentlich gar nicht mehr machen möchte.

In einem weiteren Traum lag ich im weißseidenen Nachthemd in einer Kutsche. Ein Mann sagte:
"Ich will herausfinden, ob die an einem Vampirbiß gestorben ist."
"Also, erstmal ist die gar nicht tot", sagte ein anderer.

Rafa wird mit sich noch immer uneins darüber sein, ob ich eine Leiche bin oder lebendig.
Constri arbeitet derzeit mit mir an einer Fotoserie für ihre Bewerbung an der Fachhochschule für Multimedia-Design bei uns in H. Constris Film "Lebendiger lege!" von 1992 hat den Leuten dort schon sehr gefallen. Wir haben spätabends die ersten Aufnahmen gemacht; es war trotzdem noch sehr heiß, etwa siebenundzwanzig Grad. Die Scheinwerfer sorgten für noch mehr Hitze. Wir ließen den Ventilator laufen, und Constri machte uns kühle Drinks. Derek spielte eigene Kompositionen ab, schräge, dabei durchaus rhythmische elektronische Musik mit extremen Höhen und Tiefen.
Constris Fotoserie handelt von meinem Verhältnis zu Rafa und zu meinem Computer. Sie beginnt damit, daß ich telefoniere, mit Rafa. Ich empfange Gefühle, und die gebe ich an den Computer weiter. Von da aus gelangen sie in den Drucker und erscheinen schließlich als Text auf dem Papier. Gefühle werden in Worte "gefaßt", wie Diamanten in Gold oder Platin.
Die Telefonszene ist in Rot getaucht. Ich telefoniere in einem tiefroten Kleid, das mit Rosen bedruckt ist und dem Stil der 50er Jahre nachempfunden ist, mit U-Boot-Ausschnitt vorn, V-Ausschnitt hinten, einem weiten Rock mit Petticoat und einem schwarzen Stoffgürtel um die Taille. Dazu trage ich die langen schwarzen Satinhandschuhe. Hinter mir hängt ein Bild von Rafa an der Wand. Auf dem Mahagonitisch mit dem Telefon steht ein großer Strauß roter Rosen. Constri hat einen Filter verwendet, den sie mit vielen Stiften unregelmäßig rot gefärbt hat.
Die folgenden Bilder werden zunehmend farbloser und grauer. Am Schluß sieht man nur noch schwarz auf weiß die Worte. Ich habe Sätze ausgewählt, in denen Rafa mich mit Computern verglichen hat.
In zwei Stadtmagazinen sieht man Rafa und Kappa Arm in Arm in einem Barockgarten. Rafa hat seine Augen hinter der Spiegelbrille versteckt. Die Fotos sind anläßlich der Eröffnung des "Nachtlicht" aufgenommen worden.

Als es wieder nachts so heiß war, träumte ich von einem "Hoch", das das Aussehen einer weißen, stählernen Spitze hatte, die unendlich weit in den Himmel ragte, einer Tangensfunktion gleich. Dieses "Hoch" deutete an, daß es unendlich heiß wurde; der Weltuntergang stand bevor. Zusammen mit einigen Leuten betrachtete ich die weiße Spitze.
"Wenn das kommt", sagte ein Student, "müssen theoretisch alle bis auf null Menschen im Tiefschlaf liegen."
"Warum, wegen der Hitze?" fragte ich.
"Nein, wegen der Kälte", entgegnete der Student. "Wir werden ja von etwas fortgeschleudert ..."
Ein Kind sah die Luft flimmern und spiegeln und dachte, das wäre Wasser. Es wollte mit dem glitzernden Zeug spielen und es trinken.
"Du trinkst uns die Luft weg", sagte die Mutter.
Ich ging an den Computer und stellte fest, daß Rafa längst Strategien zur Verhinderung des Weltuntergangs entwickelt hatte, unter anderem in Form eines Programms. Ich konnte lauter Fenster öffnen und fand Lösungsvorschläge; außerdem hatte Rafa die Layouts für die Vortragsdias, die ich für das Instituts machen muß, bereits fast fertiggestellt. Ein weiterer Bestandteil von Rafas Strategie war ein Federballspiel, das er mit Kappa im Weltall veranstaltete. Es diente meiner Erheiterung.
Rafa hatte mir Mut gemacht, mir viel Arbeit abgenommen und mich angenehm zerstreut. Freilich achtete er darauf, daß ich nicht glaubte, er würde es meinetwegen tun.

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Ende Juli waren Carl, Talis und ich auf der Geburtstagsfeier von Violet. Dort wußte niemand außer uns dreien von der Sache mit mir und Rafa. Also wurde gelästert.
"Den Rafa mag ich überhaupt nicht", war der Tenor. "Den finde ich voll arrogant."
Ein Junge kann sich noch daran erinnern, daß Rafa bei dem Auftritt im Februar seine Hose nicht richtig zugemacht hatte. Diejenigen, die es gesehen haben, werden es nicht so schnell vergessen. Ich konnte höchstens verhindern, daß es noch mehr Leuten aufgefallen ist.
Gegen halb zwei kamen Talis und ich in die "Halle". Daria begrüßte mich stürmisch, wie ich es von ihr kenne. Sie gab mir ein Bitter Lemon aus und erzählte mir, daß Rafa während der Nacht schon mit ihr geredet hatte. Er war auf sie zugekommen und hatte ihren Fächer entdeckt.
"Den Fächer kannst du mir gleich geben", soll er zu Daria gesagt haben. "Den hast du doch bestimmt für mich mitgebracht, oder?"
Rafa bekam den Fächer freilich nicht. Als Daria ihm berichtete, daß sie nun eine Wohnung in H. hat, meldete er schon wieder Ansprüche an:
"Oh, das ist gut; dann kann ich ja auch mal bei dir übernachten!"
"Ich habe nur ein Bett", entgegnete Daria.
"Na gut, dann schlafe ich eben in dem Bett und du auf dem Boden", sagte Rafa.
Die beiden unterhielten sich über allerlei. Rafa soll schon sehr aufgeregt sein wegen der bevorstehenden Eröffnung des "Nachtlicht". Er soll Daria noch einmal beschworen haben, auch ja zu erscheinen. Schließlich kam Rafa auf mich zu sprechen.
"Na, hat Hetty dich wieder vollgelabert?" nahm er Bezug auf den vergangenen Freitag.
Er wollte von Daria ganz genau wissen, was ich ihr über ihn erzählt habe. Daria hat zu ihm gesagt, ich würde Rafa "immer noch gut finden" und "auf keinen Fall aufgeben wollen".
Über das "Federball-Schauspiel" sagte Rafa, das sei nur ein Spaß gewesen.
"Hetty hat sich ja extra so hingestellt, daß sie mich sehen kann, nicht?" forschte Rafa.
Daria bejahte.
Rafa scheint seine Neugierde im Hinblick auf mich nicht unterdrücken zu können.
Ich erfuhr von Daria auch, daß die Sängerin sich nur kurz in der "Halle" gezeigt hatte. Daß Rafa noch mit Meta zusammen war, glaubte Daria nicht:
"Der kümmert sich überhaupt nicht um die."
Daria beobachtete, daß Meta bald nach meinem Erscheinen die "Halle" verließ und dabei ein Gesicht zog.
Als ich in der "Halle" anlangte, stand Cyrus am DJ-Pult. Von Rafa und Kappa war nichts zu sehen. Erst nach etwa einer Stunde kam Rafa durch einen Schlitz in der Zeltplane im Eingangsbereich und eilte zum DJ-Balkon. Er war unrasiert und hatte eine Brille auf, von der Daria sagte, es sei eine "Depeche Mode-Brille". Oben setzte er die Brille gelegentlich ab, doch meistens behielt er sie auf. Ich stellte fest, daß die Brüstung des DJ-Balkons teilweise nur aus einem Gitter besteht, und durch dieses Gitter kann man die Beine der Leute sehen, die sich dort aufhalten. Ich konnte von Rafa also mehr sehen, als ich gedacht hatte. Er trug die gleichen Kleider wie eine Woche zuvor. Ich hatte von ihm den Eindruck, daß es ihm nicht besonders gut ging. Er trank das Bier so auffällig, daß ich es sehen konnte und verzichtete auf seine üblichen Sprüche durchs Mikrophon. Die Musik, die er auflegte, gefiel mir fast durchweg; das ist nicht oft der Fall. Rafa spielte unter anderem das Kultstück "Herzlos" von Stratis und "Love like Blood" von Killing Joke.
Rikka und Seth waren beide mit schwarz gefärbten Haaren gekommen. Seth hatte sich Doc Martens besorgt und tanzte trotz seiner Schüchternheit mit Rikka.
Dolf war nicht in der "Halle". Als ich Daria nach ihrer Beziehung mit ihm fragte, schlug sie vor, daß ich nach der "Halle" noch mit zu ihr kommen könnte; dann würde sie mir die Geschichte erzählen.
Daria und ich beobachteten Velvet. Sie hatte wieder ein "Opfer" gefunden. Vor einer Bar vollführte sie mit ihm Karatesprünge. Auch in dieser Nacht schaffte sie es, ihr "Opfer" mitzunehmen.
"Warum gehen die immer mit der mit?" fragte Daria.
"Billig und willig", sagte ich.
"Ich glaube, die ist nicht ganz richtig im Kopf", meinte Daria.
Velvet soll auf Rafa erpicht sein und behaupten, ihn zu lieben. Freilich soll Rafa seit Januar nicht mehr mit Velvet geredet haben.
"Mit der könnte ich nie was haben", sagte Rafa zu Daria über Velvet. "Da würde ich mich ekeln."
"Vor der Sängerin würde ich mich auch ekeln", sagte ich zu Daria. "Außerdem hatte Rafa schon was mit Velvet."
Ich erzählte Daria davon, wie sich Rafa im letzten Dezember die Velvet für ein Wochenende als Freundin nahm, um nicht mit mir ins "Nachtbarhaus" gehen zu müssen. So sehr konnte er sich also gar nicht ekeln.
Es gibt seltsame Parallelen zwischen dem, was Rafa und Derek mit Velvet hatten. Hinter beiden war Velvet her, von beiden wurde sie nur für einen Zweck benutzt, und beide gingen für sie mit zwei Gläsern durchs "Elizium"; sie wird ihnen wohl etwas ausgegeben haben. Wahrscheinlich hat Velvet eine "Masche" im Umgang mit Männern.
Kappa war öfters bei Rafa oben. Sie redeten viel miteinander. Rafa trank zwischendurch immer wieder aus seinem Bierglas, als müßte er sich beruhigen. Einmal legte Kappa beide Arme um Rafa und wischte an Rafas Schulter herum. Diese Geste wirkte auf mich zärtlich und fürsorglich, gleichfalls aber auch erotisch. Insgesamt waren die Gespräche von Rafa und Kappa begleitet von Berührungen. Wenn Rafa eine Freundin hat, geht er mit ihr in der Öffentlichkeit nie so zärtlich um. Seit ich Rafa kenne, hat er nur ein Mädchen vor aller Augen hingebungsvoll - und nicht nur routiniert! - umarmt, gestreichelt und geküßt. Dieses Mädchen bin ich. Gleichzeitig bin ich das einzige Mädchen, von dem Rafa in der Öffentlichkeit zärtlich berührt wird.
