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Ende Januar habe ich geträumt von einem Kellergewölbe, in dem sollte ein junger Prinz erschossen werden. Ich, in diesem Traum selbst ein junger Mann, warf mich vor den Prinzen und rettete ihn. Der Vater des Geretteten warf mir vor, gegen die Gesetze verstoßen zu haben. Er zerrte mich mit sich fort und sagte mir, ich würde den Rest meines Lebens in einem Kerker verbringen. Als der Prinz mit seinem Gefolge an uns vorbeikam, sagte er schüchtern "Hallo" zu mir. Ich begann mit dem Vater ein Gespräch über die Fragen, weshalb die Gesetze wichtiger seien als das Leben seines Sohnes und was es seinem Staate nütze, wenn er mich einsperrte. Der Vater holte weit aus und verstrickte sich in einige Widersprüche, auf die ich ihn aufmerksam machte. Das Gespräch nahm den Vater mehr und mehr gefangen, und unversehens traten wir aus dem Gewölbe hinaus, anstatt tiefer und tiefer hineinzugehen. Die Morgendämmerung empfing uns.
"Draußen auf der Straße bin ich also schon", dachte ich, "jetzt muß ich mich nur noch von diesem Menschen befreien."
Der Vater zog eine silbern glänzende Pistole hervor und sagte im Gehen, mit der würde er mich gleich erschießen. Ich lenkte das Gespräch auf die Frage, weshalb ihm in so besonderer Weise an meinem Tod gelegen war. Es fiel dem Vater schwer, mir das zu erklären.
"Denken Sie daran, ich könnte Ihr Sohn sein", sagte ich schließlich. "Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber es könnte ja sein, daß Sie noch ein weiteres Kind haben, von dem Sie bis heute nichts wissen. Und mit mir würden Sie Ihr eigenes Kind ermorden."
Der Vater zögerte. Ich nahm ihm die Pistole vorsichtig aus der Hand.
"Nein, ich schieße nicht", beruhigte ich ihn und warf die Pistole durch einen Zaun in einen Wasserbottich.
Dann gingen wir weiter. Inzwischen war es hell geworden. Der Vater begann, einen steilen Hang hinunterzuklettern, der von dichtem Gestrüpp bewachsen war.
"Kommt man da durch?" fragte ich.
"Sicher", antwortete der Vater.
"Ich gehe lieber oben lang", entschied ich. "Also, dann - machen Sie's gut - und denken Sie daran, ich könnte Ihr Sohn sein ..."
"Jaa, jaa", sagte der Vater entnervt, und ich sah zu, daß ich fortkam.
Der Weg über die asphaltierten Straßen verlief in Serpentinen. Er war länger als der Weg durch das Gestrüpp, aber dafür ging man ihn schneller. Ich hatte also bald Abstand gewonnen zu den Orten grausiger Ereignisse. Unverfolgt gelangte ich ins Tal.

In diesem Traum setzte ich mein Leben ein zum Pfand für fremdes Leben und konnte überdies aus eigener Kraft den Todfeind entwaffnen. Ich half anderen und rettete mich selbst. Ich schützte Leben, ohne zu töten. Es scheint mir, als wenn eine überirdische Macht meinen guten Willen belohnen wollte und mich mit einem "entwaffnenden Charme" ausstattete. Ich verzauberte die Leute und erreichte, was ich wollte, vorausgesetzt, das Ziel diente der Menschheit.
Dem Traum entnehme ich, daß ich gerettet werden kann, wenn ich andere rette. Ich muß selbstlos helfen, dann werde ich selbst auch erhalten.
Im "Elizium" wird es bald langweilig. Heimlich, still und leise hat Xentrix sich davongemacht und will nicht mehr als DJ, sondern nur noch bei dem Label arbeiten, wo Rafa unter Vertrag ist. Luie muß jetzt ganz allein mit den "Elizium"-Inhabern fertigwerden, und die verlangen von ihm, den Anteil an neuer, außergewöhnlicher, harter, elektronischer und industrieller Musik herunterzustreichen, zugunsten von weichgespülten Dauerbrennern. Ich bin nicht sicher, ob das blutjunge Nachtgespenst Luie einer solchen Kaltfront gewachsen ist, zumal er von den verbleibenden DJ-Kollegen Spheric und Cerberus keine Unterstützung erwarten kann.
Am Sonntagmorgen klingelte um viertel vor neun einmal das Telefon. Ich war sofort wach und nahm den Hörer ab. Die Verbindung war aber schon wieder unterbrochen.

Nach diesem Vorfall träumte ich, mir würde erzählt, einer Frau aus meinem Bekanntenkreis sei gerade eben der Mann gestorben. Deshalb sei wohl sie es gewesen, die mich habe anrufen wollen.

An meinem Geburtstag gaben Rafa und Sten ein Konzert in WR. Von dort aus soll Sten mit Aimée telefoniert haben und angekündigt haben, er und Rafa würden wohl tags darauf zu meiner Party kommen. Allerdings würde er, Sten, nur hingehen, wenn auch Rafa hingehe und umgekehrt.
Es soll geplant worden sein, daß Rafa am Abend der Party um halb neun zu Sten kommen sollte. Die beiden wollten dann Aimée abholen und mit ihr zu mir fahren. Aus diesen Plänen wurde aber nichts.
Es wird erzählt, Rafa und Sten seien durchaus bei Aimée angekommen. Die will bereits eine Sektflasche gehabt haben. Rafa soll sie gefragt haben, was sie denn mit der Sektflasche wolle.
"Na, die ist doch für Hettys Party", soll Aimée geantwortet haben. "Da fahren wir doch gleich hin."
"Nein, da fahren wir nicht hin", soll Rafa abgewehrt haben. "Wir fahren in die 'Halle'."
In der "Halle" landete Rafa denn auch, wie Velvet berichtete. Er soll Kappa beim Auflegen geholfen haben.
Offensichtlich sind Aimée und Sten nicht die richtigen Leute, um Rafa zu mir zu schleppen. Das dürfte daran liegen, daß sie kaum Autorität ausstrahlen. Dazu kommt noch, daß Aimée und Sten mir nicht nahe genug stehen, um mit vollem Einsatz gegen Rafas Sturheit anzukämpfen.
Zu meiner Party kamen fünfzig Gäste. Ich gab das Gästebuch herum, in welches Bertine und Chantal halbe Romane schrieben. Eine Seite wurde sogar kreisförmig beschrieben, was das Lesen zum Abenteuer machte. Ich gab außerdem zwei Unterschriftenlisten herum, eine, die Xentrix ums Weitermachen bat und eine, mit der Luie seinen Vorgesetzten zeigen konnte, daß viele Leute Industrial hören wollen. Beide Listen wurden voll. Zur Party war auch Rufus gekommen, der kürzlich Mal unter Vertrag genommen hat. Rufus zeigte Derek Entwürfe für ein CD-Cover. Dieses Cover ist bestimmt für Dereks Album. Derek nennt sich inzwischen "Missratener Sohn", und ich finde, das paßt zu seinem Image. Freilich verhielt sich Derek auf dieser Party brav und unauffällig.
Merle hatte Elaine wieder mitgebracht. Elaine freute sich über die Gesellschaft und die viele Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde.
Saara kam mit drei modisch-brav gekleideten Herren. Einer davon - Svenson - ist jetzt ihr Freund, und sie ist in ihn so verliebt, daß sie über ihm glatt Kappa vergessen hat.
Lisa und Lana waren auch da, und die beiden verstanden sich gut. Lisa verstand sich auch mit Ytong. Lisa und Lana konnten feststellen, daß Lessa unter ihrem Minikleid zwar eine feuerrot gemusterte Strumpfhose, aber keinen Schlüpfer trug. Dementsprechend war Lessas Verhalten. Sie flirtete mit jedem Herrn und knutschte sogar Saara regelrecht ab. Andras hat sich inzwischen von Lessa getrennt, und sie möchte nun wahrscheinlich aller Welt zeigen, daß sie auch ohne ihn zurechtkommt. Nicht einmal Svenson ließ sie aus. Alsdann behauptete Lessa gegenüber Saara, Svenson hätte sich an sie, Lessa, herangemacht.
Gegen halb vier fuhren Saara und Lessa mit Saaras Begleitern in die "Halle". Dort war nicht mehr viel los. Velvet konnte berichten, daß Rafa inzwischen fort war. Man fuhr also weiter ins "Elizium". Da war Rafa. Aimée und Sten waren allerdings nirgendwo zu sehen. Rafa war umringt von mehreren Mädchen, darunter auch Yasmin. Einem der Mädchen soll Rafa seine Adresse aufgeschrieben haben.
Saara wurde von Rafa sogleich mit Handschlag begrüßt:
"Hallo, Saara."
Als sie ihm ihren Svenson vorstellte, fragte Rafa unwirsch:
"Was ist denn das für ein Kinderkram!"
Er schien etwas verlegen zu sein.
Saara fragte Rafa, weshalb er nicht auf meiner Party sei. Er senkte den Kopf und tat, als hätte er die Frage nicht gehört.
Für eine Weile stand Lessa mit Rafa an der Bar. Es darf vermutet werden, daß sie bei ihm nicht landen konnte. Angeblich soll Rafa zuerst gar nicht mehr gewußt haben, wer sie war. Sie will ihn erinnert haben:
"Ich habe doch mal bei Hetty gewohnt."
Einmal soll Rafa sie umarmt haben. Dann hat er sie angeblich gemustert und gemeint, sie würde aber hübsch aussehen.
Lessa will Rafa ermuntert haben, endlich zu meiner Party zu gehen. Er soll gefragt haben:
"Ist denn da überhaupt noch etwas los?"
"Na, die meisten sind jetzt schon im 'Elizium'", will Lessa geantwortet haben, woraufhin er abwinkte.
Als Saara mit Svenson wegging, umarmte Rafa sie so heftig, daß es ihr unangenehm war. Immerhin stand Svenson daneben. Saara versuchte umsonst, sich zu befreien, und sie meinte später, sie wäre fast erstickt.
"So, nun fahr' aber mal endlich zu Hetty", ermahnte sie Rafa, als er sie losgelassen hatte. "Die wartet auf dich."
"Aach, bei der kriege ich doch sowieso keinen Sex."
"Fahr' doch mal hin", ermunterte sie ihn.
"Ich fahr' nachher sowieso noch zu Hetty", raunte er ihr zu, "aber - psst!"
"Mach' das, wirklich", riet sie. "Hetty wird sich freuen."
Saara hatte den Eindruck, daß Rafa tatsächlich beabsichtigte, noch zu mir zu fahren. Sie war erstaunt, als sie von mir hörte, daß er nicht erschienen war und sich auch nicht gemeldet hatte. Vielleicht war nicht nur Rafas Angst vor mir weiter gestiegen, sondern auch sein Mißtrauen gegenüber den Leuten, die ihm empfahlen, mich zu besuchen. Er hatte ja erleben müssen, daß Lessa ihn für sich selbst vereinnahmen wollte, anstatt ihn zu mir zu bringen.
Derek hatte sich im Laufe der Nacht ins "Elizium" geschlichen, ohne dort die erhoffte Entspannung zu finden. Er wurde von Lessa regelrecht belagert. Anderntags schilderte er Constri, wie Lessa sich ihm in aufdringlichster Weise angeboten hatte. Zuerst hatte er versucht, höflich zu bleiben. Knapp und deutlich teilte er Lessa mit, daß er nichts von ihr wolle. Davon fühlte sie sich aber nicht abgeschreckt. Derek mußte Lessa wüst beschimpfen und beleidigen, ehe sie ihn in Ruhe ließ.
Bertine hat Xentrix im "Elizium" die Unterschriftenliste gegeben, und Xentrix soll beinahe Tränen in den Augen gehabt haben. Stolz zeigte er auf eine Dankesurkunde vom "Elizium" für sieben Jahre Treue. Leider wollte sich Xentrix dennoch nicht überreden lassen, DJ im "Elizium" zu bleiben.
Am Freitag fuhr ich nach SZ., wo Reesli seinen Geburtstag feierte. Dale, die vorübergehend bei Reesli zu Besuch war, hat ihre eigene Deutung zu einer Kopie, die ich Reesli im letzten Jahr geschenkt habe. Es ist die Kopie eines Bildes, das ich gemalt habe und auf dem Rafa mich von hinten umarmt.
"Zuerst sieht man nur die Frau", sagte Dale, "aber wenn man länger hinguckt, fällt einem auf, daß da noch jemand ist, der hinter ihr steht."
Daß ich nicht alleine bin, erkennt man erst auf den zweiten Blick.
Eigentlich bin ich doch alleine, und vielleicht bin ich es auch wieder nicht - nicht ganz?
Lessa hütete sich in der Woche nach meiner Geburtstagsfeier, mit mir oder Constri zu telefonieren. Sie suchte nach Wegen, ihre Schuld auf andere abzuwälzen. Das Ergebnis war eine Lügengeschichte, die sie Constri am Samstag auftischte, detailreich und garniert mit falschen "Zeugenaussagen". Die Geschichte hatte zum Inhalt, daß Derek längst ein Verhältnis mit Lessa habe und daß er seine Beziehung mit Constri schnellstmöglichst beenden wolle. Ohnehin sei er Constri seit Langem untreu.
Ich hatte Constri rasch vor Augen geführt, daß diese Geschichte ein grotesker Unsinn ist und unvereinbar mit der Wirklichkeit. Lessa konnte sich nicht als Constris Vertraute ausgeben und gleichzeitig behaupten, mit Derek bereits geschlafen zu haben. Ich machte Constri klar, daß solche Leute wie Lessa eine Beziehung nur dann zu Fall bringen können, wenn sie erreichen, daß die Liebenden einander mißtrauen. Deshalb ist die stärkste Waffe gegen Intrigen das Vertrauen in die Liebe.
"Wenn Derek dich wirklich einmal betrügen sollte", sagte ich zu Constri, "dann wird es ihn beschämen, daß du an seine Liebe glaubst, und er wird gestehen. Wenn es ihn nicht beschämen würde, würde er dich nicht lieben, und es wäre ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis die Beziehung zerbricht."
Lessa scheint zu wissen, daß sie verspielt hat. In der Samstagnacht war sie im "Elizium" ganz zahm und verlor mir gegenüber kein Wort mehr über ihre angebliche Geschichte mit Derek. Laut Saara soll Lessa sich darüber gewundert haben, daß ich im "Elizium" "so nett gewesen" sei. Lessa soll "richtig Tränen in den Augen" gehabt haben, als Saara ihr mitteilte, daß ich ihre Geschichte nicht glaubte, und Aimée soll den Vorschlag gemacht haben, Saara könne ja versuchen, mir die Geschichte glaubhaft zu machen, da ich Saara ja "sowieso alles glauben" würde.
Was mich betrifft, so sollen Lessa und Aimée geplant haben, Rafa auf meine Party zu locken, um ihn dort zu verführen. Ich würde sogar annehmen, daß gar nicht Aimée, sondern Lessa Rafa verführen wollte. Schließlich hat sie ihm im "Elizium" schöne Augen gemacht.

In einem Traum begegneten sich viele Menschen in einem runden, fensterlosen Saal. Es waren Leute, die arbeiteten und solche, die frei hatten. Saara wurde umgarnt von einem großen, dünnen Jungen, der in cremefarbene, designerhaft aussehende Wollsachen gekleidet war. Saara trug auch Wollsachen, hauteng, wie ich sie gar nicht tragen könnte, weil sie mir zu kratzig wären. Es stellte sich später heraus, daß der Junge Saara von vorne bis hinten belog, weil er längst in festen Händen war.
Rafa kam auch in den runden Saal, geschäftlich zuerst. Er mußte einen häßlichen braunen Anzug tragen. Irgendwann trug er wieder seine gewohnte Garderobe und war froh darüber.
Rafa betrieb eine Art Spionage. Von hinten trat er an mich heran und begann ein Gespräch mit mir. Erst dachte ich, daß er nur zu einem berufsbedingten Zweck mit mir sprach. Dann aber kam von ihm die argwöhnische Frage, was ich denn in all den Monaten ohne ihn so gemacht hätte. Ich erkannte seine Eifersucht. Und ich konnte ihm versichern, daß ich ihm treu geblieben war.
Rafa sprach sehr freundlich mit mir, und es war viel Wärme in seinem Ausdruck und Gebaren.
Wir konnten ein Weilchen sprechen, bis mich einer von meinen Auftraggebern zu sich herwinkte. Ich wußte, daß dieser ein Auge auf mich geworfen hatte und daß es ihm nicht gefiel, daß ich Rafa liebe. Ich ging zu dem Auftraggeber, und dieser steckte mir forsch eine dreifach verzweigte Rose an den Kragen. Und nicht genug, er machte mir auch noch einen Antrag.
Ich war entsetzt. Rafa konnte ja nun denken, daß ich mit dem Auftraggeber etwas hatte. Um für Klarheit zu sorgen, wandte ich mich sofort von dem Auftraggeber ab und ging auf Rafa zu. Er stand in meiner Nähe und zeigte mir, daß er an seinem Revers ebenfalls eine Rose stecken hatte, eine einfache Rose. Jetzt hatte man uns trennen wollen, und stattdessen besaßen wir nun etwas, das uns verband.
Rafa und ich schauten uns an wie zwei Hälften eines Ganzen, verliebt lächelnd. Ebenso haben wir uns vor drei Wochen in der "Halle" angeschaut.
Wir kamen uns näher und immer näher, bis wir uns aneinanderschmiegten. Rafa ging so in mich versunken mit mir fort. Er legte sogar einen Arm um mich. Ich wunderte mich darüber, daß er sich das traute, vor allen Leuten. Ich legte auch einen Arm um ihn und streichelte ihn, scheu erst, aus Angst, daß er mich abwehrte oder gar wegging. Rafa tat aber nichts dergleichen. Stattdessen schloß er auch noch seinen anderen Arm um mich und drückte mich fest an sich. Ich kuschelte meinen Kopf an seine Schulter. Wir verließen den Saal und kamen nach nebenan, wo sich in dem Traum die "Halle" befand, und überquerten die Tanzfläche. Die Leute bildeten für uns eine breite Gasse, so daß niemand uns im Wege war. Am gegenüberliegenden Ende der Tanzfläche tat sich die "Halle" auf, und wir konnten noch weitergehen, bis in eine Wohnsiedlung. Und wir gingen weiter und weiter.

Das ist es also, was Rafa mir sagen wollte, als er mich Ende Januar in der "Halle" so verliebt ansah? Er will sich zu mir bekennen, hat nur Angst davor, daß ich ihm nicht treu bin?
Es wäre fast zu schön, um wahr zu sein.
Kurz nach diesem Traum, noch in derselben Nacht, habe ich eine Fortsetzung geträumt:

In einem gewaltig großen, prächtigen Saal, ein Opernhaus mit mehreren Rängen, gab es eine Kostümmodenschau. Der Boden fiel in sanften Stufen zur Bühne hin ab. Weiter oben schauten Rafa und ich uns feine Stoffe und Spitzen an, die wir in Kisten auf einem Tisch fanden. Rafa hielt sich sehr an mich. Er war begeistert von den Spitzen, die ich ihm reichte, und er ließ sich von mir auch etwas zum Nähen geben. Er wollte beschäftigt werden, und er wollte, daß ich ihm Aufgaben zuteilte.
Für eine Weile saß ich auf Rafas Schoß. Ich hatte die Arme um ihn gelegt und kuschelte meinen Kopf an seine Schulter. Viele Menschen gingen an uns vorbei, auch Leute, die ich von meiner Arbeit im Institut kenne. Ich begrüßte die Bekannten. Einige wünschten mir nachträglich alles Gute zum Geburtstag. Rafa wehrte sich nicht gegen meine Umarmung. Er konnte es hinnehmen, daß alle Welt sah, in welch enger Verbindung wir standen. Er nahm es auch hin, daß ich sehr viel Aufmerksamkeit von anderen Menschen bekam, während er kaum beachtet wurde.
Rafa hatte einen seltsam traurigen Blick. Und er war krank. Ihm fehlten die Haare auf dem Kopf. Ich wußte nicht, ob er bald sterben mußte oder ob er wieder gesund werden konnte.
Rafa wußte den Namen seiner Krankheit nicht. Ich ging mit ihm los, um jemanden zu finden, der den Namen kannte. Da war schließlich einer, der etwas dazu sagen konnte, allerdings nicht viel Zeit für meine Fragen hatte. Ich wollte anmerken, daß ich die medizinische Fachsprache beherrsche, aber ich kam nicht mehr so weit.
Ich hatte große Angst um Rafa.
Unter das Publikum mischten sich Schauspieler, die prächtige Kostüme trugen. Darunter waren auch Ballkleider aus Samt und Seide. Eine Frau sagte beiläufig zu mir, ich könnte alle Kostüme haben, wenn die Veranstaltung zuende sei. Es verwirrte mich ein wenig, daß mir jemand im Vorübergehen ein so wertvolles Geschenk machte.
Ich erzählte Lessa, daß ich die Kostüme bekommen würde, und ich machte ihr den Vorschlag, sich ein rotes Kleid auszusuchen, passend zu ihren rot gefärbten Haaren. Ich wollte Lessa damit beschämen, und es schien zu wirken, denn Lessa zögerte und konnte sich noch nicht entscheiden.
Rafa wurde von mir vorübergehend alleingelassen, damit er sich nicht allzu sehr bewacht und gegängelt fühlte. Ich wollte auch nicht immer nach ihm Ausschau halten, denn er mußte damit zurechtkommen, nicht durchgehend beaufsichtigt zu werden. Als die Modenschau zuende war und ich Rafa nirgends entdecken konnte, wurde ich unruhig. Ich ging eine Treppe hoch zu den oberen Stockwerken und durchquerte das Gebäude. Auf der anderen Seite kam ich in einen Tanzsaal, in dem ich Merle traf. Rafa war dort aber nicht.
"Ich komme gleich wieder", vertröstete ich Merle, "ich muß noch etwas suchen."
Ich lief zurück zu der oberen Galerie, von der aus man den großen Saal überblicken konnte, in dem die Modenschau stattgefunden hatte. Ich bat eine Garderobiere, mir eine der Garderoben aufzuschließen. Wie sie eben den Schlüssel herumdrehte, sah ich unten im Saal Rafa stehen.
"Da ist er!" rief ich der Garderobiere zu. "Ich habe ihn gefunden! Danke schön!"
Rafa hatte seine Haare wieder, als seien sie ihm nie ausgefallen. Er trug schon seinen Mantel mit dem Fischgrätmuster. Sicher wollte er bald fort. Mit angstverzerrtem Gesicht schaute er nach oben und rief wieder und wieder:
"Betty! Ich seh' dich nicht! Betty! Betty!"
Er verwendete meinen Szenenamen ("Elektro-Betty"); ich war gleichwohl sicher, daß ich gemeint war, denn wer sonst hatte sich eben noch um Rafa gekümmert und war dann fortgegangen?
Ich beugte mich über die Brüstung der Galerie und rief, so hell und laut, wie ich konnte:
"Rafa! Ich bin hier! Rafa!"
Er drehte sich immer so, daß er mich gerade nicht mehr sehen konnte, und ich rannte an der Brüstung entlang, um doch noch in sein Gesichtsfeld zu kommen.
"Betty!" rief er verzweifelt. "Ich seh' dich nicht! Wo bist du? Betty! Betty!"
"Rafa! Rafa!"
Er hörte mich nicht.
Ich kam immer näher an die Treppe heran, über die man nach unten in den Saal gelangte. Sie führte an allen Rängen vorbei in die Tiefe und war etwa so wie eine Wendeltreppe gestaltet. Diese Treppe mußte ich hinunterrennen, dann konnte ich Rafa noch erreichen. Ob ich schnell genug war, weiß ich nicht, denn ich wachte auf, ehe ich es erfuhr.

Rafa will mich erreichen, das sagt mir dieser Traum. Allerdings scheint Rafa nicht wahrzunehmen, daß ich auch ihn erreichen will. Ich muß es ihm also immer wieder sagen. Wenn ich nur mit ihm reden könnte ...
Wenn Rafa mehr Vertrauen in mich hätte, dann könnte ich auch mehr Vertrauen in ihn haben.
Rafa erlebt sich in meiner Gegenwart vermutlich als hilflos und unselbständig, weil ich ihm die Geborgenheit vermittele, die ihm in der Kindheit gefehlt hat. Die Vergangenheit wacht auf, und das verunsichert Rafa. Er fühlt sich von mir bedroht und sucht Abstand. Ich gefährde sein Selbstbild vom ganz besonders erwachsenen "Menschheitserzieher".
So leicht es Rafa fällt, mich zu meiden - er scheint dennoch zu vermissen, was ich ihm gebe; das wird zumindest in diesem Traum deutlich. Der Traum geht sogar noch weiter; Rafa schreit nach mir in Angst und Not, als gelte es sein Leben. Er sieht mich gleichzeitig als tödliche Bedrohung und als Retterin aus tödlicher Gefahr.
Tagsüber bekam ich wieder einen anonymen Anruf. Kurz nach ein Uhr mittags klingelte das Telefon einmal.
Tags darauf ging es weiter; da klingelte das Telefon morgens um zehn vor acht einmal.
Am Samstag, einem strahlend sonnigen Februartag, fuhren Constri und ich mittags nach HH. Ich hustete dauernd, aber ich bereute trotzdem nichts. Wir wurden von Lisa und Darien am Bahngleis abgeholt. Zu viert gingen wir in ein Bistro und machten anschließend eine Fotosafari. Darien führte uns durch einen Teil des Hafengeländes mit alten Gleisanlagen. Wir konnten Stahlwände, Strommaste und deren Bauteile und Bahnbrücken aus Beton fotografieren und uns gegenseitig in einem Stellwerkshäuschen und auf Abstellgleisen und Stahltreppen verewigen.
Am späten Nachmittag führte Lisa uns in ein Seefahrergemeindehaus, wo ein Wohltätigkeitsbasar stattfand. Es gab für wenig Geld Kaffee und Kuchen.
Gegen Abend waren wir bei Darien, der uns in seinem aus Stahlteilen selbstgeschweißten Schlafgemach experimentelle Kurzfilme und ein Video von einer Reise ins heimatliche MR. vorführte.
Darien ist ein "Ghetto-Kind". Für ihn war es normal, in einem häßlichen Plattenhochhaus zu leben. Als Halbwüchsiger hat er schwere Steine in die Etagenwohnung gewuchtet, um sie aus großer Höhe auf einen Schachtdeckel fallen zu lassen. Er wollte herausfinden, ob der Deckel davon kaputtging. Er ging aber nicht kaputt.
Aus der Ghetto-Zeit kommt wohl Dariens Vorliebe für Plattenbauten. Für mich haben solche Häuser den Reiz einer Geisterbahn. Mein Blick bleibt deshalb an ihnen hängen, weil ich mich darüber freue, in so einem Gebilde nicht wohnen zu müssen.
Heyro hatte Besuch, und den nahmen wir mit ins griechische Restaurant um die Ecke. Wir aßen das "Nachtschwärmer-Menü", das es für die Leute gibt, die erst nach zehn Uhr abends kommen. Der große, kräftige Darien wollte gleich zwei Portionen auf einmal bestellen. Er erzählte von einem hünenhaften Onkel, der fünf Portionen schaffte.
Um Mitternacht fuhr Lisa heim, und wir anderen fuhren zu "Klangwerk". Als wir hereinkamen, lief "Shiftwork" von P.A.L, so daß ich eilig mein Zeug in eine Ecke warf. Wir hatten das Album von Sonar mitgebracht, und davon wurde "Head down" gespielt. Es gab viele Leute zu begrüßen, auch welche, die ich lange nicht gesehen hatte. Sofie hatte Salat gemacht. Ich finde die Idee sehr gut, auf Tanzveranstaltungen Essen anzubieten. Für Darien war es auch sehr gut, denn trotz des reichlichen Mahls beim Griechen hatte er schon bald wieder Hunger. Mit dem Salatteller in der einen und der Gabel in der anderen Hand stapfte er im Techno-Takt über die Tanzfläche.
Morgens um sechs hatte Ytong seinen Auftritt. Zu seiner ruhigen, sphärischen Musik zeigte er melancholische Videos, die er nach der Schneeschmelze aufgenommen hatte. An einem See hatte er Vögel gefunden, die erfroren und dann vom Schnee zugedeckt worden waren.
Die lange Zugreise war für Constri und mich eine schöne Gelegenheit, vertraute Gespräche zu führen. Wir unternehmen in letzter Zeit immer mehr miteinander.
Saara hatte wieder Neuigkeiten für mich. Vor der 7-Jahres-Party, die in der "Halle" stattfand, während ich bei "Klangwerk" war, sollen Lessa und Aimée bei Rafa angerufen und darum gebettelt haben, auf die Gästeliste zu kommen.
"Das kann ich nicht entscheiden", soll Rafa sie abgewimmelt haben. "Außerdem habe ich jetzt keine Zeit."
Dann soll er sich erkundigt haben, ob Lessa und Aimée "wieder mit dem ganzen Verein" in die "Halle" kommen wollten.
"Hetty ist nicht da", will Lessa Auskunft gegeben haben, "die ist in HH. auf einer Industrial-Party."
"Ah, ja."
"Aber beim nächsten Mal ist sie wahrscheinlich wieder da."
"Ach, das wäre ja schön."
Wenn das Gespräch wirklich in dieser Form stattgefunden hat, hat Rafa mit einer Fangfrage versucht, herauszufinden, ob ich in die "Halle" gehe. Es müßte ihm etwas daran gelegen haben.
Talis berichtete inzwischen, daß Kappa sich in der "Halle" als Dave Gahan verkleidet hat und als Karaoke-Einlage "Barrel of a gun" von Depeche Mode vorgetragen hat. Rafa soll am DJ-Pult gestanden haben.
Am Freitag vor der 7-Jahres-Party war in einer Tageszeitung ein Foto von Rafa und Kappa zu sehen. Aimée und Lessa wußten das, wollten mir es aber nicht sagen, da sie "auch mal was haben wollen, das Hetty nicht hat". Saara sagte mir das aber weiter, und auch Clarice sagte es mir. Die Zeitung kaufte Carl noch schnell für mich. Das Foto ist in Farbe, und ich finde es sehr süß. Rafa hat sich sorgsam rasiert, auch über den Ohren, und die Haare sind ordentlich hochgestellt. Er trägt keine störende Brille und lächelt freundlich. Er hat eine prächtige Uniformjacke an. Kappa, im Gehrock, schließt von hinten die Arme um Rafa.

In einem Traum in der Nacht zum Dienstag hatte ich meine schwarze Corsage mit den Trägern an, aus seidig glänzendem Rips, aus dem Fünfziger Jahren. Als ich mein Taftbolero überziehen wollte, bestimmte Rafa:
"Die Jacke läßt du aber aus!"
Das Bolero behinderte ihm wohl die Sicht.

Am Abend klingelte kurz vor elf Uhr einmal das Telefon; dann herrschte wieder Stille.
Am selben Abend wurde um Mitternacht bei Saara angerufen. Saaras Vater nahm ab und bekam die Pöbeleien eines anonymen Anrufers zu hören, der in ausfallendem Ton verlangte, Saara zu sprechen. Saara und ich schließen aus, daß Rafa dahintersteckt. Es ist nicht Rafas Art, fremde Erwachsene zu beschimpfen. Vielleicht hat Lessa einen Racheakt inszeniert, weil Saara mit Lessa nicht mehr näher zu tun haben will. Saara findet, daß Lessa ihr zu aufdringlich ist und sie zu sehr vereinnahmt.
Am Freitagabend um zehn vor neun klingelte das Telefon. Ich nahm nach dem ersten Klingeln ab und meldete mich:
"Ja?"
Es wurde aufgelegt.
Diese neuerlichen Telefonstreiche dürften weit eher auf das Konto von Lessa und Aimée gehen als auf das von Rafa. Rafa hält sich zu sehr zurück.
Am Samstagabend rief Aimée bei mir an und erkundigte sich, ob ich ins "Elizium" gehen wollte. Ich erzählte von meiner Bronchitis und daß ich gar nicht ausgehen konnte, schon wegen des Fiebers nicht. Aimée wünschte gute Besserung und legte auf, noch ehe ich mich bedanken konnte. Es ging Aimée wahrscheinlich gar nicht um mein Befinden, sondern nur um die Frage, wann ich wo sein würde. Lessa saß vielleicht dabei und plante mit Aimée irgendetwas.
Derek hat Constri später im "Elizium" erzählt, Lessa habe angedroht, Constri "zusammenzuhauen". Freilich geschah nichts Derartiges. Stattdessen bekam Aimée von Derek einen Hieb in den Bauch, und als sie von Derek verlangte, sich zu entschuldigen, soll dieser entgegnet haben:
"Ich entschuldige mich, indem ich dir noch eins in die Fresse haue."
Derek, Janssen und Andras nahmen Lessa ins Gebet. Die drei forderten sie auf, "nicht dauernd so eine Sch... zu labern". Lessa versprach es, und sie soll dabei "fast geweint" haben. Das hinderte sie aber nicht daran, schon am Abend des folgenden Tages wieder bei Derek anzurufen und ihm, so Derek, gemeinsam mit Aimée "irgendeinen Mist vorzulabern".
Ende Februar habe ich Folgendes geträumt:

Ich stand allein in einem Zimmer voller Antiquitäten mit einem Schrank voller Scherben. Ich wollte in dem Durcheinander aufräumen, aber das war fast nicht möglich. Helfer hatte ich nicht; die hatten keine Zeit.
Rafa kam und fragte mich, ob ich ihm sagen könnte, aus welchem Material sein Bademantel gemacht sei. Er gab mir einen hübschen bordeauxfarbenen Bademantel, und ich sollte das Etikett suchen und lesen. Ich fand kein Etikett, meinte aber, daß das wohl ein recht guter Stoff sei, der etwas aushalten könne.
Rafa zog sich den Bademantel über. Ich nahm Rafa kurz in die Arme und mußte daran denken, daß ich bei mir daheim einen schönen silbergrauen Bademantel liegen habe, in Wirklichkeit. Dieses Stück war heruntergesetzt, und ich habe es mit der Vorstellung gekauft, es Rafa zu schenken, wenn ich jemals die Gelegenheit dazu bekommen sollte. Nun, in diesem Traum, sollte ich sie anscheinend gar nicht mehr bekommen.
"Was kann ich ihm denn geben", dachte ich, "wenn er schon hat, was er braucht?"
Ich wurde sehr traurig. Ich dachte an Rafas Geburtstag und kam nicht darauf, ob er gerade Geburtstag hatte oder ob der Geburtstag schon vorbei war.
"Was ist denn heute für ein Tag?" überlegte ich.
Rafa antwortete nicht.
"Herzlichen Glückwunsch, hm?" sagte ich unsicher.
"Gestern", berichtigte Rafa. "Gestern."
"Oh, ich kam mit dem Datum nicht mehr zurecht. Ich wußte nicht mehr, welches Datum wir haben. Ich weiß ja, wann du Geburtstag hast - am 11."
In Wirklichkeit ist längst Februar, Rafa hat im Januar Geburtstag, doch in diesem Traum war die Zeit verschoben.
Und ich hatte ihm noch nicht einmal am richtigen Tag gratuliert. Was konnte ich dann für ihn sein, das er nicht schon in anderen Leuten hatte?
Ich fühlte mich wie jemand, der nur auf die Welt gekommen ist, um zu erkennen, daß man ihn dort nicht braucht.
Rafa und ich setzten uns einander gegenüber an einen Tisch. Constri hatte an die Stirnseite des Tisches ein Puppenhaus gestellt, in dem sich die Puppen selbständig bewegten. Ein Pärchen war dabei, das tanzte. Dazu hörte man ein Lied spielen:
"Jetzt können wir immer tanzen,
können uns immer wieder sehn."
Rafa und ich schauten dahin, und ich dachte:
"Wir schauen den anderen zu, aber das, was wir da sehen, erreichen wir nicht."

Es ist schwer für mich, eine Verbindung herzustellen zwischen dem Stück Wirklichkeit in diesem Traum und dem Stück Wirklichkeit in meinen vorherigen Träumen von Rafa. Ich kann mir diesen Widerspruch nicht erklären. Den Träumen zufolge bin ich für Rafa gleichzeitig überflüssig und notwendig. So allerdings, wie ich ihn derzeit erlebe, kann Rafa bestens ohne mich auskommen.
Entweder bin ich es selbst, die nicht in seinen Lebensplan paßt, oder es sind seine Gefühle für mich, die er daraus verbannen will. Entweder lehnt er mich ab oder die Gefühle, die er für mich hat.
In der Märzausgabe eines Stadtmagazins ist Rafa zu sehen, Arm in Arm mit Xentrix. Die beiden wurden im "Elizium" fotografiert, zu eben der Zeit, als Rafa eigentlich auf meiner Geburtstagsfeier hätte sein sollen - wenn nicht sogar wollen. Rafa trägt auf dem Foto ein Eisernes Kreuz im Ohr und eine Brille mit bonbonroten Gläsern. Seine Haare sind wild und struwwelig hochgestellt. Die Lippen sind grellrot geschminkt und mit einem tiefroten Stift umrandet. Rafa hat einen schwarzen Rollkragenpullover an, mit einem schwarzen Sakko darüber. Das sieht alles sehr merkwürdig aus.
Draußen wird es Frühling, aber in meinem Herzen bleibt es Winter. Jeder Sonnenstrahl gleicht einer Hoffnung, die sich nicht erfüllen kann. Die Vögel zwitschern, sie scheinen zu rufen, sie scheinen von etwas zu erzählen, das unerreichbar ist. Jeder neue Tag ist ein Anfang von Nichts, das endet in Nichts.