Es ging auf vier Uhr zu, als Rafa und Kappa gemeinsam den DJ-Balkon verließen. Kappa legte den Arm um Rafa und ging mit ihm durchs "Crystal Palace". Dann wurden sie für längere Zeit unsichtbar.
"Wo die nur sind?" fragte ich.
"Du kannst ja mal zur Toilette gehen", schlug Daria vor. "Soll ich mitkommen?"
"Wenn du willst, gern."
So gingen wir durchs "Crystal Palace" zu den Toiletten, um Licht ins Dunkel zu bringen. Ich fand Kappa an einem Tisch mit einer Kunstblondine sitzend, die aber nicht seine Freundin war. Und ich fand Rafa. Er saß gut versteckt zwischen der Bar und der hinteren Wand. Mit wem er redete, erkannte ich auf die Schnelle nicht, doch es kam mir vor, als wenn es mehrere Leute waren.
In der Toilette beriet ich mich mit Daria. Sie hatte auch nicht gesehen, in welcher Gesellschaft Rafa war; wir mußten es auf dem Rückweg feststellen. Als wir aus der Toilette kamen, hatte Rafa sich umgesetzt. Er saß Meta gegenüber auf einem Barhocker, wenige Schritte von der Toilettentür entfernt und uns mitten im Weg.
"Aha", sagte ich, als ich Meta erblickte.
"Das is' ... seine", raunte Daria.
Rafa saß mit dem Rücken zum Gang. Wir waren gezwungen, dicht an ihm vorbeizugehen. Rafa weiß, was geschieht, wenn er sich mir so ausliefert: ich berühre ihn. Dieses Mal kraulte ich ihn im Kreuz. Ich halte es für unwahrscheinlich, daß Meta das bemerkt hat. Sie schien mit dem Gespräch zu sehr beschäftigt zu sein. Ihre Stimme klang aufgebracht. Daria hatte den Eindruck, daß Rafa und Meta sich stritten.
"Dann ist er noch mit ihr zusammen", meinte ich. "Wir wissen, daß er sich mit seinem Freundinnen zu streiten pflegt."
Ich faßte meine Beobachtungen über Rafas Verhältnisse zusammen:
"Er nimmt sich eine beliebige Freundin, die ihn anhimmelt und für die er nichts empfindet. Er behandelt sie schlecht, und sie macht ihm Vorwürfe. Er versucht, sie wieder zu versöhnen. Dann behandelt er sie aber immer wieder schlecht, und am Ende geht die Beziehung auseinander."
Als Cyrus das letzte Lied gespielt hatte, stritten Rafa und Meta immer noch. Talis fuhr Daria und mich zu Darias Wohnung, und wir beide frühstückten dort. Daria hat eine helle, auf eine kühle Art freundliche und sehr saubere Wohnung. Mir gefiel es dort gleich.
"Es ist nicht so außergewöhnlich wie bei dir", wollte sich Daria schon entschuldigen. "Meine Mutter hat die Wohnung eingerichtet. Ich hatte keine Zeit dazu."
Es gab viel Auswahl an Essen und Getränken. Ich aß Obst und ein Sahnedessert. Unser Versuch, eine Weinflasche zu öffnen, scheiterte; also tranken wir Apfelsaft. Daria hatte auch Hefe-Weizen, das einzige Bier, das ich mag. Doch ich vergaß, die Dose zu öffnen, weil ich zu sehr ins Gespräch vertieft war.
Daria zeigte mir Fotos von sich und ihrer Zwillingsschwester. Die Schwester lebt auch in H. Sie hat Darias Gesicht und Gestalt, ist aber nicht in der Szene. Einmal hat Daria sie mitgenommen ins "Elizium".
"Du bist ihr aufgefallen", erzählte mir Daria. "'Die tanzt so geil', hat sie gesagt."
Ein Schwarzweißfoto, auf dem ich Daria besonders niedlich finde, bekam ich geschenkt. Daria schenkte mir auch noch die April-Ausgabe eines Schaumburger Veranstaltungsmagazins, in dem Rafas Band vorgestellt wird. Die Freundin von Kappa soll den Artikel geschrieben haben.
"Das erklärt, warum der Text so schmeichelhaft ist", sagte ich dazu.
Nun wollte ich aber endlich wissen, wie das Verhältnis von Daria und Dolf aussieht.
Daria hatte Dolf im letzten Herbst in der "Halle" gesehen, als sie zum ersten Mal dort war, und sie fand ihn gleich süß. Rafa sah Daria kurz darauf in SHG., als er mit der Sängerin im Auto an ihr vorbeifuhr. Er sprach Daria an, als er ihr in der "Halle" wieder begegnete:
"Ich habe dich in SHG. gesehen. Du kommst auch aus SHG.? Ich dachte, ich wäre der Einzige von uns, der da wohnt."
Er schlug Daria vor, daß man sich in SHG. treffen und miteinander etwas trinken gehen könnte. Also ließ Daria sich von Rafa in verschiedene Lokale führen. Schließlich fragte Rafa Daria, ob sie Lust hätte, noch mit zu ihm zu kommen. Sie gingen zu ihm, und er zeigte ihr Fotos und Bilder, wie er es auch mit mir gemacht hat. Dann wollte er wissen, ob sie einen Freund hätte. Als sie verneinte, fragte er sie, ob es ihr etwas ausmachen würde, über Nacht bei ihm zu bleiben. Daria meinte, so etwas wolle sie nicht.
"Warum denn nicht?" fragte Rafa und gab sich unschuldig.
Da verriet ihm Daria, daß sie sich für Dolf interessierte.
"Ist schon gut", sagte Rafa da, und das Thema war erledigt.
Rafa war gerade von der Sängerin getrennt, als er Daria dieses eindeutige Angebot machte. Er suchte also während der Trennungsphasen nach neuen Verhältnissen. Ich frage mich, bei wievielen Mädchen er es versucht hat und bei wievielen Mädchen er zum Ziel gekommen ist, das heißt, mit wievielen Mädchen er tatsächlich geschlafen hat. Ich frage mich auch, mit wievielen Mädchen Rafa während seiner Verhältnisse mit der Sängerin geschlafen hat.
Dolf erfuhr durch Rafa, daß Daria ihn als Freund haben wollte. Daria und Dolf lernten sich kennen. Dolf erzählte ihr, daß er seit Kurzem von Sanna getrennt sei, die auch schon Rafas Freundin gewesen ist. Sanna soll während ihrer Beziehung mit Dolf eine neue Beziehung begonnen und Dolf darüber im Unklaren gelassen haben. Dolf meinte, darüber komme er schlecht hinweg. Daria solle Geduld mit ihm haben. Auch sagte Dolf über sich, er sei launisch und würde seine Mitmenschen oft schlecht behandeln. Das würde unter anderem an den Spannungen in seinem Elternhaus liegen, aus dem er jedoch "wegen seiner Arbeit" nicht ausziehen könne. Daria und Dolf stimmten in ihren Ansichten insofern überein, als sie beide treu sein wollten und Treue verlangten. Allerdings fiel es Dolf schwer, öffentlich zu zeigen, daß er mit Daria zusammen war. Er entschuldigte das damit, daß er es nicht leiden könne, wenn Mädchen "klammerten".
Die Beziehung zwischen Dolf und Daria lief also im Geheimen. Daria meint, daß Dolf sich nicht zu ihr bekennen könne, weil er seine Gefühle nicht zeigen will oder kann. Da hat Daria mit Dolf ein ähnliches Problem wie ich mit Rafa.
Ende Juni eröffntete Dolf Daria, er sei wieder mit Sanna zusammen. Daria war erleichtert, als Ivco ihr anbot, mit ihm nach HB. zum "Crucifiction" zu fahren. So konnte sie sich von der Sache mit Dolf ein wenig ablenken.
Das neue Verhältnis von Sanna und Dolf dauerte nur wenige Tage. Dolf beschloß, zu Daria zurückzukehren. Daria war es zufrieden, doch Ordnung herrscht in der Beziehung von Daria undf Dolf noch lange nicht. Immer wieder bat Dolf Daria, Geduld zu haben und ihm Zeit zu gönnen. Ich habe erfahren, daß man ungeduldig nach dem Menschen verlangt, den man liebt. Man will keinen Aufschub. Man will die Nähe des geliebten Menschen. Wenn man statt Nähe Zeit will, Zeit und immer wieder Zeit, dann, glaube ich, will man den Menschen eigentlich gar nicht.
Rafa hat vor einer Beziehung mit mir Angst, doch er hat sein ungeduldiges Verlangen nach mir schon oft gezeigt, in heftigster Weise. Ich habe Daria gefragt, ob es in ihrer Beziehung mit Dolf auch leidenschaftliche Szenen gibt. Sie meinte, die gebe es schon.
Es wundert mich, daß Sanna, die große Blonde, mit dem dunkelhaarigen Zwerg Dolf zusammen war. Ich habe die beiden im letzten Jahr gemeinsam die "Halle" verlassen sehen, doch ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie ein Paar sein sollten. Ich finde allerdings in der Sache mit Dolf eine Erklärung dafür, daß Sanna schon seit vielen Monaten weder ins "Elizium" noch in die "Halle" geht.
Ich vermute, daß sich Sanna Dolf zuwandte, als sie sich von Rafa enttäuscht fühlte. Viele "Ehemalige" von Rafa sammelten sich bei Dolf wie in einem Auffangbecken. Diese Rolle wurde Dolf eines Tages leid. Er möchte mit den Frauengeschichten von Rafa nichts mehr zu tun haben.
"Ewig jammern sie mich voll", soll Dolf über die Mädchen gesagt haben.
Er meinte, so eng befreundet sei er mit Rafa nun auch wieder nicht; man verstehe sich zwar und unternehme gelegentlich etwas miteinander, doch diese Beziehung sei nicht vergleichbar mit der Innigkeit zwischen Rafa und Kappa.
"Da ist eben das eingetreten, was ich vorausgesehen habe", stellte ich erfreut fest. "Dolf hat sich von Rafa weitgehend gelöst und lebt sein eigenes Leben. Das Gespann 'Rafa und Dolf' ist nichts als eine Legende. Ich dachte mir schon, daß Rafa und Dolf nur eine Zweckbeziehung haben. Sie sind zu verschiedene Menschen, um wirklich enge Freunde zu sein."
Daria meinte, es sei nicht sicher, ob es die Band "W.E" noch lange geben werde.
"Kennst du Screech?" fragte sie mich.