In einem Traum am 01. März hatte ich einen Grund, bei Rafa anzurufen, und ich tat das auch.
"Ja?" meldete er sich.
"Na?"
"Na?"
"Wie geht's?" erkundigte ich mich.
"Ich habe mich verliebt", erzählte Rafa bedeutungsvoll, und er schien mich damit absichtlich verletzen zu wollen.
"Ach, in mich, oder in wen?" fragte ich.
Rafa wollte mir nichts Genaues sagen.
"Also, wenn das wieder jemand anderes ist, in den du dich angeblich 'verliebt' hast, müssen wir hier jetzt gar nicht mehr weiterreden", meinte ich. "Ich will dir nur noch sagen, wenn das mit uns nichts wird, dann ist das klar, dann bleibe ich für immer alleine. Unter den jetzigen Bedingungen kann es nie ein gemeinsames Leben für uns geben. Ich vermisse den Alltag mit dir."

Dieser Traum weist darauf hin, daß Rafa schon sein nächstes Verhältnis hat oder plant. Ich konnte absehen, daß ich ihm wieder verbieten würde, mit mir zu sprechen. Vorher wollte ich ihm aber noch etwas mitteilen, das zu sagen ich in den letzten Monaten nie die Gelegenheit hatte. Rafa weiß immer noch nicht, daß ich allein bleiben werde, und das lastet auf mir. Ich will es ihm noch gesagt haben, ehe die Verbindung völlig abbricht. Ich weiß allerdings nicht, ob das noch Sinn macht, denn es dürfte ihm gleichgültig sein. Ich kann dieses Leben als längst beendet ansehen, ohne daß es jemals richtig begonnen hat.
Im "Elizium" saß eine Art Aufpasser bei Luie hinterm Pult, der anscheinend darauf achten sollte, daß Luie keine härtere Elektronik oder Industrial spielte. Wie der "Aufpasser" mir gegenüber zugab, konnte er EBM nicht von Industrial unterscheiden, und er mochte weder das eine noch das andere. Synthi-Pop, das kenne er, und das höre er gern. Ich meinte, daß er dann wohl im "Elizium" fehl am Platz sei und besser in die "Halle" gehen sollte. Schließlich könne er das, was er beurteilen solle, gar nicht beurteilen, und er sei deswegen hier überflüssig.
"Du bist nicht vielleicht ein bißchen überheblich?" schnappte der "Aufpasser".
"Nein", erwiderte ich. "Du bist ja auch nicht überheblich und machst dich kein bißchen wichtig."
Esrt gegen vier Uhr verschwand der "Aufpasser", und Luie spielte ein wenig Industrial. Ich verabredete mit Luie, daß ich in Zukunft immer erst um halb vier ins "Elizium" komme, damit ich ihm nicht stundenlang auf die Nerven gehen muß. Dafür spielt Luie dann um halb vier auch meine Wünsche.
Am Mittwoch rief Luc bei mir an. Er berichtete, daß Lessa ihm dauernd auf seinen Anrufbeantworter spreche und ihn um Rückruf bitte, doch habe er ihre Nummer gar nicht. Ich gab sie ihm und meinte, wenn Lessa sich deswegen aufrege, so hätte sie es ja doch nicht anders gewollt. Ohne Telefonnummer könne er sie nicht zurückrufen.
"Damit ist die Sache erledigt", dachte ich.
Für Lessa war sie aber nicht erledigt. Sie rief mich kurz darauf an und fragte in einem aggressiven Tonfall, weshalb ich denn irgendwelchen Leuten erzählen würde, sie sei hysterisch. Ich berichtigte ihre Äußerung und sagte ihr, daß von "hysterisch" nicht die Rede gewesen sei.
"Außerdem habe ich jetzt Gäste und keine Zeit", fügte ich hinzu. "Von mir aus können wir das Gespräch am Samstag in der 'Halle' fortsetzen."
Damit war Lessa aber nicht zufrieden.
"Nein, da gibt es noch mehr zu besprechen, nämlich das mit Derek", sagte sie.
"Lessa, wir wissen beide, daß du über Derek nicht immer die Wahrheit gesagt hast", erwiderte ich.
"Ich habe immer die Wahrheit gesagt!" rief Lessa voller Entrüstung. "Ich habe nur die Wahrheit gesagt! Ich habe immer nur die Wahrheit gesagt!"
Ich kürzte das Gezeter ab, indem ich wiederholte, ich hätte jetzt leider keine Zeit, und man müsse am Samstag weiterreden.
"Bis dann", verabschiedete ich mich und legte auf.
Weil sofort wieder das Telefon klingelte, zog ich für ein Weilchen den Stecker heraus. Als ich das Telefon wieder einsteckte, klingelte es weiter. Auf den Anrufbeantworter wurde aber nichts gesprochen.
Es kam dann noch ein Anruf. Am anderen Ende der Leitung dröhnte "Ich liebe dich, ich hasse dich ..." von ECO. Ich legte sogleich auf.
Sarolyn und Terry waren bei mir. Wir drei fuhren nach HF. ins "Zone", ein schöner, geräumiger Tanzladen, der mittwochs gut besucht ist und wo für jeden in der Szene etwas gespielt wird. Als ich eben hereinkam, lief schon "Head down" von Sonar, und gleich danach folgte "Sinaya" von Esplendor Geometrico. "Mother" von :wumpscut: kam auch noch, außerdem "Song of the Winds" von Project Pitchfork.
Im "Zone" ordnen sich die Tanzenden zur Mittellinie an, das heißt, sie tanzen einander gegenüber, und auf der einen Hälfte schauen sie alle vom DJ weg und auf der anderen Hälfte alle zum DJ. Das gibt ein seltsames Bild. Es ist ein Gruppenverhalten ohne mündliche Abmachungen, und das ist es, was mich so sehr daran beeindruckt.
Der Vollständigkeit halber spielte der DJ auch "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa. In diesem Zusammenhang erzählte Sarolyn, sie habe gehört, Rafa habe Luisa geschlagen, als er mit ihr zusammen war.
Sarolyn ist im Februar 1993 auf Luisas Geburtstagsparty gewesen. Damals war Luisa schon von Rafa getrennt, hatte ihn aber trotzdem zu Gast. Er kam mit einer Rotgefärbten aus dem Osten, die nähen konnte und die ihm auch seine schwarze Kniehose angefertigt haben soll. Felicitas soll sie heißen. Rafa setzte sich mit Felicitas gegenüber von Luisa an den Tisch und fütterte seine Neueroberung mit Salat. Luisa soll wütend gewesen sein, doch sie hätte ihn ja nicht einladen müssen; zumindest hätte sie die Bedingung stellen können, daß er keine Neueroberung mitbringt. Rafa soll mit Felicitas sogar noch in eine dunkle Ecke verschwunden sein.
So sah es mit Rafa aus, als er im "Elizium" um mich warb. Er suchte wahllos hier und da nach Liaisons und machte den Damen reihum eindeutige Angebote. Dieses Verhalten hat in meinen Augen etwas Krankhaftes.
Übrigens soll Rafa vor Jahren einmal im Nonnenkostüm ins "Elizium" gekommen sein, und alle dachten zuerst, es sei Luisa. An der Nase wurde Rafa schließlich erkannt.
Dieser freche Mut und diese schräge Phantasie wirken auf mich sehr anziehend, einfach süß. Wenigstens muß ich mir nicht die Frage stellen, ob ich Rafa lieben oder hassen soll; die Frage ist außerhalb von meiner Einflußnahme entschieden worden.
Als ich vom "Zone" nach Hause kam, hatte Lessa auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Sie teilte mir mit, sie werde mich am Samstag im "Elizium" "kaltmachen". Ich fand diese Drohung so lächerlich, daß ich das Band sofort löschte.
In den DJ-Charts einer Szenezeitschrift ist Rafas aktuelles Album immerhin bis Platz 20 aufgestiegen, und es gibt die CD als Prämie für Neuabonnenten.
Insgesamt sind in den Szenezeitschriften eher wohlwollende Artikel über Rafa zu lesen. Die Musik sei naiv und anachronistisch, heißt es dort, aber die Texte seien kritisch, hintersinnig und hätten einen bösen Humor.
Rafa erhält in einem Interview die Gelegenheit, seine merkwürdig-verworrene Weltsicht zu beschreiben. Er behauptet, längst nicht mehr selbst auf der Erde zu sein; hier unten sei nur noch sein Hologramm, und das werde generiert von seinem Radiosender.
Rafa äußert die Vermutung, daß die Welt zu retten ist, wenn die Menschen tanzen und genauso denken wie er:
"Manche Menschen haben erkannt, was wirklich zählt - sie sehen die Welt so, wie ich sie seh'. Sie benutzen ihr Gehirn ... jetzt! Sie handeln nach ihrer Bestimmung und treffen sich im Odeon - kommt alle ins Odeon ... in ihren Tanzpalast 2000. Sie rotten sich zusammen und tanzen startbereit die letzte Nacht - Pommerland gibt es jetzt nicht mehr. Nach dem Tanz wird erkannt, daß man die Welt vor dem letzten Augenblick und dem letzten Abendrot noch retten kann ... Vielleicht?!"
Rafa spielt den Heilsbringer der Menschheit, der vom DJ-Pult aus regiert und die Geschicke lenkt.
In einer Zeitschrift ist das Foto aus dem Booklet und der Werbung zu sehen, auf dem Rafa mit Ivcos Freundin tanzt, einem schlanken blonden Mädchen mit aufgesteckten Haaren, das ein schimmerndes Tutu und lange Handschuhe trägt. Als Malda das Bild sah, dachte sie zuerst, ich sei es, mit der Rafa tanzt. Das liegt daran, daß ich mich beim Ausgehen so ähnlich zurechtmache, wie dieses Mädchen auf dem Foto angezogen ist.
In der Musikpresse gibt es inwischen auch etwas über Projekte wie Esplendor Geometrico, P.A.L, Winterkälte und Haus Arafna zu lesen. Jedes von diesen bekommt sein Artikelchen und dazu viel Lob. Mißverständnisse werden aufgeklärt, so daß die Hörer nicht glauben, es bei Haus Arafna mit Nazis zu tun zu haben und bei Esplendor Geometrico mit Krach ohne Rhythmus. Industrial braucht Zeit, um sich von Vorurteilen zu befreien. Avantgarde heißt auch, daß sich die Leute erst daran gewöhnen müssen.



Am Samstag gab es abends ein Essen bei Merle, mit Ofenkartoffeln, Quark, türkischem Kartoffelsalat und Cola mit Bacardi. Elaine bekam von mir Wachsstifte, und sie malte damit merkwürdige Kringel. Die Stifte, die sie gerade nicht brauchte, gab sie den Leuten in die Hand, die am nächsten saßen.
Zoë hat von Elaine sehr hübsche Fotos gemacht, auf einem Spielplatz. Elaine weiß noch nicht, was ein Foto ist, und über Fotoalben weiß sie bis jetzt auch nur, daß man die Seiten umblättern kann. Das Blättern hat sie von Merle gelernt, die so gerne Versandhauskataloge liest. Wir hoffen, daß sich Merles "Versandhauskrankheit" bessert, wenn Elaine im Kindergarten ist.
Später am Abend gingen wir in die "Halle". Ich hatte ein glitzerndes Tutu an und ein ausgeschnittenes Oberteil mit Puffärmeln und einer Schnürung vorn und dazu eine Glitzerstrumpfhose.
"Und das hat auf Rafa nicht die geringste Wirkung?" dachte ich. "Die anderen Jungen lästern, schauen oder schmachten, nur dem Rafa ist das alles egal?"
In der "Halle" suchten Constri und ich uns einen Platz auf dem Podest unterhalb vom Pult, weil da von der Heizung besonders viel Wärme herüberkam. Rafa stand am Pult, mit Stirnband und Nietengürtel, in der Jacke mit den vielen Schnallen auf den Ärmeln. Wir waren noch keine Viertelstunde da, als Rafa hinter mir die Treppe herunterstieg. Er kam mit einer Bierflasche in der Hand auf mich zu, leicht schwankend. Er sah mich freundlich an und stolperte über eine Stufe, so daß er mir fast entgegenfiel.
"Ach, jetzt fällt er auch noch hin", bemerkte ich und lief zu ihm, um ihn auffangen zu können; er hielt sich aber noch selber. Mit festem Griff nahm er meine Rechte, holte tief Luft und sagte laut:
"Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, nachträglich!"
Das klang, als hätte ihm etwas auf der Seele gelegen.
"Danke", sagte ich, behielt seine Hand in meiner und umfing seine Schultern mit dem freien Arm. "Ich hätte dich so gerne bei mir gehabt!"
"Ja, da hatte ich keine Zeit", redete er sich eilig heraus.
Ich lehnte meine Wange an seine.
"Ich würde so gerne mit dir sprechen", sagte ich sehnsuchtsvoll, "aber wir haben ja nie Zeit füreinander."
Rafa schien diese Gefühlsstürme abbremsen zu wollen. Er löste sich von mir, drückte mir hastig noch einmal die Hand und wiederholte:
"Jedenfalls - herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!"
"Danke."
"Also, nochmal - herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!"
Er schaute mich an und nickte, suchend, ob es denn für mich so in Ordnung sei. Ich lächelte nur etwas traurig und ließ ihn weitergehen.
Ace sagte durchs Mikrophon, Ende März könne man W.E in HI. bewundern. Rafa ging von Gast zu Gast und verteilte Flyer für den Auftritt in HI. Als die Reihe an Constri und mich kam, bog er ab und stieg wieder die Treppe hinauf. Etwas später kam Rafa noch einmal mit einem Stapel Flyer herunter. Von einer anderen Seite her ging er von Gast zu Gast. Er bequasselte die Leute, und als ein Mädchen gar nicht zu überreden war, nahm er ihr den Flyer wieder weg. Endlich hatte sich Rafa aufs Neue bis zu mir vorgearbeitet. Er schaute mich unentschlossen an und bog dann auch wieder ab.
"So ein Angsthase", dachte ich. "So ein Feigling."
In der "Halle" wurde ein neues Stück von Rafa gespielt, ohne Ankündigung. Es klang wie fast alle Stücke von ihm, naiv, einfach, mit harmlos klimpernden Melodien. Durch eine Rhythmusunterlegung hatte Rafa versucht, das Liedchen tanzbar zu machen. Aber mich konnte er damit nicht auf die Tanzfläche locken. Ich fand den Rhythmus nicht mitreißend, sondern klischeehaft und banal.
Der Text des Liedes entführte einen wieder einmal ins Weltall, und da lauerte die moderne Technik, "Mikrowelle, Video ... macht den Menschen das Leben schwer ...". Und so weiter.
Es sind immer die gleichen Elemente, aus denen sich neun Zehntel der Texte von Rafa zusammensetzen. Sein Bild vom Universum beinhaltet elektronische Geräte, das Gehirn, das All, Raumschiffe, Tanzsäle und ein nicht näher bezeichnetes "Du", welches ein beliebig austauschbarer Platzhalter ist und fliegen kann, "durch Raum und Zeit" oder so ähnlich, jedenfalls immer weit weg. Sex findet hauptsächlich im Computer statt.
Cyrus, Kappa, Ace und Rafa wechselten sich am DJ-Pult ab, wobei Rafa die meiste Zeit oben war. Mädchen kamen nicht hinters Pult, mit Ausnahme von Deirdre.
Rafa rauchte im Stakkato, und die Bierflaschen leerten sich schnell. Am Pult herrschte eine Art Junggesellenfröhlichkeit. Die Qualität der Musik blieb dabei auf der Strecke. Wenigstens konnte ich tanzen zu "Love never dies" von Apoptygma Berzerk, "Firestarter" von Prodigy und "Love in Chains" von Call.
Ich beobachtete, wie Rafa zwischendurch einmal vom DJ-Pult herunterging zu der Öffnung in der Zeltplane, durch die man zu den Toiletten kommt und in stille, dunkle Winkel der alten Fabrikhalle. Neben dieser Öffnung stand eines der Barmädchen, reglos wartend. Als Rafa sich näherte, verschwand sie sofort mit ihm hinter die Plane, als hätten sie sich verabredet. Nach etwa einer Viertelstunde kamen sie wieder zum Vorschein, und als wäre nichts gewesen, ging das Barmädchen zurück an die Bar und Rafa zurück ans Pult. Ich dachte mir, daß etwas Schlimmes dahintersteckte, wegen dieser Heimlichtuerei. Ich kenne Rafas Taktiken. Er hat dem Mädchen bestimmt vorgelogen, er wolle mich nicht verletzen, dabei hat er sich nur feige aus der Affäre ziehen wollen.
Das Barmädchen ist nicht häßlich, aber eben irgendein Mädchen, eines von vielen, wie Rafa sicher schon Unzählige gehabt hat. Rafa wirft alles, was sich im Laufe der Jahre zwischen ihm und mir entwickelt hat, im Vorbeigehen weg und holt sich ein "Mädchen von der Stange".
Kappa kündigte einen Musikwunsch für Rafa an; es war eine Synthesizer-Ballade. Rafa stieg herunter zur Tanzfläche und warf sich in Pose.
"Himmel, ist der unsicher", dachte ich. "Er kann sich beim Tanzen nicht gehen lassen."
Immer mußte er den Kopf ins Genick werfen, und er ruderte mit den Armen wie mit Windmühlenflügeln.
Gegen drei Uhr leerte sich die "Halle". Kappa stand am Pult. Rafa kam ans Geländer und schaute verstohlen zu mir herunter. Er lächelte mir ins Gesicht, und ich lächelte zurück. Allerdings konnte Rafa sich nicht überwinden, auf mich zuzugehen. Er warf er mir seine Zigarette einen Schritt weit vor die Füße und wandte sich ab. "K.N.K.A." von Project Pitchfork lief, und er sang den Text mit. Nach einigen Minuten unternahm Rafa einen zweiten Versuch. Er wagte sich bis ans obere Ende der Mitteltreppe vor, so daß uns nur noch die Stufen trennten. Wieder strahlte er mich an. Ich kicherte verlegen. Rafa entzog sich, indem er das DJ-Pult übernahm. Constri und ich holten unsere Mäntel und marschierten zum Ausgang. Rafa spielte "Der Sturm" von Calva y Nada, ein Stück, zu dem ich sonst immer tanze. Dieses Mal wollten Constri und ich aber weg; Rafa hatte seine Chance gehabt, und wenn er die nicht nutzte, mußte er die Folgen in Kauf nehmen.

Am Morgen habe ich von einer Prüfungssituation geträumt. Viele junge Menschen wurden mit unerwarteten Schwierigkeiten konfrontiert, denen sie kreativ, aber auch frech und dreist gegenübertreten mußten, um sie zu bewältigen. Eine der Prüfungsaufgaben bestand beispielsweise darin, in einem Demonstrationszug mitzumarschieren, obwohl dieser von der Polizei verboten worden war. Wer sich festnehmen ließ, fiel durch.
In diesem Zug von fröhlichen jungen Leuten, der sich quer durch eine große Stadt bewegte, gingen auch Rafa und ich mit. Wir nahmen nicht eigentlich an der Demonstration teil, sondern hatten eher die Rolle von Zuschauern. Beim Gehen hielten Rafa und ich uns immer an den Händen oder in den Armen, als seien wir schon ein Paar.
Rafa erzählte mir von mehreren Prüfungen, die er vor wenigen Tagen bestanden hatte. Vor jeder hatte er große Angst gehabt, denn einige der Prüfer waren dafür bekannt, daß sie sehr unfair prüften. Ich fragte Rafa, ob es denn wirklich so schlimm gewesen sei. Er verneinte. Es sei gar nicht schlimm gewesen, und inzwischen sei er mit seinen Gedanken auch schon längst wieder woanders.
Vor jeder Prüfung hatte Rafa eine hohe Angstmauer aufgebaut, die in ein Nichts zusammenfiel, wenn die Prüfung einmal bestanden war.
"Siehst du, du bist doch in dieser Hinsicht genau wie ich", meinte ich dazu. "Wir sind beide intelligenter, als wir glauben, kreativer, als wir glauben, gewitzter, als wir glauben - wenn es ernst wird, wenn es darauf ankommt. Man muß sich nur trauen. Man muß es nur wagen. Man muß nur darangehen. Man muß es einfach nur machen. Und genauso sieht es auch aus mit der Beziehung von uns beiden. Man muß es nur einfach mal machen. Man muß es nur in Angriff nehmen. Man muß nur den Mut dazu haben."
"Das geht nicht", erwiderte Rafa traurig, "weil du in einer Beziehung nicht das willst, was ich will."
"Doch, es ist so, ich will, daß wir miteinander ins Bett gehen und Kinder haben", versicherte ich. "Ich will das alles, was du willst. Ich will das auch. Aber wir können es nur schaffen, wenn wir zusammenarbeiten."
Wir gingen weiter durch die Stadt, und ich versuchte weiter, Rafa Mut zu machen. Ich führte ihm vor Augen, daß er all die Prüfungen, die ihm Angst machten, mit sehr guten Noten bestanden hatte, und daran konnte er erkennen, daß er fähig war, trotz seiner Angst ungewöhnliche Belastungen zu meistern.
Rafa wurde im Laufe unseres gemeinsamen Weges mutiger und selbstsicherer. Er verhielt sich mir gegenüber sehr liebevoll und umsorgend. Er übernahm die "Führung", indem er mich durch leichtes Ziehen und Schieben in die von ihm gewünschte Richtung lenkte. Er testete aus, welche Machtverhältnisse in einer Beziehung von uns beiden gelten würden und welche Entscheidungen er treffen durfte. Ich überließ ihm in möglichst weiten Bereichen die Führungsrolle, da er meine Autorität als übermächtig erleben mußte und etwas brauchte, das er dem entgegensetzen konnte. Rafa hatte offensichtlich viel Freude daran, mich, die Autorität, führen zu dürfen.

Dieser Traum beschreibt eindrucksvoll, welche Art von Angst Rafa vor mir hat. Er fürchtet sich weniger vor mir selbst als vor den Belastungen, die meinetwegen auf ihn zukommen könnten. Rafa fühlt sich durch diese Belastungen überfordert, ist ihnen aber durchaus gewachsen. Der Mut allein ist der Schlüssel zur Bewältigung. Es wäre demnach meine hauptsächliche Aufgabe, Rafa Mut zu machen und ihm die Tür zu mir offenzuhalten.
Das, was zwischen uns steht, ist eine Mauer aus Angst.

Ich träumte an diesem Morgen auch, das durchsichtige Bild von Rafa, das an meinem Spiegel klebt, sei ausgetauscht worden gegen eines von Kappa. Das konnte ein böser Scherz von Lessa gewesen sein. Ich fand Rafas Bild wieder und brachte es zurück an seinen Platz.

Dieser Traum könnte darauf hinweisen, daß Lessas Ränkespiele letztendlich zum Scheitern verurteilt sind.
Saara wußte Neues. Velvet hat in der Samstagnacht in der "Halle" gesehen, daß Rafa das Barmädchen, mit dem ich ihn hinter den Vorhang verschwinden sah, geküßt hat. Das bedeutet, daß mein Argwohn berechtigt war und daß Rafa mit dem Mädchen zusammen ist.
Velvet soll sogar noch mehr erzählt haben. Rafa soll nämlich zu Velvet gesagt haben:
"Ich habe mich verliebt."
Velvet konnte sich denken, daß er das Barmädchen meinte, und sie fragte Rafa, wie lange er dieses Mädchen überhaupt kenne.
"Eine Stunde", soll Rafa bedeutungsvoll geantwortet haben. "Es ist die große Liebe."
Das erinnert mich an den Traum, den ich am 01. März hatte. In diesem Traum sagte Rafa bedeutungsvoll zu mir:
"Ich habe mich verliebt."
Das klang so, als wenn er mich absichtlich verletzen und entmutigen wollte. Mit meiner Vorahnung habe ich also wieder einmal recht gehabt.
Daß das Barmädchen Rafas große Liebe ist, glaube ich nicht. Dafür wirkt das Mädchen auf mich zu oberflächlich. Ich kann mir außerdem nicht vorstellen, daß jemand wie Rafa, der stets bemüht ist, seine Gefühle zu verbergen und zu ersticken, sein Verhalten ausgerechnet wegen dieser Barfrau ändert. Ich kann mir jedoch gut vorstellen, daß Rafa die Formbarkeit und Charakterschwäche des Mädchens rasch erkannt hat. Und weil es ihm äußerlich gefällt, baut er daraus einfach das, was ihm als "Traumfrau" vorschwebt. Er beschließt einfach, daß es sich um die große Liebe handelt, weil das Mädchen ihm nichts entgegensetzen kann und sich so fügt, wie er es haben will. Er verwechselt Liebe mit Willfährigkeit.
Am Mittwoch traten Project Pitchfork im "Mute" auf. Cyber verdient seit Jahren gutes Geld damit, daß er die Band managt. Allerdings kümmert er sich inzwischen fast nur noch um Project Pitchfork und ist so gut wie gar nicht mehr als DJ tätig. Er wollte, daß ich mir noch mehr Konzerte dieser Tour anschaute. Ich empfahl ihm, wieder ein bißchen mehr unter die Menschen zu gehen. Schließlich sieht er mich dann auch öfter als einmal im Jahr.
"Wir von der alten Truppe, wir müssen zusammenhalten", sagte Cyber.
Das geht nur, wenn die von der "alten Truppe" sich auch unabhängig von Project Pitchfork-Konzerten begegnen.
Zu dem Konzert waren auch Saara und ihr fünf Jahre jüngeres Schwesterchen Danielle gekommen. Saara zeigte stolz die Lackhose, die Svenson für sie geschneidert hat. Die Hose sitzt sehr gut und wirkt elegant, nicht halbseiden, und hat auch echt seidenes Futter.
Einen Großteil der Zeit kümmerte sich Saara um Yasmin, die unter einer Art "Rafa-Schock" litt. In der "Halle" hatte Rafa kurz mit Yasmin geredet, aber das war nicht geeignet, ihr Hoffnungen zu machen.
Berit erzählte, sie sei dabei gewesen, als Lessa mir die Morddrohung auf den Anrufbeantworter sprach. Im Falle eines Falles habe ich also eine Zeugin.
Berit erzählte außerdem, Lessa habe sich von ihr Geld erschlichen, und sie lasse sich neuerdings am Telefon verleugnen, um Berit das Geld nicht zurückgeben zu müssen.
Zwei Jungens hängten sich im "Mute" an mich. Der eine hatte seine Finger überall, obwohl ich ihn nur begrüßen wollte, und da mußte ich zusehen, daß ich das Weite suchte. Der andere flüsterte mir in den Ausschnitt, und ich hatte zu tun, um für genügend Abstand zu sorgen. Der Junge sprach mir wortreich seine Verehrung aus, und er zeigte sich verwundert darüber, daß man mit mir "ganz normal reden" könne. Schließlich gestand er auch noch, daß er über mich zu lästern pflegt.

Ein Traum handelte von unruhigen Zeiten mit Auflösung der bestehenden Ordnung und Wohnsituation, ähnlich wie im Krieg.
Carl sollte einen Haufen Rucksäcke transportieren, lud sie aber so unglücklich auf, daß ihm das Genick brach. Ich vermutete, daß ihm ein zwielichtiger Mensch einen unrechten Rat gegeben oder die Rucksäcke präpariert hatte.
Zwei Häuser standen dicht nebeneinander, und von einem Fenster des einen Hauses mußte man in ein Fenster des anderen Hauses klettern; so verlief ein Fluchtweg für die Bevölkerung. Ein Brett wurde als Brücke über die beiden Fensterbänke gelegt. Das Klettern war gefährlich, denn die Brücke befand sich etwa in Höhe des fünften Stockwerks. Von beiden Seiten mußte das Brett festgehalten werden, damit es nicht verrutschte. Ich schaute von unten zu.
Der Zwielichtige, dem ich Carls Tod anlastete, hielt auf der einen Seite das Brett. Auf der anderen Seite stand Rikka im Fenster. Ich wollte sie warnen, dachte dann aber, wie kann Rikka, die so mißtrauisch ist, sich bei einem Menschen verschätzen? Und doch, es kam, wie ich befürchtete. Der Zwielichtige riß das Brett so heftig hin und her, daß Rikka aus dem Fenster fiel. Sie landete auf einem Anhänger voller Heu. Ich glaubte zuerst, sie sei gerettet, aber auch sie hatte sich das Genick gebrochen.
Ich litt sehr unter dem Verlust dieser engen Freunde.
Weil viele Menschen ihre Behausungen und ihre gesellschaftlichen Bindungen verloren hatten, fand man sich zu Notgemeinschaften zusammen. In einer solchen kam auch ich unter. Dort erreichte mich die Nachricht, daß Rafa ebenfalls tot sei. Er sollte am Fuß einen Insektenstich gehabt haben, der sich entzündete. Rafa nahm die Entzündung nicht ernst, und so kam es, daß sie sich verschlimmerte und er daran starb.
"Ach, hätte ich doch auf ihn aufpassen können", dachte ich, "aber er ließ mich ja nicht auf ihn aufpassen!"
Ich zog in Erwägung, bei seiner Mutter anzurufen und nachzufragen, ob das alles wahr sei. Ich dachte an seine Stimme, die ich so gerne noch einmal gehört hätte. Wenn er wirklich tot war, war diese Stimme für alle Zeiten verloren ... und damit auch alles andere Unersetzbare an ihm.
Ich konnte Rafa nicht ersetzen. Niemand außer ihm konnte seinen Platz in meinem Herzen einnehmen. Aus war das Spiel, aus, und ich hatte nichts dagegen tun können.

Sarolyn hat von der Veranstaltung im "Inferno" erzählt, zu der sie nach dem Konzert von Project Pitchfork noch gegangen ist. Sie sah Rafa mit seiner neuen Eroberung, dem Barmädchen aus der "Halle", an der Theke sitzen. Rafa hatte das Mädchen und sich mit Handschellen aneinandergekettet. Beide sollen Zigaretten gequalmt haben wie Fabrikschornsteine, und das Mädchen soll schrill und laut gelacht haben, wie jemand, der sehr betrunken ist.
Hoffi hat das frischgebackene Paar auch gesehen. Er fand das Verhalten der beiden Betrunkenen recht peinlich.
Mitte März trat der Industrial-Ambient-Künstler Ytong in einem Abbruchhaus zusammen mit zwei Industrial-Noise-Bands auf, Kapotte Muziek und Raumerkundung. Auf diesem Festival traf ich ausgerechnet Kit, einen der Besitzer des "Elizium".
"Industrial aus dem 'Elizium' vertreiben wollen, aber auf ein Industrial-Festival gehen", bemerkte ich.
"Ja", sagte Kit.
Ich verdeutlichte ihm diesen Widerspruch, und er meinte, er wolle gar nicht, daß im "Elizium" kein Industrial mehr gespielt werde. Außerdem werde man Luie nicht feuern, wenn er samstags mehr als zwei Stücke Industrial spiele. Die alten Sachen von SPK möge er schließlich selbst, und ich hätte auch recht damit, daß das "Elizium" für alle da sei und daß für jede Gruppierung der Szene etwas gespielt werden müsse. Er werde das Thema auf der nächsten Sitzung ansprechen.
Später im "Elizium" wollte Luie mir gar nicht glauben, daß Kit auf Industrial-Festivals geht. Er schüttelte immer wieder den Kopf. Es war halb vier, und er hielt sich an unsere Absprache, der zufolge er nun meine Wünsche spielen wollte, Industrial, Elektro, Avantgarde. Wir konnten tanzen zu "Slave Sex" von Die Form, "Head down" von Sonar, "La La La La" von Esplendor Geometrico, "Breathe" von Prodigy, "Sundown" von den Overlords, "Klangwerk" von Klangwerk und anderen.
Janssen kam mit sorgenvoller Miene auf mich zu und bat mich, etwas gegen Lessa zu unternehmen; die täte mir sonst bestimmt noch etwas an. Ich hielt mich freilich an die Regel, Lessas Verhalten in keiner Weise ernstzunehmen, mit dem Ziel, es "auszuhungern".
Lessa war mit Aimée da, und Constri und ich taten so, als sei keine von beiden da. Es kam öfter vor, daß Lessa auf der Tanzfläche in unserer unmittelbaren Nähe seltsame Bewegungen machte. Vielleicht beabsichtigte sie damit, uns zu verunsichern oder lächerlich zu machen. Schlußendlich machte sie aber allerhöchstens sich selbst lächerlich, und es wurde ihr jedesmal rasch langweilig, weil Constri und ich sie nicht beachteten.
Als "Sundown" lief, tanzten Constri, ich und noch zwei andere friedlich und fröhlich. Lessa schien unter dem Druck zu stehen, sich noch rasch etwas besonders Wirkungsvolles einfallen zu lassen, weil es auf sechs Uhr zuging und sie und Aimée nach Hause wollten. Lessa und Aimée kicherten betont laut und tobten quer durchs "Elizium". Dann hoppelte Lessa mit herausgestrecktem Hintern um mich herum. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und lachte laut los, ohne dabei mit dem Tanzen aufzuhören.
"Wie kann sich jemand aus freiem Willen so zum Gespött der Leute machen?" dachte ich.
Als ich mich schon wieder nicht aus dem Takt bringen ließ, zog Lessa sich erneut zurück. Ein linkisch wirkender, prollig aussehender Kerl torkelte heran und positionierte sich auf der Tanzfläche so, daß er Constri und mich gegen Lessa abschirmte.
Nach "Sundown" kam "Klangwerk", und dazu tanzte ich allein.
"Jetzt bin ich doch eine leichte Beute", dachte ich. "Jetzt könnte Lessa doch wieder ankommen. Wenigstens anrempeln könnte sie mich, wenn sie sich schon nicht traut, mich umzubringen."
Es geschah aber nichts dergleichen. Stattdessen verschwanden Lessa und Aimée.
Constri, Revil, Onno und ich setzten uns noch zum Milchkaffee ins "Nachtbarhaus" und hatten anschließend bei mir ein ausgiebiges Frühstück. Wir redeten über Gott, Geld und die Welt.
"Wie wichtig ist Geld?" fragte ich mich und kam zu dem Ergebnis, daß es mir genügt, wenn ich frei und sorglos leben kann.
Es ist verführerisch, sich große Reichtümer vorzustellen, aber es scheint auch ungesund zu sein, denn ich fühle mich nicht wohl, wenn ich zu lange darüber nachdenke.
"Geld allein macht nicht glücklich", sagt ein Sprichwort.
Es macht mir Freude, wenn ich geben darf und mir gegeben wird, aber es macht mir keine Freude, anderen etwas wegzunehmen.
Malda hat wieder einmal Pläne, sich von Ivo Fechtner zu trennen. Sie meint, mit so einem gefühlskalten, berechnenden Menschen wolle sie nicht mehr zusammen sein.
Mich schaudert, wenn ich daran denke, daß Ivo Fechtner sich erst vor Kurzem noch eingebildet haben soll, ich hätte seinetwegen eine Spitzenstrumpfhose angezogen.
Am Dienstag war Siddra zum Frühstück bei mir. Sie hatte für Constri und mich wieder ein paar hübsche Kleidungsstücke zum Ausgehen mitgebracht. Sie verkauft uns Teile ihrer Abendgarderobe für wenig Geld, weil sie in gewissen Zeitabständen ihren Kleiderbestand erneuert und ersetzt.
Siddra erinnerte sich an "früher", als Luisa noch mit Rafa zusammen war. Wenn Luisa seinetwegen "Frust hatte", lud sie Siddra zum Weizenbier ein und redete sich den Ärger von der Seele. Rafa soll sich häufig schlecht benommen haben. Eine Zeitlang soll er so arrogant und zickig gewesen sein, daß keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte. Das Ergebnis war, daß Rafa ganz kleinlaut wieder ankam und Sachen sagte wie:
"Naa, wie geht's dir denn?"
Daraus schließt Siddra, daß Rafas arrogantes Verhalten eine Fassade ist.
Als Siddra Rafa erzählte, Gart habe sich von ihr getrennt, weil sie so oft mit ihm schlafen wollte, meinte Rafa:
"Aber das ist doch gerade gut!"
Nun wollte Siddra mir empfehlen, Rafa mit der Bereitschaft zum Sex anzulocken. Ich entgegnete, daß Rafa von zahlreichen Mädchen Sex haben kann, so viel er will und wann immer er will. Ich stelle mich mit diesen Groupies nicht in eine Reihe.
Rafa soll 1993 mehrmals versucht haben, bei Siddra zu landen, freilich ohne Erfolg. Siddra war damals in Dolf verliebt. Rafa soll ihr übrigens erzählt haben, daß Dolf sich gerne auspeitschen läßt.
Einmal lehnte Siddra in einem engen Kleid an einer Wand. Rafa ärgerte sie, indem er sie in den Bauch piekte und zu ihr sagte:
"Du wirst auch immer dicker."
Als Luisa die Szene der Schwarzgekleideten verließ, bat Siddra sie, ihr einige ihrer schönen Kleider zu verkaufen. Luisa wollte aber keines hergeben.
Das Geld für die Kleider soll Luisa als Aushilfe in der Keksfabrik verdient haben, wo Rafas Bruder Toto seit Langem beschäftigt ist. Wahrscheinlich hat Toto ihr diesen Job vermittelt.
Zu privaten Treffen ist es zwischen Siddra und Luisa nie gekommen. Der Kontakt ist abgebrochen, seit Luisa nicht mehr ins "Elizium" geht.
Siddra ist wieder einmal mit Sator zusammen. Sator scheint eine besondere Verehrung für meinen flüchtigen Bekannten Ramin zu empfinden, die so weit geht, daß er teilweise Ramins arrogantes Verhalten übernommen hat. Ramin hat schöne honigfarbene Augen, doch dahinter verbergen sich Oberflächlichkeit und Langeweile. Seine Freundin und er beschäftigen sich damit, einander zu bestätigen, daß die Mitmenschen es nicht wert sind, sich mit ihnen zu beschäftigen. Für Ramin sind denn auch die meisten seiner alten Bekannten - darunter auch ich - seit Jahren Luft. Sator findet sich auf einmal ebenfalls zu fein für allerlei Leute und will sich auch mit mir nicht mehr abgeben. Siddra hat Sator erst vor Kurzem ordentlich zurechtgestutzt, weil er sich sogar zu fein vorkam für sie als seine eigene Freundin. Die Predigt hatte immerhin den Erfolg, daß Sator sich seltener mit Ramin trifft, netter zu Siddra ist und andeutete, mich gemeinsam mit Siddra besuchen zu wollen.
Am Mittwoch waren wir im "Zone", Sarolyn, Terry, Constri, Revil und ich. Gleich zu Anfang lief ein Block Industrial. Das Mittwochsprogramm gestaltet DJ Les, der mich noch aus der "Ruine" in HB. kennt und mich freudig begrüßte.
Als ich gerade auf der Tanzfläche war, rauschte Sten heran und kniff mich zur Begrüßung in den Arm. Er mußte sehr viel getrunken haben, war aber ansonsten recht artig.
Zwischen Aimée und Sten soll seit Kurzem Schluß sein. Das scheint aber nicht zu übermäßigen Feindseligkeiten geführt zu haben, denn Aimée und Lessa waren mit Sten gekommen.
Ivco war mit Lara und Harriet im "Zone". Ivco unterhielt sich längere Zeit mit Constri und mir. Er wirkte offen und gesprächig. Lara erschien dagegen eher wie ein kleines, stilles Anhängsel. Sie soll jetzt viel mit Ivco unterwegs sein, vielleicht um Rafa vorzuführen, daß sie ohne ihn leben kann.
Les spielte wie beim letzten Mal "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa. Das Stück wird im "Zone" gut angenommen. Revil schleifte Constri auf die Tanzfläche, die sich heftig und letztlich erfolgreich wehrte.
Lessa und Aimée wurden mit der Zeit immer aufdringlicher; vielleicht hatte das mit dem steigenden Alkoholpegel zu tun. Zunächst begnügte Lessa sich noch mit dem Versuch, Constri und mir unsere Begleiterinnen "abzuwerben", indem sie sich neben Constri und Terry stellte und mit Terry zu reden begann. Später hüpften Lessa und Aimée auf der Tanzfläche um Constri und mich herum und lachten betont laut. Als Constri und ich dem keine Beachtung schenkten, wagte sich Lessa immer weiter vor. Sie umhoppelte Constri und mich in Achterform, kam uns dann immer näher und fing schließlich an, mich beim Tanzen zu hauen. Das reichte. Ich schnappte mir Constri, und wir liefen zu den Türstehern. Einer der Türsteher kam mit uns in den Tanzraum, wo Lessa und Aimée sich inzwischen versteckt hatten. Sten zeigte mit schwankendem Arm in die Richtung, wohin sie geflüchtet waren. Wir fanden die Mädchen in einer dunklen Ecke. Der Türsteher nahm Lessa beiseite. Constri und ich tanzten weiter. Ich vermute, der Türsteher hat Lessa mit einem Rauswurf gedroht. Nach seiner Predigt schoß Lessa nämlich auf mich zu und brüllte:
"Trau' du dich bloß nochmal ins 'Elizium', dann mache ich dich platt!"
Sie belästigte Constri und mich aber nicht mehr.
Constri und ich haben nachgelesen, daß Lessas Verhalten zu dem Bild einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung paßt. Eine solche Störung kann emotionale Labilität und Oberflächlichkeit umfassen, aufdringliche Anhänglichkeit, Egozentrismus, kindlich-naives Schwarz-Weiß-Denken, aggressiv-streitsüchtiges Verhalten, argwöhnisches Hineindeuten böser Absichten in neutrale Äußerungen anderer Menschen, die Fähigkeit, Bindungen einzugehen ohne die Fähigkeit, Bindungen aufrechtzuerhalten, das Ablehnen von Verantwortung, einen Mangel an Geduld und ungerichtete Zerstörungswut.
"Daß du auch immer an solche Verrückte geraten mußt", stöhnte Constri.
"Es kann daran liegen, daß ich so viele Leute kenne", vermutete ich. "Je mehr man kennt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Verrückte dabei sind. Außerdem sind manche Verrückte sehr aufdringlich und spielen sich rasch in den Vordergrund. Wenn sie entlarvt sind, verschwinden sie auch wieder sehr schnell aus meinem Bekanntenkreis."
Carl hat inzwischen einen Jungen namens Soran kennengelernt und sich auch ein bißchen in ihn verliebt. Soran ist nett und zugänglich. Carl nahm ihn mit zu Revils Geburtstagsfeier. Spätabends fuhren wir noch zur "Halle", Sarolyn, ihr Freund Teddy, Rikka, Constri, Carl, Soran, Saara, Danielle und ich. Teddy hatte getrunken und provozierte mit Nazi-Sprüchen. Ich sagte dazu, es sei doch wichtig, daß man die Meinung Andersdenkender toleriere; er selbst wolle ja schließlich auch, daß seine Meinung toleriert werde. Teddy lenkte ein mit den Worten, immerhin halte er sich an die Gesetze.
Sarolyn hat schon versucht, sich von dem kindlich-naiven, unselbständigen Teddy zu trennen, doch sie brachte es noch nicht übers Herz. Vor allem stört sie an Teddy, daß er sich gern nach anderen Frauen umdreht.
Rafa konnte nicht in der "Halle" sein, denn er hatte einen Auftritt in NDH. Ich fragte Hoffi, ob Rafas neue Freundin nach NDH. mitgefahren ist. Hoffi nickte.
Allen Leuten, die mir in der Szene begegneten, erzählte ich von Lessas Drohungen und Rempeleien. Das Ergebnis war, daß Lessa in der "Halle" aus vielen Augen beobachtet wurde. Lessa redete auf Saara ein und versuchte wahrscheinlich, sie auf ihre Seite zu ziehen. Saara fühlte sich durch Lessa belästigt und zeigte ihr das auch. Lessa trank viel und führte uns eine Art One-Woman-Show vor. Sie hatte sich die Haare so herunterfallen lassen wie Rafa; außerdem trug sie eine Sonnenbrille mit runden Gläsern und versuchte, wie Rafa zu tanzen - sie trampelte auf der Stelle und ruderte mit den Armen. In dieser Hinsicht hatte sie etwas mit Darryl gemeinsam. Darryl hat früher Kappas Äußeres imitiert, jetzt imitiert er Rafa. Er trägt die Haare so wie er, und er hatte auch ein schwarzes Sakko an und ein weißes Hemd.
Darryl ist ein Mensch, der etwas abseits von der Wirklichkeit lebt. Er fabuliert wie Münchhausen, und an diese Märchen glaubt er dann auch noch. Es ist anzunehmen, daß er Lessa ebenfalls glaubte, als sie ihm ihre wirren Geschichten erzählte.
Lessa schüttete ihrem Ex-Freund Simon Bier ins Gesicht, und als Simon deshalb auf sie losging, wurde er von Darryl angegriffen. Simon wehrte Darryl ab. Lessa trank noch mehr und zog sich mit Darryl in einen stillen Winkel zurück. Weil sie mit dem Trinken und mit Darryl so beschäftigt war, konnte ich meistens ungestört tanzen. Unter anderem liefen "Born slippy" von Underworld und "Join in the Chant" von Nitzer Ebb.
Zu siebt fuhren wir gegen vier Uhr ins "Elizium". Aimée war dort, und sie bemühte sich um Luc. Um Lessa kümmerte sie sich wenig, und mich ließ sie ganz in Ruhe.
Daß Lessa mich beim Tanzen stören würde, war abzusehen. Hermine Wilson kam mir zur Hilfe. Sie versteht sich gut mit der Freundin eines "Elizium"-Türstehers, der schweren, kräftigen Agi. Hermine besprach sich mit Agi, und die beiden setzten sich an den Rand der Tanzfläche, um abzuwarten, ob Lessa gewalttätig wurde. Es dauerte nicht lange, bis Lessa wieder anfing, um mich herumzuhoppeln und mit den Armen nach mir zu schlagen. Ich flüchtete zu dem Tisch von Hermine und Agi. Die beiden waren aber gar nicht mehr da.
"Laß' uns tanzen!" rief Agi laut, schnappte sich die zierliche Hermine und schob sich wie eine Dampfwalze auf Lessa zu.
Lessa ergriff sofort die Flucht. Sie tanzte überhaupt nicht mehr weiter und verließ das "Elizium" schon bald. Ich sprach den beiden Helferinnen meinen Dank aus und freute mich, endlich freie Bahn zu haben.
Spherics Programm gefällt mir zunehmend besser, unter anderem spielte er "Head down" von Sonar, "Born slippy" von Underworld und "Planet Claire" von B 52's.
Morgens holten Constri und ich frische Brötchen, die belegte ich mit Mozzarella und Mozzarella-Tomaten-Plätzli. Constri erzählte von ihrer Feststellung, daß sie mit Derek immer nur dann Ärger hat, wenn er trinkt, daß also der Alkohol wie eine Zauberflüssigkeit den "bösen" Derek aufweckt.
Um Mitternacht bekam ich Halsweh und hatte folgenden Traum:

"Es ist bescheuert, alleine zu wohnen", sagte ein Mädchen, das in meinem Zimmer stand.
"Stimmt", erwiderte ich. "Aber ich will ja, wenn, dann nur mit Rafa zusammenwohnen. Rafa ist so ein lieber Kerl, aber halt auch furchtbar zickig."
Ein Mädchen, das auf meinem Bett saß, erzählte unvermittelt, Rafa habe in einer Hochglanz-Designer-Zeitschrift inseriert, weil er jemanden suche, mit dem er zusammenwohnen könne. Das erschien mir wie ein Wink des Schicksals. Ich wollte auf die Anzeige antworten, obwohl ich mir nicht viel davon versprach.

Es ist wirklich nicht gut, alleine zu leben, vor allem wenn man krank ist. Ich wachte mit über neununddreißig Grad Fieber auf und mußte herumtelefonieren, um Hilfe zu bekommen.
Clara hat erzählt, daß eine Kommilitonin von ihr, Serena, mit einem engen Freund von Ivco zusammen ist, Craig. Serena kennt Luisa und Rafa noch von früher, und sie "haßt Rafa", wegen der Art, die er an sich hat. Rafa soll zu dieser Art des Auftretens einmal erklärt haben:
"Sobald ich die Haustür hinter mir zumache, habe ich eine Maske auf."
Ich weiß aus Erfahrung, daß Rafa diese Maske durchaus auch in seinem Zimmer aufhaben kann und daß er sie auch außerhalb des Hauses fallen lassen kann, etwa auf der Pressetribüne der "Halle" oder bei mir im Bett. Mich würde es auch nicht wundern, wenn Rafa diese Maske bei seinen Abenteuern mit wahllos zusammengesuchten Frauenzimmern aufbehält, als einziges Kleidungsstück sozusagen.
Ich finde es immer wieder beeindruckend, wie wenig Bedeutung der enge Körperkontakt beim Sex für viele Menschen hat. Für Rafa scheint Sex in der Tat so banal zu sein wie Zigaretten.
Ivco soll einmal sehr wütend auf Rafa gewesen sein. Damals verwendete Rafa ihn als Fahrer zu einem Auftritt im Osten und versprach ihm, daß man dort übernachten werde. Als das Konzert aber vorbei war, wollte Rafa sogleich den Rückweg antreten. Ich weiß nicht, ob Ivco das mitgemacht hat. Ich hätte es nicht mitgemacht, und wenn Rafa noch so sehr gejammert und geflucht hätte.
Am Mittwoch rief Lessa bei Saara an und fragte, ob ich, Hetty, denn am Abend ins "Zone" fahren würde.
"Nein, die liegt krank im Bett", gab Saara Auskunft.
"Schade", zirpte Lessa. "Ich wollte nämlich heute mit Rafa und Sten ins 'Zone' fahren."
Ace brachte an diesem Abend im Radio ein Special über Rafa. Es dauerte fast eine halbe Stunde. Wie bei dem Special im letzten Jahr zeigte Rafa nicht seine richtige Stimme. Er sprach durch den Verzerrer, was bedeuten sollte, daß die Stimme "aus dem Orbit" kam. In Wahrheit wird Rafa seine Stimme deshalb verzerrt haben, weil er unsicher war. Schüchtern stammelte und nuschelte er die Sätze herunter und verhaspelte sich auch noch, was nicht so recht zu seiner kühlen Computerstimme passen wollte. Er erzählte, daß der "Tanzpalast 2000" eine Radiostation oder Disco sei, ein Treffpunkt für "Leute, die das Konzept verstanden haben" und die sich "am letzten Tag, bevor die Welt dann halt irgendwie untergeht, zusammensetzen, um etwas zu ändern" - was allerdings und wie, das ließ er im Unklaren. Was für ein "Konzept" er meinte, erklärte Rafa ebensowenig.
Zum Thema "Bill Gates" sagte Rafa, "eine Freundin" von ihm habe sich kürzlich einen Rechner angeschafft und müsse nun laufend neue Software besorgen, und das sei immer mehr und mehr und mehr Geld für Bill Gates.
Wenn ich "Freundin" höre, denke ich nicht an Bill Gates, sondern an die Barfrau von der "Halle", Rafas Eroberung.
Rafa lobte "Fred vom Jupiter", weil das Stück so besonders kindlich sei. "Je kindlicher, desto besser" scheint für Rafa im Hinblick auf Musik zu gelten. Vielleicht ist das Kindliche für ihn so wichtig, weil es ihn unschuldig erscheinen läßt.
Insgesamt redete Rafa nicht sehr viel. Die meiste Zeit im Special wurde verwendet, um seine Musik vorzuspielen.
Es gab nur Stücke von dem aktuellen Album zu hören. Von Sängerinnen war nicht die Rede. Einmal erzählte auch Dolf kurz etwas, von einem Liederbuch aus der ehemaligen DDR, in dem man den Text der "Moorsoldaten" gefunden habe. Dolf quäkte seinen Part ziemlich selbstsicher und gelassen.
Als ich Clara vorspielte, was Rafa im Radio gesagt hat, meinte sie:
"So kenne ich den gar nicht. Der klingt doch wie so ein ganz kleines, schüchternes Männlein."
In der Nacht habe ich Folgendes geträumt:

Ein Mitglied des organisierten Verbrechens hatte den Auftrag, Rafa zu töten. Rafa wußte das aber nicht. Ich kam dem Killer in die Quere und wurde deshalb von diesem bis in mein Zimmer verfolgt. Ich stand auf dem Bett, der Killer stand in der Tür und richtete seine Pistole auf alles, was mit Rafa zu tun hatte. Durch Worte und Gesten lenkte ich ihn ab, und er richtete die Pistole auf mich.
"Erst mache ich dich kalt und dann ihn", sagte der Verbrecher.
Ich lenkte ihn wieder ab. Der Killer trat in die Mitte des Zimmers. Ich zog selbst eine Pistole und schoß den Mörder in die Brust, zwölfmal, bis er sich endlich nicht mehr rührte.
Mein Bettüberwurf war etwas schmutzig geworden, und das ärgerte mich. Außerdem war ein gehäkeltes Spitzentüchlein zwölffach durchlöchert.
"Ach, das war eben der Preis", nahm ich es mit einem Seufzen hin.
Auf dem Flur lief ein Mädchen herum. Es hatte lange schwarze Haare, wie sie Rafas neue Freundin trägt. Das Mädchen blitzte mit einer Pocket-Kamera und suchte Sensationsmotive. Ich scheuchte es von meiner Zimmertür weg.
"He, was hast'n da zu verbergen?" fragte das Mädchen laut und aggressiv.
"Hier gibt es nichts zu verbergen", erwiderte ich bestimmt, "aber was in meinem Zimmer ist, geht dich nichts an."
Ich dachte, daß es Zeit wurde, die Polizei zu rufen, damit sie eher da war als die BILD-Zeitung.

Am Samstag hätte ich gern mit Constri, Reesli und Hendrik das Industrial-Festival im "Radiostern" in SZ. angeschaut, bei dem auch Sonar und die Hybryds mitgewirkt haben. Aber ich war immer noch krank; es kommt mir manchmal vor, als wenn ich gar nicht mehr gesund werde.
Für Rafa würde sich kaum etwas ändern, wenn ich nicht mehr da wäre. In seinem Leben ist ohnehin kein Platz für mich. Es ist ihm gelungen, sich dauerhaft von mir abzuwenden, und es könnte sogar eine Erleichterung für ihn sein, wenn ich ihm nie mehr begegne.
Hendrik hat am Sonntag erzählt, daß auf dem Festival fleißig getanzt wurde, als Sonar auftraten. Leider waren nicht viele Besucher da; das kann daran gelegen haben, daß Ostern war und daß es gleichzeitig in BS. ein Konzert von Lacrimosa gab.
Von Saara erfuhr ich, daß Lessa und Aimée auch im "Radiostern" waren. Lessa zeigt ein Verhalten wie der Sockenschuß, der früher ebenfalls überall dort erschien, wo er mich vermutete, selbst wenn es andere Städte waren. Ich frage mich, ob Lessa mich nun auch jahrelang verfolgen wird.
Am Sonntagmorgen hat um halb sechs einmal das Telefon geklingelt. Vielleicht war das Lessa, die sich ärgerte, weil sie mich im "Radiostern" nicht hatte belästigen können.
Saara hat in letzter Zeit immer wieder seltsame Anrufe bekommen, und nicht nur sie, sondern auch Bekannte von ihr, deren Nummer sich Lessa verschafft hat.
Den Ostersonntag verbrachte ich mit Constri und Carl. Constri und ich backten einen Hefezopf mit Zuckerguß und Mandeln. Constri hatte Eier gefärbt. Von draußen holten wir blühende Zweige. Wie jedes Jahr wurden die Geschenke versteckt.
Ostern bin ich immer traurig, weil Rafa vor vier Jahren am Karfreitag zu mir kommen wollte und stattdessen mit der rotgefärbten Sängerin Tessa zusammengegangen ist. Ich glaube, ich wäre zu Ostern erst dann nicht mehr traurig, wenn ich das Fest mit Rafa verbringen könnte.
Über Rafa gibt es jetzt auch im Internet etwas zu lesen. Die Band wird vorgestellt als "Honey & Dolf, two good old friends". Auf der Website träumt Rafa von einer "Welt aus Chrom und Laserstrahl" und von "Computergefühlen". Er verehrt den Fortschritt, über den er gleichzeitig schimpft.
"So komme auch du am Tag 'X' inklusive deines Gehirns in den Tanzpalast 2000", fordert Rafa den Leser auf.
Das bedeutet vielleicht, daß alle Leute kommen sollen, wenn Rafa ein Konzert gibt. Sie sollen ihr Gehirn mitbringen, damit sie die Welt so sehen wie er und zu seiner Musik tanzen.
Eine Woche später ging es mir besser, und ich war mit Constri hintereinander auf zwei Parties. Die erste gab Adi, und dort haben wir vorwiegend gegessen und mit unseren Bekannten geplaudert. Gegen ein Uhr kamen wir zu Janssen. Dort gab es nichts mehr zu essen, und ich war froh darüber, ein paar Lakritzen mitgenommen zu haben. Constri und Zoë saßen auf einem Sofa und schlachteten die letzten Schokoladeneier von Ostern. Dann näherte sich Schrader, über den ich sagte, er werde ewig halten, da er sich immer so ordentlich in Alkohol einlege. Schrader fiel rücklings in die Schokoladeneier und blieb für eine Weile auf dem Sofa liegen. Er wurde mit Ostergras dekoriert und fotografiert. Wir hofften, daß er nicht mehr aufstehen würde, aber leider tat er es doch. Hinten am Pullover hatte er lauter braune Flecken von den Schokoladeneiern. Weil er nicht mehr aufrecht gehen konnte, lehnte er sich an den Türpfosten und hinterließ dort auch lauter braune Flecken. Trotzdem hielt er sich anscheinend für unwiderstehlich. Er lallte den Damen Komplimente ins Ohr, bis ich Brinkus darum bat, ihn wegzuschaffen. Brinkus versprach es, verschwand aber stattdessen mit Schrader im Klo und half ihm dort wohl beim Übergeben.
Um halb fünf kamen Zoë, Constri und ich ins "Elizium". Luie spielte fast alle meine Wünsche, und Constri meinte, so viel habe sie im "Elizium" schon lange nicht mehr getanzt. Lessa war bereits fort, und wir wurden nicht gestört.
Saverio erzählte von seiner neuen CD, die er kürzlich fertiggestellt hat. Ich sprach ihn auf einem Vorfall im letzten Winter an, von dem Carl mir erzählt hat:
"Ich habe gehört, kürzlich hast du Carl in der U-Bahn voll angegiftet. Stimmt das?"
"Ich habe mich ihm gegenüber nur absolut fair verhalten", meinte Saverio.
"Was hast du denn gesagt?" fragte ich nach.
"Ach, weiß ich nicht mehr", behauptete Saverio.
Ich wechselte das Thema, um ihm nicht das Gefühl zu geben, ausgehorcht zu werden.
Laut Carl ist Saverio damals mit Tinus und Edna in die Stadtbahn gestiegen, in der Carl gerade saß. Ohne daß dem ein Wortwechsel oder sonstige Ereignisse vorausgingen, wandte Saverio sich im Vorbeigehen drohend an Carl:
"Wenn ich dich jetzt alleine getroffen hätte, hätte ich dir eins in die Fresse gehauen!"
Carl wußte gar nicht, wie ihm geschah. Er rührte sich nicht und sagte nichts. Saverio scheint seine Aggressionen gegen Carl selbst nicht erklären zu können; er hätte sonst wohl nicht behauptet, nichts mehr davon zu wissen.
Um sieben holten Onno, Revil, Zoë, Constri und ich Brötchen vom Bäcker im Hauptbahnhof, und wir frühstückten bei mir. So könnte das von mir aus an jedem Wochenende sein, zumindest solange ich ohne Rafa auskommen muß.
Saara war in jener Nacht in der "Halle", wo eine Depeche Mode Party stattfand. Sie sah Rafa an der Bar unterm Balkon sitzen und mit Genna reden. Zuerst erkannte Saara ihn nicht und schaute etwas verwundert, als er ihr "Hallo" sagte. Dann beschloß sie, ihn zu ärgern. Sie erwiderte seinen Gruß nicht und versuchte lediglich, ihn so herablassend wie möglich anzugucken. Etwas später übernahm Rafa das DJ-Pult. Saara stellte sich mit Lara an den Rand der Tanzfläche. Rafa kam zwischendurch herunter und tanzte dicht vor Saara. Die blies ihm mit verächtlicher Miene Zigarettenrauch ins Gesicht. Da ging Rafa sogleich wieder hinauf ans Pult.
Rafa hat in der "Halle" Flyer verteilt für seinen Auftritt am 21.05. im "Inferno". Er gab Lara einen, jedoch nicht Saara, obwohl diese neben Lara stand. Er kam aber später noch einmal her und gab Lara den Flyer für Saara.
Als Rafa eines seiner Lieblings-NDW-Stücke spielte, ruderte er hinterm Pult mit den Armen wie ein Flugzeug. Albern konnte er also immer noch sein. Wie glücklich er wirklich war und mit wem er glücklich war, konnte man nicht erkennen. Saara fiel auf, daß er für ein Weilchen verschwand. Sie ging mit Velvet hinter den Vorhang, dorthin, wo Rafa Anfang März mit dem Barmädchen verschwunden ist. Sie fanden Rafa in einem Winkel auf einer Bank sitzen, ein Mädchen neben sich. Wahrscheinlich handelte es sich in der Tat um das Barmädchen. Einen Austausch von Zärtlichkeiten konnte Saara zwischen den beiden nicht beobachten. Das heißt freilich so viel wie alles und nichts.
Ich sagte zu Saara, daß sich Rafa nun wohl nicht mehr trauen werde, über sie eine Verbindung zu mir herzustellen. Wenn man ihn so vor den Kopf schlägt, wie sie es getan hat, verliert er jedes Vertrauen. Saara kann Rafa keine Kontinuität und damit auch keine Autorität bieten.
Am Mittwochabend versammelten sich alle bei mir, die mit ins "Zone" fuhren. Sarolyn zeigte uns ihr Fotoalbum, in dem mehrere Fotos von Rafa zu finden sind, aus der Zeit von 1992 bis 1994. Von einigen dieser Fotos hat Laura mir im vergangenen Jahr Abzüge machen lassen, die sie mir zum Geburtstag schenkte. Sie hatte mir damals ihre Quelle nicht verraten wollen.
Luisa, Siddra, Dolf, Ivco, Inya, Ivo Fechtner und der Sockenschuß sind ebenfalls in Sarolyns Album zu sehen. Auf einigen Fotos ist ein sehr unschönes, ordinär wirkendes Mädchen abgebildet, das sich die rotgefärbten Haare besenähnlich hochgestellt hat. Es ist Felicitas aus dem Osten. Mimik und Styling von Felicitas erinnern mich an die Sängerin Tessa.
Für mich ist und bleibt unfaßbar, wie Rafa mit solchen Geschöpfen ins Bett gehen kann. Vielleicht fühlt er sich durch sie gegen ungeliebte Gefühle abgeschirmt und hat den Eindruck, daß sie ihn weit von ihm selbst wegtragen, so daß er sich nicht mehr wahrnimmt und sich von sich selbst befreit fühlt. Vielleicht findet er das Zusammensein mit sich selbst so unerträglich, daß ihm jeder willkommen ist, der nicht zu ihm paßt und ihm vermittelt, ein ganz anderer zu sein als der, der er eigentlich ist. Telgart hat es so beschrieben, daß sich hinter einem gefühllosen, routinierten und wahllosen Liebesleben ein gestörtes Selbstwertempfinden verbirgt.
Rafa wirkt auf einigen Fotos durchaus natürlich und gelöst; er lacht sogar. Ich sehe ihn da so, wie ich ihn kenne und wie er mir vertraut ist. Leider versteckt er seine Augen auf den meisten Bildern hinter einer Spiegelbrille.
Auf einem Foto sieht man Rafa in Sarolyns Bett. Er verbirgt sein Gesicht zur Hälfte im Kissen und guckt, als hätte er eine Menge auf dem Kerbholz. Rafa hat Sarolyn vor Jahren besucht und behauptet, seinen Zug verpaßt zu haben und bei Sarolyn übernachten zu müssen. So kam er in ihr Bett. Was in dem Bett passiert ist, weiß ich nicht. Sarolyns Eltern sollen jedenfalls einen mittelschweren Schock erlitten haben, als Rafa ihnen anderntags im Gehen freundlich einen guten Morgen wünschte.
Im "Zone" fand dieses Mal als kurzweilige Einlage gegen Mitternacht eine Modenschau statt. Auf der Bühne stellten sich zwei Jungen in Mönchskutten auf, einer rechts und einer links, jeder mit einem vierarmigen Kerzenleuchter in der Hand. Es wurden Samtkleider mit Reifröcken vorgeführt, Umhänge, Rüschenhemden, handgefertigte Kettenhemden und Kleidung aus Lack. Die Kettenhemden sind aus Edelstahl und sehr teuer.
Constri und Derek waren in der Freitagnacht bei Folter. In dem Altenheim, wo Folter arbeitet, gibt es viele Demenzkranke, die nachts andauernd schreien. Folter hat erzählt, daß es auf der Station, wo er Nachtdienst hat, inzwischen zwölf Leute sind, die für die Lärmkulisse sorgen. Mit einem Kassettenrecorder hat Folter eine Dreiviertelstunde lang das Geschrei aufgenommen. Dann hat er es einer der schreienden Heimbewohnerinnen vorgespielt, und als sie das hörte, war sie ruhig.
Dieses Geschrei - "Hiilfe! Hiilfe!" - klingt automatenhaft, nicht willentlich gesteuert. Es erinnert an einen Bildschirmschoner. Ciril hat sich das Material überspielt, um es als Sample für Industrial-Musik zu verwenden. Seine CD's sollen sich gut verkaufen.
Industrial ist eine schonungslose Musik, die Tragik und Verfall ebenso darstellt wie Leidenschaft und Aggression. In dieser Musik gibt es keine Tabus, nur die nackte, oft grausame Wahrheit.



Mitte April waren wir wieder im "Zone". Les spielte für uns "He colored me blind" von Haus Arafna und "La La La La" von Esplendor Geometrico. Kurz nach Mitternacht entdeckte ich unweit von mir Rafa an der Theke. Ich hielt den Abstand, den ich hatte, und beobachtete ihn. Rafa trug Sakko und Fliege. Er wirkte heiter auf mich, überdreht-heiter. Es dauerte ein wenig, bis unsere Blicke sich begegneten. Rafa strahlte wie ein Autoscheinwerfer, den man auf Fernlicht hochstellt. Er hob seine Hand und winkte mit vier Fingern. Ich lächelte ebenfalls und hob die Hand. Gleich darauf sah Rafa wieder weg.
Ein Mädchen war nicht bei ihm, dafür war Ivco da. Mit Ivco redete ich kurz. Ich erzählte ihm, daß Rafa sich offenbar nicht traute, mit mir zu sprechen, und daß ich auch nicht auf ihn zugehen durfte. Dasselbe erzählte ich auch Cal aus OS. und Zoë.
"Er ist so süß, und ich kann nicht mit ihm reden; das macht mich wahnsinnig", sagte ich zu Zoë.
Falls Rafa meine angespannte Verfassung mitbekommen hat, ließ er es sich nicht anmerken. Er zeigte nach einer Weile zum hinteren Saalausgang und ging mit Ivco an mir vorbei zum Tischfußball. Er hielt sich so, daß ich ihn nicht mit meinen Händen erreichen konnte.
Nach dem Spielen kam Rafa in den Saal zurück, und er blieb zunächst auf der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche. Ich stand gerade wieder bei Sarolyn, da kam Rafa mit Ivco auf uns zu. Ivco begrüßte Sarolyn und redete mit ihr. Rafa stand mir nun schutzlos gegenüber. Er guckte etwas unsicher und ging eilig zur Bar.
"Wir müssen schon um eins weg", erzählte ich Ivco, "da hat der Rafa gar keine Zeit mehr, um sich irgendetwas zu trauen."
"Ja, wir wollen auch bald fahren", sagte Ivco.
Ich nahm mir meinen Fächer und beobachtete Rafa. Es dauerte etwas, ehe er sich mir zuwandte. Er zwinkerte mir lächelnd zu. Als ich das Lächeln erwiderte, zeigte Rafa mit hämischem Blick auf irgendein Mädchen, das gerade neben mir stand, als wollte er mir bedeuten:
"Du warst doch gar nicht gemeint!"
Das Mädchen schien sich geehrt zu fühlen.
"War" von :wumpscut: begann, und ich ging auf die Tanzfläche. Später sah ich Rafa in der Nähe des DJ-Pults mit einem Mädchen sprechen. Argwöhnisch schaute ich nach, ob er das Mädchen berührte. Rafa drehte sich so, daß erkennbar war, daß er es nicht berührte. Das Mädchen war blond; also handelte es sich nicht um die Barfrau aus der "Halle".
Das "Palästinalied" von Qntal begann. Danach spielte Les "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa, und ich verließ die Tanzfläche und ging zu Sarolyn, Malda und Zoë an unseren Tisch. Wir wollten unsere Mäntel anziehen und heimfahren. Rafa ging mit eiligen Schritten in meine Richtung, und ich legte meinen Mantel wieder auf den Stuhl. Aus den Boxen tönte:
"... sagst du zu mir: 'Ich liebe dich.'"
Rafa stürzte auf mich zu und sang mir laut und deutlich die nächste Textzeile ins Ohr:
"Doch diesem Frieden trau' ich nicht!"
"Ich liebe dich wirklich!" rief ich und schlang meine Arme um ihn.
Mit einem aufgebracht hervorgestoßenen
"Oh - echt - jetzt laß' doch mal los, ja?"
schüttelte er mich ab und marschierte weiter.
Ich zuckte die Achseln und ging zu den Mädchen, um ihnen zu berichten, daß das Lied "Schweben, fliegen und fallen" mit hoher Wahrscheinlichkeit auf mich gemünzt ist.
Rafa hat mir gewissermaßen auch einen Hinweis darauf gegeben, weshalb er sich nicht mit mir unterhält: Er traut mir nicht. Er glaubt, ich sei falsch.
"Wie kann ich dir zeigen, daß ich dich liebe, wenn wir keine Zeit miteinander verbringen?" will ich ihn fragen.
Les knuddelte mich zum Abschied und küßte mich auf die Wange. In der Nähe des Ausgangs saß Rafa an einer Theke. Als ich an ihm vorbeikam, verabschiedete ich mich mit einem Lächeln, und er sah mich und lächelte auch.
Wir warteten noch kurz am Ausgang, damit Zoë ein letztes Mal tanzen konnte. Rafa stand in sicherer Entfernung am Rand der Tanzfläche und wirkte etwas verloren. Zu Sarolyn hatte er gesagt, er könne Ivco nicht finden.
Am Scheibenwischer von Sarolyns Auto klemmte ein Flyer von Rafa, für dessen Konzert im "Inferno" am 21.05.
Samstags nahmen wir Merle mit in die "Halle". Alle zwölf kletterten wir durch das Loch im Zaun des ehemaligen Fabrikgeländes; so kommt man am schnellsten in die "Halle". Onno legte sich in seiner unglücklichen Art mit den Türstehern an. Er läßt sich leicht provozieren und kann andere Menschen schlecht einschätzen. Und Türsteher sind nun einmal meistens nicht viel anders als Kettenhunde, und man sollte auch dementsprechend mit ihnen umgehen. In diesem Fall beharrte Onno darauf, daß man seinen Mantel vorsichtig anfassen solle. Da dachten die Türsteher gleich, daß er eine Waffe in der Tasche hätte, und sie warfen ihn hinaus. Constri und ich gingen zu Kappa, der ohne Zögern herunterkam, um Onno zu helfen. Kappa stellte fest, daß Onno den Türstehern mit einer Anzeige gedroht und sie beschimpft hatte. Kappa sorgte dafür, daß Onno sein Eintrittsgeld zurückbekam und empfahl ihm, es in zwei Wochen wieder zu versuchen. Unterdessen war das Stück zuende, und Kappa rannte los, um die CD zu wechseln. Er tat mir leid, denn nun mußten die Leute denken, er hätte es wieder einmal nicht geschafft, mit dem CD-Player richtig umzugehen. Constri und ich sagten ihm später noch, wie nett wir es fanden, daß er helfen wollte.
"Das ist selbstverständlich", meinte Kappa.
"Ja, aber nicht für jeden", entgegnete ich.
Er wirkte gerührt.
Saverio war in der "Halle". Er plauderte mit mir und dann auch mit Carl. Er schien froh darüber zu sein, daß Carl vorerst Saverios heterosexuelles Leben akzeptiert. Er tanzte auch mit Carl.
Berit erzählte, daß Yasmin sich ein Zauberbuch gekauft hat. Damit will sie Rafa beschwören.
Yasmins Geburtstagsgeschenk für Rafa war ein Essen zu zweit. Als Termin war zuletzt der 16.04. bestimmt worden. Rafa kam aber nicht, sondern fuhr ins "Zone", wo ich ihn dann getroffen habe. Yasmin soll immer noch glauben, daß Rafa eines Tages zu ihr kommen wird.
Solche Geschichten wecken in mir immer die Furcht, auch nichts anderes als ein armseliges Groupie zu sein. Ich führe mir dann vor Augen, daß ich mir kein Zauberbuch gekauft habe und daß ich mir auch keineswegs sicher bin, Rafa zu bekommen. Außerdem kannte ich Rafa schon, bevor er eine Bühne betreten hat.
Berit hat auch noch erzählt, daß Rafa bei der Depeche Mode Party Anfang April lauter Zettel beschrieben hat, die er seiner Freundin gab. Was diese Spielerei sollte, ist unbekannt.
"Die ist so widerlich, die Frau", ist Berits Urteil über die Freundin.
Ich bin noch nicht dazu gekommen, genauer nachzufragen, weshalb die Freundin widerlich ist. Jedenfalls scheint Rafa mit ihr spielen zu können.
Sten trat in der "Halle" auf. Ich ertappte mich dabei, wie ich über dieses Konzert drei verschiedene Urteile abgab, je nachdem, mit wem ich sprach.
"Das ist mystisch", schwärmte ein Mädchen namens Doreen. "Jetzt, das hier, das ist melodisch!"
"Ja, das ist sehr melodisch", nickte ich.
"Also, die Band ist diesmal wirklich schlecht", fand ein Junge namens Tim.
"Stimmt", sagte ich.
Sten wollte später wissen, wie ich seinen Auftritt gefunden hätte, und ich sagte:
"Nun, es war jedenfalls nicht schlecht."
Ich frage mich, ob ich den Leuten nach dem Mund rede, um ihnen einen Gefallen zu tun - oder nur deshalb, weil ich mir gerne einen Spaß mit ihnen mache. Doreen ist jedenfalls ein Mensch, der so quicklebendig um sich selber kreist, daß man ihr schon zustimmen muß, wenn man seine Ruhe haben will.
"Einer von uns beiden muß geh'n - Doreen", witzelte Zoës Bekannter Pierre über sie.
Freilich hat Doreen auch ihre Vorzüge. Sie ist von ihren Tanzkünsten so überzeugt, daß sie furchtlos mit mir auf dem Podest vor dem DJ-Pult herumspringen konnte. Ich tanze am liebsten auf diesem Podest, weil ich dort genügend Platz habe und weil der Boden dort nicht so glatt ist wie auf der Tanzfläche. Hin und wieder mußten Doreen und ich allerdings den betrunkenen Hoffi beiseiteschieben. Er wollte sich auf unserem Tanzplatz schlafen legen.
Weil Rafa auswärts ein Konzert gab, war Kappa allein am DJ-Pult. Er gab sich Mühe und spielte "Murderous" von Nitzer Ebb, zwei "Firestarter"-Versionen von Prodigy, "Born slippy" von Underworld, meinen Wunsch "Logic System" von Unit und das Kultstück "Black Easter" von Sol Invictus. Es wurde vier Uhr, die Türsteher maulten, und Kappa wies sie zurecht:
"Ich sage, wann hier Schluß ist."
Kettenhunde müssen ihre Grenzen kennen.
Im "Elizium" waren wir gegen Morgen auch noch. Gefrühstückt haben wir im "Nachtbarhaus". An unserem Tisch schlief ein Betrunkener, den hat der Kellner irgendwann abgeräumt.
Rafa wird übrigens wieder offiziell in der "Halle" auftreten, am 28.06., mit Kappa zusammen. Ich kann mir vorstellen, daß ihm die Rezensionen und Berichte in der Presse Mut gemacht haben.
Reesli hatte recht, als er mir erzählte, der Titeltrack einer Fernsehsendung stamme von Rafa. Die Sendung heißt "So bleiben Sie gesund", und der Track ist dem Instrumental von Rafas Clubhit gegen Videospiele entnommen. Da ich Rafa nicht fragen kann, wie er es fertiggebracht hat, den Track ans Fernsehen zu verkaufen, bin ich auf Spekulationen angewiesen. Es könnte bespielsweise sein, daß ein Macher der Sendung ein Fan von Rafa ist. Vielleicht hat er eines seiner Konzerte gesehen und sich begeistern lassen.
Daphne will Rafa am Montag in H. gesehen haben, wie er aus einer Haustür kam. Vielleicht hat er seine Freundin besucht.
Am Mittwoch war Rafa nicht im "Zone", dafür kamen Ivco, Lara und Greta. Lara gab uns die Hand. Ivco und ich redeten über Discotheken der Vergangenheit. Mir fiel auf, daß Ivco in seiner Gestik, seinem Tonfall und seiner Wortwahl einiges mit Rafa gemeinsam hat. Wahrscheinlich haben die beiden voneinander viel übernommen. Ivco ist nur ein Jahr älter als Rafa. Die beiden könnten sich seit den "Black Rose"-Zeiten in SHG. kennen.
Im "Zone" war ein Schmuckstand aufgebaut, und ich konnte mir dort endlich den silbernen Ankh kaufen, nach dem ich schon lange suchte.
Ende April waren Constri, Onno, Revil und ich in HH. Wir haben wieder auf den Gleisanlagen fotografiert. Dann haben wir Lisa besucht. Sie hatte Fieber. Also sorgte ich für Tee und deckte den Tisch. Ich fand in meiner Tasche auch noch Süßes und Chips. Onno und Revil hängten sich vor den Fernseher, um Fußball zu gucken. Sie kümmerten sich eher wenig darum, ob Lisa das recht war. Lisa zeigte Constri und mir ihre Fotos vom letzten Mal und schaute sich unsere Fotos an. Sie experimentiert mit Schwarzweißfilmen, und sie macht das sehr schön.
Gegen Abend waren wir bei Heyro und Darien. Mit Darien haben wir Bilder eingescannt. Constri möchte Darien demnächst besuchen, um mehr über Bild- und Videobearbeitung zu lernen.
Nachts wurde wieder beim Griechen gefuttert und bei "Klangwerk" getanzt.
Am Dienstag waren Zoë und Talis bei mir zu Besuch, weil Zoë noch Fotos vom "Base" aus den Achtziger Jahren hat, die sie Talis zeigen wollte. Zoë und Talis kannten sich bis zu diesem Tag überhaupt nicht, obwohl sie damals beide häufig im "Base" waren. Als Talis die regennasse Zoë mit ihren braunen Knopfaugen sah, schien es um ihn geschehen zu sein. Er, sonst ruhig und zurückhaltend, taute auf und lachte sogar. Zoë wollte eigentlich nur kurz bleiben, blieb dann aber vier Stunden lang.
Beim "Tanz in den Mai" im "Elizium" erzählte mir Talis geknickt von seinen Auseinandersetzungen mit Ellen und meinte, er habe bei Zoë so ein gutes Gefühl wie noch fast bei niemandem. Noch nie habe er einem fremden Menschen so schnell so viel anvertraut wie eben Zoë.
Als ich Zoë später erzählte, Talis habe sie nett gefunden, sagte sie:
"Ich finde ihn auch nett. Ja, der ist wirklich nett."