Über diese Band wußte ich nur, daß sie zum Eröffnungsprogramm des "Nachtlicht" gehörte. Daria erzählte mir, daß Rafa in der Band "fast alles macht", was bedeutet, daß Musik und Inszenierung von ihm stammen. Auf der Bühne sind allerdings Zinnia und Rafas Freund Anwar zu sehen. Die stämmige Zinnia soll eine gute Stimme haben. Seltsamerweise ist Zinnias Äußeres ebenso, wie Rafa es nicht mag: sie ist kaum geschminkt und trägt Jeans, T-Shirt und Docs. Rafa scheint sie tatsächlich ihrer Stimme wegen ausgesucht zu haben und nicht, weil sie mit ihm schlafen will. Anwar kann nicht Keyboard spielen; er muß also tun, als ob. Rafa schickt einen Strohmann vor. Er behauptet, selbst nicht mit seiner Band auftreten zu wollen, weil er sich auf der Bühne für entbehrlich hält:
"Was soll ich mich da noch mit hinstellen?"
Rafa mag sich davor fürchten, daß er mit seiner eigenen Musik in Verbindung gebracht wird. Er mag neue Verrisse vorausahnen, und er möchte, daß sie nicht auf ihn, sondern auf seine Strohmenschen einhageln.
Ich vermutete noch einen anderen Grund, aus dem es Rafa schwerfallen könnte, sich auf der Bühne zu zeigen:
"Ich glaube, er mag sein Aussehen nicht."
Dazu wußte Daria gleich etwas, das mich sehr erheiterte:
"Im 'Future' habe ich mich mit dem einen DJ unterhalten, dem Sazar. Rafa hat das gesehen und mich gefragt, ob ich finde, daß Sazar eine erotische Ausstrahlung hat. Da habe ich gesagt, daß ich Sazar eigentlich voll häßlich finde. Und da hat Rafa gefragt:
'Und meine erotische Ausstrahlung? Findest du, daß ich eine erotische Ausstrahlung habe? Und wie findest du mein Aussehen?'
Ich habe gesagt, vom Aussehen her finde ich ihn auf jeden Fall besser als Sazar, aber sonst ist er nicht mein Fall. Da hat er gesagt:
'Ich wollte das ja nur wissen.'"
Daria erzählte Einzelheiten aus dem Gespräch, das sie mit Rafa am Pfingstsonntag geführt hat. Sie fuhr mit ihm im Zug zur NDW-Night, zu der Rafa mich nicht hat überreden können. Am Pfingstsamstag war Rafa in meinen Armen so schwach geworden, und dieses Erlebnis wollte er nun anscheinend auf bewährte Weise "abstreifen".
"Kannst du mir nicht sagen, wie ich in der 'Halle' eine Freundin finden kann?" suchte er Rat bei Daria; mit Meta war er damals noch nicht liiert.
"Meinst du, es klappt nicht mehr mit Tessa?" erkundigte sie sich.
"Nein", antwortete Rafa. "Ich habe auch keine Lust mehr."
Und er klagte:
"Ich brauche eine Freundin. Ich brauche unbedingt irgendeine Freundin."
"Aber man kann doch auch mal eine Weile ohne Freundin sein", entgegnete Daria.
"Nein, nein", wehrte Rafa ab. "Freundin ist wichtig. Freundin muß unbedingt sein. Ohne Freundin geht's nicht."
Rafa scheint Angst davor zu haben, ohne Freundin zu leben. Er klammert sich an die Tatsache, daß er eine Freundin hat. Entscheidend ist offenbar für ihn, daß die Freundin vorhanden ist; wer sie ist, ist weitgehend gleichgültig. Die Freundin wird auf Abstand gehalten und wie eine Fremde behandelt, und wenn sie sich beschwert, wird sie beschwichtigt. Rafa will nichts mit ihr zu tun haben, doch er scheint sich nur sicher zu fühlen, wenn er sagen kann:
"Ich habe eine Freundin."
Er ist abhängig davon, ständig eine Beziehung zu unterhalten. Er ist Diener seiner Furcht.
Rafa jammerte:
"In der 'Halle' sind die Mädchen alle dumm und häßlich. Da ist keine, die geht als Freundin. Für mich muß eine Freundin schlau sein."
Das sagt er, nachdem er mindestens achtmal mit einer zusammen war, die nach allem, was bekannt ist, wahrhaftig nicht mit überragenden Geistesgaben gesegnet ist.
Rafa und Daria kamen aufs "Elizium" zu sprechen und damit auf mich und Velvet. Rafa warf Velvet und mich sogleich in einen Topf:
"Die gehen nicht als Freundin. Wie die schon aussehen! Außerdem habe ich Angst vor Hetty. Wie die immer redet, da glaube ich, die ist nicht ganz dicht."
Er denkt wohl, ein Mensch, der beständig und unbeirrbar erklärt, ihn zu lieben, kann nicht ganz richtig im Kopf sein. Er scheint dadurch so sehr verunsichert zu werden, daß er nach einem Weg sucht, mich gleichfalls zu verunsichern. Man kann einen Menschen sehr leicht verunsichern, indem man über ihn verbreitet oder ihn glauben macht, er sei "nicht ganz dicht". Rafa hat selbst vergleichbare Erfahrungen gemacht. Er hat mir im letzten Jahr erzählt, daß er nach dem Tod seines Vaters in der Schule auffiel und daß die Lehrer über ihn sagten:
"Der Rafa hat eine Macke."
Rafa könnte sich an diese schlimme Erfahrung erinnert haben, als ich ihn an die Wand drängte, und er fand darin ein Mittel, sich zur Wehr zu setzen.
Was Freundinnen betrifft, verheddert sich Rafa in Widersprüche. Er verlangt danach, mit mir zu schlafen und behauptet gleichzeitig, man könne mich gar nicht nicht als Freundin nehmen. Er schwärmt von meinem Aussehen und nörgelt gleichzeitig darüber. Er nimmt sich Velvet als Freundin und behauptet später, mit ihr nie etwas haben zu können, da er sich vor ihr ekle. Er sagt, Jeans würde er hassen, und dann sucht er sich in Meta eine Jeansträgerin aus. Er braucht angeblich eine Freundin, die schlau ist, und gibt sich mindestens achtmal mit der Sängerin zufrieden.
Daria erzählte noch etwas von der Juninacht, in der Rafa im "Elizium" von Eve verfolgt wurde und allein ins "Future" verschwand - wohl Metas wegen. Daria und die Sängerin beobachteten Eve und lästerten über ihre Aufdringlichkeit. Dann redeten sie über Rafa, und die Sängerin sagte:
"Er macht mit den Mädchen, was er will. Er stellt sie einfach in die Ecke, und sie kommen alle immer wieder an. Der schafft das immer wieder."
Auch die Sängerin hielt an Rafa fest, ohne ihn als Mensch zu begreifen und seiner Herr werden zu können.
"Die Mädchen hassen ihn irgendwann", vermutete Daria.
"... und dann himmeln sie ihn auch wieder an", setzte ich hinzu. "Und es kann auch sein, daß sie ihn gleichzeitig hassen und anhimmeln. Und dann schleppt sich das so dahin, und dann kann es sein, daß sich die verschiedenen Geschichten überschneiden."
Ich denke, daß Rafa unbewußt lauter Dinge tut, die er hinterher vergessen möchte. Er schafft sich immer neue Gründe für ein schlechtes Gewissen. Er scheint das schlechte Gewissen zu brauchen als Stütze für sein Selbstbild vom Schlechten Menschen, vom Hoffnungslosen Fall.
Ich denke, Rafa ist mit gewöhnlichen, allgemein üblichen Methoden nicht zur Treue zu bringen, ebensowenig, wie ich mit allgemein üblichen Methoden zu verführen bin. Rafa und ich sind beide scheinbar hoffnungslose Fälle; jeder stellt dem anderen scheinbar unüberwindliche Hürden in den Weg und fordert ihn bis an seine Grenzen.
"Rafa muß durch eine Krise gehen, wenn sich bei ihm etwas ändern soll", sagte ich zu Daria. "Und in die Krise muß er sich selbst bringen. Ich kann ihm hindurchhelfen, aber ich kann ihn nicht hineinführen."
Vielleicht sind die Schwächen der Menschen manchmal auch ihre Stärken. Sollte es mir vielleicht gerade wegen meiner Unerfahrenheit gelingen, den "Übererfahrenen" in den Griff zu bekommen? Bei mir muß Rafa um all das kämpfen, was in seinen sonstigen Verhältnissen eine Selbstverständlichkeit ist, nichts Außergewöhnliches und eher eine Nebensache. Rafa könnte durch mich lernen, die körperliche Liebe wieder wichtig zu nehmen und sie bewußt zu erleben. Bislang scheint die körperliche Liebe für Rafa vorwiegend der Selbstbestätigung und der Ablenkung zu dienen. Er könnte sich daran berauschen, es bei diesem und jenen Mädchen "wieder einmal geschafft zu haben".
Rafa produziert einen unentwirrbaren Stacheldrahtverhau aus Frauengeschichten, der ihn vor einer ernsthaften Beziehung schützen soll. Ich frage mich, ob Rafa selbst noch einen Überblick über diesen Beziehungshaufen hat. Ich ertappe mich immer wieder bei dem Versuch, dieses Chaos zu ordnen, obwohl ich mir denken kann, daß Rafa den Wirrwarr absichtlich herstellt und diese Undurchschaubarkeit eisern verteidigt.
"Ich brauche niemanden", scheint er sagen zu wollen. "Ich bin unabhängig. Ich binde mich nie; ich komme von jedem Menschen wieder los. Niemand kann mich enttäuschen, weil ich an niemandem hänge. Ich bin unerreichbar und unverletzbar."
Untreue ist ein Symptom; die Ursachen liegen im Verborgenen, und sie gilt es zu bekämpfen, wenn man die Untreue bekämpfen will. Ich vermute als Ursache für Rafas Bindungsangst ein gestörtes Vertrauen in die Menschen aufgrund schwerer Enttäuschungen und Verletzungen in der Kindheit. Rafa kann es wahrscheinlich nicht ertragen, noch einmal so sehr verletzt und enttäuscht zu werden, und er will nun jede tiefe Bindung an einen Menschen umgehen. Das könnte sogar für die augenscheinlich enge Beziehung zu Kappa gelten; am Ende könnte Kappa für Rafa doch nur so etwas wie eine Schulter zum Anlehnen sein, ein Vertrauter zwar, der ihn jedoch nie wirklich bis ins Innerste erreichen darf und das vielleicht auch gar nicht will.
"In dem Chaos aus Frauengeschichten, das Rafa aufbaut, ist nichts Festes, nichts Haltendes, kein Maßstab, keine Linie", sagte ich. "Es geht einfach alles durcheinander. Ich denke, daß jede Frau mit einem anderen Mann glücklicher würde als mit Rafa - bis auf mich. Was ich Rafa biete, ist etwas Unverändertes, Gleichbleibendes, Beständiges. Ich hasse ihn nicht. Ich liebe ihn nur von Tag zu Tag mehr. Und das ist nicht so, daß ..."
"... du dir da nur etwas vormachst."
"Genau. Ich stelle einfach nur fest, daß ich ihn liebe."
Rafa muß sich an meine Bedingungen halten, wenn er mich gewinnen möchte. Ich rücke von den Bedingungen nicht ab.