Als ich am Samstag in die "Halle" kam, stand Rafa am DJ-Pult. Das Pult war dieses Mal auf dem flachen Podest aufgebaut, gegenüber dem hohen. Auf das hohe Podest stellte ich mich mit Terry. Rafa trug eine Weste aus weißem Kunstfell mit schwarzen Tupfen. Er ging in einer Art Partnerlook mit Dolf, welcher eine schwarzweiß gescheckte Kunstfelljacke anhatte. Ich war erst kurz in der "Halle", da spielte Rafa ein Industrial-Stück, "Kavau-Drummer" von Noisex. Das Stück ist ein bißchen albern; deshalb gefällt es Rafa wahrscheinlich auch. Ich tanzte, und außer mir tanzte niemand; ich glaube, von den Leuten in der "Halle" kennen die wenigsten Noisex.
Rafa übergab das Pult schon bald an Kappa und unterhielt sich in der Nähe einer Bar mit mehreren Leuten. Es war die Bar unter dem Balkon, hinter der die Bardame steht, mit der Rafa zusammen ist.
Während des Gigs einer eher unbekannten Band kam Rafa auf das hohe Podest und stellte sich wenige Schritt entfernt von mir hin. Ich mußte ihn unentwegt anschauen. Rafa sah nur einmal flüchtig zu mir her, drehte sich aber gleich wieder weg. Er kam noch näher an mich heran, setzte sich an einen Tisch und rauchte. Ein Mädchen mit schwarzgefärbtem Pagenkopf kam zu ihm. Er redete einige Worte mit ihr, dann entfernte sie sich.
Die Band spielte noch, als Rafa wieder nach unten ging. Er wanderte um die Bar herum. Dann stellte sich die Bardame zu ihm an einen Tisch, und so, daß ich die beiden gut beobachten konnte. Sie umarmten und küßten einander ausgiebig, und die Bardame durfte Rafa streicheln, ohne daß er sich wehrte. Es schien, als wenn Rafa mir vorführen wollte, wie zufrieden er sei und daß er mich in keiner Weise benötige.
Ich wußte, daß Terry ins "Elizium" fahren wollte, und ich sagte ihr, daß ich gern mitkäme. Auf dem Weg zum Ausgang sah ich Rafa unweit von mir zum DJ-Pult gehen. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich gesehen hat.
Im "Elizium" war die Musik dann so, daß ich lange Zeit nicht von der Tanzfläche herunterkam. Luie tat mir einen Gefallen und spielte "Head down" von Sonar und das erste Stück von Saverios neuer CD. Ich lobte Saverio für dieses Stück, und ich glaube, das hat ihn gefreut. Luie spielte außerdem "Intense blue" von Die Form, "Born slippy" von Underworld, "Breathe" von Prodigy und "Der Sturm" von Calva y Nada.
Constri, Rikka, Sarolyn, Carl und Zoë kamen später ins "Elizium" nach. Constri, Sarolyn und Rikka berichteten übereinstimmend, Rafa sei nach meinem Weggang für längere Zeit am DJ-Pult geblieben und habe in den CD's herumgewühlt. Eine weibliche Person sei nicht bei ihm gewesen. Zoë war länger als die anderen da und hat gesehen, daß Rafa allein durch die "Halle" marschierte, als es leerer wurde. Er soll mal hier, mal dort mit irgendwelchen Leuten geredet haben. Einmal soll er auch in Zoës Nähe gestanden haben.
"Wie suchend", beschrieb Zoë Rafas Verhalten.
Er wird schon bemerkt haben, daß ich die "Halle" bereits nach einer Stunde wieder verlassen habe. So früh gehe ich sonst nie. Die Frage ist nur, ob in Rafa dadurch Gefühle ausgelöst worden sind.

In einem Traum waren Constri und ich bei Rafa zu einer Party eingeladen. Auf dem Weg holte ich Constri ab. Mir fiel auf, daß ich gar nicht für eine Party angezogen war. Ich lieh mir von Constri ein paar Sachen aus. Es wurde später und später. Constri und ich kamen erst kurz vor elf Uhr los, und im Bus fiel mir ein, daß ich meine Tasche vergessen hatte. Wir kehrten also noch einmal um und stiegen dann wieder in den Bus. Dann wachte ich auf und konnte also nicht erfahren, was mich bei Rafa erwarten sollte.

Ich weiß nicht, was ich mit den Gefühlen machen soll, die Rafa gelten und die ich ihm nicht mitteilen kann. Und weil ich so ratlos bin, tue ich wenigstens irgendetwas und nehme über Umwege die Verbindung auf. Mit Telgarts Hilfe will ich meine eigene Website erstellen. Mit veränderten Namen erscheint dort alles, was mich belastet und worüber ich mit Rafa nicht sprechen kann. Das macht mir Freude, und ich fühle mich besser, als wenn ich gar nichts tue.
Saara berichtete, Tonia sei am Samstag ebenfalls in der "Halle" gewesen und habe beobachtet, wie Kappa vergebens nach seinem Dealer suchte. Er habe Kokain gebraucht und sei am DJ-Pult immer mehr in sich zusammengesunken, weil er keines bekam. Irgendwer habe ihm ein E gebracht, eine Ecstasy-Pille also, doch das habe ihm nicht auf die Beine geholfen. Nicht einmal eine Pappe LSD habe seine Not lindern können. Frühmorgens soll Kappa auf dem Boden gelegen und ins Mikrophon gehaucht haben:
"Rafa, bitte komm' her, ich kann nicht mehr."
Da habe Rafa das Pult übernehmen müssen.
Sarolyn hat von Dolf erzählt. Dolf soll vor Jahren Sarolyns Lidschatten ausprobiert haben, und weil ihm der so gut gefiel, habe er ihn eingesteckt, ohne Sarolyn zu fragen oder es ihr auch nur mitzuteilen. Ähnlich ging es mit Sarolyns Samtschal.
"Das ist meiner", sagte Dolf über den Schal und nahm ihn.
Sarolyn wußte in diesem Augenblick nicht, wie sie einer solchen Dreistigkeit begegnen sollte. Darauf hatte Dolf wohl spekuliert. Es kann sein, daß er gedacht hat:
"Die ist bestimmt so geschmeichelt, weil mir der Schal gefällt, daß sie ihn mir gerne läßt."
Ich fühle mich bestätigt in meiner Skepsis gegenüber Dolf.
Am Mittwoch waren wir im "Zone". Rafa war sehr wahrscheinlich im "Inferno" auf dem Konzert von Second Decay, die er besonders mag.
Im "Zone" trafen wir Ivco, und Constri und ich plauderten eine Weile mit ihm. Wir erzählten von der wechselvollen Geschichte meiner Wohnung, in der schon eine Anzahl sehr verschiedener Leute gelebt hat. Ich erzählte auch, daß mir der Lärm der neuen Heizanlage auf die Nerven geht und daß ich deswegen vorhabe, in eine Neubauwohnung umzuziehen, die nah bei meiner jetzigen Wohnung liegt. Diese Wohnung befindet sich im Dachgeschoß eines Hauses, das noch nicht einmal fertig ist. Das Haus liegt am Kanal und ist von Grün umrankt. Die Mauern sind zum Teil aus rotem Backstein, zum Teil weiß verputzt. Das Dach hat eine eigenwillige Form; es ist nur "halb", als hätte man es am First zerteilt. Man nennt das "Pultdach".
Les spielte unter anderem "Happy Thrill" von Haus Arafna, "Lord of Ages" von Blood Axis und "Snakedressed" und "Dead or alive" von Dive für uns. Für die Fans von Rafa lief wieder "Schweben, fliegen und fallen". Die Leute mögen es sichtlich, das Lied von den Schwebfliegen und den Fliegenfallen.
Am Freitag waren wir im "Volvox" in BI. Die Hauptattraktion war hier nicht die Musik, sondern eine Performance. Sie wurde von Leuten aufgeführt, die wahrscheinlich in der Modebranche tätig sind. Ein Mädchen trug einen Reifrock mit Volant, der war gemacht aus braunem Lack. Dazu hatte es ein rückenfreies Top aus braunem Lack an. Die Haare hingen lose herunter. Offenbar wurde versucht, eine Mischung aus Kaiserin Sissi, Sadomaso und Siebziger-Look herzustellen. Ich fand das so scheußlich, daß ich es schon wieder sagenhaft fand. Den Leuten war es gelungen, etwas durch und durch Unpassendes zu verbinden.
Ein Junge führte eine mit Neonfarben bemalte Leggins vor. In Tuntenmanier zog er sich die Leggins ein Stück herunter, und man sah, daß er darunter weiße Strapse anhatte - und keinen Slip.
Sazar war auch im "Volvox". Bei ihm saß ein gelangweilt wirkendes Mädchen, groß, mit etwas plumper Figur, langen dunklen Haaren und einem nicht sehr hübschen Gesicht. Es musterte mich mit neugierigen Blicken. Ich bin mir fast sicher, daß dieses Mädchen Nadine war. Vor einem Jahr soll Nadine schon einmal vier Monate lang mit Sazar zusammengewesen sein, ohne allerdings mit ihm zu schlafen. Sazars Beziehung mit Julienne soll kürzlich zerbrochen sein; er wäre demnach frei für jemand anderen.
In der Toilette sprach mich ein Mädchen in Jeans an, das zerzauste Haare und glasige Augen hatte; es schien Drogen genommen zu haben.
"Ich bin Fini", sagte das Mädchen. "Wie alt bin ich?"
Ich wollte nicht raten, und schließlich sagte es mir, es sei achtzehn.
"Und wie alt bist du?" fragte es dann.
"Einunddreißig", antwortete ich wahrheitsgemäß.
Damit hatte ich mir wohl das Vertrauen der armen Fini von vornherein verscherzt. Sie schien mich für eine ausgemachte Lügnerin zu halten. Ich sagte ihr so ernst wie möglich, daß ich sie nicht zum besten halten wollte; dennoch bezweifle ich, daß es ihr möglich war, in einer Welt voller Lügen an so etwas zu glauben.
Manchmal komme ich mir vor, als hätte ich gar kein Alter. Wenn ich die Wahrheit sage, hält man mich für unaufrichtig. Wenn ich lügen würde, würde man mich wahrscheinlich für ehrlich halten. Vielleicht glauben einem die Leute nur das, was in ihr Vorstellungsvermögen hineinpaßt.
Am Samstag waren wir im "Radiostern". Es ist ein Jugendzentrum im Grünen, artig und sauber. Damit es zur düsteren Musik paßt, hatte man es mit Tarnnetzen geschmückt und in Schwarzlicht und Nebel getaucht. Für Constri und mich gab es viel Musik zum Tanzen, darunter "Tarantula Danza" von Noisex, "I walk alone" von den Hybryds und "Israel" von Birmingham 6. Außer dem "Elektro-Raum" gibt es im "Radiostern" noch einen kleineren Raum, in dem ruhigere, romantische Klänge zu hören sind, vorwiegend Gitarrenmusik und Wave. Beide Räume sind von einem weitläufigen Foyer aus erreichbar, wo man sich setzen, für wenig Geld etwas essen und sich unterhalten kann.
Constri und ich haben im "Radiostern" ein paar Herren kennengelernt, von denen einer, Tarek, schon zweiunddreißig ist, älter als ich. Tarek war anscheinend ziemlich begeistert von mir. Er sieht verwegen aus mit seinen bis weit über die Ohren rasierten Haaren und der derben Kleidung. Ich fand ihn nett und sagte ihm, es sei mir sehr wichtig, viele Menschen zu kennen und Freunde zu haben. Er soll wissen, daß ich ihn mag und nicht vorhabe, mit ihm zu spielen.
Gegen Morgen war ich mit Terry noch im "Elizium". Im Hinblick auf Industrial ist Luie wieder mutiger geworden, seit er weiß, daß ihn die Chefs vom "Elizium" nicht weglassen wollen.
Luca stellte mir einen Tequila hin, und als ich den vergnügt austrank, bekam ich gleich noch einen. Ich weiß von meinen Parties, daß ich zwei Tequila vertrage.
Andras ist neuerdings mit Aimée zusammen, und Lessa mag sich nicht mehr im "Elizium" zeigen.
"Kommt alle ins Odeon", heißt es in einem Stück auf einer raren Vinylplatte, die ich neulich Stephane in HB. abgekauft habe. "Tanzt euren letzten Tanz. Stuttgart brennt. Alles rennt."
Das Stück ist der Clubhit "Stuttgart schwarz" von New Dimension. Die Band könnte den alten Kult-Tanztempel "Odeon" in S. besungen haben, wo ich selbst vor zwölf Jahren einmal war. Rafa muß "Stuttgart schwarz" wohl kennen; er hat nämlich etwas daraus übernommen:
"Kommt alle ins Odeon", heißt es auch in seiner C 64-Version von "Tanzpalast 2000".
Und immer wieder ist vom bevorstehenden Weltuntergang die Rede, den die Leute tanzend erwarten sollen.
Ich frage mich, wie Rafa es schafft, noch naiver zu wirken als die schülerhaften New Dimension. Sogar seine Musik ist naiver, viel naiver. New Dimension fordern mit ihrer beschwingten Musik regelrecht zum Tanzen auf, die Musik von Rafa dagegen wirkt auf mich steif und verklemmt. Dabei beschwört Rafa die Leute immer wieder, doch zu tanzen.
Am Freitag vor Pfingsten habe ich mit Terry einen Ausflug nach HH. gemacht. Wir haben uns das angeschaut, was von der Titanic geborgen wurde. Ich mußte immer an Tod und Zerfall denken, und mir wurde übel bei den Gedanken. Es war so bedrückend, weil es die Wirklichkeit war. Auf einer Tafel konnte man sehen, wie winzig das gewaltige Schiff erschien angesichts der mehreren Kilometer Wassertiefe, in die es hinuntersank.
Abends sind wir mit Lisa am Ufer spazierengegangen. Man hatte einen Blick auf den Hafen. Es war schon dunkel und immer noch sehr warm.
In der Nacht waren wir im "Illusion" und haben Funker Vogt gesehen. Es waren nicht viele Leute da, aber es war viel Stimmung. Rega, Sofie und Darien habe ich auch getroffen. Darien hatte ein Mädchen mit langen blonden Haaren dabei, das auf mich einen ziemlich gewöhnlichen Eindruck machte. Es war unauffällig gekleidet, tanzte aber, als wollte es sagen:
"Zieh' mich aus."
Es hatte unbeholfene Bewegungen und glasige, betrunkene Augen. Ich hoffe, daß Darien es nur für ein paar Nächte behält. Ich wünsche mir immer, daß die Jungen, mit denen ich zu tun habe, nette Freundinnen haben, die nicht dauernd betrunken oder krankhaft eifersüchtig sind.
Nach dem Konzert tanzte ich mit Rega und Darien. Das blonde Mädchen konnte da nicht mithalten. Es blieb am Rand der Tanzfläche sitzen.
Seit Zoë Talis kennt, zieht sie besonders feminine, zarte Kleider an und trägt Stöckelschuhe. Sie sagte zu mir, Talis sei eigentlich "echt ein hübsches Kerlchen". Und: "kein Macho!"
Wenn Zoë und Talis sich treffen, steckten sie die Köpfe zusammen und schwatzen und schwatzen. Sie kichern und sind so ausgelassen, daß man sie kaum wiedererkennt.
Talis' Beziehung mit Ellen geht endgültig in die Brüche. Ellen hatte ihm lange Zeit abwechselnd gesagt, er sei der beste Mann, den es gebe, und der schlechteste Kerl der Welt. Sie liebe ihn zwar nicht, aber sie könne sich bei ihm so gut ausruhen, und wenn er ginge, würde sie sich die Pulsadern aufschneiden.
"Das ist eine Borderline-Persönlichkeit", beschrieb ich Ellens Verhalten. "Du, Talis, hast selbst zu mir gesagt, sie hat dich verlassen, und du hast keine Freundin. Du bist Ellen gegenüber zu nichts verpflichtet, weil sie dich nicht ganz gewollt hat. Sie hat sich nicht für dich entschieden. Also hat sie auch keine Rechte an dir."
Am Pfingstsamstag im "Elizium" wirbelte Onno Clarice zu "Ulysses" von Dead can dance im Walzerschritt herum, so daß ihre langen Haare und ihr Fledermausumhang flogen.
Für Pfingstmontag hatten Constri, Carl und ich mit Brinkus vereinbart, daß er zu mir kommen sollte, wo wir seinen Geburtstag nachfeiern konnten. Brinkus wollte gefüllte Paprika machen. Schrader durfte er mitbringen, sonst aber keinen; das hatte er versprechen müssen.
Nun erzählte Brinkus am Tag zuvor meinem Anrufbeantworter, er würde da "noch so einen Kumpel" mitbringen, ja, und der Schrader sei auch dabei, "der Sack".
Am Pfingstmontag hatte Constri Ärger mit Derek, und als ich heimkam, lag sie verheult auf meinem Bett. Carl saß bei ihr. Brinkus klingelte zur verabredeten Zeit. Wir erlebten eine jener Vorstellungen, mit denen Brinkus sich in letzter Zeit zunehmend beliebt macht. Brinkus kam durch die Tür, dann folgte irgendwer, dann folgte Schrader, dann irgendwer, irgendwer, irgendwer, irgendwer und irgendwer - im Ganzen sechs mir völlig unbekannte Leute, die obendrein noch einen recht abgerissenen Eindruck machten. Ich beschloß, die Versammlung im Flur abzufertigen. In freundlichster Weise machte ich Brinkus darauf aufmerksam, daß er diese Zahl an Gästen nicht mit mir abgesprochen habe und daß ich darauf nicht eingerichtet sei. Er möge doch mit den Leuten zu seiner Wohnung fahren und dort essen. Das mit uns könne man ein andermal nachholen.
"O.k., o.k.", sagte Brinkus und zog mit der Meute von dannen.
"Danke", hauchte Constri.
"Ohh, bin ich froh, daß die weg sind", seufzte Carl.
Inzwischen verbreitet Brinkus über mich, ich hätte ihn "angekeift", als er gekommen sei. Er findet es wohl unhöflich, wenn man es nicht hinnimmt, daß er einem die Wohnung mit wildfremden Leuten überflutet.
Adi war am 21.05. im "Inferno". Er wollte sich Rafas Auftritt ansehen. Der Termin war ungünstig, weil es im "Rohbau" eine Konkurrenzveranstaltung mit Ace gab. So kam es, daß gegen zehn Uhr erst ungefähr zehn Leute im "Inferno" waren, obwohl das Konzert für neun Uhr angesetzt war. Und einer von diesen zehn Leuten war ausgerechnet der Sockenschuß.
Sazar legte auf. Rafa feuerte mit seiner Spielzeugpistole herum und machte den Soundcheck für die "Moorsoldaten". Er hatte auch eine Leinwand aufgebaut. Adi fragte ihn:
"Na, Rafa, wann geht's denn nun los?"
"Was sagt deine Uhr?"
"Kurz nach zehn."
"Um kurz nach elf."
Rafa war mit seiner Freundin da, der Barfrau aus der "Halle". Sie trug ein schwarzes Kostüm und Abendhandschuhe. Rafa setzte sich mit ihr an die Theke. Sie legte einen Arm um seine Schultern, als wollte sie sich an ihm festhalten. Gegen halb elf ging eine Bekannte von Adi auf die beiden zu und fragte Rafa:
"Ja, was ist nun?"
"Was soll sein?"
"Na - ich frage wegen dem Handschuh auf deiner Schulter. Wolltet ihr nicht auftreten?"
"Na ... ist ja keiner da", entgegnete Rafa achselzuckend.
Inzwischen waren etwa zwanzig Gäste im "Inferno". Adi fuhr heim, ohne das Konzert gesehen zu haben, denn er mußte am nächsten Tag früh aufstehen.
Zwanzig Gäste waren auch auf der Tupper-Party im Studentenheim, die Terry am selben Tag gab. Für eine Tupper-Party waren es ziemlich viele Gäste. Terry bot schüsselweise Süßes an, außerdem Getränke und Salate. Wir futterten wie die Weltmeister, zumindest Constri und ich. Eine große Tüte voller Süßigkeiten nahmen wir noch mit ins "Zone"" und legten sie dort auf einen Tisch, zur Versüßung des Abends. Als "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa kam, tanzten Zoë und Carl dazu.
Morgens gab es bei mir Frühstück. Zoë und Talis brauchten zu zweit nur einen Stuhl und ein Brett. Wir sprachen über Wohnungen, und Zoë fragte Talis:
"Wollen wir eine WG gründen?"
"Ja", antwortete er ohne Zögern.
In meine jetzige Wohnung ziehen sie aber nicht; die wollen Constri und Derek übernehmen. Derek freut sich auf den Umzug, weil er dann ein größeres Zimmer bekommt, das im Gegensatz zu seinem jetzigen kein Durchgangszimmer ist. Das Summen der Heizanlage stört Constri und Derek nicht.
Neulich kam Derek nachts in Constris Schlafzimmer und weckte sie. Er hatte schon einige Bierchen getrunken und bog sich vor Lachen. Er bestand darauf, daß Constri einen Blick in den Meerschweinchenkäfig warf. Dort saß Dereks Kreation "Skinpig", ein Meerschweinchen, dem Derek soeben mit der Haarschneidemaschine das Fell abgeschoren hatte. Den Kopf des Schweinchens hatte er allerdings ausgespart.
Derek konnte mehrere Gründe für die Schur angeben. Er wollte sehen, wie ein Meerschweinchen ohne Fell aussieht und wie es sich bewegt; unter dem Fell sei dies so schwer zu erkennen. Außerdem wollte er die Zeit messen, die es braucht, bis das Fell nachgewachsen ist. In Dereks Couchtisch ist ein Loch geschlagen. Das hat Derek gemacht, weil er "nicht einschlafen konnte. Hatte Lungenentzündung."
Kein Arzt kann ihm helfen, denn:
"Mach' das mal so eben, das Rauchen aufgeben!"
Ein Mädchen namens Mara, das mit Greta Hesse bekannt ist, hat sich zu den zahlreichen Derek-Verehrerinnen gesellt. Angeblich soll Mara es seit über einem Jahr bei Derek versuchen. Sie geht oft ins "Elizium". Sie ist groß und hat kurze Haare, die so rot gefärbt sind wie ein Stopschild. Sie wirkt auf mich unbeholfen, grob und oberflächlich.
Lessa kommt nicht mehr ins "Elizium", wahrscheinlich wegen Aimée. Andras soll angeblich nur mit Aimée zusammengegangen sein, um Lessa und Aimée auseinanderzubringen.
Ende Mai fuhr ich mit Saara zu einer Fortbildung nach Bad H. Saara versteht zwar nicht viel von Medizin, ist aber offen und interessiert. Wir haben auch das Angebot wahrgenommen, mit einer Seilbahn auf den Burgberg zu fahren.
Ein Chefarzt hielt einen Vortrag über Bewerbungen für Berufsanfänger. Er war vermutlich noch wütend auf mich, weil ich ihm vor einem halben Jahr Paroli geboten habe. Damals empfahl er für das Bewerbungsgespräch korrekte Kleidung und stellte mich, die ich geschminkt war und hellgraue Sachen trug, als Negativbeispiel dar. Ich wies ihn darauf hin, daß er selber dazu rate, "echt" zu sein.
"Der aufrechte Gang ist etwas Schönes", meinte er dazu, "aber wenn Sie sich bewerben, müssen Sie das mal vorübergehend vergessen. Allerdings sollten Sie auch nicht zu unterwürfig sein."
"Würden Sie da eine 45-Grad-Beugung empfehlen, als Mittelding?" habe ich gefragt.
Da hatte er die Lacher auf seiner Seite und war wohl etwas verunsichert.
Jetzt, in Bad H., schien er sich rächen zu wollen. Er fragte scheinheilig, ob Saara und ich uns in der Vorlesung denn nicht langweilen würden. Ich meinte, das sei wohl nicht der Fall. Saara und ich begannen, uns Blicke zuzuwerfen. Als der Chefarzt in der Vorlesung erklärte, daß Chefärzte oft einen Schaden hätten, raunte ich Saara zu:
"Siehe dort."
Sie fand den Menschen sofort widerlich; das erzählte sie mir noch einmal ausführlich, als wir am späten Nachmittag in dem Ausflugslokal in H., wo wir letztes Jahr zu Nikolaus Äpfel und Nüsse gegessen haben, Apfelstrudel aßen und Kaffee tranken.
Da ich mit einem solchen Chef ohnehin nicht zusammenarbeiten könnte, ist es überflüssig, mich bei so einem beliebt zu machen.
Nachts sah ich Inya und Talon im "Elizium". Inya gehört zu den vielen Leuten, die früher mit Rafa zu tun hatten und jetzt fast überhaupt nichts mehr mit ihm zu tun haben. Vielleicht meidet Rafa das "Elizium" auch deshalb, weil er sich denken kann, daß viele Leute nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.
Spheric traut sich inzwischen musikalisch mehr zu.
Ein Skater-Kid in der U-Bahn hörte ich von der "Independent-Musik" schwatzen, von Front 242 und anderen. Diese Musik könnte magisch wirken auf die, die sie kennenlernen - ein unentdecktes Land, abseits vom Gewohnten. In der Szene ist es mit Industrial nicht viel anders. "Industrial" klingt für viele geheimnsivoll: "Was ist das? Wo kommt das her?"
Ace hat sich ein wenig dem Trend gebeugt. Er hat im Radio "Snakedressed" von Dive sowie Stücke von Esplendor Geometrico und :wumpscut: gespielt.

Anfang Juni habe ich geträumt, daß in einer Wohnung eine neue Wandmalerei gebraucht wurde.
"Ich kenne da einen", erzählte ich den Mietern - mit dem Gedanken an Rafa -, "der kann das. Wenn er aber nicht zuverlässig ist, nehmt gleich einen anderen. Und erwähnt ihm gegenüber nicht, daß ich ihn euch vermittelt habe."

In den "Radiostern" konnte ich dieses Mal nicht fahren, weil niemand von meinen Bekannten hinfuhr, der mich hätte mitnehmen können. Clara hat gehört, daß Rafa, Ivco und Rafas Freundin dort waren. Die Freundin soll unscheinbar wirken und unauffällig gekleidet sein. Rafa und seine Freundin sollen die meiste Zeit händchenhaltend zwischen den Tanzräumen im Foyer oder draußen gestanden haben. Hoffi meint, Rafa sei sehr verliebt in seine Freundin.
"Life is hard, but that's no excuse at all", steht auf einem Poster von Lethal Aggression, unter einer Zeichnung von Kerlen mit gewaltigen Tretern, die wie Bulldozer durch eine Betonwüste trampeln und deren Köpfe nur aus aufgerissenen Mäulern bestehen.
Das Bild stellt Aggressionen in reinster Form dar. Ich sehe es immer vor meinem inneren Auge, wenn ich mich angegriffen und verletzt fühle. Ich fühle dann, daß die Wirklichkeit eiskalt und brutal ist und daß es für mich darum geht, mein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen:
"Das Leben ist hart, aber das ist noch lange keine Entschuldigung."
Wer vom Schicksal verflucht wird, soll sich nicht darauf herausreden, daß die Umstände schuld seien. Die Umstände gehören dazu, sie sind immer vorhanden. Die einen kommen damit zurecht, die anderen nicht.
Sarolyn hat kürzlich den Sockenschuß in der Innenstadt getroffen. Er fragte sie, was ich denn jetzt eigentlich gelernt hätte.
"Die ist vor Kurzem fertig geworden", erzählte Sarolyn. "Die ist jetzt Ärztin."
Der Sockenschuß soll entgeistert gefragt haben:
"Waas?"
Vor Jahren hatte er verbreitet, ich sei durch irgendwelche Prüfungen gefallen.
Sarolyn verzichtete höflich darauf, den Sockenschuß nach seiner derzeitigen Beschäftigung zu fragen.
Carl sieht den Sockenschuß öfters mit dem Fahrrad durch H. kurven.
"Der Sockenschuß leuchtet im Dunkeln", berichtete er. "Der hat sich lauter Reflektoren angesteckt."
Saara möchte in der Wohnung, die sie mit Svenson bezieht, Parkett verlegen lassen. Und sie hat Rafa für diese Arbeit ausersehen. Als sie bei ihm anrief, meldete sich die Mutter und schien sich zu freuen, wieder einmal etwas von Saara zu hören. Sie erzählte, Rafa sei schon seit zwei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen, da er ein Mischpult besorgen müsse; ihm sei nämlich das Mischpult bei seinem letzten Auftritt kaputtgegangen. Und beeilen müsse er sich, denn schon am kommenden Wochenende habe er wieder ein Konzert.
"Das läuft jetzt ganz gut mit der Band, nicht?" erkundigte sich Saara.
"Ja, besser als am Anfang", meinte die Mutter. "Aber er braucht auch seine künstlerischen Pausen."
Sie will Rafa unbedingt ausrichten, daß Saara angerufen hat. Sie schrieb ihm sogleich einen Zettel.
Saara ist übrigens eingefallen, daß Rafa ihr das Schlafzimmer seiner Mutter gezeigt hat, als sie bei ihm zu Besuch war.
"Los, komm', die ist jetzt grad nicht da", sagte er wie ein Kind, das etwas ausfressen will.
Die Mutter soll ein pastellfarbenes Himmelbett besitzen.
Saara ist damals auch mit Rafa zum Bäcker gegangen, und ihr war das peinlich, weil sie daran dachte, mit wie vielen Mädchen der Bäcker Rafa schon gesehen haben muß.
Über seine Sternchen-Bettwäsche sagte Rafa zu Saara:
"Die habe ich extra für dich aufgezogen, Sternchen."
Er war ärgerlich, weil sie nicht mit ihm kuscheln wollte.
Über Greta Hesse hat Saara gehört, daß sie Krebs haben soll, ein Lymphom. Sie soll eine Chemotherapie gehabt haben, von der ihr die Haare ausgefallen sind. Ihre Überlebenswahrscheinlichkeit soll hoch sein.

Mitte Juni habe ich geträumt, die Sängerin Tessa würde an einem musikalischen Projekt teilnehmen, das klassikorientiert war. Sie wurde über die Maßen gelobt:
"Das ist eine Sängerin, die singen kann."
Das konnte ich gar nicht fassen, denn sie kann ja nun einmal nicht singen, und ich war erst beruhigt, als ich aufwachte und erkannte, daß es nur ein Traum gewesen war.

Carl hat geträumt, ich sei mit Rafa verabredet, bei ihm zu Hause. Ich hatte mir auch schon eine Zugverbindung herausgesucht.

In einem Traum geriet ich in eine abgelegene Ortschaft. Ich wollte zurück in die Stadt, um weiter am Leben teilzunehmen. Ich ging zum Bahnhof, wo nur alle zwei Stunden ein Zug fuhr. Wie ich eben die Treppe zum Bahnsteig hinaufstieg, kam gerade ein Zug. Ich befürchtete, ihn zu verpassen, und vor lauter Furcht konnte ich nur sehr langsam gehen. Trotzdem erreichte ich den Zug. Sowie ich drinnen war, fuhr er ab.

Träume, die von Zügen handeln, geben mir in der Regel Hinweise auf meine berufliche Zukunft. Demnach sagt mir dieser Traum, daß ich zwar langsam bin, aber doch noch schnell genug, um meine Ziele zu erreichen.
Für Rikka habe ich zum Geburtstag ein Comic fertiggestellt, mit dem ich vor neun Jahren angefangen habe. Mein heutiger Stil paßt noch ganz zu dem damaligen. Hauptfigur Berthilda kommt im Kaiserin-Sissi-Kleid mit einem Raumschiff auf die Erde, begleitet von merkwürdigen Lebensformen. Alpenmädel Heidi und ihre im Rollstuhl sitzende Freundin Clara verfolgen die Landung mit Staunen und fragen die außerirdischen Besucher als Erstes:
"Trägt man das jetzt so?"
Dazu muß gesagt werden, daß Heidi und Clara im biedersten 70er-Jahre-Stil gekleidet sind und daß Clara in dem Comic nicht nur einen Rollstuhl hat, sondern auch eine Brille. Und weil sie gar so schön singen kann, sagt Berthildas Captain anerkennend:
"Nana nana!"
Im Dörfli steigen Berthilda und ihre Mannschaft in den ICE.
Clara kann leider schon bald nicht mehr singen, weil sie von einem geisteskranken Forscher mit einem winzigen nagelförmigen Kopf ausgestattet wird.
Und so geht das weiter ...
Beim Durchsehen alter Zeichnungen bin ich auf ein Bild meines Traummannes gestoßen, das ich 1989 gemalt habe. Der Mann hat über den Ohren rasierte Haare. Er trägt eine Jacke mit einem hohen Stehkragen und dazu schwarze Handschuhe. Auf einem Foto sieht Rafa diesem Menschen nicht unähnlich; er hat auch eine Jacke mit einem hohen Stehkragen an und schwarze Handschuhe, und seine Haare sind über den Ohren rasiert. Auch die Statur ist gleich.
Der Mann auf dem Bild hat hellgraue Sachen an, Rafa hat fast nur schwarze und weiße Sachen. Der Mann auf dem Bild hat einen wuchtigen Metallgürtel um, Rafa hat so etwas noch nicht - obwohl es ihm sehr gut stehen würde. Je schwerer und härter, desto besser würde ihm so ein Gürtel wohl stehen. Er ist ein fescher Kerl, den man richtig in Szene setzen sollte. Er ist ja immer schick und weiß sich zu kleiden; dennoch meine ich, Rafa hat bislang weder modisch noch musikalisch alles aus sich herausgeholt. Und im Hinblick auf seine Beziehungsfähigkeit scheinen kaum vorstellbare Reserven vorhanden zu sein, die brachliegen ...
Im "Elizium" wollten zwei Jungen meine Nummer haben, einer war Tarek, einer heißt Yodo. Ich will mir endlich Visitenkarten drucken lassen, für die neue Adresse.
Es kommt mir vor, als wenn sich viele Leute danach drängeln, mich zu kennen. So ist mir das schon 1990 gegangen, und es wurde seit dem Sommer 1992 noch deutlich mehr. Ich frage mich, ob das bei Rafa irgendeine Form von Eifersucht auslösen würde, wenn er es mitbekäme. Ich frage mich, was Rafa überhaupt aus dem Konzept bringen und eine Entwicklung auslösen kann. Wahrscheinlich kann ich so etwas niemals aus eigener Kraft und eigenem Willen bewerkstelligen; ich weiß doch nicht einmal, wie der Mechanismus zu stören ist, mit dem Rafa gefühlsmäßige Regungen erfolgreich abwehrt.
"Rafa ist durch seine Erziehung 'eingedrückt' worden", meint Sarolyn zu diesem Thema, "und wenn du ihn 'auseinanderfaltest', erschrickt er vor sich selbst, weil du Teile seiner Persönlichkeit sichtbar machst, die er noch gar nicht kennt. Und er flieht vor dir. Es gibt Leute, die wollen sich auf keinen Fall binden, und es gibt Leute, die müssen sich binden, ob sie wollen oder nicht."
Auf mich trifft das Letztere zu. Ich muß Rafa lieben; das ist wie ein Gesetz. Gleichzeitig will ich es aber auch.
Als Saara sich wieder bei Rafa meldete, gab seine Mutter den Hörer gleich an Rafa weiter. Er wirkte freudig überrascht:
"Saara! Wie komme ich denn zu der Ehre?"
Argwöhnisch setzte er hinzu:
"Du willst doch bestimmt was von mir?"
"Ja", neckte Saara. "Sex."
Ihr Freund Svenson wurde eifersüchtig und kam auf die Gabel, so daß das Gespräch unterbrochen wurde. Saara stellte die Verbindung sogleich wieder her.
"Bist du besoffen, oder was?" fragte Rafa.
"Ja, total", schwindelte Saara.
Dann erklärte sie ihm, daß es um ihre neue Wohnung ginge.
Rafa entschuldigte sich dafür, daß er Saara nicht zurückgerufen habe; der Grund sei, daß er ihre neue Telefonnummer noch nicht wisse. Saara nannte sie ihm. Um ihre Adresse bat er sie auch gleich.
Saara fragte Rafa, ob er in ihrer neuen Wohnung Parkett verlegen könne. Er antwortete, er habe erst in zwei Wochen Zeit dazu, da er wegen seiner nächsten Auftritte sehr eingespannt sei. Außerdem könne er das Parkett nicht unter dem Regelpreis kaufen; die Zeiten seien vorbei.
Rafa staunte, als Saara ihm mitteilte, wie groß die Wohnung sei, und sie erklärte ihm, daß sie nicht allein dort lebe. Rafa fragte lauernd, mit wem sie denn zusammengezogen sei, und sie druckste herum. Dann wollte er Einzelheiten über das zu verlegende Parkett wissen, und Saara ließ Svenson an den Apparat. Nach dem Gespräch fragte Svenson Rafa, ob er Saara noch einmal zu sprechen wünsche. Der antwortete nur:
"Nein, die nervt mich."
Von Brinkus hört man immer noch ab und zu etwas. Er steckt zwar viel mit zwielichtigem Gesindel zusammen, verliert dabei aber nie seine Anhänglichkeit an alte Freunde. Ich sprach ihn neulich auf die "Dosengeschichte" an. Brinkus hatte lange Zeit Schraders Kühlschrank geplündert, bis Schrader eines Tages meinte, nun könne Brinkus auch mal ein paar Lebensmittel beisteuern. Brinkus hatte vor längerer Zeit von Odettes Freundin Susa einen Präsentkorb geschenkt bekommen, und davon waren noch zwei Dosen übrig. Das Verfalldatum war bereits abgelaufen, deshalb entfernte Brinkus den Aufdruck mit Benzin und malte mit einem Lackstift ein neues Verfalldatum auf. Diese Dosen gab er dann Schrader.
Ich wies Brinkus darauf hin, daß er Schrader hätte vergiften können. Es handele sich um bewußte Inkaufnahme einer Körperverletzung und sei damit strafrechtlich verfolgbar. In seinem unvergleichlichen lapidaren Tonfall meinte Brinkus:
"Stimmt, das war nicht ganz o.k."
Sazar ist jetzt mit einem sehr jungen Mädchen namens Diane zusammen. Sie hat sich unten piercen lassen. Deswegen hat Sazar vorerst auf sein ersehntes Zungenpiercing verzichtet. Er will nicht, daß sich sein Piercingschmuck mit ihrem verhakt.
Als Sazar Ende Juni im "Elizium" auflegte, hatte sich Diane zu diesem Anlaß in ein elastisches Lackkleidchen gezwängt. Ihre langen Haare trug sie geflochten zu einem Bauernzopf. Dianes Kleid hat vorne einen Ausschnitt, aus dem die Oberweite nur deshalb nicht herausfällt, weil der Lackstoff so fest auf der Haut klebt. Hinten geht der Ausschnitt bis zur Taille, und die Träger rutschen nur deshalb nicht über die Schultern, weil ... siehe oben. Diane setzte sich zu Sazar hinters DJ-Pult und sprühte ihr Kleid voller Hingabe mit Autopflege ein, damit es schön glänzte. Da der Stoff wie eine zweite Haut anlag, konnte sie unter dem Minikleid nichts, wirklich nichts tragen außer halterlosen Strümpfen; alles andere hätte sich abgezeichnet.
Ich schlug der knackig-frischen Diane vor, sich als Model für Lack-Leder-Latex-Mode zu bewerben.
"Ich habe schon beim 'Playboy' angerufen", zirpte sie. "Ich mache das aber erst, wenn ich mit der Schule fertig bin; sonst kriege ich da vielleicht Schwierigkeiten."
"Bist du denn überhaupt schon volljährig?"
"Nein, ich bin gerade siebzehn geworden. Aber wenn die Eltern einverstanden sind, kann man das schon mit fünfzehn machen."



Rafa trat im "RoseHip" auf, im Rahmen einer Tanzveranstaltung. Vorher war ich auf Onnos Geburtstagsfeier. Dort wurde Topfschlagen gespielt. Jeder Gast fand unter dem Topf ein eigens für ihn ausgewähltes Geschenk. Ich bekam eine kleine Figur, ein Tanzmariechen.
Constri und Rikka meinten, ich solle auf keinen Fall ins "RoseHip" gehen. Ich würde Rafa dann nur nachlaufen. Ich ging aber doch hin, weil ich das Gefühl hatte, sonst innerlich keinen Frieden mehr zu finden.
Die Veranstaltung war gut besucht. Das "RoseHip" ist ein fast quadratischer Saal. An einer Wand gab es Verkaufsstände, wo vielerlei Schmuck, Kleider und "Grufti-Nippes" angeboten wurde, wie Kerzen in Skelett-Form und dergleichen.
Neben der Bühne hing ein Bettlaken, auf das in Schülerschrift geschrieben war:
"Es ist an der Zeit ... Radio-Club C."
Die Schrift umrahmte Rafas Bandlogo, das aufrecht gestellte Firmenzeichen vom "Sachsenring".
Ivco und Rafa hatten ein großes Fanaufgebot aus dem Osten herbeigeschafft. Ivco erzählte, daß er zu Hause den ganzen Keller mit Fans angefüllt habe.
Rafa stand am DJ-Pult, in der Mitte des Saales. Er trug ein schwarzweißes Sakko im Pepita-Muster und ein weißes Hemd. Ich hielt mich in der Nähe auf, wo auch die meisten von meinen Bekannten waren. Dort gab es eine Brüstung zum Abstützen und eine gute Sicht auf die Bühne. Als ich mich gerade mit Xentrix unterhielt, kam ein Junge namens Alan auf mich zu, der früher mit Zoë zusammen war. Alan gestand, er sei schon seit 1989 von mir fasziniert. Er habe mich zum ersten Mal bei dem Konzert von Klinik gesehen, die 1989 im "Read Only Memory" auftraten. Er würde mich nun schon seit acht Jahren kennen, habe aber noch nie mit mir geredet. Nun habe er sich endlich getraut, mich anzusprechen. Warum er das nicht schon früher getan habe, wisse er nicht; vielleicht sei er einfach zu schüchtern. Aber jetzt sei er froh, daß er sich endlich mal mit mir unterhalten könne.
Rafa spielte nur wenige Stücke, zu denen ich tanzen mochte, darunter "Colosseum Crash" von A Split Second und "New Gold Dream" von den Simple Minds.
Luca war auch im "RoseHip". Als ich mit ihm sprach, ging Rafa an uns vorbei. Luca erkundigte sich, ob ich auf Rafa warten würde.
"Nein", antwortete ich, "der traut sich sowieso nicht, mich anzusprechen, der ist viel zu feig."
Als ich etwas später durch die Türöffnung zu den Toiletten ging, kam Rafa mir entgegen. Er erblickte mich und sagte pflichtbewußt:
"Guten Abend."
Ich erwiderte seinen Gruß und packte ihn im Gehen vorsichtig am Arm. Er wehrte mich sogleich ab.
Kappa und Lexx traten zuerst auf, danach kam Rafa an die Reihe. Ich stand mit Celeste an der Brüstung und hatte dort eine Art Logenplatz.
Rafa baute mit Dolf an der Bühne herum. An das Keyboard wurde eine FDJ-Fahne gehängt. Es wurde auch ein Ölfaß bereitgestellt, etwas ungewöhnlich für Schlagermusik.
Rafa hatte sich einen weißen Arztkittel übergezogen.
"Warum hat er diesen Arztkittel nur an?" sagte ich zu Celeste. "Irgendwie paßt das zu dem Lied, das Rafa über Psychiatrie gemacht hat."
"Psychiatrie ... da gehört er aber auch hin", meinte Celeste.
Der Arztkittel leuchtete hübsch im Schwarzlicht. Rafa trug wieder seine geliebte Spielzeugpistole um den Hals. Bei dem Stück "Schweben, fliegen und fallen" setzte sich Rafa auch noch eine Brille auf, deren Gläser im Schwarzlicht leuchteten; sie waren mit gelber Neonfarbe angemalt.
Ich sah Rafa in diesem Aufzug auf der Bühne herumhampeln und dramatische Bewegungen vollführen, und ich mußte dabei immer wieder an das Wort "Psychiatrie" denken und kichern.
Vor der Bühne befand sich ein Haufen langhaariger Mädchen in schlichten langen schwarzen Kleidern in einer Art religiöser Verzückung. Wahrscheinlich handelte es sich um Mitglieder des "Radio-Club C.". Ich fragte mich, ob im Osten ausschließlich solche Kleider getragen werden oder ob die Damen den Stil von Rafas Freundin imitieren wollten.
Es war geschickt von Rafa, diese Ost-Fans herzutransportieren. Sie füllten die große Fläche vor der Bühne aus, die vielleicht leer geblieben wäre, wenn nur Leute aus der Umgegend dagewesen wären.
"Also, die ganzen elektrischen Geräte, die hier 'rumstehen, die sind ungesund", belehrte Rafa seine gläubige Anhängerschar. "Die lösen dann wohl Lebertumoren aus und Krebs - ach, das ist ja wohl sowieso dasselbe, oder ist es das nicht? Haha ... Das nennt man nämlich 'Elektrosmog'. Und genau davon handelt das nächste Stück."
Irgendwann zog Rafa den Kittel aus. Er mußte nämlich arbeiten; das hieß, er hämmerte mit einem Holzstöckchen auf dem Ölfaß herum. Vielleicht wollte er die Gattung "Industrial-Schlager" begründen.
"Also, das - das - sagt mir nun absolut nichts", meinte Celeste fassungslos.
Bei dem Stück "W.O.L.F." ballerte Rafa mit seiner Pistole herum. Ich lobte Ace dafür, daß er einen frechen Spruch auf seine Homepage gestellt hat, anläßlich eines Radio-Wunschkonzerts:
"F. W. wünscht sich 'W.O.L.F.' von W.E. Kommentar: KOMMENTARLOS!"
Auf der Homepage von Ace gibt es auch einen Artikel über Blümchen, in dem Ace sich und Rafa als "beinharte Blümchen-Verehrer" outet. Ansonsten betrachtet Ace Blümchen als das, was sie wohl am ehesten darstellt - ein Kunstprodukt der Popindustrie. In den Medien wird sie als minderjähriger Teenager verkauft, doch im "RoseHip" erzählte mir Ace, Blümchen sei dreiundzwanzig Jahre alt und habe ein Verhältnis mit einem Mitglied der Gruppe The Bates. Blümchen werde nur aus markttechnischen Gründen "jünger gemacht". Insgesamt sei an Blümchen ohnehin nichts echt. Jasmin Wagner gebe nur ihr Aussehen her, die Stimme sei schon nicht mehr ihre eigene.
Als die "Moorsoldaten" kamen, ließ Rafa einen Chor aus fünf Freiwilligen auftreten. Sie sangen den Refrain. Rafa schien in dieses Stück viel Leidenschaft hineinzulegen.
Nach dem Konzert verbrachte Rafa längere Zeit damit, die Bühne abzubauen. Dann stand er eine Weile vor der Bühne herum. Ich beobachtete, daß er sich über die gesamte Zeit hinweg fast nur mit Jungen unterhielt. Ich sah seine Freundin nie bei ihm.
Als ich über die Tanzfläche ging, entdeckte ich, daß Rafa dicht bei mir auf einem Sockel stand und an einer Kabelstrippe herumbastelte. Ich nutzte die Gelegenheit und zwickte ihn sachte ins Bein. Ich hielt nicht im Gehen inne und drehte mich auch nicht zu ihm um.
In der Nähe des hinteren Ausgangs unterhielt ich mich mit Eveline über die Anzahl und den Wechsel von Rafas Freundinnen. Rafa stand in unserer unmittelbaren Nähe. Jetzt, als der Abend zuendeging, kam seine Freundin an und fragte ihn in einem ungehaltenen Ton:
"Wann fahren wir denn nun endlich?"
"Sooo-fort", antwortete Rafa, ärgerlich über die Störung.
Die Freundin entfernte sich.
Ich entdeckte, daß Rafa so dicht bei mir stand, daß ich nach ihm greifen konnte. Ich zwickte ihn ganz zart in die Schulter und drehte mich gleich wieder zu Eveline und redete weiter mit ihr über Rafas Freundinnen. Eveline berichtete später, Rafa habe ganz erschrocken geguckt, doch als er gewahr wurde, daß ich ihn angefaßt haben mußte, schaute er rasch wieder weg, als wäre gar nichts gewesen. Er entfernte sich und lief in der "Halle" herum. Die Freundin trippelte hinter ihm her und drängelte, daß man doch nun endlich fahren solle. Sie hielt immer einen Schritt Abstand zu ihm und wirkte recht mißmutig.
Dolf schleppte noch Geräte weg, als ich Rafa mit der Freundin in einer Nische verschwinden sah. Sie verließen danach den Saal.
Siddra erzählte mir in den kommenden Tagen, sie glaube, Rafa sei sehr abhängig von dem Urteil anderer. Er umgebe sich bevorzugt mit Menschen, die ihm bestätigten, wie toll er sei. Auch Dolf soll Rafa lange Zeit beweihräuchert haben. Rafa soll im Gegenzug sehr auf Dolf herabgesehen haben.
"Dolfilein, das Äffchen", soll er abfällig gesagt haben.
Inzwischen hätten Rafa und Dolf kaum noch miteinander zu tun - wie auch zwei Geschäftsleute nichts mehr miteinander zu schaffen haben, wenn der Vertrag ausgelaufen ist. Dolf scheint mehr und mehr seine eigenen Wege zu gehen, wenn man von den Auftritten mit Rafa einmal absieht. Rafas derzeitige Freundin könnte nun die Aufgabe übernommen haben, Rafa zu beweihräuchern.



Anfang Juli spielte Les im "Zone" kurz nach Mitternacht "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa. Ich verließ die Tanzfläche. Sarolyn fragte mich, ob ich Rafa schon gesehen hätte. Der sei hier ganz in der Nähe. Ich schaute mich um und entdeckte Rafa mit seiner Freundin an der Längsseite der Theke. Rafa hatte sich ein Tuch um den Kopf geknotet, als eine Art Stirnband. Er trug die Jacke mit den vielen Schnallen auf den Ärmeln. Ich beobachtete ihn nicht, weil ich nicht dabei zusehen wollte, wie er und seine Freundin herumturtelten. Rafa ging mit der Freundin dicht an uns vorbei und stellte sich mit ihr unterhalb vom DJ-Pult so hin, daß ich die beiden von vorne sehen konnte. Er legte den Arm um sie, als gelte es, keine Zweifel an seinem Glück aufkommen zu lassen. Dann ging er alleine hinauf zu uns und sprach Revil an. Revil stand unmittelbar neben mir. Rafa hatte so die Möglichkeit, näher an mich heranzukommen, ohne daß es verfänglich wirkte. Revil war sehr verwundert darüber, daß Rafa ausgerechnet mit ihm reden wollte, wo man sich doch nur so flüchtig kannte. Rafa fragte ihn ein wenig aus und erzählte, daß der Abend im "RoseHip" recht gut gelaufen sei.
"Ich weiß, warum er mit dir redet", wisperte ich Revil zu, "weil er immer noch mit dieser alten Schlampe da zusammen ist."
Revil ging irgendwann weg, in dem Glauben, daß Rafa sich nun mir zuwenden würde. Rafa stand für einen Augenblick etwas hilflos da und unterhielt sich dann nahe bei uns an der Bar mit einem fremden Mädchen. Schließlich entfernte er sich wieder.
Cyber drückte mich zur Begrüßung. An der Theke begannen wir ein angeregtes Gespräch. Wie wir in der schönsten Plauderei waren, marschierte Rafa so dicht an mir vorbei, daß ich ihn in die Schulter zwicken konnte. Ich unterbrach dabei noch nicht einmal den Satz, den ich gerade sagte. Ich schaute auch nicht weiter nach Rafa und wandte mich gleich wieder Cyber zu.
Als wir auf Beziehungen zu sprechen kamen, erzählte ich Cyber, daß der Mann, den ich liebe, sich im "Zone" befände.
"Er wurde von mir gerade in den Hals gezwickt", fügte ich erläuternd hinzu, damit er wußte, wer gemeint war.
Es stellte sich heraus, daß Cyber Rafas Freundin flüchtig kennt; er wußte beispielsweise, daß sie in der "Halle" arbeitet.
Am DJ-Pult gab Les mir Bussis und erzählte, er habe Fieber. Ich brachte ihm Paracetamol.
Les legte im Laufe der Nacht einige Elektro-Industrial-Sachen auf, darunter "Overture: Fatal Attraction" von SA 42, "Call me" von Derek alias Missratener Sohn, "Lord of Ages" von Blood Axis und "Head down" von Sonar.
Nachdem ich zu "Head down" getanzt hatte, sah ich Rafa und die Freundin bei Les am DJ-Pult stehen. Rafa ging schon wieder dicht an mir vorbei, dieses Mal Arm in Arm mit der Freundin.
"Rafa lügt wie gedruckt", erzählte Sarolyn. "Als er mit Inya zusammen war, war er gleichzeitig mit dieser Felicitas aus dem Osten zusammen. Rafa hat jeder von den beiden vorgegaukelt, er wäre nur mit ihr allein zusammen. Inya hat später gemeint, wenn sie gewußt hätte, was das für einer ist, dann hätte sie sich auf den nicht eingelassen."
"Ich verstehe nicht, wie Rafa etwas mit dieser Felicitas anfangen konnte", meinte ich. "Die wirkt schon auf den Fotos so ekelhaft ordinär, so nuttig."
"Ja, die ist wohl auch ziemlich dumm."
Rafa soll Inya gegenüber ausgesprochen beleidigend geworden sein. Er soll über sie gelästert haben:
"Als ich mal neben Inya aufgewacht bin und die ungeschminkt gesehen habe, habe ich voll den Schock gekriegt."
Es wurde langsam Morgen. Rafa saß auf der anderen Seite der Tanzfläche an der Bar, gegenüber und weit entfernt von mir. Er rauchte und unterhielt sich mit allerlei Leuten.
"Cyberspace" von Rafa wurde auch noch gespielt, wahrscheinlich auf seinen Wunsch. Mich widert das Lied an, weil darin die Sängerin Tessa immer "Cyberspace!" quakt. Ich ging ins Bad. Als ich das Bad verließ, kam die Freundin von Rafa mir entgegen. Vielleicht wußte sie noch nicht, was zwischen Rafa und mir vorgeht. Vielleicht aber war sie doch schon argwöhnisch geworden und begann, mir ins Bad nachzulaufen, wie es schon Tessa getan hat.
Die Freundin stellte sich dicht zu Rafa; sie klebte geradezu an ihm. Er ging dann mit ihr noch ein Stück weiter, so daß ich die beiden voll im Blickfeld hatte. Er begann, sie abzuküssen. Dann legte er den Arm um sie und schlenderte mit ihr langsam nach draußen.
Am Freitag gab es im "Inferno" eine "Nachtlicht"-Revival-Party. Ein ziemlich umnebelter Kappa begrüßte mich am Eingang und schlenderte Arm in Arm mit mir zum Tanzraum. Währenddessen versicherte er, seit anderthalb Jahren kein Kokain mehr zu nehmen.
Die Jungen, die ich kannte, fühlten sich anscheinend von meiner Schnürtaille angezogen. Dauernd griffen sie danach. Besonders Sten konnte es nie lassen, wenn ich an ihm vorbeikam.
Sten war heute etwas bedrückt, weil Aimée ihn angezeigt hatte.
"Warum hat sie dich denn angezeigt?" erkundigte ich mich.
"Weil ich sie mal hart angefaßt habe."
"Hat sie ein Attest?"
"Ja, sie hat eins."
"Warum hast du sie denn verdroschen?"
"Weil sie soviel Sch... erzählt hat."
"Daß Aimée jede Menge Blödsinn erzählt, weiß ich aus eigener Erfahrung. Aber man darf sich dadurch nicht zu Gewalttätigkeiten hinreißen lassen", predigte ich. "Das ist nie gut, die Kontrolle zu verlieren. Wer zuhaut, zieht nachher immer den Kürzeren."
Reesli fragte mich, ob Lachgas Spätschäden hervorrufen könne. Ich antwortete, Lachgas sei nur für den kurzfristigen Gebrauch bestimmt, und dann sei es auch einigermaßen harmlos, wenn nicht überhaupt wirkungslos.
Reesli erwiderte, er verwende Lachgas dauernd, denn das mache ein tolles Gefühl; man sei "ganz weit weg". Er habe die Sahnespender für sich entdeckt, in denen sich Lachgas befinde.
"Mit zwanzig bis dreißig Sahnekapseln komme ich gut über den Tag", versicherte er.
In der Techno-Szene sollen Luftballons verkauft werden, das Stück zu fünf Mark; sie enthalten ebenfalls Lachgas.
Am Samstag erzählte Saverio im "Elizium" Constri und mir, von fünfzig Leuten sei kaum einer wirklich ein guter Freund. Ich hielt dagegen, daß meine Erfahrungen eher umgekehrt aussehen. Saverio wirkte etwas erstaunt. Man muß ergänzen, daß Saverio sich weniger unter die Menschen wagt als ich.
Zu Constri sagte Saverio, es sei eigenartig, daß Dolf und Rafa kaum noch zusammen unterwegs sind.
Dolf war mit seiner Freundin im "Elizium", wie meistens. Rafa hat jedoch seit fünf Monaten das "Elizium" nicht mehr betreten.
Ich halte es für unwahrscheinlich, daß es Dolfs erklärter Auftrag ist, mich zu beschatten. Wenn er so oft da ist, wird er auch gerne kommen. Einmal fühlte ich mich allerdings von Dolf beobachtet; da schaute er mir geradewegs in die Augen, als ich an ihm vorbeiging.
Der Musiker Mark D. Chicken legte auf und spielte den Achtziger-Jahre-Klassiker "Where are you" von 16 bit und "Schwarz wie deine Seele" von Missratener Sohn, das heißt, von Derek.
Am Sonntag hatte ich Gäste, darunter den etwas merkwürdigen Yodo. Er wollte keine Hefeschnecke, weil er meinte, er dürfe am Abend nur Obst essen und am Morgen nur Gemüse (vielleicht war es auch umgekehrt).
"Da kann er als Rasenmäher arbeiten", schlug Derek vor.
"In Ws. haben wir Kühe dafür", sagte Carl über sein Heimatdorf.
"Vollzeit oder Teilzeit?" fragte ich.
"Die arbeiten Vollzeit", erzählte Carl.
"Wo arbeitest du eigentlich?" wollte Constri von Yodo wissen.
Er ist in einem Schuhladen beschäftigt.
"Kaum zu glauben ...", sang Constri einen Werbespruch, mit hinreißend verdrehten Augen.
Derek meinte später, Yodo würde von meiner Art, zu tanzen, bestimmt in Vegetariermanier schwärmen:
"Sie tanzt so leicht wie ein Salatblatt."
Mitte Juli zeigte die Sekretärin vom Institut auf eine ganz besondere Art Zivilcourage. Sie hat ihre Stelle zum Pfand eingesetzt für mich. Es ging darum, daß Wegart, ein Mitarbeiter, der bei Kollegen und Nachbarn gleichermaßen wegen seiner Aggressivität bekannt ist, mich als leicht verfügbares Opfer ausgewählt hat und versucht hat, mir Betrügereien anzulasten. Der Professor wollte sich aus der Verantwortung ziehen und nichts tun, um mich zu verteidigen. Da schimpfte ihn die Sekretärin aus. Sie sagte zu ihm, wenn er in diesem Institut solche Umgangsformen dulde, sei sie selbst auch nicht mehr davor sicher, von aggressiven Mitarbeitern angegriffen zu werden. Daher werde sie kündigen.
Anscheinend wollte der Professor seine Sekretärin nicht verlieren. Er nahm Wegart ins Gebet, woraufhin jener mir gegenüber wieder recht hündisch wurde.
Ich will so bald wie möglich nur noch für den Professor Gutachten schreiben und nicht mehr für Wegart tätig sein. Außerdem will ich so bald wie möglich in mein eigentliches Berufsleben eintreten. Leider kann man überall angegriffen werden und muß sich zur Wehr setzen, was nicht immer einfach ist, weil man mit Überlegung vorgehen muß und Gelassenheit bewahren muß. Ein Traum bezog sich darauf.

In diesem Traum sah ich eine Hochstraße aus Beton, die ich sehr häßlich fand. Ich fühlte mich durch diese Häßlichkeit angegriffen. Also brachte ich an einem Pfeiler rechts und links je eine Sprengladung an. Als gerade kein Auto über die Hochstraße fuhr, zündete ich die Sprengladungen, und die Hochstraße fiel nahezu lautlos in sich zusammen.
Anscheinend hatte mich niemand beobachtet. Ich ging weiter, als sei nichts geschehen. Ich beurteilte meine Tat als übermütig und unbeherrscht.
"Wie konnte ich nur meine Selbstkontrolle verlieren?" fragte ich mich.

Vielleicht mußte ich mich im wirklichen Leben zu sehr beherrschen, und da wollte ich wenigstens im Traum das tun, wonach mich verlangte.



Am Mittwoch waren wir schon eine Weile im "Zone", als ich Rafa an uns vorbeigehen sah, mit seiner Freundin im Schlepptau. Er trug eine kurze schwarze Uniformjacke mit Messingknöpfen und goldenen Streifen, dazu seine enge Hose. Die Freundin hatte ein Kleid an, das sie in der "Halle" meistens trägt, lang, schwarz, schlicht, mit verkreuzten Trägern hinten.
Ich war ganz in schwarze Spitze gekleidet. Ich hatte das Spitzentutu angezogen, das Lessa bei mir an der Garderobe hängen gelassen hat, als sie im letzten Herbst zu Andras zog.
Rafa sprach Malda an:
"Hallo."
"Siehst du, er sagt dir 'Hallo'", sagte ich zu Malda.
Rafa warf einen sehr kurzen Blick zu mir herüber und sagte noch einmal "Hallo".
"Er darf mir nicht 'Hallo' sagen", erklärte ich Malda.
Rafa ging mit der Freundin weiter.
Etwas später sah ich Rafa auf den Treppenstufen bei uns stehen. Er sprach mit einem Jungen. Die Freundin hatte er anscheinend losgeschickt, um etwas zu trinken zu holen. Sie kam mit Gläsern und stellte sich zu ihm.
"Oh, er hat sein Frauchen aber gut dressiert", bemerkte Terry.
Rafa setzte sich mit der Freundin nahe bei uns an die Ecke der Bar und knutschte sie ab. Ich ging ins Bad. Danach war ich für eine Weile mit Tanzen beschäftigt. Zwischendurch waren Rafa und die Freundin für längere Zeit verschwunden.
Als ich gerade zu "Born slippy" von Underworld getanzt hatte und von der Tanzfläche kam, erzählte mir Malda:
"Du, der Rafa kam eben mit seiner Tussi da an, der hat zu mir gesagt:
'Willst du Armdrücken spielen? Ich habe mit Sten gewettet, daß du gewinnst.'
Ich habe gefragt:
'Wer ist Sten?'
Rafa hat gesagt, daß ich den eigentlich noch aus dem 'Elizium' kennen müßte."
"Und, hast du mit ihm Armdrücken gespielt?" fragte ich neugierig.
"Nein, habe ich nicht", erzählte Malda weiter. "Ich habe dann gesagt:
'Nein, das möchte ich nicht. Das kannst du ja mit Hetty machen.'
Dann hat er gesagt:
'Ach, die gewinnt doch sowieso.'
Und dann meinte er so:
'Was hat Hetty dir eigentlich über mich erzählt?'
Da habe ich gesagt:
'Das mußt du sie selber fragen.'
Da hat er gesagt:
'Ach, die redet doch nicht mit mir.'
Dann ist er mit seiner Tussi weitergegangen."
Rafa saß ein Stück von uns entfernt mit der Freundin an der Brüstung. Irgendwann konnte ich ihn wieder nirgends entdecken. Ich wünschte mir noch etwas zum Tanzen. Als ich zu meinen Leuten zurückging, stand Rafa neben unserem Platz und redete mit Sten, der an der Bar saß. Malda zeigte auf Rafa und erzählte mir:
"Der da hat nach dir gefragt. Der hat gefragt:
'Wo habt ihr denn Hetty gelassen?'"
Terry und Malda antworteten ihm nichts Genaues, da er dieses nur im Vorübergehen gefragt hatte und nicht den Wunsch zu haben schien, ein Gespräch zu beginnen.
"Jetzt bin ich da", sagte ich, neben Rafa stehend, "aber er darf nicht mit mir reden."
Rafa hielt sich längere Zeit mit Sten an der Bar auf. Die Freundin war nicht zugegen. Rafa schaute vorsichtig zu mir herüber.
Rafa lief vor der Theke hin und her. Mal stand er bei uns vor der Brüstung, dann stand er unten vor uns am Rand der Tanzfläche, dann ging er einmal ganz um die Tanzfläche herum und stellte sich dann mit der Freundin oben auf das Bühnenpodest.
Rafa tanzte nur zu "Louise" von Xymox und "Accidents in paradise" von den Informatics. Danach ging er mit Sten und der Freundin fort.
Am Samstag legte Cyra im "Radiostern" auf, wie an jedem zweiten Samstag im Monat. Sie ist für die Elektro-Industrial-Schiene verantwortlich, während ihr DJ-Kollege Linux, der ebenfalls im "Elektro-Raum" auflegt, vorwiegend klassischen "Old School EBM" spielt wie Nitzer Ebb und A Split Second. Im "Gitarren-Raum" steht DJ Osiris am Pult, der hauptsächliche Organisator der Veranstaltung.
Dieses Mal kamen Ted und Marvin mit in den "Radiostern". Es gefiel ihnen sehr. Einige Gäste waren besonders prachtvoll kostümiert, darunter drei Mädchen in Reifröcken. Eines hatte volles, blondes Haar und war ganz in Violett und Weiß gekleidet und geschmückt. Es trug ein weißes Perlendiadem und Spitzenvolants.
Morgens, als wir heimfuhren, wurde es schon hell. Ted gab Gas, bis die Tachonadel anschlug, das war etwa bei 240 km/h. Bei HI., wo wir entlangfuhren, ist die A7 gut ausgebaut.
"Mit Ted Auto fahren ist wie Fliegen", meinte Marvin.

In einem Traum legte Rafa im "Zone" auf. Seine Freundin war auch da. Weil sie gerade nicht gebraucht wurde, verwandelte sie sich in eine Dose Schaumfestiger. Ich stahl mir die Dose vom DJ-Pult und nahm sie mit in die Toilette. Dort richtete ich mir mit dem Schaumfestiger die Haare. Dann brachte ich die Dose zurück und stellte sie heimlich wieder aufs Pult. Rafa merkte nichts.
"Das kann doch gar nicht sein, daß sich ein Mensch in eine Dose Schaumfestiger verwandelt", dachte ich.
Aber es war nun einmal so.

In einem anderen Traum ging Rafa auf mich zu, und er verhielt sich so, als würde feststehen, daß wir ein Paar werden.
"Jetzt sieht es wieder so aus, als könnten wir endlich zusammenkommen, und dann läuft er doch wieder weg", dachte ich.
"Wir duschen jetzt", sagte Rafa zu den Leuten um uns herum.
Wie es weiterging, erfuhr ich nicht, denn ich wachte auf.

Am nächsten Mittwoch traf ich Ivco und Lara im "Zone". Ich erzählte Ivco, daß ich an meiner Internetseite arbeite und meine neue Wohnung ausgemessen habe. Ende des Monats werde ich umziehen.
Das Mietshaus, in das ich ziehe, ist nicht nur von außen schön; auch von innen ist es ganz besonders hübsch. Weil es ein Pultdach hat, sind die Vorderzimmer im obersten Stockwerk fast vier Meter hoch. Durch große Fenster blickt man bis ans andere Ende der Stadt. Der Eingangsflur hat ein Glasdach, ebenso wie mein Balkon. In meiner Wohnung ist eine Flurwand aus Glas. Nach hinten heraus gibt es ein Dachgärtchen. Man kann dieses schöne Haus als "Traumhaus" bezeichnen, sofern sich das bei einem Mietshaus sagen läßt.
Als ich Ivco fragte, ob er gerne in SHG. wohnt, antwortete er das, was Rafa auch geantwortet hat: er fühle sich dort wohl. Es sei schön in SHG. Er lebe mit seinem Bruder und seiner Mutter in dem Haus der Familie, wo er sein eigenes Reich habe und mietfrei wohnen könne.
Rafa wohnt ebenfalls mit seiner Mutter und seinem Bruder im Haus der Familie, und er will auch nicht weg.
Les spielte wieder "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa. Einige Leute ruderten auf der Tanzfläche mit den Armen, als wären sie ein Flugzeug.
Im "Zone" wird neuerdings oft ein titelloses Stück von The Moon lay hidden beneath a cloud gespielt, das sich für altertümliche Schreittänze eignet. Leider ist es so kurz, daß es fast schon zuende ist, wenn man die Tanzfläche erreicht hat.
Am Samstag ging Malda als Nonne verkleidet ins "Elizium". Ich finde, das Kostüm paßt zu ihrem naiv-andächtigen Blick. Malda ist es ziemlich gleich, welchen Gott sie anbetet; sie will nur irgendetwas zum Anbeten haben, ruhig auch mehrere verschiedene Götter, nacheinander oder gleichzeitig. Sie ist sozusagen multireligiös.
Violet lud mich nach Jahren wieder zu ihrem Geburtstag ein. Sie hat sich dazu durchgerungen, den ersten Schritt zu tun.
Viridiana war nach längerer Zeit das erste Mal wieder im "Elizium". Sie ist im sechsten Monat schwanger. Viridiana hat das "Elizium" vermißt. Sie konnte einige Wochen lang nicht hingehen, weil ihr oft schlecht wurde.
Simon erzählte Neues von Lessa. Ihr jetziger Freund soll erst siebzehn Jahre alt sein und einen Kopf kleiner als sie. Mit diesem schüchternen Bürschlein soll Lessa ein böses Spiel getrieben haben. Sie soll von ihm verlangt haben, daß er immer dann, wenn Lessa einen Jungen anrempelte, zu diesem sagte:
"Mach' meine Freundin nicht an."
Lessa soll sich alsbald einen zwei Meter hohen Skinhead ausgesucht haben. Sie rempelte den Skinhead an, und der kleine Siebzehnjährige sagte zu ihm:
"Mach' meine Freundin nicht an."
Da lachte der Skinhead und fragte:
"Willst du gleich was in die Fresse, oder wollen wir erst 'rausgehen?"
Übrigens soll Lessas Lieblingsaufenthalt ein Spielplatz sein. Dort trifft sie sich mit mehreren Jungen, die noch nicht volljährig sind. Einmal hatten sie einen Radiorecorder dabei, und Lessa tanzte den Jungen etwas vor.
"Richtig fett soll sie jetzt sein", erzählte Simon, "und immer noch diese ausgeschnittenen Kleider tragen."
Am Morgen hatte ich folgenden Traum:

Rafa war bei einem Unfall ums Leben gekommen.
"Ich fühle, er ist hier; er kann nicht tot sein", sagte ich zu mir.

Dann wachte ich auf und stellte voller Erleichterung fest:
"Es stimmt, er ist nicht tot."

In einem weiteren Traum spielte ich die Rolle einer Frau, die ihr Kind suchte. Ich ging allein durch ein großes, fremdes Haus und begegnete einem Sexualstraftäter. Ich achtete nicht auf ihn, denn wenige Schritt entfernt sah ich meinen zweijährigen Sohn verängstigt unter einem Tisch sitzen. Mein Ehemann - es war nicht Rafa! - kniete davor und bedrohte den Jungen.
"Laß' das Kind los!" rief ich voller Wut.
"Wieso, ich mach' das jeden Tag, also auch heute", erwiderte der Mann hämisch. "Ich kann dich auch vergewaltigen."
Ich hatte jetzt zwei Gegner, den Sexualstraftäter und meinen eigenen Mann. Der Straftäter verhielt sich allerdings ruhig. Der Ehemann stürzte sich auf mich. Ich sprang ihn an, kniete auf ihm und drückte ihm meine Daumen über seinem Brustbein in den Hals. Schließlich war der Mann tot, und ich konnte mit aller Sorgfalt die Beerdigung ausrichten.
Es ekelte mich, daß ich mir an einem Kinderschänder die Hände schmutzig machen mußte.