"Ich setze das Dauernde gegen das Unstete", sagte ich. "Gegen Rafas Chaos setze ich meine Ordnung. Gegen sein Vergessen setze ich mein Merken. Ich biete ihm einen Widerpart und damit Halt."
Ich erzählte Daria auch den Traum mit dem Amokläufer, über den ich sagte, er sei wohl der Amokläufer in Rafa selbst, der so zerstörerisch handelt und ihn töten will.
Es war halb sieben Uhr morgens, als ich heimfuhr. Ich fragte Daria noch, ob sie denn am Abend ins "Elizium" kommen wollte, doch sie sagte, ihr gefiele es da nicht so.
Übrigens meint Daria inzwischen, daß mir Lidstriche oben doch nicht unbedingt stehen. Wir probierten das in der Toilette aus. Die Kajalstriche unten genügen vollständig.
"Laß' es, wie es ist", sagte Daria. "Du weißt schon am besten, wie du dich schminken mußt."
Die Sängerin ist in Wirklichkeit blond, wie ich es vermutet hatte; ein solch giftiges Rot erreicht man nur bei hellem oder gebleichtem Haar. Daria findet, die Sängerin sollte sich ihre Haare abschneiden. Die Haare sollen vom vielen Färben kaputt sein.
Rafa war am Samstag nicht im "Elizium". Ich war erleichtert darüber, daß auch die Sängerin nicht da war. Dolf fehlte ebenfalls. Und Gerrit fehlte. Vielleicht unternahm die Sängerin etwas mit ihm.
Im "Elizium" war es so heiß, daß ich froh war, mein langes Kleid angezogen zu haben, das ich vor sechs Jahren in einem Second Hand-Laden gekauft habe. Unter diesem Kleid brauche ich keine Strumpfhose zu tragen. Das Kleid ist aus schwerem schwarzem Rips und hat eigentlich nicht meine Größe. Ich mache es für mich passend, indem ich den zu tiefen Ausschnitt nach hinten drehe und das zu weite Oberteil mit dem Ripsmieder abschnüre. Mit den kurzen schwarzen Handschuhen gibt das eine eindrucksvolle Tracht. Ich fiel auch sehr auf damit, denn man kennt mich sonst nur in kurzen Röcken.
Talis war mit seiner neuen Eroberung da, Ellen, einer ehemaligen Nachbarin, die seit Jahren in Talis verliebt ist. Ellen ist so klein wie Daria und durchaus attraktiv. Sie trug ein fließendes schwarzes Kleid und hatte sich ein langes schwarzes Haarteil angesteckt, mit einer Schleife verziert.
Laura berichtete mir sogleich, der Jüngling, der ihr gefällt, würde heute gar keinen Zopf tragen, sondern ein Käppi. Ich mußte mit Laura mehrmals an dem Märchenprinzen vorbeigehen, damit sie ihn anstaunen konnte. Er gefiel ihr immer noch, trotz des Käppis.
Ich ging mit Laura auch öfters zum DJ-Pult. Wir mahnten und lobten Luie und Xentrix. Zum Feinsten gehörte für mich, daß Luie das schräge "Mekka Turbo" von De Fabriek spielte, zu einer Zeit, als das "Elizium" voll war und viele auf der Tanzfläche.
Xentrix zog ein Gesicht, als ich ihn aufs "Nachtlicht" ansprach. Neugierig ist er allerdings auch und will dort "mal vorbeischauen".
Gegen Morgen saß Carl mit einem Mädchen namens Elsa und einigen anderen im Vorraum. Auch ehemalige Stammgäste aus dem "Puzzle" waren dabei, die sich noch an mich erinnern konnten; ich bin von 1989 bis 1991 selbst Stammgast im "Puzzle" gewesen, ebenso wie Carl.
Elsa gefiel mein Kleid besonders. Ich lasse es bei der Schneiderin noch etwas richten.
Ein Bekannter von Carl, Dorgath, unterhielt sich mit mir und meinte später, ich sei "doch nicht ätzend".
"Oh, ein Kompliment", bemerkte ich, als Carl mir das zutrug.
Dorgath hatte mich für hochmütig gehalten und fühlte sich angenehm enttäuscht.
Zum Schluß spielte Luie noch ein langes, ruhiges, sehr merkwürdiges Stück, das aus dem Jahr 1986 stammt und vielleicht noch nie in einem Tanzladen gespielt worden ist. Es heißt "Maximizing the Audience" und ist von Wim Mertens. Ich sprang auf und lief zur Tanzfläche.
Als die Barfrau sagte, wir müßten gehen, kam Luie in den Vorraum und setzte sich. Da hatten wir noch eine Galgenfrist.
Ein Gesprächsthema war die Frage, ob das "Elizium" oder das "Nachtlicht" überleben wird - oder beide. Die meisten waren sicher, daß nur ein Laden überleben kann. Ich meinte, das "Elizium" werde auf jeden Fall überleben, da es das vielseitigere, qualitativ bessere Konzept habe.
"Es könnte auch sein, daß nachher diejenigen Leute samstags ins 'Nachtlicht' gehen, die freitags in die 'Halle' gehen und nicht zu den 'Elizium'-Gästen gehören", sagte ich zu Luie. "Hier werden halt die weiter hingehen, die anspruchsvoller sind, und ins 'Nachtlicht' gehen wahrscheinlich die, die immer wieder dieselben Sachen hören wollen. Dir geht es in nicht in erster Linie um Selbstdarstellung, sondern ums Handwerk. Kappa geht es in erster Linie um Selbstdarstellung. Ich muß sagen, du hast dich hier hervorragend einarbeiten können."
"Dabei bin ich erst zwanzig", entgegnete Luie mit Babystimmchen.
"Aber du spielst Sachen, die ich gehört habe, als ich zwanzig war", sagte ich anerkennend.
Luie erzählte davon, wie gut er mit Xentrix zusammenarbeiten kann.
"Ich habe gehört, das soll zwischen Xentrix und Kappa mal genauso gewesen sein", sagte Luie. "Ich wollt's kaum glauben."
Ich konnte ihm bestätigen, daß Kappa und Xentrix sich wirklich einmal sehr gut verstanden haben.
Luie hatte auch im Stadtmagazin gelesen, und noch gründlicher als ich. Kappa hatte dem Stadtmagazin ein kurzes Interview gegeben.
"Da hat er gesagt, er würde keine Stile befolgen, sondern sie machen", erzählte Luie.
"Das waren meine Worte!" rief ich erstaunt. "Damals bei 'Dark Zone', als Kappa bei so einem Interview nicht mehr weiterwußte, hat er mich um Rat gefragt. Und da habe ich so ein bißchen erzählt, so 'Du kannst zwar nichts, aber gib nicht auf'. Und da habe ich eben auch gesagt:
'Man kann Trends nicht nur folgen; man kann sie auch setzen.'"
"Genau das war das Wort!" rief Luie. "'Trends' hat Kappa gesagt!"
"Da finde ich meine Worte im Stadtmagazin wieder ... hat der Kappa ein gutes Gedächtnis ..."
Die "Puzzle"-Gäste, die die Unterhaltung von Luie und mir verfolgten, waren erheitert.
"Er kennt einen ja nicht", sagte Luie über Kappa. "Wenn der mich im 'Stars' sieht, wo ich Platten verkaufe, sagt der oft nicht mal 'Hallo'."
"Der rafft das nicht", erklärte ich. "Das ist kein böser Wille. Der rafft das einfach nicht. Eins ist Kappa nicht: mies. Der ist in Ordnung. Der ist integer. Aber er ist naiv."
Ich habe inzwischen nachgelesen. Kappas Worte im Stadtmagazin lauten:
"Ich verfolge keine vorgegebenen Trends, die mir die Tasche bis zum Rand mit Geld füllen - ich mache Trends!"
Meine Worte auf der "Dark Zone"-Veranstaltung lauteten:
"Und ... natürlich kann man auch Trends setzen. Man muß also nicht nur Trends übernehmen, man kann sie auch setzen."
Am Morgen hatte ich folgenden Traum:

Das "Elizium" befand sich in einem weitläufigen, prächtigen Gebäude. In einem Trakt des Gebäudes gab es Umkleiden. Dort hielten sich viele Gäste auf. Ich war mit mehreren Leuten gekommen, und die hatten es eilig gehabt. So war mir keine Zeit geblieben, mich fürs Tanzen umzuziehen. In Hast suchte ich nach einem Winkel, in dem ich meine Kleider wechseln konnte. Zu meinem Schrecken begann gerade ein Stück, zu dem ich im "Elizium" immer tanzen muß, "Los set gotxs" von Sarband, getragen und altertümlich. Ich wußte, daß ich es nicht schaffen konnte, mich umzuziehen, ehe das Stück vorbei war. Dennoch kämpfte ich wild und wütend mit meinen Sachen.
Beinahe noch entsetzlicher wurde es für mich, als nach dem Stück von Sarband eines von Whitehouse kam, mein Lieblingsstück von Whitehouse, das kaum je in irgendeinem Tanzlokal läuft. Es ist die Long Version von "My Cock's on Fire", und das Dröhnen darin könnte von einem Betonmischer stammen.
Endlich hatte ich meine Kleider richtig an und lief zur Tanzfläche, so schnell ich konnte. Die Leute sahen meinen verzweifelten Gesichtsausdruck und zeigten sich belustigt. Ich konnte mich aber nicht anders verhalten; die Musik war mir zu wichtig.
Unglücklicherweise war die Tanzfläche in einem anderen Flügel des Gebäudes. Ich mußte durch einen langen, geraden Flur rennen. Constri rannte mit mir. Am Ende des Flurs mußten wir um mehrere Ecken biegen und eine breite, mit einem kostbaren roten Läufer bespannte Treppe hochlaufen, und dann mußten wir eine andere Treppe wieder hinunterlaufen. Xentrix lehnte in der Nähe der Tanzfläche an einer kahlen Mauer und staunte über unsere Eile.
Als wir auf der Tanzfläche angekommen waren, war auch das Stück von Whitehouse zuende, und es begann "Suffer in Silence" von Klinik. Dieses Stück gefällt mir auch, doch zwei andere hatte ich verpaßt ...

Beim Aufwachen war ich erleichtert darüber, daß es nur ein Traum war.

Ein anderer Traum handelte von einer Bahnlinie 10, die zu spät kam und langsam dahinkroch. Schließlich wurde sie von einer Linie 8 eingeholt, einem altmodischen, doch funktionstüchtigen Wagen. Die 10 mußte auf einem Nebengleis halten, und wir Fahrgäste mußten alle umsteigen und mit der 8 weiterfahren. Als ich dort einstieg, sah ich gleich hinterm Fahrer Gerrit auf einer Längsbank sitzen.
"Hier ist dein Platz!" rief Gerrit und klopfte auf die Bank.
Ich setzte mich. Gerrit erzählte, manche Leute meinten, ich würde meine Sachen immer dort hinlegen, wo andere sitzen wollten; das sei rücksichtslos.
"Wer sagt das denn so alles?" wollte ich wissen.
"Na, zum Beispiel Tessa ...", gab Gerrit zögerlich Auskunft.