In einem anderen Traum wußte ich schon wieder nicht, ob Rafa tot ist oder lebt. Ich wußte nicht, was Traum war und was Wirklichkeit.

Am Mittwoch traf ich Gart im "Zone". Der konnte allerlei von früher erzählen:
"Damals haben Rafa und Dolf sich die Frauen geteilt. Die gingen auf Parties und schauten, was da war und wer auf wen stand. Dann hat sich Rafa eine mit ins Bett genommen und anschließend einen Streit angezettelt, so daß die dann zu Dolf gelaufen ist, um sich auszuheulen. So konnte Dolf sich die nehmen. Manchmal ging das auch mal hin und wieder zurück. Die haben mich sogar eingeladen, mitzumachen. Ich war ja voll drauf, voll gestylt, und groß und blond, und die Frauen haben auf mich gestanden. Da kam Rafa an und hat zu mir gesagt:
'Also, wir sind so eine eingeschworene Gemeinschaft, ein Club. Weißt du, ich habe da so eine Freundin - das kracht wohl bald, und hast du vielleicht mal Zeit und kümmerst dich um die, damit die keinen Blödsinn macht?'"
Gart hat angeblich nicht an diesen Spielchen teilgenommen.
"Rafa will immer die Kontrolle", meinte Gart. "Er nimmt nur Frauen, die ihm unterlegen sind, mit denen er machen kann, was er will und wo er auch noch welche nebenbei haben kann."
"Deshalb will er mich auch nicht", folgerte ich.
"Rafa mißtraut den Frauen, die ihm überlegen sind", vermutete Gart.
"Weil er durch sie die Kontrolle über seine Gefühle verlieren könnte", ergänzte ich.
"Rafa tötet seine Gefühle."
"Rafa kann perfekt seine Gefühle verbergen."
"Ja, das kann er!" nickte Gart.
Rafas Liebschaften mit wildfremden Menschen konnten bisweilen durchaus unangenehm werden. Im Ruhrgebiet soll er mit einem Mädchen angebändelt haben, das sich als Sadomasochistin entpuppte. Sie kam nach H. mit einem Köfferchen voller Utensilien und wollte bei Rafa übernachten. Er soll bleich gewesen sein, als er mit ihr fortging. Wenn man ihn später auf diese Dame ansprach, antwortete er nur:
"Ich kenne die nicht."
Einmal sprach Gart ihn auf sein überhebliches Getue an:
"Du bist doch auch nur so ein armes, empfindliches Bürschlein."
Da soll Rafa sehr böse geworden sein.
"Ich kenne dich nicht mehr", soll er wütend zu Gart gesagt haben. "'Hallo' sage ich noch, aber sonst nichts mehr."
Ende Juli traf ich Sazar im "Zone". Ich fragte ihn, weshalb Rafa vor einigen Wochen nicht im "Inferno" aufgelegt hat, obwohl er als DJ angekündigt war.
"Ist einfach nicht gekommen", berichtete Sazar. "Der kann uns mal. Kappa war auch voll sauer und hat gesagt, er soll wegbleiben."
Anfang August bummelte ich mit Merle und Elaine nachmittags durch die Altstadt. Elaine hüpfte um uns herum und rief immerzu:
"Hetty! Hetty! Hetty!"
In einer Boutique begrüßte mich eine Verkäuferin, die sich an mich noch aus der Zeit erinnern kann, als ich häufig im "Trauma" war.
Merle schafft es kaum noch, in Discotheken zu gehen, weil ihre Schwester meistens nicht bereit ist, Elaine zu hüten. Zudem vertraut Merle ihre Tochter nur ungern anderen Leuten an, selbst wenn es sich um enge Verwandte handelt.
Am 08.08. klingelte gegen zwölf Uhr mittags einmal das Telefon; danach herrschte gleich wieder Stille. Um halb neun Uhr abends klingelte ebenfalls das Telefon. Ich nahm ab und hörte nur sehr leise Geräusche. Nach etwa einer Viertelminute wurde die Verbindung unterbrochen.
Am späteren Abend gab es eine Veranstaltung im "Inferno". Till hatte einen Auftritt, der recht gut ankam. Seine Musik klingt wie früher nach Electronic Body Music. Dabei hört er inzwischen gerne Techno.
Im "Inferno" traf ich Lillien. Sie trug ihre Haare millimeterkurz und hatte eine Latzhose an. Wenn sie nicht tanzte, saß sie bei ihrem neuen Freund auf dem Schoß. Lilliens größter Wunsch hat sich erfüllt - sie erwartet ein Kind.
Greta Hesse kam mit einem eng um den Kopf gewickelten schwarzen Tuch ins "Inferno". Es heißt, daß sie auf jeden Fall überleben wird. Ich sah sie meistens bei Janssen sitzen. Sie schaute oft zu mir herüber; was das zu bedeuten hat, weiß ich nicht.
Sazar hat sich inzwischen von Diane getrennt. Er erzählte, sie hätten nur noch miteinander gestritten, und da habe es keinen Sinn mehr gehabt. Trotzdem, er wolle "dieses kleine, verzogene Gör" unbedingt wiederhaben. Er sehne sich nach Diane.
Nein, Liebe sei es wohl nicht, aber man könne doch trotzdem Sehnsucht nach einem Menschen haben?
Julienne, die habe er geliebt, aber damit sei es vorbei; sie habe ihn einfach zu sehr verletzt, als sie ihn von einem Tag zum anderen verließ.
Am Samstag traf ich Norman im "Radiostern", der mir erzählte, Reesli und Dale würden wieder Experimente mit verschiedenen Drogen machen und könnten deshalb heute nicht da sein. Reesli soll das von ihm so geschätzte Lachgas mit allen möglichen anderen Substanzen kombinieren.
Constri und ich unterhielten uns auch mit Cyber. Voller Begeisterung erzählte er von seinem dreijährigen Sohn Yves. Das Kind ist ein Geschenk des Zufalls. Cyber ist mit dessen Mutter Yvette nicht zusammen. Sie hatten nur eine schöne Nacht, ohne sich für eine feste Beziehung zu entscheiden. Doch die beiden verstehen sich und erziehen das Kind gemeinsam, wenn auch in getrennten Wohnungen.
Aus dem "Elizium" gibt es Neues über Janssen. Revil erzählte, er habe dort ein Mädchen entdeckt, das ihm gut gefallen habe. Es sei wohl erst siebzehn Jahre alt. Als er das Mädchen zum Tanzen aufgefordert habe, habe es geantwortet:
"Ich kann nicht; ich warte auf meinen Freund."
Der Freund soll auch gleich erschienen sein - und siehe da - es war Janssen. Er pflegt jeden Zweifel an seiner Treue entrüstet zurückzuweisen. Er fühlt sich gänzlich frei von jeder Schuld.
Viridiana ist kürzlich wieder im "Elizium" gewesen, hochschwanger, und man wisperte ihr zu, sie solle auf ihren Freund achtgeben. Deshalb hat sie mit Janssen auch schon Auseinandersetzungen gehabt.
Am 10.08. klingelte vormittags zweimal das Telefon, je zweimal, und verstummte, ehe ich den Hörer abnehmen konnte.

In einem Traum hatte einen Job, in dem ich untergeordnete, meinen Fähigkeiten nicht entsprechende Tätigkeiten verrichten mußte. Eine mißgünstige Kollegin, von Beruf Krankenschwester, bemängelte, daß ich nur selten zum Arbeiten käme. Ich wies sie darauf hin, daß ich auf Abruf beschäftigt sei und nur selten gerufen würde. Weil die Kollegin keine Ruhe gab und an mir immer mehr auszusetzen fand, war es schließlich mit meiner Geduld vorbei, und ich schimpfte sie fürchterlich aus.

In der Nacht vom 10.08. zum 11.08. klingelte kurz nach zwei Uhr einmal das Telefon, dann war Stille.
Zwischen dem 11.08. nachmittags drei Uhr und dem 12.08. morgens zehn vor neun wurde von meinem Anrufbeantworter ein anonymer Anruf aufgezeichnet. Es handelte sich um etwa eine Minute scheußliches Gitarrengeschrammel.
Am Nachmittag des 11.08. kam ein Eintrag in das Internet-Gästebuch von Ace, Absender: "Rafa". Der Text lautete:
"Alles Mist!!!"
Ein neuer Intendant hat den Radiosender, bei dem Ace zehn Jahre lang ein Spartenprogramm für Independent und Avantgarde moderiert hat, umgewandelt in einen belanglosen "Muzak"-Sender. Dadurch wurde Ace überflüssig und mußte gehen. Deshalb hat es eine gewaltige Protestwelle gegeben, die jedoch nichts geholfen hat.
Am Mittwoch traf ich Cyber und Ace im "Zone". Ace war geknickt, bemühte sich jedoch um eine zuversichtliche Haltung.
Sazar verteilte Flyer für die Wiedereröffnung der "Katakomben" Anfang September. Vorübergehend war die Location geschlossen; das hatte wohl mit Brandschutzbestimmungen oder irgendetwas Ähnlichem zu tun.

In einem Traum kamen die Nazis wieder an die Macht, und auf einmal wurde lebensgefährlich, was vorher selbstverständlich gewesen war. Man durfte nicht mehr sagen, was man dachte, und dauernd mußte man vor irgendwelchen Patrouillen auf der Hut sein.
Die Nazis "eroberten" unser Wohnviertel, indem sie alle Häuser ansteckten, wo sie Widerstand vermuteten. Eines davon war eine Scheune mit Flachdach. Auf diesem Dach fand gerade ein Techno-Event statt. Die Nazis wagten sich nicht mehr in das brennende Haus, und so blieben die Feiernden ungestört. Ich lief über das Dach und wollte mich auf dem angrenzenden Grundstück in Sicherheit bringen. Ein Maschendrahtzahn war im Wege. Ich suchte nach Möglichkeiten, das Hindernis zu überwinden. Währenddessen lauschte ich dem Rhythmus der Musik und fing selbst Feuer, im übertragenen Sinne. Dicht bei mir tanzte einer gleichmäßig und gelassen vor sich hin. Die anderen wirkten etwas verängstigt, gaben sich aber trotzdem Mühe, fröhlich zu sein. Ich stellte mich neben den Tanzenden und tanzte mit. Ich schaffte mir sogar noch Platz zwischen den Leuten. Der Tanzende wies auf mich und rief einem Bekannten zu:
"Jetzt verrate mir eins - wer ist das?"
"Betty", antwortete der Befragte sogleich; dabei kannte ich ihn selber nicht einmal.

Mitte August war ich abends zu Besuch bei Clara und danach in HH. bei "Klangwerk". Was bei Clara noch alles passierte, als ich schon in HH. war, erzählte man mir später ausführlich. Daphne wollte Schicksal spielen und eröffnete Claras Gast Don vor allen Leuten, daß Clara es auf ihn abgesehen habe. Clara verließ den Raum, weil ihr die Situation peinlich war. Don bat Daphne, Clara mitzuteilen, daß er nichts von ihr wolle. Er habe schon gehört, daß sie ein Interesse an ihm habe. Doch er habe sie nicht verletzen wollen und ihr nicht die Wahrheit gesagt. Diese Feigheit im doppelten Sinn - daß er sich erst um eine Aussprache drückte und dann von anderen verlangte, Clara reinen Wein einzuschenken - machte dann für Clara das Maß voll. Sie meinte, schon länger Zweifel daran gehabt zu haben, daß Don der Richtige für sie sei. Innerlich habe sie sich bereits von ihm gelöst.
Mein Umzug in die außergewöhnlich schöne Wohnung ist verbunden mit einem andauernden Stimmungstief. Der Vollmond scheint auf das Dachgärtchen hinter meinem Fenster. Es sieht so bleich aus wie ein kleiner Friedhof. Warum kann ich das nicht sehen, ohne eine abgrundtiefe Trauer zu empfinden?
Am Mittwoch erzählte Gart im "Zone" noch mehr von Rafa. Einmal seien Rafa und Gart nach Ml. gefahren. Vorne im Auto saß Gart und baggerte ein Mädchen an, das jedoch etwas von Rafa wollte. Rafa saß hinten, zwischen zwei Mädchen. Das eine war seine Freundin, das andere baggerte er an. In Ml. schleppte Rafa das Mädchen, das er angegraben hatte, in die Büsche. Auf der Rückfahrt wurde auf einer Raststätte pausiert, und dort vernaschte Rafa das Mädchen, das Gart angegraben hatte, auch noch. Wieder zu Hause, bestieg Rafa seine Freundin. Am nächsten Tag prahlte Rafa damit, daß er drei Mädchen in einer Nacht geschafft hatte.
Über Kondome sagte Rafa damals nur:
"Äh - eklig."
Inzwischen hat er seine Meinung offenbar geändert.
Gart hat Siddra damals durch Rafa kennengelernt. Rafa stellt sie ihm folgendermaßen vor:
"Hier, das ist Siddra; die kann man so schön vera...en, und die merkt das nicht."
Einmal setzte Rafa sich mit Siddra und Gart an den Rand des Hallenteiches. Rafa sorgte dafür, daß Siddra in der Mitte saß. Dann gab Rafa dem Gart Zeichen, daß er gemeinsam mit ihm Siddra ins Wasser stoßen sollte. Siddra war aufwendig gestylt, und ihr Aussehen wäre ruiniert gewesen, wenn sie wirklich im Wasser gelandet wäre.
Für Siddra empfindet Gart auch heute noch eine besondere Dankbarkeit:
"Siddra habe ich in der 'Halle' kennengelernt, als ich mich wieder einmal umbringen wollte. Ich war voll breit und wollte ein Glas essen. Und da kam Siddra, und seitdem waren wir zusammen."
Rafa soll es damals auf Siddra abgesehen haben; sie wollte ihn aber nicht. Gart bekam sie, und das soll Rafa gar nicht gepaßt haben.
Bei Terry hat Rafa es auch schon versucht. In der "Halle" fragte er sie:
"Wie bist du denn da?"
"Mit dem Auto", antwortete sie.
"Dann laß' uns mal 'rausgehen in dein Auto", kam da sogleich.
Terry lehnte dankend ab.
Am Samstag war ich auf Violets Geburtstagsfeier und traf dort Lessa. Ich hatte den Eindruck, daß Lessa sich bei Violet besonders beliebt machen wollte. Vielleicht hofft Lessa, daß Violet sich um sie kümmert. Lessa hat sich durch ihre Aggressivität ziemlich einsam gemacht.
Nachts erzählte mir Aimée im "Elizium", daß sie Sten angezeigt hat, weil er sie fast bewußtlos geschlagen habe. Es gebe schon eine umfangreiche Akte über Sten, da er sich mehrfach der Körperverletzung schuldig gemacht habe. Aimée ist mit Andras immer noch zusammen. Beide trugen prächtige Kunsthaarzöpfe in Schwarz und Bonbonrot.

In einem Traum war ich draußen auf dem Land mit zwei Begleitern, wahrscheinlich Constri und Carl. Wir gingen auf einen einsamen Bahnhof zu. Da näherte sich gerade ein Zug, und den mußten wir erreichen, denn danach würde lange keiner mehr fahren. Uns trennten noch mehrere Gleiskörper von dem haltenden Zug.
"Lauft vor! Ich kann nicht so schnell rennen!" rief ich meinen Begleitern zu. "Stellt euch auf die Trittstufen, redet mit dem Schaffner, haltet den Zug irgendwie auf!"
Sie rannten los, und ich folgte ihnen, so rasch ich konnte. Ich stolperte über die Gleise, eins nach dem anderen. Dann kam ich zu dem Zug und stieg ein. Der Zug hatte viel länger gehalten, als es auf kleinen Bahnhöfen üblich ist. Hier konnte aber nicht die Endstation sein, denn der Zug war voller Menschen.

Schon wieder sagt mir ein Traum, daß ich es noch schaffen kann, obwohl ich langsamer bin und später dran als andere.
Ich kenne aus meiner Kindheit noch diese Träume, in denen ich mich an bestimmte Zeiten halten mußte und es nicht schaffte. Ich verlor das Zeitgefühl, die Kontrolle und die Orientierung. Ich wollte zur Schule, verpaßte aber eine Stunde nach der anderen.
In Wirklichkeit gab es solche Versäumnisse nicht, aber immer die Furcht, den Anschluß zu verlieren. Ich verlor ihn jedoch nie, im Gegenteil. Das Abitur machte ich mit neunzehn Jahren, wie andere auch, und ich bekam gleich danach meinen Studienplatz. Die Furcht war also unbegründet.
Die Träume in späteren Jahren, wie dieser jetzige, sind zuversichtlicher als die Träume meiner Kindheit. Sie vermitteln mir, daß ich sehr wohl den Anschluß bekomme und daß mir dabei auch noch von anderen geholfen wird.
Ende August gab es im "Read Only Memory" ein Festival des Labels Zoth Ommog. Am besten gefiel mir der Auftritt von In strict confidence. Wir tanzten fröhlich vor der Bühne. Ich dachte daran, daß kein Beruf mich dazu bringen wird, diese Szenewelt zu verlassen.
Alan war da und zeigte mir gegenüber eine fast unterwürfige Verehrung. Er neigt allgemein zu einem solchen Verhalten. Vor dem Sänger von Funker Vogt sprang er in die Höhe, sang mit in dessen Mikrophon und zerrte mich heran, damit ich genauso in die Höhe sprang. Ich wollte aber nur tanzen.
Vor dem "Read Only Memory" saßen wir für eine Weile an einem Tisch. Am Nebentisch saßen einige von Rafas Verehrerinnen, darunter auch Greta Hesse. Eines der Mädchen ließ dauernd den Namen von Rafas Band fallen:
"Ein Konzert von W.E, als Vorgruppe W.E ..."
Ich frage mich, ob sie von mir eine Reaktion erhoffte. Ich sagte dazu nichts.
Als Constri nach dem Konzert nach Hause kam, lag Derek im Flur auf dem Boden und schlief. Er war umringt von Trümmern und Scherben. Im Bad hatte Derek die Mitteltür des Spiegelschränkchens eingeschlagen. Außerdem hatte er eine Lampe von der Wand gerissen und dem Meerschweinchenkäfig eine Delle zugefügt. Während Constri diese neuesten Werke besichtigte, wachte Derek auf und machte große Augen. Kleinlaut fing er an, die Scherben einzusammeln. Constri ging schlafen und kümmerte sich nicht weiter um ihn. Nach einer Weile kam Derek zu ihr ins Bett und wollte kuscheln. Am nächsten Tag mußte Derek sich von Constri am laufenden Band zynische Bemerkungen anhören:
"Was ist denn da jetzt im Bad für ein tolles Kunstwerk? Und diese Delle im Meerschweinchenkäfig, die ist ja äußerst praktisch, da können die ja jetzt viel besser 'rausgucken."
"Das mußte sein", erklärte Derek die Verwüstungen. "Ich hatte nämlich kein Geld mehr für Zigaretten."
Er hatte sogar Constris Portemonnaie aus der Schublade geholt, aufs Bett geworfen und nach Kleingeld durchsucht. Allerdings hatte er nicht genug Geld gefunden.
Clarice hat inzwischen mit Damian Schluß gemacht, weil ihr die Beziehung nicht das gab, was sie erhoffte. Sie hat schon eine neue Liebe, Leander, und sie ist verzaubert, weil bislang noch nie so verliebt war.
Am Mittwoch sprach Lara mich im "Zone" an:
"Darf ich dir mal eine ganz persönliche Frage stellen?"
"Ja, sicher", meinte ich.
"Wirklich, darf ich?"
"Ja, sicher", nickte ich. "Natürlich."
"Willst du eigentlich immer noch was von Rafa?"
"Ja, klar", sagte ich freundlich.
"Sag' mal, weißt du eigentlich, wie der die Leute vera...t?"
"Natürlich weiß ich das", antwortete ich. "Der ist ein absoluter Psychopath. Der ist absolut seelisch krank."
"Und warum willst du dann noch was von dem?"
"Das ist nicht rational", erklärte ich. "Das hat nichts mit dem Verstand zu tun."
"Weißt du eigentlich, wie fies der sein kann?"
"Das weiß ich ganz genau, wie fies der ist. Der ist absolut nur fies. In seinem Leben ist nur Platz für ihn selber. Da ist kein Platz für andere Menschen. Und sich selbst akzeptiert er im Grunde auch nicht. Der ist bindungsgestört."
"Und was willst du dann von ihm?"
"Alles."
"Bildest du dir da nicht was ein?"
"Ich würde mir nur dann etwas einbilden, wenn ich mir Hoffnungen machen würde", erklärte ich. "Und das tue ich nicht. Ich bilde mir ja nicht ein, daß das was wird. Ich bin jemand, der die Dinge immer am liebsten möglichst nüchtern sieht. Aber es gibt eben Dinge, die man mit dem Verstand nicht erfassen kann, und ich akzeptiere das."
"Du, der vera...t einen voll!" warnte Lara.
"Mich hat er gar nicht mehr vera...en können, weil ich schon vorher gewußt habe, was das für einer ist", erzählte ich. "Er kann mir nichts mehr vormachen."
"Was würdest du denn machen, wenn er jetzt auf dich zukommen würde und dich fragen würde, ob du mit ihm zusammensein willst?"
"Ich würde ihm das erstmal gar nicht unbedingt glauben. Denn er lügt ja viel."
"Ja, der erzählt eine ganze Menge."
"Also, mir erzählt er im Moment überhaupt nichts. Ich habe ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Im Juli habe ich den zum letzten Mal gesehen."
"Ich habe das jetzt eineinhalb Jahre lang mitgemacht", erzählte Lara, "und ich bin froh, daß ich den jetzt nicht mehr sehen muß."
"Nach meinen Beobachtungen ist der inzwischen fast nirgendwo mehr."
"Na ja, vielleicht hat der ja jetzt wieder eine Arbeit."
"Das möchte ich doch stark bezweifeln. Der ist extrem unreif und extrem unselbständig. Der lebt wie ein Kind zu Hause. Ich meine, zu Hause hat er es ja sehr bequem. Bei Muttchen und so ..."
"Na ja, die Mutter läßt sich aber auch nicht alles bieten."
"Ja, aber sie wirft ihn auch nicht 'raus. Und das könnte sie eigentlich mal langsam machen."
"Na, sie hat schon ihre Gründe, warum sie das nicht macht. Schließlich ist er der Einzige, den sie noch hat. Ihr Mann ist ja tot."
"Ja, aber deswegen kann sie ihn doch nicht daran hindern, selbständig zu werden. Wenn das mein Kind wäre, dann würde ich dafür sorgen, daß der selbständig wird, auch im Interesse von dem Kind, und nicht nur an mich denken, und halt dafür sorgen, daß der mal selbständig wird. Ich würde mir sagen, entweder ich schmeiße den ins kalte Wasser, oder der wird niemals selbständig."
"Wieso, er ist doch selbständig. Sie hängt sich doch da nicht 'rein."
"Ja, aber zwischen seinem Wohn- und Schlafzimmer und der Küche ist eine dünne Holztür. Und hinter dieser Holztür spielt sich sein gesamtes Privatleben ab, sein Liebesleben und alles."
"Das kriegt die Mutter doch eh nicht mit."
"Das kann ich mir nicht vorstellen, daß die das wirklich nicht mitkriegt", meinte ich. "Ich würde das mitkriegen, bei so einer dünnen Tür. Vielleicht will die das auch nicht mitkriegen, aber ich denke, sie kann es nicht verhindern. Außerdem - mich würde das wahnsinnig machen, wenn ich da Tür an Tür in derselben Wohnung mit meiner Mutter leben würde. Ich meine, ich habe zu meiner Mutter ein gutes Verhältnis, aber trotzdem, ich brauche mein eigenes Leben. Und wenn das mein Kind wäre, dann würde ich auch mein eigenes Leben haben wollen und das 'rauswerfen. Aber achtkantig würde ich das 'rauswerfen."
"Na ja, ich bin auch zwanzig, und ich wohne auch noch zu Hause, weil ich mir das auch noch gar nicht leisten könnte, alleine zu wohnen."
"Aber Rafa könnte es sich leisten."
"Ja, stimmt."
"Der hat ja auch schon gearbeitet. Der könnte sich das durchaus leisten, alleine zu wohnen. Aber er hat wieder aufgehört zu arbeiten."
"Ihm fehlt wohl der Anreiz, zu arbeiten. Er hat ja zu Hause das gemachte Nest."
"Genau das ist der Punkt", meinte ich, "deswegen verhindert seine Mutter ja auch, daß er selbständig wird. Die ist abhängig von ihm. Die klammert sich an ihn."
Ein neuer Clubhit im "Zone" ist "Become an angel" von In strict confidence. Les spielte auch meinen besonderen Wunsch "Dark side of the life" von Dissecting Table.
Revco war zu meiner Überraschung im "Zone" und schilderte den Verlauf seiner Karriere als Musiker. Er behauptete, er habe "hochkarätigen Labels" eine Absage erteilt, da er unbedingt allein produzieren wolle.
"Selber schuld", bemerkte ich trocken.



Am nächsten Mittwoch hatten wir bei Terry im Studentenwohnheim Prosecco, Saure Stäbchen und Chips. Wir nahmen von den Süßigkeiten reichlich mit ins "Zone" und belegten dort einen großen Tisch mit Beschlag. Wir deckten auf, was wir hatten, auch Cola-Schnüre und Mini-Negerküsse in verschiedenen Helligkeitsstufen. Der Blumenstrauß lag daneben, den Clara von Tibera zum Geburtstag bekam. Tibera haben wir durch Terry kennengelernt. Sie lebt in Terrys Heimatstadt HM.
Es waren viele Leute im "Zone", die wir kannten, darunter Talis und Zoë. Gart stellte mir seine Freundin Ismene vor, mit der er seit einem halben Jahr zusammen ist. Sie ist groß und etwas füllig, und sie macht sich sehr hübsch zurecht. Sie trägt lange Korkenzieher-Locken und Reifröcke. Ismene wirkt auf mich ruhig, bescheiden und nett.
Gart erzählte, Ismene habe für ihn Liebesgrüße in einer Szenezeitschrift inseriert. Für Rafa sei in einer anderen Szenezeitschrift eine Annonce erschienen, in der ihm irgendwer "ewige Liebe" verspricht.
Rafa kam eher spät ins "Zone", erst gegen halb eins. Er trug eine elegante hellgraue Jacke, antailliert und benäht mit großen schwarzen Schnörkeln. Die Haare waren ordentlich hochgestellt, und er hatte sich eine seiner "Schutzbrillen" aufgesetzt. Sehr dicht ging er mit seiner Freundin an uns vorbei.
Ich trug mein schwarzes Spitzenoberteil und das dunkelrote Tutu mit den schwarzen Spitzenborten, das ich von Lana bekommen habe. Die Handschuhe, die Strumpfhose und die Schnürsenkel waren auch aus schwarzer Spitze, das Haarband aus dunkelrotem Organza. Ich hatte mir gerade Claras großen Fächer ausgeborgt und war damit beschäftigt, Constri und mir mit weit ausholenden Bewegungen Luft zuzufächeln. Constri hatte ihre Arme gehoben, damit sie ordentlich durchlüftete. Rafa schaute etwas belustigt zu uns herüber. Dann legte er den Arm um die Freundin und zog sie weiter.
Ivco kam zu uns an den Tisch. Constri gab ihm Weingummis zu essen. Er fand sie fürchterlich.
Rafa hielt sich mit der Freundin unterhalb vom DJ-Pult auf. Er begrüßte Gart.
Gart erzählte mir später, Rafa habe zu ihm gesagt:
"Darf ich dir meine Freundin vorstellen?"
Gart habe sich über das nichtssagende Geschöpf gewundert, das Rafa mitgebracht hatte. Rafas Freundin hatte zwar ein schickeres Kleid an, schwarz, lang und schmal und ein bißchen durchsichtig. Trotzdem machte sie auf Gart einen ausgesprochen faden und langweiligen Eindruck.
"Hier, darf ich dir meine Freundin vorstellen?" sagte Gart zu Rafa und zeigte stolz auf Ismene.
Rafa soll "voll die Kinnlade 'runtergefallen" sein.
"Rafa schafft das nie, so attraktive Frauen zu kriegen wie ich", versicherte Gart. "Der kriegt immer nur solche komischen Tussis ab, Puttchen oder Schlampen. Die anderen wollen den nämlich nicht, wegen seinem Image."
Im Vorraum unterhielt ich mich mit Talis. Er berichtete, zu Zoë finde er kaum Zugang. Sie sei verschlossen und schwierig.
Sazar kam vorbeigehüpft und auch Sten, der inzwischen behauptete, Aimée gar nicht geschlagen zu haben.
"Sten, Sten, aus Fehlern kann man lernen", sagte ich zu ihm.
Als ich zurück in den Tanzsaal kam, berichtete Terry, Rafa sei soeben wieder mit der Freundin vorbeigekommen und habe zu Terry freundlich lächelnd "Hallo" gesagt.
Gegen Morgen kam Ivco noch einmal zu unserem Tisch, und wir unterhielten uns ein wenig. In Ivcos Windschatten näherte sich auch Rafa mit seiner Freundin, die er vor sich herschob. Rafa stellte sich seitlich zu mir, so dicht, daß er mich fast berührte. Ich streichelte über seine Hüfte.
"Es gibt niemanden, der erotischere Hüftknochen hat als er", dachte ich, "und wenn ich jetzt nicht zugreife, kann ich es vielleicht in meinem Leben nicht mehr."
Während ich Rafa berührte, unterbrach ich das Gespräch mit Ivco nicht. Rafa sah mich an, aber ich schaute ihm nicht in die Augen. Er drehte mir schließlich den Rücken zu. Ich wollte um seine Taille herumgreifen, aber die Freundin merkte das und stieß meine Hand weg. Ich wandte mich ab. Ivco ging mit den anderen weiter, und ich setzte mich auf den Tisch.
"Rafa ist selber schuld, wenn er so dicht an mich herankommt", dachte ich.
"Sag' mal, was war das denn eben?" staunte Tibera über die aufgebrachte Geste von Rafas Freundin. "Die wollte dich wohl gleich zusammenschlagen?"
Rafa stellte sich vor uns, unterhalb der Brüstung, mit der Freundin auf. Er schien mich zu beobachten, aber ich sah nicht zu ihm hin. Die anderen haben bemerkt, daß er sehr viel zu uns herübergeschaut hat.
Rafa suchte sich mit der Freundin einen Platz an der Ecke der Tanzfläche, wo ich meistens tanze. Er soll aufmerksam zugeschaut haben.
Gegen Morgen gingen Rafa und Ivco nach hinten und spielten Tischfußball. Rafas Freundin war bei ihnen. Als ich noch einmal zu den Waschräumen ging, mußte ich an ihnen vorbei. Rafas Freundin kam mir nach und richtete sich vor einem Spiegel. Sie sprach mich aber nicht an und ging gleich wieder hinaus.
Wenig später verließen Rafa, Ivco und Rafas Freundin das "Zone".
Als die "Katakomben" wieder ihre Pforten öffneten, fand ich die Musik dort erfreulich anspruchsvoll. Es lief sogar "How fortunate the man with none" von Dead can dance, welches den seltenen 7/8-Rhythmus hat. Macro ist kaum noch in H. Sazar bestritt das Programm, gemeinsam mit Janssen.
Aimée erzählte, daß Andras ohne Angabe von Gründen mit ihr Schluß gemacht hat.

In einem Traum wurde ich abends von Rafa angerufen. Er berichtete, sein Zimmer sei so dermaßen unaufgeräumt; er könne es nicht mehr schaffen, das Zimmer in Ordnung zu halten. Er habe es nicht mehr im Griff. Ob er den Abend bei mir verbringen dürfe?
Ich sagte ihm, er könne gerne sofort kommen. Das tat er dann auch und brachte ein Mädchen namens Ruby mit, das sehr grimmig guckte. Ich ließ die beiden in meine Stube und sagte, ich würde ihnen schon ein Lager machen. Rafa fragte provokant, wie das denn wäre, wenn er mit Ruby jetzt schlafen würde.
"Also, in meiner Wohnung nicht, auf keinen Fall", erwiderte ich, "wenn, dann müßt ihr das schon auf dem Dachboden machen. Das Mädchen hätte ich ja am liebsten sofort wieder 'rausgeschmissen, aber ich bin ein Menschenfreund und sozial eingestellt und überhaupt sehr liebenswert."
"Ja, ja! Jetzt auch noch sich selbst beweihräuchern!" giftete Ruby. "Jetzt sag' doch was, jetzt sag' doch was, damit es endlich 'rauskommt! Jetzt wird's aber wohl mal Zeit, oder? Jetzt wird's aber wohl mal Zeit!"
Ich ging darauf nicht ein.
"Dann mal gute Nacht", sagte ich und legte mich schlafen, ohne für die beiden eine Bettstatt vorzubereiten.
Am anderen Morgen war in der Wohnung alles ruhig. Ich ging im weißseidenen Nachthemd hinunter in einen geräumigen Keller. Dort hatte Rafa sich eingerichtet. Er saß mit dem Rücken zu mir an einem Tisch, der in der Mitte des ziemlich vollgestellten Kellergeschosses auf dem Estrich stand. Zwischen Tisch und Tür gab es eine größere freie Fläche. Rafa war allein. Ich ging auf ihn zu.
"Na?" fragte er kess. "Noch schön gefeiert?"
"Ich bin gleich zu Bett gegangen und habe sehr gut geschlafen", antwortete ich. "Es war sehr ruhig."
"Oh, warum war denn das ruhig?" fragte er lauernd.
"Ja ... ich nehme an, weil ihr gleich danach wieder abgefahren seid, ne?" gab ich zurück.
"Stimmt."
"So ... und du hast jetzt dein Zimmer hier unten im Keller? Wolltest du nicht woanders logieren?"
"Aach ... ich ... äm ... ich logiere nicht so gerne über längere Zeit woanders", erklärte Rafa mit Unschuldsmiene. "Und das ist so verlockend, wenn jemand zu mir sagt, ich habe ein Auto ... da fährt man dann halt eben mit."
"Als du mit dieser Dreckschlampe da aufgekreuzt bist, hätte ich euch ja sowieso gleich am liebsten wieder 'rausgeschmissen. Ich will das nicht immer, daß du mit irgendwelchen Weibern da 'rummachst. Ich will dich für mich alleine."
Rafa erhob sich und stand dicht vor mir. Ich nahm ihn in die Arme.
"Ich will dich für mich alleine haben", wiederholte ich.
"Ich liebe dich", sagte er in einem zickigen Tonfall. "Du bist wunderschön."
Dann erzählte er, daß er soeben ein Lied für mich gemacht hatte. Er stellte dieses auch sofort an. Ich wunderte mich sehr über dieses Lied. Es war im Stil alter New-Romantic-Klassiker gehalten und klang zart-melancholisch. Es bewegte und beeindruckte mich, und ich sagte Rafa das auch. Er schien tief gerührt. Er nahm mich auf den Arm und trug mich in einen angrenzenden Raum, wo sich eine Bar befand. Die CD mit dem neuen Stück gab Rafa der Bardame mit der Bitte, sie einzulegen. Die Bardame war übrigens nicht Rafas Freundin, sondern ein fremdes Mädchen mit kurzen blonden Haaren.
Rafa behielt mich auch auf dem Arm, als er sich an die Theke setzte. Ich war andauernd damit beschäftigt, in seinen Haaren zu wühlen und seine Schultern zu streicheln. Das Lied erklang; es war das einzige auf der CD.
"He!" staunte die Bardame. "Warum wird denn auf einmal die Musik so gut?"
"Weil er sie gemacht hat", erklärte ich, immer noch mit Rafa kuschelnd. "Für mich."
Die Bardame schien ein wenig neidisch zu sein. Sie drehte sich zunächst weg, kam dann aber wieder freundlich heran.
"Ja, das Stück erinnert an die frühen New Romantics", fügte ich ergänzend hinzu. "Es ist denen wohl nachempfunden."
Die Bardame nickte. Sie konnte anscheinend besser damit umgehen, wenn sie die Vorstellung hatte, daß Rafa wenigstens ein bißchen von anderen abgeschaut hatte und nicht alles nur aus ihm selbst gekommen war. Sie schien es nicht gerne zu sehen, wenn Rafa etwas Besonderes hervorbrachte. Ich hingegen freute mich, daß es endlich wieder einen Titel von Rafa gab, der mir gefiel ... und das lag vielleicht daran, daß das Stück für mich gemacht war. Das Stück "Schneemann" gefällt mich auch, und dieses hat Rafa ebenfalls für mich gemacht.

Dieser Traum zeigt wieder einmal die offenkundig starke Bindung von Rafa an mich, die durchsetzt ist mit Geltungsbedürfnis, Unsicherheit, Beharren auf altbewährten Strukturen, Bequemlichkeit, Unreife, Depressivität, einer geringen Frustrationstoleranz und einem instabilen Selbstwertgefühl. Er sucht Liebe und Geborgenheit bei mir, will mir aber keine Hoffnungen machen. Es zieht ihn zu mir, und gleichzeitig will er sich gegen mich abgrenzen.
Am Ende des Traumes hat Rafa sich zu mir bekannt, und das läßt mich zum wiederholten Male fragen, ob die Träume uns in die Irre führen oder ob sie uns den richtigen Weg weisen. Daß ich Rafa liebe, weiß ich, aber woher soll ich wissen, ob er mich liebt? Er würde es ja nicht zeigen. Er würde das Gefühl wegdrängen und vergessen wollen, so daß auch er selbst nicht mehr an das Gefühl herankommt.
In dem Haus, wo ich jetzt lebe, gibt es übrigens keinen Dachboden. Einen geräumigen Keller gibt es jedoch, wenn auch ohne Kellerbar.
Mittwochs treffen wir uns jetzt meistens bei Terry, bevor wir ins "Zone" fahren. Dort gibt es zum Abendessen Geflügelfleischwurst, frische Gurke und Orangensaft. Terry hat manchmal sogar selbstgebackenes Brot für uns.
Clara hat über eine Annonce in einer Szenezeitschrift Ray kennengelernt, und innerhalb einer Woche kamen sie zusammen. Noch eine Woche später, und sie waren verlobt. Die gemeinsame Wohnung ist schon in Aussicht. Wir sind alle gespannt, ob das hält.
Für das "Zone" wurde Ray von Clara "feingemacht" mit Rüschenhemd und schwarzer Hose. Die Lippen schminkte er sich auch schwarz. Wir mochten Ray gleich; er wirkt unaufdringlich nett, ist höflich und hat ein lausbubenhaftes Grinsen. Im Leben hat er nichts Nennenswertes erreicht, scheint aber auch keine großen Erwartungen zu haben.
Terry erzählt mir oft von Leuten, die sie "nervtötend" findet.
"Dann müßte ja gerade ich mit meiner Hektik und meiner Redseligkeit dich ganz fürchterlich nerven", vermutete ich.
"Nein", erwiderten Terry und Clara einhellig, "du redest zwar viel, aber das, was du sagst, hat Inhalt. Außerdem kann man mit dir auf ganz vielen verschiedenen Ebenen reden, sowohl ernst als auch albern."
Für meine Umzugshelfer gab ich Mitte September eine Grillparty. Meine Wohnung hat etwas von einem Empfangssaal, durch die himmelhohe Decke, die Glaswand und den großzügigen Balkon. Mit einem Elektrogrill haben wir auf dem Balkon eine Lagerfeuer-Atmosphäre gezaubert. Die Abenddämmerung sorgte für eine stimmungsvolle Kulisse.
Leider kann ich mich an diesen Gaben immer noch nicht so recht freuen. Die Zukunftssorgen verhindern es.
Der Professor gab mir im Hochschulcafé eine Lasagne und ein Tiramisu-Shake aus und erzählte mir eine Geschichte von einem Psychiatrie-Professor im Hause. Dieser ist kein unsympathischer Mensch, aber halt sehr verträumt und ein etwas weltferner Philosoph. Vor Jahren hat er einen Ruf nach B. erhalten und wußte seitdem nicht, ob er in H. bleiben oder nach B. gehen wollte. Damit legte er den Betrieb zweier Universitäten lahm. Schließlich rief der Psychiatrie-Professor bei meinem Psychologie-Professor an und bat ihn um einen Rat:
"Ich hätte mich bis zum letzten Freitag entscheiden müssen. Was soll ich jetzt nur tun?"
Der Professor gab ihm einen Rat - den Rat, sich zu entscheiden.
Mensch der Tat sein, handeln, statt die zur Verfügung stehenden Reserven von Selbstzweifeln und Schuldgefühlen verbrauchen zu lassen, die Flucht nach vorn wagen, statt zermürbenden Gedanken nachzuhängen, Sorgen abzuschütteln wie lästige Insekten, sich von Trauer und Ängsten nicht auffressen zu lassen - das ist eine Kunst, die erlernt sein will.
"Man braucht die richtige innere Einstellung, sonst helfen einem die besten Ratschläge nichts", meint Constri. "Diese Einstellung muß man sich erarbeiten, und das geht nicht von heute auf morgen."
Sie hat gelernt, ihrem Derek verläßliche Grenzen zu setzen, und es ist ihr nur gelungen, weil sie an sich gearbeitet und mehr Gelassenheit erworben hat. In letzter Zeit ist Derek besonders artig. Er geht sogar mit Constri gemeinsam aus. Es war ihm sonst immer sehr wichtig, in Gesellschaft den Eindruck zu erwecken, er sei noch zu haben. Als vermeintlicher "Single" stieg er bei den Damen im Wert; er wurde umschmeichelt und umschwärmt und genoß das.
Janssen hat es noch erheblich weiter getrieben als Derek. Er hielt sich mehrere Freundinnen, die allesamt nichts voneinander wußten und jede für sich glaubten, sie seien die Einzige. Inzwischen bekam Janssen viel Ärger deswegen. Derek ist über seinen Schatten gesprungen und hat Janssen zur Rede gestellt. Viridiana wurde von mehreren Leuten über das Treiben ihres Verlobten ins Bild gesetzt. Sie sagte resignierend, sie habe es schon geahnt, "aber mit dem Kind kriege ich ja doch keinen anderen."



Als wir am Mittwoch ins "Zone" kamen, erzählte mir Tibera, daß Rafa da sei. Auch Talis sah Rafa, der mit seiner Freundin an unserem Stammplatz vorbeiging. Ich jedoch bekam weder Rafa noch seine Freundin zu sehen. Rafa muß sich gleich nach unserer Ankunft mit der Freundin in eine dunkle Ecke zurückgezogen haben.
Ivco war nicht so ängstlich. Er kam zu uns an den Tisch, und wir plauderten.
"Mußt du nicht für deine Klausur lernen?" fragte Constri streng.
"Na ja, Rafa hat mich ganz schön überredet", erklärte Ivco. "Er wollte unbedingt, daß ich mitkomme."
"Ach, dann wollte er dich wohl als Fahrer", vermutete ich.
"Nein, das nicht", entgegnete Ivco. "Er mußte ja noch nicht einmal selber fahren."
"Ach, dann ist bestimmt diese komische Tante gefahren."
"Ach, du meinst Berenice."
"Ja, diese Tussi, die immer so guckt wie ein Auto."
"Hm?"
"Wie ein Spielzeugauto auf Rädern."
"Reicht doch?" fand Ivco.
Er wirkte auf mich wie jemand, der mehr weiß, als er sagt.
Wir waren spät ins "Zone" gekommen, und Les mochte nicht mehr so viel Industrial spielen, aus Angst vor seinem Chef. So schlecht sei der Abend aber nun auch wieder nicht, meinte Les:
"Dein Rafa ist da, das ist doch auch etwas."
"Na ja, aber ich habe ihn ja gar nicht gesehen", erwiderte ich.
Es war erst halb zwei, als Rafa samt Begleitung heimfuhr. Ich frage mich, ob Rafa Schwierigkeiten mit meiner Anwesenheit hatte.
Sazar blieb dieses Mal von Anfang an in unserer Nähe, um nicht verlorenzugehen und mit Talis zurück nach H. fahren zu können. Auf dem Parkplatz hatte er eine Flasche Sekt in einer Fensternische beiseitegestellt, die er gemeinsam mit uns leerte. Etwas verlegen gestand er, daß er Geburtstag hatte.
Im Auto erzählte Sazar, Diane habe unter ihrem Kleid nie etwas angehabt. Das fand er sehr praktisch. Da konnte man auch hinterm DJ-Pult zur Sache kommen.
Diane soll kürzlich auf einer Erotik-Messe splitternackt erschienen sein, um sich Gummikleider auf den Körper sprühen zu lassen.
Die Zahl der Freundinnen, die Sazar gleichzeitig hat, schwankt gelegentlich. Auf Velvet hat er übrigens keinen Appetit. Er nannte uns seinen Spitznamen für Velvet: "Nasen-Barbara" - eine Anspielung auf ihre Hakennase.
Zum Partygespräch auf Zoës Geburtstagsfeier am Freitag gehörten Tattoos, Piercings und noch weitergehende Veränderungen des Körpers.
"Nach dem Piercing und Branding ist jetzt Amputating der neueste Hits der Ghetto-Kids von Chicago", zitierte ich eine Glosse. "Als besonders cool gilt es, sich eine Brust abnehmen zu lassen. Auch ein fehlender Mittelfinger ist schwer angesagt. Ein amputierter Fuß ist ebenfalls cool; allerdings ist es nicht egal, ob man sich den rechten oder den linken Fuß amputieren läßt, denn das zeigt die Bandenzugehörigkeit an. Man kann sich außerdem ein Stumpf-Tattoo machen lassen oder ein Stumpf-Piercing. Für Masochisten mit zwei amputierten Füßen gibt es das Stumpf-Wettrennen."
"Womit wir auch schon beim Sackhüpfen wären", sagte Pascal trocken. "Der Plumpsack geht 'rum."
Am Samstagabend kamen Siddra und Malda zu mir, Malda mit Kreuz um den Hals und Heiratsplänen im Kopf, Siddra erstmalig wieder in Schwarz. Malda hat sich einen katholischen Freund zugelegt, und sie hat sich bereits vergewissert, daß sie ihn kirchlich heiraten kann, obwohl er aus der Kirche ausgetreten ist. Siddra hatte sich von Malda ermutigen lassen, ihr schwarzes Lackkleid anzuziehen. Sator hatte gemault, als Siddra ohne ihn loszog; er wollte aber auch auf keinen Fall mit.
Malda, Siddra und ich gingen ins "Elizium". Aimée, hübsch geschminkt und mit roten Zöpfchen im Pony, erzählte, daß sie unbedingt wieder mit Andras zusammenkommen will. Der hatte blaue Zöpfchen in seinem prachtvollen Pferdeschwanz und will mit Aimée nicht mehr zusammensein.
Am Mittwoch nahmen wir wie gewohnt Süßigkeiten und Chips mit ins "Zone"; demnächst will Tibera Brötchen backen, und wir wollen den Tisch richtig decken. Besonders Constri genießt diese Mischung aus Ballsaal und Kaffeekränzchen sehr. Sie erzählte von ihrem neuesten Erfolg:
"Als ich vorhin zu Derek gesagt habe, ich fahre ins 'Zone', sind zum ersten Mal bei ihm die Mundwinkel 'runtergegangen! Natürlich hat er dann gleich wieder so getan, als würde ihm das nichts ausmachen ..."
In dem noch fast leeren "Zone" tanzten Constri und ich zu "Ash Nazg" von M.O.A.T.A. Omen & The Rorschach Garden und "Happy thrill" von Haus Arafna. Als ich diese verzerrten Stimmen und diese schrägen Klänge und Rhythmen hörte und beobachtete, wie Constri und ich dazu auch noch voller Begeisterung tanzen konnten, hatte ich Mühe, nicht laut loszulachen. Ich fand das alles herrlich uncool.
Als "Snakedressed" von Dive begann, wurde die Tanzfläche voller, und sogar Ivco tanzte. Dabei verwahrt Ivco sich energisch gegen die Vermutung, Industrial-Musik könnte ihm vielleicht doch gefallen.
Am DJ-Pult kam Lara auf mich zugelaufen und machte mir Komplimente:
"Echt, du bist voll nett! Das hat mich echt überrascht. Ich dachte erst, du wärst voll die arrogante Zicke. Aber das stimmt gar nicht. Echt, ich mag dich. Und ich meine das ehrlich; ich sage das nicht nur, weil ich breit bin."
Voller Freude erzählte sie, daß sie seit vierzehn Tagen einen Freund hat.
Ein Kahlköpfiger im blauen Samthemd, der seine Haarreste zu Mustern rasiert hatte, näherte sich mit einen Haufen Flyer. Es waren Flyer für ein Konzert von Rafa, das Mitte Oktober stattfinden soll. Der Kahlköpfige bat Ivco, ihm beim Verteilen zu helfen. Ivco kam mit den Flyern auch zu uns an den Tisch. Er gab mir einen und fragte:
"Und? Hingehen?"
"Nein, natürlich nicht", erwiderte ich ebenso gelassen wie bestimmt.
Ivco stutzte; er schien sich zu fragen, ob ich das ernst meinte.
"Der soll sich bloß nicht einbilden, daß ich zu seinen Konzerten gehe, wenn er sich so verhält", fügte ich erklärend hinzu. "Er hat mich ja schon mal angerufen und mich gebeten, zu einem von seinen Konzerten zu kommen. Ich habe ihm meine Bedingungen genannt, und er wollte die nicht erfüllen - tja, denn ..."
Ivco schmunzelte.
"Vielleicht tut es ihm ganz gut, wenn er mal ein paar Frauen kennt, die konsequent sind", sagte er.
"Konsequent bin ich wirklich", erzählte ich. "Das hat Rafa schon oft - bitter - erfahren müssen, wenn ich ihn wegschicken oder wegscheuchen mußte, weil er nicht befugt war, mit mir zu sprechen."
"Hoho", kicherte Ivco. "Sag' mal - was sind das eigentlich für Bedingungen, die Rafa erfüllen muß?"
"Er muß solo sein."
"Em ... muß ich mir da jetzt eigentlich auch Gedanken machen, oder kann ich dich einfach so ansprechen?"
"Natürlich kannst du mich ansprechen!"
"Ich meine, für den Fall, daß ich eine Freundin habe ..."
"Die Bedingung gilt nur für Rafa! Alle anderen Menschen können Freunde und Freundinnen haben, wie sie wollen! Rafa ist der einzige Mensch auf dieser Welt, für den solche Regeln gelten. Alle anderen können mich immer ansprechen."
"Ach, dann bin ich ja beruhigt."
Ivco gab auch Constri einen Flyer. Sie schüttelte dankend den Kopf.
"Rafa hat ein schlechtes Image", erklärte ich Ivco. "Es gibt viele Leute, die den nicht so mögen. Das ist genau wie bei Kappa. Der hat auch ein schlechtes Image. Den können viele einfach nicht leiden. Und wenn der dann auf die Bühne geht und singt, kommt das nicht gut an."
"Aber das Image hat doch nichts mit der Musik zu tun."
"Nein, das hat auch nichts mit der Musik zu tun. Aber die Leute verbinden das seelisch miteinander. Sie machen das unbewußt, aber sie machen es halt. Deshalb ist es besser, wenn jemand wie Rafa möglichst weit weg von seiner Heimat auftritt. Da hat er viel mehr Chancen, Fans zu finden, weil die seine Vorgeschichte nicht kennen."
Ivco nickte wissend.
Einer von Tiberas Verehrern ließ sich mit Tibera und mir fotografieren. Er sagte zu mir, es würde immer so schön aussehen, wenn ich tanze. Der Verehrer ist durchaus ansehnlich, und ich kann mir vorstellen, daß Rafa auf eigenartige Gedanken kommen könnte, wenn er die Bilder zu Gesicht bekäme. Es ist allerdings unwahrscheinlich, daß er diese Fotos jemals sieht.
Sazar war wieder im "Zone", wieder ohne Rückfahrgelegenheit. Er achtete sehr darauf, in Talis' Nähe zu bleiben, damit dieser ihn auf der Heimfahrt mitnehmen konnte, ohne lange nach ihm suchen zu müssen.
Am Samstag unterhielten Saverio und ich uns im "Elizium" über Kunst und Kommerz. Saverio lehnt die Kommerzialisierung von Kunst rundweg ab. Ich hielt dem entgegen, daß man Kunst unter anderem herstellt, um sie zu verbreiten, und daß das zwangsweise mit Kommerzialisierung verbunden ist.
Carl zeigt sich kaum noch in den Szenelocations für Elektro und Wave. Er besucht meistens Lokale fürs "andere Ufer". Seine Hoffnungen auf Saverio hat er anscheinend aufgegeben.
Berit erzählte grotesk anmutende Geschichten über Yasmin, die aber, wie ich mir vorstellen kann, durchaus zu Yasmin passen. Dazu gehört auch die Geschichte von dem Essen zu zweit, das Yasmin Rafa zum Geburtstag schenken wollte, und die Geschichte vom Zauberbuch. Als Rafa Geburtstag hatte, soll Yasmin bei ihm angerufen und ihn zu sich nach Hause zum Essen eingeladen haben. Hintergrund soll das Zauberbuch der "Hexe Sandra" gewesen sein, das Yasmin sich gekauft hatte. Darin soll stehen, man könne Männer verführen, indem man ihnen ein Liebesmahl vorsetzt. Eben das hatte Yasmin mit Rafa vor. Es kam freilich, wie es kommen mußte - Rafa erschien überhaupt nicht bei ihr.
"Haha - ich habe für Rafa mal eine Pizza in den Ofen geschmissen", lachte ich. "Und ich habe ihm eine Vitamintablette aufgelöst. Und das Frühstück mußte er sich an der Tanke selber holen."
"Siehst du, jetzt weißt du, warum Rafa dich nicht will. Du mußt dir eben auch ein Zauberbuch kaufen."
Yasmin soll stets mit dem Auto zur "Halle" fahren und Rafa anbieten, ihn nach Hause zu bringen, obwohl das für sie einen Umweg von hundert Kilometern bedeutet. Sie hat nämlich davon gehört, daß Rafa Freundinnen mit Auto bevorzugt. Ob er gegenwärtig eine Freundin hat und ob die ein Auto hat, scheint Yasmin allerdings nicht übermäßig zu interessieren.
Yasmin soll allwöchentlich bei Rafa anrufen und fragen, ob er mitfahren will ins "Zone". Er winkt dann ab:
"Laß' mal stecken."
Yasmin soll von Rafa nicht besonders schmeichelhaft behandelt werden. Einmal soll er zu ihr gesagt haben:
"Ein bißchen abnehmen könnten wir auch mal."
Als Zinnia ihren Geburtstag feierte, hoffte Yasmin, Rafa dort zu begegnen. Sie kaufte sich eigens dafür ein Kleid. Rafa war aber nicht da, und Yasmin soll sich fürchterlich geärgert haben.
Einmal soll sich Yasmin in einem ausgeschnittenen T-Shirt mit aufgehenden Knöpfen so weit über einen Couchtisch gebeugt haben, daß man reichlich Einblicke hatte. Einer der anwesenden Herren soll später gestöhnt haben:
"Wenn diese Frau wenigstens schön wäre, dann wäre das ja noch lustig. So ist es aber einfach nur eklig."
Yasmin soll täglich ihr Pendel befragen, um zu erfahren, ob sie in diesem Jahr noch Sex haben wird. Mal bejaht es, mal verneint es. Yasmin soll Berit gefragt haben:
"Was meinst du, wer hat mehr Chancen bei Rafa, Hetty oder ich?"
Indes scheint es Yasmin gar nicht so sehr um Rafa als Mensch zu gehen. Sie scheint vielmehr ganz allgemein nach einem Mann zu suchen, den sie verehren kann und der sie mit ins Bett nimmt. Es soll da einen geben mit dem Namen Colin. Um an diesen Colin heranzukommen, soll Yasmin in demselben Reitstall ein Pflegepferd gemietet haben, in dem auch Colins Freundin ihr Pferd stehen hat. Yasmins Pflegepferd sei alt und könne nicht mehr geritten werden. Trotzdem habe Yasmin sich von Colins Freundin einen Sattel für achthundertfünfzig Mark aufschwatzen lassen. Sie soll dieses Geld bezahlt haben, ohne eine Quittung zu verlangen. Von dem Sattel soll sie nie etwas gesehen haben. Yasmins Fazit lautete:
"Wen soll ich denn nun nehmen, Colin oder Rafa?"
Berits Fazit lautet:
"Die merkt's nicht."
Anfang Oktober kam Telgart mittags zu mir. Er war auf die Minute pünktlich - und er war stolz darauf. Vom Inder holten wir uns Geflügel mit Curry-Safran-Mandel-Sauce. Ich erzählte, daß Rafa leider immer noch nicht mit mir reden darf.
"Hat er eine tolle Pfründe am Start?" erkundigte sich Telgart.
"Ja", nickte ich, "er hat immer noch diese Tussi."
In Telgarts Arbeitsraum, den er gemeinam mit anderen Computerfreaks gemietet hat, stellten wir meine Website online. Wenn ich sie genügend geschliffen und mit einem Gästebuch ausgestattet habe, will ich die Adresse allgemein verbreiten.
Abends fuhren Constri und ich mit Revil, Zoë und Talis ins "Zone". Ich vereinbarte mit Les, daß er Constri und mich freihalten mußte, wenn er einen versprochenen Titel nicht spielte. Les wollte uns unabhängig davon einen ausgeben.
Constri zog Ivco mit seiner vorgegebenen Abneigung gegen Industrial auf. Ihm schien die Plauderei viel Spaß zu machen.
Zoë ließ sich eine halbe Stunde lang von einem Verehrer umgarnen. Talis war wütend. Er erinnerte sich daran, wie ich Zoë einst mit einem Schmetterling verglichen habe, der von Blume zu Blume flattert:
"In den einen ist sie verliebt, mit dem anderen tanzt sie, und mit dem dritten flirtet sie."
Als Zoë sich näherte und fragte, was denn los sei, erwiderte Talis kurz angebunden:
"Ich habe keinen Bock mehr."
"Auf was hast du keinen Bock mehr?"
"Ich habe keinen Bock mehr auf dich."
Zoë wurde daraufhin sehr still.



Am Abend vorm Tag der deutschen Einheit trafen wir uns bei Merle zu einer kleinen Party mit Federweißem und Salaten. Wir alberten herum über die Frage, wieviel Diana-Kitsch es inzwischen schon zu kaufen gibt - Diana-Wanduhren, die zu jeder vollen Stunde "Goodbye England's Rose" spielen, Diana-Perücken ... Eine Industrie lebt davon.
Wir unterhielten uns auch über Reliquien. Die Knochen, die in katholischen Kirchen gelagert werden, dürften so zahlreich sein, daß man aus ihnen ein Vielfaches der tatsächlich vermuteten Skelette zusammensetzen könnte. Reliquien sind also im doppelten Sinne eine Glaubensfrage.
Wir stellten uns vor, wie es wäre, wenn auf einmal eine Zahnspange von Jesus auftauchen würde.
Constri hatte Pommes aus Schaumzucker mitgebracht, die schmeckten wie aus dem Chemielabor. Wir befürchteten, sie könnten spontan explodieren. Als Saara einen dieser künstlich-süßen Pommes gekostet hatte, fragte sie gleich nach dem Klo.
"Einmal Essen und zurück", gab ich die Route an.
Was übrigens das Parkett in Svensons Wohnung betrifft, hat sich letztlich doch keine Abmachung mit Rafa ergeben.
Nachts fuhren wir ins "Inferno". Merle konnte dieses Mal dabei sein, weil sie Elaine ausnahmsweise bei ihren Angehörigen untergebracht hatte. Morten berichtete mir, er habe Sten die Freundschaft gekündigt, nachdem er erfahren habe, daß Sten Aimée zusammengeschlagen hatte. Constri unterhielt sich mit Ivco über das bevorstehende Konzert von Mentallo & the Fixer im "Zone". Ivco will dort vielleicht auch hinfahren und würde uns sogar mitnehmen, obwohl das für ihn einen Umweg bedeutet.
Rafa stand vor einer Bar und zeigte ausführlich, wie glücklich er mit seiner Freundin ist. Er trug wieder die antaillierte hellgraue Jacke mit den schwarzen Schnörkeln, die mir so gut gefällt, kombiniert mit einem weißen Hemd und einer schwarzen Fliege. Saara berichtete mir, daß Rafa sie an die Schulter getippt und ihr die Hand gegeben hatte.
"Oh - new look", sagte er zu ihren gefärbten Haaren.
Ich hatte Lessas kurzen schwarzen Spitzenrock an und darunter ein schwarzes Höschen mit Spitzenkante. Dazu trug ich einen Blazer aus Paillettenspitze, um die Taille mit einer Schärpe straff geschnürt. Kappa war kostümiert mit Dreispitz, Gehrock und Spitzenmanschetten. Er guckte Saara zwar groß an, redete aber nicht mit ihr. Dafür begrüßte er mich und freute sich, als ich ihm erzählte, daß viele Leute zu der nächsten Veranstaltung in die "Halle" kommen wollen.
"Das kann ich gar nicht verstehen", meinte er.
Dane gab mir etwas zu trinken aus. Dane, Ovid, Pierre und ich stießen miteinander an. Rafa kam mit seiner Freundin sehr dicht an uns heran und baute sich einen halben Schritt entfernt auf, mit dem Rücken zu mir. Ich stand aufrecht und rührte mich nicht. Für etwa zehn Minuten schwatzte Rafa eifrig mit verschiedenen Leuten. Seine Freundin unterhielt sich ebenfalls. Sie trug knappe Lackshorts und eine schwarze Strumpfhose mit weißen Kreuzen darauf. Sie griff nach Rafas Hand, wie um die Zugehörigkeit kenntlich zu machen, und Rafa legte den Arm um sie. Dann ging er mit ihr weiter. Er lenkte jedoch im Gehen seitlich aus und schrammte mit seiner Schulter ganz kräftig an meiner entlang. Das wirkte beinahe fordernd und erinnerte mich an seinen mehrfach geäußerten Wunsch, mich nun endlich, endlich in der Damentoilette ausziehen zu können. Aber ich konnte nichts tun, und er durfte es auch nicht, weil er sich nicht von seiner Freundin trennen wollte. Er marschierte mit der Freundin weiter, als wäre nichts geschehen.
Etwas später ging Rafa mit der Freundin noch einmal an Saara und mir vorbei. Er trug jetzt seine Schutzbrille. Die beiden verließen kurz danach das "Inferno".
"Armes Puttputt", sagte Saara zu mir. "Mein kleiner Blumblum."
Nachher erzählte mir Saara, daß Rafas Freundin ihr im "Inferno" in die Toilette gefolgt sei. Rafas Freundin soll einfach nur bei den Spiegeln stehengeblieben sein, wie abwartend und ohne erkennbares Vorhaben.
Siddra und Malda begegneten Rafa am kommenden Tag in SHG. auf dem Mittelaltermarkt. Er ging Arm in Arm mit seiner Freundin.
Zu dem Konzert von Mentallo & the Fixer fuhren Constri und ich mit der Bahn, weil Ivcos Auto kaputt war. Wie wir anschließend nach Hause kommen würden, wußten wir nicht, doch wir hielten die Augen offen und lernten im "Zone" drei nette Leute aus BI. kennen, die uns nach dem Konzert mitnahmen und in BI. am Bahnhof absetzten, so daß wir den Nachtzug nehmen konnten. Wir wollen zwei von den Leuten - das Pärchen Tila und Ral - bald besuchen. Sie fanden es lustig, daß wir im "Zone" gerne den Tisch decken mit Süßigkeiten und Chips. Constri hatte auf dem Weg zum "Zone" in einem Kiosk ein winziges Schächtelchen Lebkuchen gekauft, und die verteilten wir. Tila freute sich, ihre Englischkenntnisse einsetzen zu können, als sie sich mit den Leuten von Mentallo & the Fixer unterhielt.
Am 11.10. klingelte um neun Uhr morgens einmal das Telefon, ich nahm ab, da war bereits die Verbindung unterbrochen. Dasselbe ereignete sich gleich noch einmal.
Am Samstagabend waren wir im "Radiostern". Ich hatte das Silberzeug mit den vielen Schnallen an, mit dem dazugehörigen Mieder und den Ärmlingen. "Silberfischchen" nannte mich Malda. Inzwischen ist sie schon wieder auf Männersuche. In der Katholikenzeitung hat sie eine Annonce aufgegeben:
"Bin 27 Jahre alt und suche Mann zum Heiraten, zwischen 30 und 50."
Im "Radiostern" setzte sie sich mit Ivo Fechtner an einen Tisch, und beide starrten nur in eine Richtung - in meine.
Kappa gab Bertine und mir einen aus. Ich nahm Sekt mit Orangensaft. Kappa hatte uns einen Zehnmarkschein gegeben, der aber nicht alle wurde. Ich sprach Kappa etwas später darauf an:
"Du kriegst noch Wechselgeld von mir."
"Ja!" grinste Kappa. "Echt sexy siehst du heute aus. Das sieht echt geil aus, dein Oberteil. Echt sexy!" "Danke für das Kompliment."
"Ja - echt sexy!"
"Ich meine nur, du kriegst von mir noch Wechselgeld."
"Wieso, durch dich habe ich das doch unter anderem verdient!" winkte er ab.
Vielleicht meint er, daß ich für seine Veranstaltungen eine gute Werbung mache oder bin.

In einem Traum wollten Rafa und ich im Bett kuscheln. Er legte sich schon eher hin und wartete auf mich. Ich war so durcheinander, daß mir immer wieder etwas einfiel, was ich vorher noch zu erledigen hätte. Als ich dann endlich mit allem fertig war, wachte ich auf und kam gar nicht mehr dazu, mit Rafa zu kuscheln.

Am 13.10. klingelte wieder einmal das Telefon um vier Uhr nachmittags und um halb elf am Abend.



Am Mittwoch waren wir im "Zone". Ich ging zum DJ-Pult und wollte Les begrüßen, da hörte ich Rafas Stimme hinter mir:
"Hallo!"
Er ging an mir vorbei, den Arm um seine Freundin gelegt, und schaute mich an, als hoffte er, daß ich seinen Gruß erwiderte.
Ich wandte mich ab und begrüßte Les. Der faßte meine Hände und betrachtete mich.
"Sieht echt toll aus, was du da anhast - echt sexy!" staunte er.
Ich fand es lustig, daß er "sexy" wie die Zahl "sechs" aussprach.
Ich war ganz in Silber, wie im "Radiostern". Rafa hatte auch dieses Mal die graue Jacke mit den Schnörkeln an. Er trug seine leuchtenden Ohrringe. Ich wollte mich nicht zu sehr um ihn kümmern, weil ich mich sonst wieder zu sehr darüber aufregen mußte, daß dieser Mensch sich für mich unerreichbar macht.
Les sorgte dafür, daß Constri und ich uns nicht langweilten. Er spielte unter anderem "Plasticity" von Frontline Assembly und "Become an angel" von In strict confidence. Für diese beiden Stücke brauche ich eine Tanzfläche, die so groß ist wie die eines Ballsaales, und das finde ich bislang nur im "Zone".
Rafa stellte sich mit seiner Freundin in unserer Nähe an die Theke. Dort blieb er längere Zeit.
Les gab Constri und mir Sekt aus, wie er es versprochen hatte. Wir versammelten uns am Pult und hoben die Gläser:
"Auf uns - auf Industrial - auf das 'Zone'!"
"Und - auf unsere Hetty alias Elektro-Betty!" setzte Les hinzu.
Wir stießen alle miteinander an. Rafa unternahm etwas, das vielleicht als "Kontrollgang" gedacht war: er marschierte an uns vorbei, redete kurz mit irgendwem und ging dann gleich wieder zurück zu seinem Platz neben der Freundin. Auf diese Weise hatte er Gelegenheit, uns von allen Seiten zu betrachten, ohne daß das im Mindesten verfänglich wirkte.
Als wir das "Zone" verließen, schien Rafa mir nachzuschauen, und auch ich sah ihn an.
Obwohl erst Oktober war, gab es strengen Frost. Eines Nachts hörte ich draußen unterm Fenster eine Katze jämmerlich miauen. Ich kuschelte mich an Bisat und dachte, daß wenigstens er ein Dach über dem Kopf hatte. Am frühen Morgen begegnete mir vor dem Haus eine hübsche, große Siamkatze, die immer noch miaute.
"Die Nacht hat sie überlebt", dachte ich, "aber wenn sie am Abend immer noch hier herumläuft, muß ich mir etwas einfallen lassen."
Am Abend hörte ich die Katze in der Nähe der benachbarten Wohnblocks miauen. Eine Mutter mit Kind und andere Kinder beobachteten sie. Sie schienen nicht zu wissen, daß eine Katze Hunger hat, wenn sie den Kopf an Mauern und Bänken reibt. Die Mutter dachte, die Katze sei krank, und sie sagte, keiner solle sie anfassen. Ich nahm die Katze auf den Arm und ging mit ihr weg. Sie war ganz zahm.
"Sie nimmt sie mit", wisperten die Kinder.
Einige kleine Jungen versuchten, herauszufinden, ob die Katze jemandem in der Umgebung gehörte. Das war aber nicht so. Ich nahm die Katze mit in die Wohnung, wo sie Bisats Futter aß und auf sein Katzenklo ging. Dann legte sich die Katze auf meinen Schoß und schlief später bei mir im Bett. Bisat war sehr verängstigt und zog sich fauchend ins Nebenzimmer zurück.
Am nächsten Vormittag hatten sich die beiden Katzen insoweit arrangiert, als sie sich im Nebenzimmer zur Ruhe legen konnten. Bisat lag in der Sonne auf dem Fensterbrett, die fremde Katze lag in einem offenen Schrankfach. Ich nutzte den Frieden und brachte auf der Pinnwand im nächsten Supermarkt einen Zettel an:
"Gepflegte Siamkatze gefunden."
Darunter schrieb ich das Datum und meine Telefonnummer. Kurz darauf meldete sich eine junge Frau, die kam gleich mit ihren Töchtern zu mir und stellte erfreut fest:
"Ich glaube, das ist er."
Das Tier war ein Siam-Burma-Kater namens Herold. Als die junge Frau mit ihrer Familie in ein Viertel auf der anderen Seite der großen Kreuzung umgezogen war, hatte Herold dieses neue Zuhause nicht mehr wiedergefunden und war drei Wochen lang vermißt. Die ältere der beiden Töchter, acht Jahre alt, wollte nicht mehr spielen und weinte nur noch. Da ging schließlich ihre Mutter ein letztes Mal im Supermarkt nachschauen und fand den Zettel.
Die jüngere der beiden Töchter hielt eine Mini-Barbie in der Hand, und ich erzählte, daß ich mir so eine auch kaufen will, aber bisher nicht die Zeit gefunden hatte.
Eine Woche später brachte die Frau mir meinen Katzen-Transportbehälter wieder und schenkte mir eine Mini-Barbie in Gestalt einer Holländerin. Sie erzählte, daß Herold eine Woche lang nur gefressen und geschlafen hatte. Er hatte ja draußen in der Kälte nicht einschlafen dürfen, weil er sonst erfroren wäre.