Er selbst schien nicht Tessas Meinung zu sein. Er teilte mir lediglich mit, was sie von sich gab.

Am Freitag rief Laura an und wollte noch ausgehen. In die "Halle" wollte ich nicht, weil dort ein wavelastiges Programm angekündigt war. Laura erzählte von einem "Mittelalterball" in einer Discothek in HH., die den nüchternen, gleichzeitig nach fanatischem Idealismus klingenden Namen "Zentrum für Musik und Kommunikation" trug. Dieses "Wortungeheuer" wurde im Veranstaltungsplaner teilweise auch mit "ZMK" abgekürzt.
Laura und ich fuhren mit dem ICE nach HH. Das "ZMK" war hübsch und gemütlich eingerichtet, die Betreiber jedoch vermittelten dem Gast den Eindruck, in dem Laden erzogen und gedrillt zu werden. Getränke durften keinesfalls mit vor die Tür; sonst wurde man "zurückgepfiffen". Handtaschen, die größer als eine Brieftasche waren, mußte man an der Garderobe abgeben und dafür auch noch bezahlen. Die Türsteher begnügten sich nicht damit, die Taschen zu durchsuchen und festzustellen, ob denn wirklich "irgendwas drin" war, das nicht ins "ZMK" gehörte. Also ging ich ungefähr alle halbe Stunde in die Garderobe und holte mir Haarspray, Fächer, Geld ... und weil man die Sprayflasche auch nicht mitnehmen durfte, sprühte ich mir die Haare vor dem Garderobentisch nach.
"Das 'ZMK' hat mich zum ersten und letzten Mal gesehen", sagte ich zu Laura - und hielt mich daran.
DJ Fedor meinte, was die Musik betreffe, müsse er weitgehend "brav bleiben"; die Leute würden nichts Ausgefallenes hören wollen. Ich sagte ihm, daß man in H. durchaus nicht bei Goethes Erben stehengeblieben ist und daß diese Tatsache auch schon Leute aus HH. ins "Elizium" gelockt hat. Es entstand der Eindruck, daß es eher der Chef war, der von Fedor verlangte, nur die gefälligeren Sachen zu spielen. Wenigstens liefen Blackhouse und Dive.
Alanna kam gegen Morgen ins "ZMK" und erzählte, Mal habe nicht mitkommen wollen. Wir setzten uns an einen Tisch und hatten noch etwas Kaffeeklatsch. Laura unterhielt sich längere Zeit mit Fedor.
Auf der Rückfahrt im ICE holte ich für uns Nußhörnchen und Cola zum Frühstück. Laura erzählte mir, daß Fedor ihr gefällt. Ich kann mir vorstellen, daß das gegenseitig ist. Ich finde, Laura sieht niedlich aus mit ihren blauen Augen; sie hatte auch etwas Verführerisches an, einen Body aus schwarzem Kunstleder mit vielen Durchbrüchen, die Haut zeigten.
Als Laura meinte, daß ich "auch mal einen finden" müsse, erzählte ich ihr, daß ich schon einen gefunden habe, ihn aber noch nicht habe. Ich sagte ihr vorerst nicht, wer es ist und meinte, daß sie das schon bald selbst herausfinden werde.
"Wenn's Kappa und Rafa nicht sind, ist das schon mal positiv", meinte Laura.



Am Nachmittag vor der Eröffnung des "Nachtlicht" war Ortfried kurz da. Er erzählte, daß er Daria am Vortag besucht hat. Die beiden unterhielten sich vorwiegend über die Arbeit. Daria soll im Intercity-Restaurant im Hauptbahnhof arbeiten.
Am frühen Abend kamen Ted und Lev, Talis, Constri und Derek, Lenni und Lena, Steini und meine Schulfreundin Gesa zu Carl und mir. Ich hatte mir Leute eingeladen, weil ich das "Nachtlicht" gern mit einer möglichst großen Truppe "überfallen" wollte. Wir hatten es auch recht lustig bei mir. Ted hatte mir schon am Telefon erzählt, daß er mit seinem Marvin für vier Tage auf Sylt war. Sie haben sich am Strand gebalgt. Ted spricht von Marvin wie von einem Partner. Er sagt oft "er" statt "Marvin", als gäbe es nur einen "er" auf der Welt. So rede ich von Rafa auch. Am Donnerstag hat Ted mit Carl über das Schwulsein gesprochen. Ich glaube, da geht sein Weg hin.
Talis ist am Vortag in der "Halle" gewesen. Kappa soll viel durchs Mikrophon geschwatzt haben, über das "Nachtlicht" und die Radiosendung von Ace. Rafa soll bessere Musik gespielt haben als Kappa. Allerdings soll er mit Bart herumgelaufen sein. Von der Vorstellung dieses Anblicks wurde mir übel. Rafa weiß, wie sehr ich Bärte hasse und wie sehr ich sein Gesicht liebe. Er weiß, wie er mich ärgern kann. Ich hoffte nun, daß angesichts der Eröffnung des "Nachtlicht" Rafas Eitelkeit siegte und er sich rasierte.
Meta war in der "Halle", doch inwieweit sie sich mit Rafa beschäftigte, wußte Talis nicht. Daria war auch in der "Halle", mit einem neuen, spitzenverzierten Fächer, der Talis gefiel.
Es war nach wie vor sehr heiß. Wir fächelten fleißig mit unseren Fächern; für Constri habe ich auch einen mitgebracht. Ich habe mein langes schwarzes Ripskleid von der Schneiderin geholt, und es sieht nun noch besser aus als vorher. Ted sagte staunend, mit dem Mieder sei meine Taille so schlank, das wäre ja "nichts". Also hat das Mieder die gewünschte Wirkung.
Wir machten draußen vor einer Garage "Familienfotos". Ted, Lev, Constri und Derek kletterten sogar auf die Garage, hoben sich gegenseitig in die Höhe und turnten herum. Die Fotos könnten recht lustig geworden sein.
Bis auf Steini und Gesa fuhren wir alle zum "Nachtlicht". Davor hatten Leute vom "Elizium" Plakate an die Papierkörbe geklebt. "Wir sind schlechter als unser Ruf" war da zu lesen.
Ich glaube, das "Elizium" macht sich zu Unrecht diese Mühe; ich kenne genügend Leute, die dort wohl auch in Zukunft hingehen werden.
In Rafa-Manier war das "Nachtlicht" schön geschmückt. Der Eingang war in Schwarzlicht getaucht, und die Stiege umrahmten künstliche Spinnweben. Diese Spinnweben zogen sich auch durch den Tanzraum, zu dem es ins Kellergeschoß hinunterging. Der Fußboden war mit Fledermäusen bemalt, die alle nach Rafas Pinselstrich aussahen. Ich sah Rafa dicht bei der Treppe hinterm DJ-Pult. Er hatte sich wirklich sorgsam rasiert, auch über den Ohren, und das erleichterte mich sehr.
Es war kurz nach zehn Uhr und schon voll. Daria war eher im "Nachtlicht" als ich. Rafa stand gerade an der Kasse, als sie kam, und sagte zu ihr, sie könne gleich hereinkommen. Als Wunschgast von Rafa brauchte sie nichts zu bezahlen.
Über mein langes Kleid war Daria entzückt. Ich habe sie nach "Dark Zone" auch nur noch in langen Pannesamtkleidern gesehen.
Die Sängerin tanzte allein. Ihre Bewegungen wirkten auf mich besonders hart und zackig. Sie hatte noch violettere Haare als sonst. Sie ging in Lackhosen und hatte ein bauchfreies Netzoberteil an und viele Armreifen um, die sie laut klimpern ließ.
Kappa begrüßte seine Gäste durchs Mikrophon und nannte die Namen der Gastgeber; dazu gehörten auch die Leute hinter den Theken, und unter ihnen war Meta.
"Dahin hat Rafa sie also gesteckt, damit sie ihm nicht im Wege ist", dachte ich.
Unter den Gästen waren viele, die eigentlich nicht zur "schwarzen Szene" gehörten und sich "nur mal was Schwarzes angezogen hatten" - oder nicht einmal das. Einige Leute waren aber auch richtig feingemacht. Der dritte DJ – Sazar - hatte sich zur Feier des Tages geschminkt und die Haare weiß gesträhnt.
Als der "Soldier's Song" von Spartak kam, wurde die Tanzfläche voller. Ich tanzte auch, in der Nähe des flachen Podests, das als Bühne dient. Rafa kam und stellte sich neben mich, mit dem Rücken zu mir. Ich fuhr mit einem Finger an seiner Wirbelsäule entlang und kraulte ihn im Kreuz. Rafa schluckte das, ohne sich zu rühren; er wird es gewußt und gewollt haben, sonst hätte er sich wohl woanders hingestellt. Ich tanzte gleich weiter. Ich fühlte mich schwach in den Beinen und glaubte, sie müßten mir wegknicken. Doch schon bald wurde ich munterer und munterer. Dabei hatte ich kaum Schlaf gehabt seit der Nacht in HH.
Ich frage mich, ob meine zärtliche Geste jemandem auffiel. Ich kann noch so liebevoll mit Rafa umgehen; die Leute nehmen einfach nicht wahr, was zwischen uns vor sich geht.
Rafa setzte sich mit Kappa auf eine Bank auf dem Bühnenpodest. Von dort aus konnte er mich gut sehen. Beim Tanzen kam ich mir vor wie ein programmierter Kunstmensch, der für seine Bewegungen keine eigene Willenskraft aufwenden muß.
Nachher stellte ich mich wieder zu Daria, und wir fächelten dauernd, denn es war im "Nachtlicht" ganz besonders heiß, an die dreißig Grad. Viele Mädchen und auch einige Jungen hatten Fächer dabei. Rafa huschte durchs Gedränge und kam mir zum zweiten Mal so nahe, daß ich seinen Rücken streicheln konnte. Kurz darauf mußte Rafa zum dritten Mal an mir vorbei, und wie zufällig streifte er mich ganz ordentlich. Er wurde wieder am Rücken gekrault. Das Spiel schien Rafa zu gefallen. Er gab mir noch eine vierte Gelegenheit, nach seinem Rücken zu greifen, und ich nutzte sie.
Als ich Carl erzählte, wie oft ich Rafa schon gestreichelt hatte, sagte er mir, daß er von Rafa begrüßt worden war. Rafa kam an ihm vorbei und trug einen Hocker und sagte "'n Abend!" oder "Morgen!", wie er Carl meistens grüßt.
Laura entdeckte ihren "Märchenprinzen"; er trug diesmal weder einen Zopf noch ein Käppi. Seine Haare waren hochgestellt. Laura meinte, der Märchenprinz sei so schön abwechslungsreich. Ich hatte sie am Samstagmorgen gefragt, ob sie eher dem Märchenprinzen oder Fedor den Vorzug geben würde. Sie wußte es nicht. Da sagte ich, wenn sie nicht wüßte, wen sie lieber hätte, sei keiner von beiden der Richtige.
"Ach, du meinst, da muß noch ein Dritter kommen."
"Ja", bestätigte ich.
Daria unterhielt sich kurz mit Dolf. Danach schien es wieder, als würden sie Fremde füreinander sein.
"Vielleicht fährt er mit Tessa", erzählte mir Daria.
"Oder er kommt mit zu dir", vermutete ich.
"Vielleicht", sagte Daria.
Die erste Band, die auftrat, war Screech. Vor dem Konzert saß Rafa auf einem Tischchen an einem Pult und regelte, denn daher kam die Musik - nicht vom Keyboard. Rafa hatte sich die weiten weißen Hemdsärmel bis über die Ellenbogen hochgeschoben, und das fand ich sehr anziehend. Er zeigt in der Öffentlichkeit selten Haut.
Über dem Hemd trug Rafa die Weste, deren Rückenteil rot ist. Er hatte eine schmal geschnittene schwarze Hose an mit zusätzlichen Längsnähten vorn. Ich finde die Hose niedlich, und ich finde, daß sie zu Rafa paßt.
Während des Auftritts seiner "Strohmenschen" versteckte sich Rafa hinter einer Säule. Zinnia stand in T-Shirt und Jeans auf der Bühne, burschikos und selbstbewußt. Sie hat eine volle, ausdrucksstarke, gut sitzende Sopranstimme. Die Stücke, die sie sang, fand ich flach und kindlich; es war das, was ich von Rafa gewohnt bin.
"Oberpeinlich!" sagte Constri denn auch.
Die Texte von Screech waren überwiegend englisch. Rafa macht sonst nur deutsche Texte.
Anwar hatte die Aufgabe, so zu tun, als würde er Keyboard spielen.
Daria und ich standen ganz vorn in der Mitte, und dort standen wir bei den folgenden Auftritten ebenfalls; wir wollten uns nichts entgehen lassen. Als Nächstes war Kappa an der Reihe mit seinem Freund Lexx, der im Gegensatz zu Kappa recht gut singen kann. Der Auftritt begann mit einem Stück, das man wohl besser als Spielerei oder Hausmusik bezeichnet. Kappa entschuldigte sich immer wieder dafür und sagte auch stets an, was nun live war und was vom Dat kam. Das dritte und letzte Stück fand ich am besten; es ist bereits ein Clubhit in der "Halle". In seiner sehr leichten Melancholie erinnert es mich an De/Vision.
Übrigens soll auch Kappas Vater am Bühnenrand gestanden haben; das erzählte mir Carl. Ich finde es schön, daß der Vater Kappa die Stange hielt. Er tat das, was Rafas Vater nicht mehr kann.
Kurz vor seinem eigentlichen Auftritt stand Rafa noch hinterm DJ-Pult. Durchs Mikrophon rief er nach Kappa, der ihn ablösen mußte:
"Kappa! Sofort herkommen, sonst gibt's was auf den Pöter!"
Ich weiß von Rafa, daß er gern Kindersprache spricht. Er lebt noch in der Welt der Erziehenden und der zu Erziehenden. Er weiß wohl, daß er noch nicht ganz erzogen ist, und es macht ihm Freude, den Erzieher zu spielen. Er spielt "erwachsen".
Kappa folgte und kam hinters DJ-Pult. Nun hatte es Rafa sehr eilig, zur Bühne zu kommen und mußte mich wieder kräftig streifen - schließlich war es eng auf der Tanzfläche. Ich streichelte seinen Arm.
Während Rafa seine Keyboards aufbaute, lief ein kitschiges Stück aus den Achtzigern. Rafa nahm sich das Mikrophon und tat, als würde er singen. Da gab es für mich wieder etwas zu gucken. Große, gequälte Augen machte ich, als ich sah, wie Rafa zwei leuchtende, tönende Plastikpistolen hervorholte und damit herumzuspielen begann. Ich konnte Rafa, den Menschheitserzieher und Kriegsspielzeuggegner, nicht tadeln und mahnen, obwohl er nur einen Schritt von mir entfernt stand. Ich hätte sonst gegen unser Abkommen verstoßen. Rafa fiel mein Blick auf, und er nickte mir zu und lächelte. Der Vorsicht halber guckte er gleich wieder woanders hin.
Als Kappa Rafas Band ankündigte, sagte er, dies sei wohl eine der wichtigsten Bands von H. Ich tippte mir mit einer Ecke meines Fächers gegen die Stirn.
Die Band hatte dieses Mal nur zwei Mitglieder, Rafa und Dolf. Daria und ich bedauerten beide, daß der Auftritt hinter Spiegelbrillen stattfand. So konnte Daria ihrem Dolf und ich dem Rafa kaum in die Augen sehen. Allerdings verschwanden die Brillen gleich nach dem Konzert wieder.
Ich betrachtete Rafa sorgsam. Er trug ein Stirnband und Creolen, und seinen Pferdeschwanz zierte eine schwarze Schleifenspange. Das Hemd hatte er sich in die Hose gesteckt. Später in der Nacht zog er es wieder heraus und lief ohne Weste herum. Die Hitze hatte die ganze Gesellschaft "aufgeweicht". Ich kämpfte sehr mit meinem Makeup, und auch Rafa lief der Schweiß herunter. In einem Ärmel von Rafas Hemd entdeckte ich Brandlöcher. Seine schwarzen Handschuhe waren an den Fingerspitzen zerrissen. Ich rang mit mir, weil ich Rafa gar zu gern den weißen Fussel von dem schwarzen Vorderteil seiner Weste nehmen wollte. Im Schwarzlicht leuchtet Weißes so sehr.
Meta schien sich ebensowenig um Rafas Garderobe zu kümmern wie die ehemalige Sängerin Tessa. Überhaupt schien Meta Rafas Auftritt recht gleichgültig zu sein. Ich sah sie nicht unter den Zuschauern. Es war, als wenn sie gar nicht das Bedürfnis fühlte, ihrem Freund nahe zu sein. Ich war es, die in der ersten Reihe stand, nicht sie. Ich war es, die sich Sorgen machte und der jeder Fussel auffiel.
Das erste Stück war der Clubhit gegen Videospiele; ich seufzte und ließ die anderen klatschen.
"Zugabe!" rief Kappa in den Saal. "Ruft 'Zugabe'!"
"Ist gut, ist gut", sagte Rafa rasch.
Es ging weiter mit "Telefonsex". Ich genieße die Konzerte von Rafa wegen der Möglichkeit, ihn lange von Kopf bis Fuß mit Blicken streicheln zu können. Und ich kann ihm dabei zusehen, wie er schreit und stampft und herumwirbelt.
"Ich liebe dich!" darf er in dem Lied schreien, weil es nur ein Lied ist.
Er darf es mir sogar ins Gesicht schreien. Ich kann nicht herausfinden, ob er mich wirklich ansieht, denn die Brille schützt ihn. Einmal jedoch war ich mir recht sicher, daß Rafa mir aufmerksam ins Gesicht sah. Er sang da gerade nicht.
Rafa läßt bei seinen Auftritten gern Gefühle "hochkochen" oder tut doch zumindest so.
"Gib mir mehr", wird da gestöhnt. "Hör' jetzt nicht auf."
Und es wird gefleht:
"Halt' mich fest, so fest du kannst."
Nach "Telefonsex" folgte eine kleine Einlage. Mehrere Mädchenstimmen verlangten "Rosa Zeiten". Rafa entgegnete:
"'Rosa Zeiten' gibt's nicht mehr; damit hat sich's ausgesungen bei W.E. Ach, ist ja auch egal ..."
Schließlich entschied sich Rafa um:
"'Rosa Zeiten'. Tessa! Noch einmal!"
"Vergiß es!" zischte die Sängerin aus dem Publikum.
"Also - 'Rosa Zeiten'!" kam es von Kappa.
"Nein", sagte Rafa. "Tessa singt nicht."
"Na, Gott sei Dank", sagte ich. "Das wär' auch nochmal schöner ..."
Es kann sein, daß Rafa ausprobieren wollte, ob die Sängerin noch bereit war, für ihn zu singen. Es ist auch möglich, daß Rafa mir vorführen wollte, daß sie dazu eben nicht mehr bereit ist.
Rafa kündigte das Stück "Die deutsche Jugend" an, was bei mir wieder eine gequälte Miene auslöste.
"Erscheint auf der CD im Februar", versprach Rafa.
Den Text - sicher wieder eine von Rafas Botschaften an die Menschheit - konnte ich beim besten Willen nicht verstehen, so sehr krächzte und schrie er. Ich denke, eine der Szenezeitschriften beschreibt Rafa nicht zu Unrecht als "'Sänger', der herumbrüllt, anstatt zu singen".
Am Schluß von "Die deutsche Jugend" kamen die Spielzeugpistolen an die Reihe. Rafa trat in die linke hintere Ecke der Bühne und feuerte seine gesamte "Munition" in eine Richtung ab. Ich sah die Mündung immer von vorn. Ich glaube, ich war sehr oft tot.
Kappa sagte an, es müßte noch ein Geburtstagsständchen geben, einmal fürs "Nachtlicht" und einmal für Till. Alle sollten mit Kappa und Rafa "Happy Birthday" singen. Rafa kam ganz vorn an die Bühne, beugte sich vor und sang mit einem Jungen gemeinsam durchs Mikrophon. Rafa berührte mich beinahe. Ich streichelte seine Hüfte, anstatt mitzusingen. Kurz darauf berichtete ich Daria stolz, daß ich Rafa nun schon sechsmal gestreichelt hatte. Da langte Rafa zwischen uns hindurch, weil er irgendjemandem etwas geben wollte ... oder mit irgendjemandem sprechen wollte ... oder ... oder ...
Ich streichelte Rafa am Handgelenk und sagte zu Daria:
"Nummer sieben."
Daria hatte wohl bemerkt, daß ich über Rafas Band lästerte und allenfalls aus Höflichkeit klatschte.
"Sag' mal, magst du die Musik von W.E überhaupt?" fragte sie mich.
"Es gibt ein Lied", antwortete ich, "'Ganz in Weiß' ... ach, es gibt schon so vier, fünf Stücke, die ich ganz in Ordnung finde. Und es gibt viele, die ich nicht besonders finde. Aber 'Ganz in Weiß' finde ich sogar super."
"Ja?" lächelte Daria.
"Das gehört zu meinen absoluten Lieblingsstücken", sagte ich ehrlich.
Das schien Daria zu beruhigen.
Während des Auftritts und darum herum waren mehrere Fotografen am Werk. Daria meinte, uns beide hätte man auch fotografiert.
Nach dem Konzert setzte sich Dolf auf die Polsterbank hinter der Bühne. Ted und Lev setzten sich neben ihn und unterhielten sich mit ihm. Das war das Zeichen für Daria und mich, gleichfalls zu der Bank zu gehen. Rafa sah das und ... pfiff seinem Diener, wie man einem Hund pfeift:
"Dolf - herkomm'."
Augenblicklich folgte Dolf - gut dressiert - und schleppte mit Rafa die letzten Geräte fort. Es wird nicht schlecht sein, wenn Rafa lernt, auf seinen Diener zu verzichten und Dolf lernt, auf seinen Herrn zu verzichten.
Rafa hatte Dolf fortgeholt, doch ihn selbst zog es wie an unsichtbaren Fäden zurück zum Podest. Er ging eilig mitten durch unsere Gruppe hindurch. Ich streichelte ihn zum achten Mal, nun an der Schulter.
Das flache Bühnenpodest wurde "unser" Revier. Ich sah nach, wer alles noch da war. Carl lief in der Gegend herum, Lenni und Lena zog es ins "Elizium", Derek war unsichtbar geworden. Constri alberte mit Ted herum. Ich sorgte dafür, daß Daria und Laura Ted und Lev auch kennenlernten. Daria findet Ellen übrigens "niedlich".
Versicherungs-Rono begrüßte mich freudig und wollte mich fotografieren. Er entschuldigte sich in rührender Weise für seine Anwerbungsversuche im letzten Winter. Ich beruhigte ihn. Ich konnte ihm leicht verzeihen, daß er mich für jene Versicherungsmaklertätigkeit am Rande der Illegalität hatte gewinnen wollen.
"Ach, du - das ist heute eine meiner beliebtesten Stammtischgeschichten", sagte ich. "Und Lachen ist gesund."
"Nicht wahr?"
Ich fragte Rono, ob er denn nun von dieser zweifelhaften Gesellschaft abgesprungen sei. Das sei er, und er habe nun eine ehrliche Arbeit als Redakteur. Rono erzählte, er habe sich mit einigen zusammengetan, denen die Methoden in dem schrägen Versicherungsverein auch nicht mehr paßten, und sie hätten den Laden einmal kräftig umgerührt. In der Folge hätten die Bonzen, die so lange andere für sich hatten arbeiten lassen, ihre teuren Wagen verkaufen müssen.
"Viele von den ehemaligen Großverdienern machen heute Praktika, bei denen die keinen Pfennig bekommen", sagte Rono.
Er wirkt viel gelöster, seit er aus der Versicherungswelt ausgestiegen ist.
Rono grüßte mich auch von Damon, der sich schon lange nirgends mehr gezeigt hat.
Das Musikprogramm im "Nachtlicht" unterschied sich nicht wesentlich von dem in der "Halle". Ich fand genügend Stücke zum Tanzen, etwa Leæther Strip mit "Don't tame your Soul". Wenn ich auf die Tanzfläche ging, machte mein Fächer die Runde. Besonders Ted und Lev fächelten gern. Einmal stellte sich Ted hinter mich, während ich tanzte und fächelte mir mit zwei Fächern Luft zu. Ich frage mich, ob diese Spielerei den Rafa eifersüchtig machte. Er ist so empfindlich. Dauernd wittert er Rivalen.
In der Toilette stand Meta mit einigen Mädchen. Es wurde über das Geschäft geredet ("Da macht ihr doch jetzt einen ziemlichen Umsatz, nicht?"), über Möbel ("Ich habe meinen Schreibtisch gestrichen, so richtig totenschwarz.") und über die Hitze. Es kam mir nicht so vor, als wenn in Metas Kopf noch andere Gedanken waren als solche alltäglichen. Sie scheint das Knistern zwischen Rafa und mir nicht im Entferntesten zu ahnen. Dabei ist dieses Knistern wohl schon eher als Gewitter zu bezeichnen, wenn nicht gar als atomare Katastrophe.
Metas Gesicht wirkt auf mich naiv und kindlich. Es war kaum geschminkt. Meta hat gebräunte Haut. Sie trug ein kurzes schwarzes Sommerkleidchen mit Rückendecolleté, das ihre etwas stramme Figur zeigte. Wie sonst hing ihr Haar schlicht herunter. Die Mädchen, mit denen sie sich unterhielt, waren ähnlich zurechtgemacht.
Als ich durch das Gedränge rechts von der Tanzfläche ging, kreuzte unerwartet Rafa meinen Weg. Er rief einem Jungen einen Gruß zu. In seinem dünnen weißen Hemd streifte Rafa recht ausgedehnt an mir entlang. Währenddessen vertiefte er sich in ein Gespräch mit dem Jungen. Ich lehnte mich von hinten an Rafa, zog ihn an mich, streichelte seinen Arm und ging weiter. Rafa sendete etwas aus wie Widerstand. Ich meinte, ein "Laß' das, Hetty!" zu vernehmen.
Dies war also das neunte Mal, das ich ihn streichelte ... und ich umarmte ihn sogar.
Till und Lego hatten einen zähen Streit. Sie schafften es aber, ihn vorläufig zu beenden, und traten gemeinsam auf. Constri und ich gratulierten Till zum Geburtstag. Laura mag die Musik von Till, die sich zwischen EBM und Synthipop bewegt. Es wird Laura gefreut haben, daß der Auftritt doch noch stattfand. Im Rahmen der Bühnenshow hängte sich Lego an verschiedene Leute aus dem Publikum; an mir etwa glitt er hinab und sank auf die Knie. Gleich danach stellte sich Laura zu mir, als hoffte sie, auch noch von Lego umhalst zu werden.
Gegen drei Uhr gingen Ted, Lev und Constri ins "Elizium". Talis, Ellen und wohl auch Lenni und Lena waren schon vorausgegangen. Ted war es unangenehm, mich zurückzulassen. Ich sagte ihm, er und die anderen sollten nur ins "Elizium" gehen, das wäre meine Empfehlung; ich würde Darias wegen im "Nachtlicht" bleiben, nicht wegen der Musik.
Doch ein wenig war es auch wegen der Musik. Im "Nachtlicht" konnte ich wieder einmal zu "Video killed the Radio Star" von den Buggles tanzen, und solche Liedchen spielen sie im "Elizium" nur selten. Auch De/Vision läuft fast nie im "Elizium".
Als meine Leute fort waren, schlug Daria vor, daß wir uns woanders hinstellten. Wir suchten uns einen Platz am Ende des rechten Seitengangs, dem Hauptgang. Dort gab es eine Lüftung. Außerdem konnte Daria Dolf beobachten, der in einem Rondell saß. Und ich hatte nach wie vor eine gute Sicht aufs DJ-Pult. Ich beobachtete Rafa inzwischen fast ununterbrochen. Ich kam in eine seltsam wehmütige Stimmung.
Daria und ich holten uns Hocker von der Bar. Daria hatte mir am früheren Abend schon wieder etwas ausgegeben, und nun revanchierte ich mich.
Lenni, Ellen, Talis und Lev kamen noch einmal kurz ins "Nachtlicht" zurück. Lev machte sich Sorgen um Carl. Er befürchtete, daß Carl etwas zugestoßen war, weil er ihn so lange nicht mehr gesehen hatte. Ich zeigte ihm Carl, der mit Elsas Freund Brent auf einer Bank saß, und Lev war beruhigt.
Talis suchte Constri. Er berichtete mir, daß Velvet wieder an Derek herumfingerte, der sinnlos betrunken im "Elizium" lag und schlief. Ich erzählte Talis, daß Constri ohnehin ins "Elizium" gehen wollte. Da konnte sie gleich "aufräumen".
Kappa sagte durchs Mikrophon, daß Rafa am Sonntagabend im "Nachtlicht" NDW auflegen würde. Er bat darum, daß sich alle meldeten, die kommen wollten. Es meldete sich keiner. Rafa tat mir leid, und doch ... er muß damit rechnen, daß ich nicht zu seinen NDW-Parties komme, zumal er eine Freundin hat. Rafa scheint richtiggehend Angst davor zu haben, ohne Freundin zu sein. Es ist ihm wahrscheinlich auch weitgehend egal, was für eine Freundin er hat; es muß sie nur geben, und sie darf nicht ich sein.
Als ich anfing, zu "Don't tame your Soul" zu tanzen, hängte sich meine Schulfreundin Dette an meinen Hals. Ich erzählte ihr, daß Ted im "Elizium" war. Dette ist verliebt in Ted, und sie lief gleich zum "Elizium".
Der musikalische Höhepunkt der Nacht war für mich "Fiebertranz" von Force Dimension. Dieses ältere Stück ist neu auf CD herausgekommen, und es steht noch aus, daß es im "Elizium" gespielt wird.
Ich saß wieder bei Daria, da beobachtete ich, wie Kappa das Gesicht von Rafa in beide Hände nahm und ihn auf die Wange küßte.
"Schau' mal zu, schau' mal den beiden zu!" forderte ich Daria auf.
Daria bekam mit, wie Kappa den Rafa an der Schulter rieb und ihn innig umarmte und wie Kappa und Rafa sich bei den Armen faßten und sich schüttelten. Rafa lächelte.
"Siehst du! Siehst du!" rief ich.
"Die müssen sich aber lieben", meinte Daria.
"Ja, das tun sie auch", sagte ich und malte mir aus, was unter der Bettdecke vor sich ging, wenn Rafa bei Kappa übernachtete. "Kappa ist zu Rafa viel zärtlicher, als es seine Freundin ist."
Trotz dieser "Ausflüge" zum eigenen Geschlecht kommt Rafa mir nicht wie jemand vom anderen Ufer vor, während ich mir bei Ted schon sehr sicher bin, daß er Marvin wirklich liebt wie einen Lebensgefährten. Ich denke, bei Rafa hat es etwas damit zu tun, daß Freundschaften für ihn nur lebbar sind, wenn er darin herrschen oder verführen kann. Eine tiefe Bindung, in der Rafa sich wirklich offenbart und keine schützende "Herrscher"- oder "Verführer"-Rolle übernehmen kann, muß vermieden werden.
Für Kappa scheint Rafa jemand zu sein, um den er sich gerne kümmern möchte. Wenn er Rafa in den Arm nimmt, wirkt es auf mich, als wenn er einen Menschen trösten und aufmuntern wollte, der ein schweres Schicksal zu tragen hat.
Meta kümmerte sich kaum um Rafa. Man hätte denken können, daß sie ihn nicht einmal kannte. Sie hielt sich hinter der Bar auf oder lief mit den Mädchen herum, mit denen sie in der Toilette gesprochen hatte. Selten nur beugte sie sich über die Brüstung des DJ-Pults und wechselte mit Rafa einige Worte, und das taten viele andere Gäste auch. Ich war gespannt darauf, ob Meta sich mehr mit Rafa beschäftigen würde, wenn der Morgen kam und es nicht mehr so viel zu tun gab.
Als es im "Nachtlicht" leerer wurde, verließ Rafa immer seltener das DJ-Pult. Er war lange allein dort. Zwischendurch wurde er abgelöst von Kappa oder Sazar. Rafa ging in die Ecke, wo sich die Toiletten befinden. Dann kam er zurück und stand für eine Weile unschlüssig bei dem Treppchen zum DJ-Pult. Ich dachte mir, daß er wohl gleich wieder hinaufgehen würde. Er ging aber durch den Seitengang auf mich zu und bog dicht vor mir nach links ab. In der Nähe des Rondells blieb Rafa stehen und drehte sich um. Er sah mir in die Augen. Uns trennte kaum ein Meter. Doch ich kenne unsere Spielregeln. Ich erwiderte Rafas Blick und fächelte vor mich hin und rührte mich nicht vom Fleck. Rafa ging in das Rondell und setzte sich auf eine Rundbank. Er war mir noch immer zugekehrt, und der Platz auf dieser Bank war der nächste an mir. Ich glaube, Rafa beobachtete mich, wollte mich das aber nicht merken lassen. Ich machte keinen Hehl daraus, daß ich ihn ansah. Ich hatte ein starkes Verlangen danach, mich auf Rafa zu setzen. Nach einigen Minuten ging er wieder zum DJ-Pult, auf einem seltsam gekrümmten Weg, der sehr dicht an mir vorbeiführte. Ich streichelte Rafa am Arm. Dies war das zehnte Mal, daß ich ihn berührte.
Gerrit weiß schon, daß Anfang Oktober In Slaughter Natives und Deutsch Nepal in MS. auftreten. Ich hoffe, daß Gerrit hinfährt und Laura und mich mitnimmt. Dann dürfte freilich die ehemalige Sängerin von Rafa nicht dabeisein. Ich bezweifle, daß sie in der Nacht viel mit Gerrit geredet hat. Tessa stand gegen Morgen lange vor der Treppe zum DJ-Pult. Es war nicht einfach, Rafa anzusehen, ohne sie im Blickfeld zu haben. Sie hatte zwar einen Jungen bei sich, mit dem sie später auch fortging. Doch der Platz, den sie sich wählte, läßt mich befürchten, daß sie immer noch nicht von Rafa lassen kann.
Übrigens habe ich die Sängerin auch mit Daria nicht sprechen sehen. Es ist möglich, daß sie kaum noch ein Wort mit Daria wechselt, seit diese sich mir anschließt.
Daß Ivo nicht im "Nachtlicht" war, fiel mir erst im Nachhinein auf. Ivo Fechtner ist seit Längerem wieder Stammgast in dem von ihm früher so sehr geschmähten "Elizium".
Gegen halb fünf kam Meta zu Rafa hinters DJ-Pult und setzte sich, links bei dem niedrigen Türchen. Rafa beschäftigte sich auf der rechten Seite mit den CD's. Nach einigen Minuten sprach er kurz mit Meta, und sie ging wieder nach unten. Dies wiederholte sich etwas später. Danach sah ich Meta nicht mehr zum DJ-Pult gehen.
Oft kann man die Freundinnen von DJ's daran erkennen, daß sie hinterm DJ-Pult sitzen. Meta durfte dort anscheinend nicht sitzen. Rafa scheint es sehr wichtig zu sein, daß man ihn nicht mit Meta in Verbindung bringt. Ich frage mich, ob er nur mir verheimlichen will, daß sie seine Freundin ist oder ob es auch die Allgemeinheit – oder vielleicht Tessa - nicht erfahren soll.
"Das ist so eine, die denkt, wenn sie zwei schwarze Kleider im Schrank hat, ist sie Grufti", sagte Daria über Meta. "Die Schuhe finde ich besonders blöd. Und tanzen kann sie auch nicht."
"Nein, das kann sie auch nicht", pflichtete ich ihr bei. "Sie ist eben völlig durchschnittlich und langweilig."
"Rafa ist ihr bestimmt irgendwann zu schwierig", vermutete Daria.
Wir sahen Velvet. Sie war schon im "Nachtlicht" gewesen, bevor sie ins "Elizium" ging. Nun war sie zurückgekommen. Ob Constri sie vertrieben hatte?
Ich finde Velvet nicht besonders schön mit ihrer Hakennase.
"Ja, man kann viel lästern", sagte Daria dazu, "aber ich meine, wer findet die schon schön? Ich meine, ich bin ja auch nicht unbedingt schön, aber ..."
"Nun, nun, keine falsche Bescheidenheit! Wir beide sind auf jeden Fall allemal hübscher als die."
Daria wollte wissen, wen von den Mädchen ich hübsch finde. Sie selbst findet Laura niedlich.
"Ich kenne so viele Mädchen, die ich hübsch finde", sagte ich. "Es kommt ja auch aufs Styling an. Bei vielen kommt das Aussehen erst zur Geltung, wenn sie sich schminken und zurechtmachen, und das tun viele in der Szene."
Zur Frage nach der Schönheit wies ich auf ein Mädchen, das sehr groß ist und von einer ungeheuerlichen Leibesfülle. Ich habe das Mädchen auch schon im "Fall" gesehen. Es kostümiert sich kunstvoll und wirkt auf mich wie ein riesenhafter aufgeplusterter Vogel.
"Hier, in die gehen zwei von uns 'rein", sagte ich zu Daria.
"Wenn's ausreicht", meinte sie.
Als Daria mich fragte, ob ich müde sei, antwortete ich nur:
"Nein."
Ich war seit fast acht Stunden im "Nachtlicht" und gähnte noch nicht einmal.
Ungefähr um sechs sagte Rafa Abschiedsworte durchs Mikrophon:
"So. Letztes Lied gewesen. Kommt gut nach Hause. Holt den Freund vom Bahnhof ab. Schlaft gut. Dann - tschüß."
Es war aber noch nicht wirklich Schluß. Rafa tanzte, und das war das einzige Mal, daß er tanzte. Er war allein auf der Tanzfläche. Er tanzte in meiner Nähe und seitlich zu mir. Das Stück war ruhig, und Rafa bewegte sich kaum.
"Das Leben ist ein Augenblick", hieß es in dem Lied. "Ich liebe das Mädchen Augenblick."
Daria und ich sprachen über Rafa, während er tanzte. Vermutlich hörte er das eine oder andere mit.
"Ja, wo ist denn jetzt Meta?" wollte Daria wissen.
"Ja, die murkelt da an der Bar 'rum", antwortete ich. "Ich sage ja: Er ist ihr egal."
"Eigentlich müßte sie ihn ja jetzt verliebt anschauen."
"Ja, das mach' ja ich", sagte ich, und dann wisperte ich Daria ins Ohr:
"Ich weiß ja, was man macht, wenn man jemanden liebt: daß man ihn ansieht. Das mußte ich Rafa ja auch erst erklären."
Daria war müde. Als sie aufbrechen wollte, tanzte Rafa noch. Daria machte den Vorschlag, daß sie, Carl und ich gemeinsam zur Bahn gingen.
"Gleich", sagte ich. "Ich muß nur noch inspizieren. Ich muß noch inspizieren."
Es ist mir unmöglich, meinen Beobachterposten zu verlassen, wenn Rafa tanzt, singt, durchs Mikrophon spricht oder sonst etwas Auffälliges macht.
Nach dem Lied vom Augenblick kam "Big Man Restless" von Kissing the Pink, und ich mußte tanzen. Daria saß wie auf heißen Kohlen. Rafa verließ das DJ-Pult und ging in eine Ecke. Nach "Big Man Restless" kam noch ein Stück von Kissing the Pink, "Desert Song", eines meiner besonders melancholischen Lieblingslieder, das ich vor acht Jahren viel gehört habe.
"'Desert Song'!" rief ich. "Ich muß tanzen!"
"Du - ich gehe", warnte Daria.
Ich nickte. Mein Verhalten erinnerte Daria wahrscheinlich an Rafa, der auch nie ein Ende findet. Ich ließ Daria gehen und tanzte zu "Desert Song". Es folgte ein Stück, zu dem ich nicht tanzen mußte, und ich konnte mich auf den Weg zum Ausgang machen. Ich sah Meta vor der Bar sitzen, umringt von anderen, recht normal aussehenden Leuten, und sie unterhielt sich mit ihnen und lachte. Sie wirkte nicht so, als würde sie Rafa vermissen.
Als Carl und ich die Treppe hinaufsteigen wollten, kam Rafa eben wieder aus der Ecke. Ich langte nach Rafas Arm und kraulte zart in den Falten seines Hemdes.
"Tschüß!" sagte Rafa.
"Tschüß", hauchte ich.
Es ist möglich, daß Rafa sich von mir verabschiedete, weil Meta in der Nähe saß und uns beobachten konnte. Durch den Gruß konnte mein Streicheln ebenfalls als harmlose Abschiedsgeste verstanden werden.
Auf der Treppe sagte ich zu Carl:
"Nummer elf."
Daß sich Rafa in einer Nacht elfmal von mir hat "erwischen" lassen, ist sehr ungewöhnlich. Ich konnte ihn sonst höchstens dreimal berühren, während er sich in einer "Rückzugsphase" befand.
Carl erzählte von seinen Erlebnissen mit Saverio. Er hatte Saverio draußen vor dem "Nachtlicht" entdeckt. Saverio stand da mit Gerrit und einem Mädchen. Als er Carl sah, rief er:
"Ach, du Sch...!"
Er errötete und wandte sich dem Mädchen zu, wohl damit Carl seine Verlegenheit nicht bemerkte. Als Saverio sich gefangen hatte, betrachtete er Carls "Menschenhalsband" und fragte streng:
"Was soll eigentlich dieser Aufzug mit dem Halsband?"
Und schon versuchte er aufs Neue, Carl mit den Handschellen zu fesseln. Das gelang ihm aber nicht, weil Carl Widerstand leistete.
Saverio war erst um etwa vier Uhr morgens gekommen, wohl in der Hoffnung, Carl schon nicht mehr anzutreffen. Nun er ihn doch traf, konnte er nur kurz bleiben. Ähnlich Rafa scheint es Saverio nicht ertragen zu können, dem Menschen, den er begehrt, nahe zu sein und ihn doch nicht erreichen zu können.
Constri hat tatsächlich im "Elizium" "aufgeräumt". Kaum hatte sie erfahren, daß Derek im Rausch oben auf der Galerie lag und Velvet sich an ihm zu schaffen machte, eilte sie hinauf. Sie sagte zu Velvet:
"Würdest du bitte meinen Freund in Ruhe lassen?"
Dann packte sie die Velvet am Arm und schleuderte sie fort. Velvet nahm sogleich ihre Sachen und stürmte aus dem "Elizium".
Derek hatte von Velvets Annäherungsversuchen nichts mitbekommen. Er hatte nur Bier getrunken und war dennoch "abgestürzt". Constri nimmt an, daß Derek nicht mehr so viel verträgt, seit er weniger trinkt. Derek schämte sich sehr. Er schenkte Constri Milka-Pralinés und bestellte für sie und sich Pizza.
Rafa wird von mir auch angefaßt, doch nur, wenn er mir begegnet oder sich mir nähert, und es würde mir nicht einfallen, ihn zu berühren, wenn er auf einem Sofa schläft und nicht selbst entscheiden kann, was er zulassen will und was nicht. Auch legt Velvet es darauf an, Derek "abzuschleppen", obwohl er eine Freundin hat. Ich würde es bei Rafa in diesem Fall nicht über eine kurze Berührung hinausgehen lassen, weil ich verlange, daß er sich erst von seiner Freundin trennt, ehe zwischen uns mehr stattfindet. Wenn ich ihn anfasse, obwohl er gebunden ist, dann nur, weil ich ihm mitteilen möchte, daß die Sache für mich alles andere als abgeschlossen ist.

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