Am Freitag gab es zum ersten Mal seit Monaten wieder eine Veranstaltung in der "Halle". Wir kamen recht spät dorthin, erst um ein Uhr nachts. Wir standen gerade an unserem Platz in einer Ecke, als ich Rafa am DJ-Pult sah, nahe bei uns auf dem hohen Podest. Rafa legte nicht auf, er stand nur im Hintergrund. Er hatte dieselben Sachen an wie im "Zone", nur trug er statt der Leuchtohrringe die silbernen Creolen.
Ich hatte die Trägercorsage an und das dunkelrote, mit schwarzen Spitzenborten besetzte Tutu von Lana. Dazu trug ich die langen schwarzen Satinhandschuhe und ein dünnes schwarzes Collier mit einem Kreuzchen daran.
Ich blieb zunächst mit Saara und Danielle in der Ecke stehen. Kappa kam zu uns, wo auch ein Ausschank war. Wir begrüßten uns.
"Na, wie voll sind wir heute wieder?" fragte ich Kappa.
"Weiß ich nicht", war die Antwort.
Ich meinte, so ganz wach wirke er auf mich nicht.
"Ich bin nur absolut wach", erklärte Kappa.
Der Junge, der neben ihm stand, schien den schwankenden Kappa zu stützen.
Als Kappa Saara und Danielle entdeckte, gab er ihnen die Hand. Saara ist zwar gerne mit Svenson zusammen, doch sie wird durch Kappas Anwesenheit immer noch aufgeregt.
Kaum hatte sich Kappa wieder entfernt, kam Rafa in unsere Ecke. Er stellte sich an die Bar, wenige Schritt vor uns. Er unterhielt sich eine Weile mit verschiedenen Leuten und entfernte sich dann wieder.
Als ich mich vergewissert hatte, daß Rafa nicht wieder zum Pult hinaufgegangen war, ging ich dorthin. Da oben ist viel Platz um das Pult herum. Ich begrüßte Rick, der auflegte, und wünschte mir etwas zum Tanzen; mir sei furchtbar kalt, es sollte also "Kill a raver" von Leæther Strip oder etwas von :wumpscut: sein, aber von :wumpscut: bitte nicht "Soylent Green". Daran habe ich mich längst überhört.
Xentrix legte mir den Arm um die Taille und fragte mich, ob ich seinen Sampler denn schon gekauft hätte.
Don kam und tippte mir an die Schulter. Er fragte, wie es mir denn ginge. Wir begannen eine angeregte Plauderei. In dieser Zeit kam Rafa und stellte sich auch vors Pult, wieder nur ein paar Schritte von mir entfernt. Er begann eine Unterhaltung mit Rick. U.W. kam auch noch herauf und war sehr betrunken. Ich stellte Don und U.W. einander vor. Mit U.W. war nicht übermäßig viel anzufangen, also redete ich vorwiegend mit Don.
"Wir sehen uns", sagte Don schließlich und ging weiter.
Rafa kam mit einem Bierglas in der Hand auf mich zu und schaute mir ins Gesicht, als wollte er mit mir sprechen. Kurz bevor er mich erreicht hatte, bog er ab und ging an mir vorbei, so dicht, daß ich die Gelegenheit nutzte und ihn ihn in die Schulter zwickte. Er tauchte weg und wich aus.
U.W. bestand darauf, mich freizuhalten. Ich ging mit ihm zur Bar und bekam Bacardi-Cola.
U.W. wollte zum was-weiß-ich-wievielten Mal wissen, was ich an Rafa denn so toll fände.
"Antworte mir nicht, bitte nicht", verlangte er, "ich will nicht schon wieder das hören, was immer alle sagen:
'Oh, er ist so toll, er ist so nett!'"
"Nein, das will ich auch gar nicht sagen", entgegnete ich. "Ich finde Rafa nämlich überhaupt nicht toll."
"Ach, du findest Rafa gar nicht toll?"
"Nein, ich liebe ihn einfach nur, nicht mehr und nicht weniger."
"O-ho ... Das ist eine tolle Antwort, das ist echt eine tolle Antwort. Wenn man dabei bedenkt, wie Liebe deutbar ist, wie das Wort deutbar ist, ist das eine tolle Antwort."
"Ja, Rafa hat nämlich einen soliden Dachschaden. Der hat voll einen Riß in der Schüssel."
"Ach, und deshalb liebst du den?"
"Nein, ich liebe ihn eben einfach nur."
"Hahaha ... du hast auch einen Dachschaden ... aber das macht dich liebenswert!" fand U.W. "Nicht bös gemeint."
U.W. erzählte, er habe fast kein Geld mehr, und ich fragte ihn, weshalb er mir dann unbedingt dieses teure Getränk habe ausgeben wollen. U.W. lallte, er habe eine Bitte an mich, aber er konnte sich nicht recht verständlich machen. Ich fragte so gezielt wie möglich, bekam aber nur ein wirres Gestammel zu hören. Noch nicht einmal aufschreiben konnte er, was er wollte.
"Mensch, du weißt doch, was ich meine", kam da immer wieder. "Du sitzt doch jetzt an der Quelle. Du weißt doch, was ich meine."
Irgendwie war die Rede davon, daß er sein Blut verkaufen und damit Geld machen wollte.
"Wenn du Blut verkaufen willst, dann geh' zum Roten Kreuz und mach' Blutspende", schlug ich vor.
"Ja, nee, nee, das mein' ich nicht", erwiderte U.W. "Ich will Geld verdienen, richtig Geld verdienen. Und du sitzt ja an der Quelle."
Weil er gar nicht locker ließ, meinte ich schließlich, jetzt sei es gut, ich hätte nicht verstanden, was er wolle, er könne sich nicht artikulieren, er wolle das auch nicht näher erläutern, deshalb habe das jetzt keinen Sinn, und er solle mich wieder ansprechen, wenn er nüchtern sei.
Es war nicht einfach, U.W. abzuschütteln. Ich schaffte es, indem ich mich zu Saara und Danielle an den Tisch stellte und mit ihnen redete.
Carl berichtete mir später, Rafa sei auf seinen Rundgängen auch an ihm vorbeigekommen. Carl grüßte ihn:
"Hallo Rafa."
Rafa meinte, er habe Carl zunächst gar nicht erkannt, da dieser sich die Haare abgeschnitten hat. Er erkundigte sich danach, wie es Carl ginge.
"Ganz gut", antwortete Carl. "Und wie geht es dir?"
"Na ja ... immer mit W.E ..."
Rafa erzählte von seinen Konzerten und dergleichen. Er wirkte sehr aufgeregt und redete sehr schnell. Rafa gab Carl auch noch einen Flyer für irgendeinen Auftritt.
Mir fallen bei Rafa immer wieder sein aufrechter Gang und seine eleganten Bewegungen auf. Er hat diese Eleganz nur, wenn er nicht über seine Bewegungen nachdenkt. Sobald er sie unter Kontrolle haben möchte, etwa wenn er tanzt, wirken sie steif und unbeholfen oder theatralisch-überdreht. Rafa tanzte zwischendurch auch einmal, und da konnte ich dies wieder beobachten.
Rick spielte meine Wunschtitel und außerdem "Facer" von X marks the Pedwalk. Endlich fror ich nicht mehr. Nach dem Tanzen ging ich ins Bad und traf Yasmin vor dem Spiegel. Sie trug ein kurzes Kleid mit kurzen Ärmeln und hatte die Haare zu einem Knoten zusammengebunden, was ihr gut stand. Sie sah damit nicht mehr gar so hausbacken und mauerblümchenhaft aus. Ihr Gesicht ist wirklich nicht schön, ihre Figur auch nicht, aber wenn sie es richtig anfängt, kann sie schon etwas daraus machen.
Yasmin begrüßte mich und erkundigte sich, wie es mir ginge. Ich hütete mich, über Rafa zu sprechen. Ich antwortete nur, ich hätte inzwischen eine Stelle gefunden, und wie es ihr denn ginge?
Sie meinte, es ginge ihr nicht so gut. Ich fragte sie nur nach Berufssorgen aus, und sie erzählte, sie wisse immer noch nicht, was sie werden solle. Sie habe nach ihrem Abitur eine Konditorlehre begonnen, und die mache ihr überhaupt keinen Spaß. Am liebsten wolle sie ja Schauspielerin werden.
"Darum muß man sich ja schon sehr früh bemühen", meinte ich. "Da muß man schon während der Schulzeit in Rollenspielgruppen mitwirken."
"Das ist es ja."
"Weißt du, da gibt es nämlich auch Altersbeschränkungen bei den Hochschulen, an denen man sowas studieren kann. Hast du denn sonst irgendwelche Hobbies und Neigungen?"
"Das weiß ich jetzt gar nicht. Ich habe gar keine besonderen Hobbies. Ich würde eigentlich ganz gerne was Kaufmännisches machen, aber das ist auch nicht so das Tolle."
Yasmin hat ihre Mutter im Kindesalter durch Scheidung verloren. Seit sie dreizehn ist, lebt sie allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Ihr fehlt eine starke Bezugsperson.
Clarice ist mit Yasmin in derselben Berufsschulklasse. Clarice möchte sich zwar gerne um sie kümmern, doch sei Yasmin so "geistlos und ohne Ausstrahlung", und was sie erzähle, sei dermaßen "dämlich, hohl und langweilig", daß es schon einem Opfer gleiche, wenn man sich ihrer annehme. Yasmin klammere sich sehr an sie und gehe ihr gewaltig auf die Nerven, ein Verhalten, über das auch Berit schon geklagt hat.
Yasmin soll Clarice von Rafa vorgeschwärmt haben:
"Er ist ja so nett, er ist ja so toll!"
"Ich habe den mal vor allen Leuten im 'Elizium' zur Sau gemacht", erzählte Clarice in einem ernüchternden Tonfall.
"Warum denn?" fragte Yasmin verständnislos.
"Weil er mal gelogen hat", erklärte Clarice, "und ich schätze das nicht, wenn jemand lügt."
Yasmin soll zu Clarice gesagt haben, sie habe gehört, daß ich - Hetty - schon ein paarmal mit Rafa 'rumgemacht haben soll. Das könne sie sich überhaupt nicht vorstellen.
"Rafa scheint Hetty ja nicht besonders abzukönnen", meinte Yasmin, "weil er ihr ja immer aus dem Weg geht."
"Oh du, das hat ganz andere Gründe", erwiderte Clarice. "Das ist eine ganz andere Geschichte."
Yasmin erging sich in weiteren Schwärmereien:
"Ach, Clarice, weißt du, ich habe jetzt den DJ von den 'Katakomben' kennengelernt, den Sazar!"
"Ja, ja, den kenne ich auch schon ein paar Jahre", sagte Clarice trocken.
"Der ist ja so toll!" war Yasmin hingerissen. "Ich weiß jetzt gar nicht mehr, wen ich nehmen soll, Sazar oder Rafa!"
In der "Halle"sprach Yasmin kurz mit Rafa. Erst jetzt erfuhr sie, daß Rafa mit dem Barmädchen Berenice ein Verhältnis hat, und sie war deswegen ziemlich aufgelöst. Es wundert mich, daß Yasmin bisher nichts davon mitbekommen hat.
Neben der Bar, wo Rafas Freundin bedient, fand ich Saara, Danielle, Velvet und deren Freund. Saara unterhielt sich mit Velvets Freund, Danielle unterhielt sich mit Rafa. Wie Danielle mir später berichtete, hatte sie Rafa angesprochen.
"Hallo, Rafa", grüßte sie ihn.
Er machte große Augen.
"Mensch, ich bin doch die Saara", log sie, berichtigte dann aber sogleich:
"Quatsch, ich bin doch Saaras Schwester, die Danielle."
"Du siehst aber viel besser aus als Saara", schmeichelte Rafa. "Echt, du stellst Saara voll in den Schatten. Saara sieht doch schon aus wie eine alte Oma."
Damit wollte Rafa sich wohl dafür rächen, daß Saara ihn gerne ärgert.
"Hast du Hetty schon gesehen?" fragte Danielle unschuldig.
"Ja", gab er Antwort, "die hat mir voll am A... 'rumgegrabbelt."
Das stimmte nicht; ich hatte ihn nur in die Schulter gezwickt.
Als Saara näher herankam, suchte Rafa das Weite und entschuldigte sich mit den Worten:
"Ich muß jetzt weiter, ich bin da noch mit jemandem verabredet."
Es handelte sich vermutlich um ein Schäferstündchen mit seiner Freundin. Rafas Freundin verließ nämlich die Bar und verschwand, ebenso wie Rafa, und als sie zurückkam, tauchte Rafa ebenfalls wieder auf.
Zwischendurch wurde Rafa auch von seiner Freundin am DJ-Pult besucht. Sie hatte wieder schwarze Lackshorts an.
Rafa begann später, zwischen dem DJ-Pult und dem Bereich hinter der Bar hin- und herzulaufen. Ich stand dort, weil es an dieser Stelle eine Heizlüftung gab und ich mich wärmen wollte. Rafa huschte etwa viermal an mir vorbei. Beim fünften Mal machte er von hinten einen Bogen um mich herum und schlich sich auf diese Weise an. Als er vor mir stand, streckte ich den Arm aus, formte meine Finger zu einer Klammer und ließ diese Klammer seine Schulter umgreifen. Rafa schüttelte mich ab und wich erschauernd zurück. Ich hob den Arm wie einen Greifarm und ließ ihn in der Luft hängen, bereit, gleich wieder zuzufassen. Bei Rafas nächstem Versuch, sich mir zu nähern, setzten sich meine Finger auch wieder auf seine Schulter.
"He, he!" wurde Rafa ärgerlich.
Das Spiel wiederholte sich einige Male. Rafa wich schließlich schon dann aus, wenn sich die Finger auf seine Schulter herabzusenken begannen.
"He, he!" rief er immer aufgeregter.
Schließlich wollte er dem Spiel ein Ende machen und rief aufgebracht:
"Mensch, kann man sich denn nicht wenigstens mal unterhalten?"
Ich strich mit einem Finger von seinem Hals zu seinem Kinn und sagte in einem gleichmäßigen, maschinenhaften Tonfall:
"Nur wenn du solo bist."
"Und wieso faßt du mich dann an?"
"Ich darf dich anfassen und du mich", erklärte ich in ebenjenem Tonfall, "aber du darfst nicht mit mir reden."
"Wieso, wir reden doch jetzt auch miteinander", wandte er ein.
Ich erwiderte darauf nichts, und er fragte:
"Sind das Gesetze, die du aufstellst?"
"Ja."
"Tja, da kann man dann wohl auch nichts machen", sagte er gekränkt und lief davon.
Kurz danach erschien Rafa wieder in meiner Nähe. Er stellte sich einen halben Schritt entfernt neben mich und redete längere Zeit mit Carl. Ich sprach vorwiegend mit Danielle. Es kam noch ein blonder Junge dazu, der Elias heißt und in dem Lokal "Weghaus im Walde" Veranstaltungen organisiert. Elias gab mir einen Flyer für ein Konzert in diesem Weghaus. Er erzählte von dem Konzert, das Rafa dort kürzlich gegeben hat, im Rahmen einer "Neue Deutsche Welle"-Tanzveranstaltung. Es seien immerhin zweihundertfünfzig Gäste gekommen; es bleibt zu fragen, ob das mehr auf die Tanzveranstaltung zurückzuführen war oder tatsächlich auf das Konzert. Elias fragte mich, warum ich nicht zu dieser Veranstaltung gekommen sei, obwohl er mir doch einen Flyer gegeben habe.
"Wenn Rafa eine Freundin hat, darf er mit mir nicht sprechen", erklärte ich, "und er kann auch nicht damt rechnen, daß ich zu einem seiner Konzerte gehe. Das habe ich mit ihm auch schon besprochen. Ich mische mich nicht in seine Beziehung ein. Er muß selber Schluß machen, die Arbeit kann ich ihm nicht abnehmen. Der muß seinen Müll selber wegbringen."
Elias erkundigte sich danach, ob Rafa mit mir schon etwas gehabt habe.
"Immer dann, wenn es wirklich ernst wurde, hat er Reißaus genommen", erzählte ich. "Er hat schon oft Annäherungsversuche gemacht, verschiedener Art, und danach dann behauptet, von mir nichts zu wollen. Er hat Angst vor festen Bindungen. Diese Freundin hat er sich ausgesucht, weil sie praktisch ist. Und sie hat ihn ausgesucht, weil man mit ihm angeben kann."
"Hör' bloß auf mit der", stöhnte Elias. "Diese Freundin von Rafa, die kam auf Gästekarte 'rein, kostenlos, als das Konzert war, und an der Theke kam sie voll arrogant 'rüber und hat gleich als Erstes gefragt:
'Habt ihr hier auch etwas besseren Rotwein?'
Die hat echt so getan, als wenn das bei uns nur billige 'Aldi'-Pansche gibt."
"Das ist ja voll die Unverschämtheit", meinte ich. "Die ist ja wirklich so ekelhaft arrogant, wie ich dachte. Die kannte das Weghaus doch noch gar nicht ... und dann erfrecht die sich, abfällige Bemerkungen über die Getränke zu machen. Die wollte wohl mit ihrer echten oder eingebildeten Expertise hausieren gehen. Vielleicht hat sie ein Problem damit, daß sie Barfrau ist und kein Star, und sie versucht jetzt, sich damit wichtig zu machen."
Elias vermutet, daß das abweisende Verhalten von Rafa etwas mit seiner Karriere in der Musikwelt zu tun hat. Allerdings sei der Sänger von Funker Vogt schon vorher komisch gewesen; er sei nicht erst durch den Erfolg so geworden.
"Bei Rafa ist es dasselbe", erzählte ich. "Der hat seinen Schaden auch schon früher gehabt. Der hatte ein Mädchen fürs Klo, eins für die Autobahnraststätte, eins fürs Bett, eins als Freundin und und eins, dem er vorgaukeln konnte, sie sei seine Freundin. Im 'Elizium' hat der seinen Ruf weg. Der geht da auch nicht mehr hin, weil er weiß, daß ihn da keiner mehr sehen will."
"Stimmt, das ist mir auch aufgefallen", erinnerte sich Elias, "als ich im 'Elizium' die Flyer verteilt habe, haben die Leute die auf den Boden geschmissen."
"Siehst du, das ist ein Relikt von damals. Das liegt an diesem Image. Das liegt daran, daß der ungefähr die Hälfte der Mädchen im 'Elizium' vernascht hat und gegeneinander ausgespielt und miteinander betrogen hat. Und sein Ruf eilt ihm weit voraus. Er tut gut daran, möglichst weit weg von zu Hause aufzutreten."
Carl berichtete später, was Rafa mit ihm besprochen hat, als die beiden in meiner Nähe an der Theke standen. Rafa sei auf Carl zugekommen und habe sich etwa eine Vietelstunde lang mit ihm unterhalten.
"Wir reden ja eigentlich gar nicht so oft miteinander", bemerkte Carl, als Rafa ihn ansprach.
"Ich habe auch oft keine Zeit", erklärte Rafa. "Da ruft immer jemand, 'hier, Rafa, da, Rafa'. Dauernd kommt irgendwer an."
Dann machte er Carls neue Kurzhaarfrisur zum Thema und meinte, Carl würde damit "irgendwie englisch" aussehen.
Anschließend wollte Rafa von Carl etwas über den rosa angehauchten Tanzladen "Fabrik" wissen. Schließlich erkundigte er sich, ob Carl noch bei mir wohnt.
"Nein", antwortete Carl, "schon lange nicht mehr. Ich wohne jetzt in Lr."
"Bist du denn noch mit Hetty befreundet?"
"Ja, natürlich."
"Ach ... obwohl Hetty und ich viel Komisches miteinander hatten, finde ich das trotzdem gut", meinte Rafa.
Er wollte Carl unbedingt ein Bitter Lemon ausgeben.
"Ich habe Beziehungen zur Theke", sagte Rafa geheimnisvoll, "aber ich mache das nicht bei jedem! Ich setze da Prioritäten."
Er holte für Carl das Bitter Lemon.
"Jetzt sag' doch mal: 'Danke, Rafa!'" forderte er ihn auf.
"Das ist eigentlich gar nicht so meine Art, 'danke' zu sagen", erklärte Carl. "Ich zeige das mehr so durch Nicken, Brummen oder Summen."
Rafa wollte ihn sogleich erziehen:
"Das ist aber wichtig, 'danke' zu sagen!"
"Ach, ich finde das nicht ganz so wichtig."
Rafa kam noch einmal darauf zu sprechen, daß Carl ihm vor längerer Zeit eine Zitronenscheibe an den Kopf geworfen hat. Er wertet das anscheinend als etwas Verbindendes zwischen ihm und Carl.
Insgesamt schien Rafa auch bei diesem Gespräch sehr unter Spannung zu stehen und sehr aufgeregt zu sein.
Rafa ging nach der Unterhaltung mit Carl wieder hinauf zum Pult. Ich ging mit Saara und Danielle auf die andere Seite der Tanzfläche, wo wir auch unsere Sachen hatten. Rafa lief an uns vorbei. Er drehte jetzt in diesem Bereich der "Halle" seine Runden.
Als ich Kappa fragte, ob er noch etwas für mich spielen könnte, tat er so, als würde er koksen.
"Kappa, jetzt weiß ich, warum deine Haare so weiß sind", meinte ich mit einem Blick auf seine weiß angesprühte Frisur. "Du hast sie mit Koks gepudert."
"Ja, ich kann mir das leisten."
Auf einem seiner Wege sprach Rafa noch einmal Danielle an. Als sie ihm sagte, daß man bald gehen werde, bat er:
"Ach, Danielle, einen Sekt trinkst du doch noch mit."
Danielle war einverstanden. Rafa kam nach einer Minute mit zwei Sektgläsern zurück und stellte sich mit Danielle unmittelbar vor Saara und mir auf. Er gab Danielle einen Sekt und ließ die Gläser aneinanderklingen.
Saara und ich rätselten darüber, was Rafa wohl mit Danielle vorhatte. Immerhin ist sie zehn Jahre jünger als er und noch nicht einmal volljährig.
Während Rafa mit Danielle trank, kam auch noch Yasmin vorbei und stellte sich vorübergehend dazu.
Danielle berichtete später, Rafa habe sie auch in diesem Gespräch mit Komplimenten überschüttet. Dies habe sie verwundert, da sie ihm doch mal einen Teddybären an den Kopf geworfen habe, als er bei ihr daheim zu Besuch gewesen sei. Er sei ihr damals schrecklich auf die Nerven gegangen. Durch den Wurf mit dem Teddybären hatte er sein Bier verschüttet.
"Du hast dich echt zum Positiven verändert", raspelte er nun Süßholz. "Ich erkenne dich fast gar nicht wieder."
Dann warf er einen Seitenblick auf Saara und mich und raunte Danielle zu:
"Die Hetty guckt schon wieder voll 'rüber. Die ist bestimmt ganz schön sauer auf dich."
"Ach, das ist die nicht", lachte Danielle. "Hetty kennt mich doch."
"Na ja, aber wirst sehen, da kommt bestimmt noch ein Spruch", versicherte Rafa. "Da kommt bestimmt irgendein Spruch. Die ist doch bestimmt jetzt voll eifersüchtig."
Er schien sich dafür rächen zu wollen, daß ich mit Les angestoßen hatte und daß ich mir von U.W. etwas hatte ausgeben lassen.
Er konnte sich nichts anderes vorstellen, als daß ich jetzt Danielle zum Opfer ernennen würde, statt mich mit ihm selbst und seinen Untaten zu befassen.
In Wirklichkeit hatte ich zu Saara gesagt:
"Bei Danielle wird Rafa aber auf Granit beißen."
Rafa beobachtete Saara und mich fortwährend.
"Die Hetty hängt sich bestimmt noch auf", versicherte er. "Die Hetty und die Saara zerreißen sich jetzt bestimmt total das Maul über uns."
Rafa wurde Danielle gegenüber recht lasziv:
"Wenn wir jetzt hier noch länger stehen und saufen, dann mußt du aber auf dich aufpassen, weil, es kann nämlich sein, daß ich dann noch ganz anders werde."
"Ich kann schon auf mich aufpassen", entgegnete Danielle unbeeindruckt.
"Ja, kannst du das auch wirklich?" hauchte Rafa, in seiner Rolle als gefährlicher Verführer.
Zwischendurch warnte er Danielle:
"Nimm' schnell den Sekt 'runter, meine Freundin kommt."
Kappa spielte ein Stück von Dead can dance, und ich tanzte. Rafa ging währenddessen hinauf zum Pult. Nach dem Stück kündigte er durchs Mikrophon an, er werde jetzt Vinylplatten auflegen. In seiner gewohnten theatralischen Art hielt er eine Vinylplatte in die Höhe und erklärte:
"So sehen die aus."
U.W. wurde im Laufe der Nacht aus der "Halle" geworfen. Er soll mit irgendwem eine Rauferei angefangen haben. Rafa soll darüber ganz bestürzt gewesen sein:
"Mensch, den kenn' ich doch, das ist doch U.W.! Und jetzt werfen die den 'raus."
Am Mittwoch war Rafa nicht im "Zone". Ich erzählte Les, wie Rafa mich in der "Halle" eifersüchtig machen wollte.
"Ihr zwei wärt echt das ideale Paar", meinte Les, "beide so zickig ..."
Er kennt Rafa seit Jahren, unter anderem aus dem "Fall"; allerdings hat er sich noch nie länger und tiefergehend mit ihm unterhalten.
Als ich mir von Les Industrial wünschte, fuhr Ivco dazwischen:
"He! Hör' nicht auf Hetty!"
"Sag' nichts gegen Hetty", erwiderte Les. "Hetty ist sechsy."
"Ja, das kann schon sein", gestand Ivco mir zu. "Aber", wandte er sich an mich, "er soll nicht auf dich hören! Sonst kriegen wir nur Industrial."
Ivco tanzte dann selbst zu "Killing Time" von Dive.
In dem kleinen Restaurant im "Zone" unterhielt ich mich mit Sazar, der dort etwas aß. Sazar erzählte, mit Nadine sei das gewesen wie mit Meta. Im Frühjahr 1994 sei er mit Meta zusammengewesen, bis Rafa sie im Sommer übernahm. Im Frühjahr 1996 sei er, Sazar, mit Nadine zusammengewesen, bis Rafa sie im Sommer übernahm.
Rafa habe eine Art, Leuten die Freundinnen abzuwerben:
"Naddi war mit mir zusammen, bis sie auf Rafa abgefahren ist."
Nadine gegenüber soll Rafa die Sängerin Tessa in höchste Höhen gelobt haben. Er soll behauptet haben, sie sei die einzige Frau, die er jemals geliebt habe. Ich finde, es war eine Unverschämtheit von Rafa, zu seiner Freundin so etwas zu sagen, aber ich bezweifle, daß Nadine das bewußt war. Sie hat es ihm in ihrer Naivität wahrscheinlich geglaubt. Ich muß daran denken, daß Rafa vor zwei Jahren zu Saara gesagt hat, Luisa sei die einzige Frau, die er jemals geliebt habe.
Daß die Sängerin Tessa ziemlich ordinär ist, kann Sazar bestätigen. Er glaubt jedoch, daß Rafa sie wirklich geliebt hat:
"Rafa hängt ihr immer noch nach. Aber er kriegt sie nie wieder."
Was Sazar nicht erklären kann, ist, warum Rafa ausgerechnet jemanden lieben sollte, der so ordinär ist wie die Sängerin.
"Ich will mit Rafa nicht das haben, was die anderen mit dem haben", meinte ich. "Dann lieber nichts."
"Was willst du dann von Rafa?"
Ich erzählte Sazar, daß Rafa schon sein Verhalten ändern müßte, wenn er mit mir zusammensein will.
"Der ist so, und der wird nie anders sein!" entgegnete Sazar voller Überzeugung.
Daria soll übrigens laut Sazar durchaus etwas mit Rafa gehabt haben, und zwar zu der Zeit, als sie von mir nichts mehr wissen wollte. Rafa soll Sazar gegenüber erwähnt haben, er sei "ein paarmal über Daria drübergestiegen". Das erklärt, warum Daria im Sommer 1994 von einem Tag auf den anderen nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.
Von Yasmin wußte Sazar zu berichten:
"Ich hatte mit den Leuten von Rammstein Kampftrinken gemacht. Ich konnte danach noch gehen, die anderen haben gekotzt. Ich bin ins 'Elizium' getorkelt und habe einen unverzeihlichen Fehler gemacht: ich habe Yasmin einen Zungenkuß verpaßt, mit dem Kurzen im Mund, der im Angebot war. Jetzt ist Rafa sie endlich los, denn sie steht auf mich!"
Nach der feuchtfröhlichen Nacht habe man sich zu mehreren in irgendeiner Wohnung schlafen gelegt, und Yasmin soll sich so zurechtgedreht haben, daß man "wirklich alles" sehen konnte. Das sollte wohl heißen:
"Willst du bei mir deine Stoßstange einbauen, he."
Die Geschichte scheint Sazar vor allem deshalb mit Stolz zu erfüllen, weil er einen Haufen Musiker unter den Tisch getrunken hat, die im Berufsleben wesentlich erfolgreicher sind, als Sazar es wahrscheinlich jemals sein wird. Allerdings scheint ihm auch Yasmins Verehrung ein bißchen zu schmeicheln.



Am Samstag gab es eine sehr gut besuchte Party im "Inferno". Laut Konzertkalender der Szenezeitschriften sollte Rafa eigentlich an diesem Tag einen Auftritt in KO. haben. Er war aber nicht dort, sondern im "Inferno".
Ich fuhr mit Malda und einem Minnesänger namens Waldo ins "Inferno". Auf dem Weg zum Bad sah ich Rafa mit seiner Freundin. Er hatte seine graue Jacke an, die Freundin trug - wie meistens - ein schlichtes langes schwarzes Kleid. Ich zwickte Rafa im Vorbeilaufen ein wenig in den Arm. Als ich zu "Embryodead" von :wumpscut: tanze, ging Rafa schräg über die Tanzfläche an mir vorbei.
Zu "Atmosphere vs. CH4" von Winterkälte tanzte ich mit drei Jungen. Wir bildeten eine Art Kreis. Rafa stand dicht hiner mir mit seiner Freundin. Nach dem Stück ging er mit der Freundin in den hinteren Saal. Dort traten Funker Vogt auf. Meistens stand Rafa mit der Freundin an der Bar. Einige Male ging er an dem Platz vorbei, wo ich stand. Dabei schaute er mich nicht geradewegs an.
Nach dem Konzert saß Rafa für eine Weile im vorderen Saal allein an der Bar, in der Nähe der Bank, wo unsere Sachen lagen. Die Freundin kam später wieder zu ihm. Berit und Yasmin hielten sich unmittelbar hinter Rafas Platz auf. Ich ging dorthin und unterhielt mich mit Berit. Sie streifte zufällig meine bloße Schulter und staunte:
"Hast du aber eine weiche Haut! Wie machst du das?"
Mich stimmte das traurig, weil ich daran denken mußte, wie wenig Rafa mich zu schätzen vermag.
"Ich verstehe gar nicht, wieso der immer noch mit der 'rumhängt", sagte Berit mit einem Seitenblick auf Rafa, laut genug, um es ihn hören zu lassen.
"Sie ist sein Gebrauchsgegenstand", deutete ich.
"Also, ich weiß nicht", stöhnte Berit, "wenn jemand sowas nötig hat ...!"
"Er hat's nötig", meinte ich.
Rafa schaute ein wenig um die Ecke, und ich fragte mich, ob er das, was wir über ihn gesagt hatten, tatsächlich mitbekommen hatte.
Sasch spielte noch mehr avantgardistische Elektronik, darunter "Eleven" von Pineal Gland und "Hurt" von Die Form. Reesli sagte später mit einem leicht entrückten Gesichtsausdruck zu mir:
"Da kam doch dieses geile Lied, und da hast du ganz alleine getanzt. Du bist geflogen wie ein Engel, und die anderen haben alle nur gegafft."
Rafa sah ich nur einmal tanzen, zu einem Stück von Kraftwerk.
Zwei Jungen fragten mich, ob sie mich filmen dürften, vor industriellen Kulissen.
"Es gibt doch niemanden, der so tanzt wie du", meinten sie, "und wir würden so gerne diese Bewegungen filmen. Wer weiß, vielleicht wirst du noch berühmt. Na, wenn du berühmt wirst, werden wir auch berühmt, und wenn wir berühmt werden, wirst du auch berühmt."
Ich traue den beiden nicht viel zu, weder an organisatorischen noch an künstlerischen Fähigkeiten, und ich rechnete von vornherein nicht damit, daß aus diesem Projekt etwas werden konnte. Umso wichtiger ist mir, daß Constri und ich ein solches Projekt verwirklichen, einen Tanzfilm, der in Baustellen oder Ruinen gedreht wird.
Im "Inferno" war leider auch der Sockenschuß. Er hielt sich allerdings im Hintergrund, so daß ich ihm keine Beachtung zu schenken brauchte.
Sarolyn erzählte, daß der Sockenschuß kürzlich in die Apotheke kam, wo sie arbeitet. Er habe nach Bier gestunken und mit lauter Stimme berichtet:
"Mein Patient ist tot, deshalb bin ich zur Zeit ohne Job."
Vielleicht hatte er vorübergehend einen Job in der Pflege.
Während Rafas Freundin sich in der Nähe des DJ-Pults mit verschiedenen Leuten unterhielt, sah ich Rafa vor der Schwingtür stehen, die den vorderen vom hinteren Saal trennt. Er rauchte und schien auf die Freundin zu warten. Als er mich bemerkte, lief er in den hinteren Saal zu der Freundin.
Sasch erzählte, Kappa sei im Laufe der Nacht mehrmals angekommen und habe ihm vorgeschlagen:
"Laß' uns mal eine Straße entlangmarschieren. Laß' uns mal die Nase pudern. Laß' uns mal Schnee fallen lassen."
Etwa viermal sei Kappa zum Koksen draußen gewesen.

In einem Traum sah ich einen Film, in dem eine Comic-Dinosaurierin sich um eine gedachte eigene Achse dreht, ihren Lieblingssaurier dabei anschaut, sich dann mit ihm um eine gemeinsame Achse dreht, immer um und um, und ihn schließlich auf seine großen Comic-Augen zu küssen beginnt. Sie drehen sich immer weiter, und dann küssen sich die beiden auf den Mund. In diesem Augenblick waren es Rafa und ich, und wir blieben stehen.

Am 27.10. - einem Montag - klingelte abends um zehn vor acht einmal das Telefon, dann war Stille.
Am 28.10. ereignete sich dasselbe morgens um fünf vor sieben.
Minnesänger Waldo schrieb mir ein schwärmerisches Gedicht, "Schwanentanz". Als er mich anrief, sagte ich ihm, es sei eine hübsche Idee. Ich wollte jedoch keine falschen Hoffnungen aufkommen lassen und erzählte ihm, was ich für Rafa empfinde. Alles in allem denke ich, Waldo verehrt mich, doch erkennt und versteht er mich nicht. Er scheint es auch gar nicht auf einen bestimmten Menschen abgesehen zu haben. Zur selben Zeit schrieb er nämlich einen Brief an Malda. Er wollte ihr gefallen, indem er einen Ton anschlug, von dem er glaubte, ihren Geschmack getroffen zu haben. Es war kein romantisches Minnegedicht, sondern eine grobes Sich-Anbieten mit sadomasochistischem Vokabular.

In einem Traum fuhr Rafa mit mir im Auto durch SHG., mitten durch die Stadt. Er saß am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz. Rafa fuhr zum Hause seiner Familie. Kurz bevor wir dort ankamen, ließ er mich aussteigen und bat:
"Geh' du schon mal zu Fuß vor, ich muß noch etwas erledigen."
Ich kam in das Haus hinein, bis in Rafas Zimmer, das von einer Lichterkette erhellt war.
"Jetzt bin ich wieder in SHG.", dachte ich. "Jetzt bin ich auf einmal wieder hier ..."

Rafa hat in der Tat noch etwas zu erledigen; er muß sich nämlich von seiner Freundin trennen.
Zu Halloween kam Sandro als Kardinal verkleidet ins "Inferno". Lillien trug ein Schwangerschaftskleid aus rotem Pannesamt. Ivo Fechtner bemühte sich um Yasmin.
Zu Allerheiligen machten wir wie jedes Jahr unseren Friedhofsspaziergang. Auf manchen Gräbern standen mehrere Ewige Lichter, bis zu dreizehn Stück. Wir machten Fotos, auch Gruppenfotos zur Erinnerung. Dann gab es ein feines Essen beim Griechen. Wir hatten vorbestellen müssen, denn wir waren dieses Mal achtzehn Leute. Terry lachte so viel, daß sie am nächsten Morgen Muskelkater hatte. Talis erzählte, er habe Zoë aus seiner Wohnung werfen müssen, damit sie endlich lernt, auf eigenen Füßen zu stehen. Zoë soll das selbst einsehen und im Grunde für den Rauswurf dankbar sein. Verfeindet sind die beiden jedenfalls nicht.
Am 02.11. klingelte abends um zwanzig vor elf einmal das Telefon, dann war Stille.
Am 03.11. ereignete sich dasselbe abends um zehn vor elf.
Am 06.11. klingelte um neun Uhr abends einmal das Telefon. Als ich abnahm, war die Verbindung bereits unterbrochen.
Constri, Rufus und ich besuchten Tila und Ral in BI. Die beiden sammelten uns am Bahnhof ein und fuhren uns zu ihrer Wohnung. Dort gab es selbstgebackene Apfeltorte mit frisch geschlagener Sahne. Philipp holten wir auch noch zu unserem Kaffeekränzchen. Die drei Jungen hockten sich in eine Ecke und schwätzten über Musik, wir Mädchen saßen in der anderen Ecke und schwätzten über Männer. Es war herrlich. Tila wurde von Constri fachkundig geschminkt und staunte über ihr neues Gesicht. In unserem Lieblingsrestaurant aßen wir nach langer Zeit wieder eine legendäre Suppe nach thailändischem Originalrezept, "Tom Yam Gai". Philipp hatte so viel Geld für Platten ausgegeben, daß er nicht mitkommen konnte, auch nicht zu dem Industrial-Festival im Jugendzentrum, das wir heute besuchen wollten.
P.A.L und Synapscape erwiesen sich als Abräumer. Rhythmus, Rhythmus, Rhythmus ... das könnte die Konzerte am ehesten beschreiben.
Es gab einen Verkaufsstand des Industrial-Labels Ant-Zen. Label-Inhaber Salt war da, und ich bat ihn, seine edlen, industriell designten Postkarten als Sonderediton herauszubringen, jede Karte doppelt - eine zum Verschicken und eine zum Sammeln. Salt war nicht abgeneigt, aber erstaunt darüber, daß ich seine Kunstwerke so hoch schätze. Er hat ihnen wohl bisher lediglich den Stellenwert einer Dreingabe zugemessen.
Terry und ihre Freundin Birthe waren am selben Abend im "Weghaus im Walde", wo Funker Vogt auftraten. Rafa war dort auch, wahrscheinlich weil er mit dem Veranstalter Elias bekannt ist. Er begrüßte Terry freundlich. Berenice war nicht da. Rafa soll eine Zeitlang mit einem Haufen fremder Mädchen an einem Tisch gesessen haben.
Am 09.11. klingelte abends um zehn Uhr einmal das Telefon, danach war sofort wieder die Leitung frei.
Am 12.11. klingelte morgens um zehn nach sieben einmal das Telefon, dann war gleich wieder Stille. Um drei Uhr nachmittags ereignete sich dasselbe.
Mitte November waren Constri und ich mit Clara und Ray bei Folter und Rufus. Folter freute sich sehr, zumal er sich den Fuß gebrochen hat und nicht aus dem Haus kann. Es gibt Leute, die für ihn einkaufen, deshalb konnte er uns auch zum Kaffee etwas anbieten.
Nachts waren wir bei "Klangwerk". Unter anderem liefen dort "Fade" von Synapscape, "Comisario de la Luz I" von Esplendor Geometrico und "Sonic Push" von Sonar. Nach "Klangwerk" bin ich jedesmal "kaputtgetanzt", aber wohlig müde. Im Hauptbahnhof von HH. gibt es ab halb fünf Uhr morgens schon warmes Essen und Heißes zum Trinken, da hole ich mein Frühstück.
In dieser Nacht soll Rafa nicht in der "Halle" gewesen sein, jedoch soll seine Freundin dort bedient haben. Sie soll unangenehm arrogant gewirkt haben.

In einem Traum erfuhr ich, daß Rafa sich im "Read Only Memory" aufhielt. Ich konnte dorthin gehen, weil ich von anderen Leuten begleitet wurde. Rafa saß auf dem Podest im Barraum an einem der Tische. Er bastelte fleißig. Er hatte sich eine blonde Perücke aufgesetzt und schien ganz in seine Tätigkeit versunken. Ich konnte auf ihn zugehen, weil meine Begleiter selbst mit ihm zu tun hatten. Toto erschien ebenfalls im "Read Only Memory" und sogar der längst verstorbene Vater von Rafa und Toto. Aus der Art, wie der Vater redete, war zu erkennen, daß auch er ein Charmeur gewesen ist.
Während Rafa weiterbastelte, malte ich Bilder.
Als ich weggerufen wurde, schaute ich noch einmal nach Rafa. Er war nicht mehr da, aber Constri und ich fanden eine große Truhe, voll mit dem, was Rafa und ich miteinander gemacht hatten. Es waren auch andere Dinge darin, aber obenauf lagen die Schöpfungen von Rafa und mir.
Wir fanden auch einen Briefumschlag voller Schwarzweiß-Fotos. Sie waren lose und frei assoziiert geknipst worden. Es waren keine "vernünftigen" Bilder. Die einzigen Bilder, auf denen eine Person gut erkennbar abgebildet war, waren drei Bilder, die Rafa von seiner Mutter gemacht hatte. Er selbst war auf den Bildern immer nur verzerrt, verkleidet oder posiert zu sehen. Die Bilder wirkten in ihrem Ausdruck eher trist, nüchtern und abgeklärt. Auf einem Foto hatte Rafa in einem Ladenregal einen Artikel fotografiert, dessen Name einen Teil seines Bandnamens enthielt.
Ich wußte nicht, wo Rafa sich am Abend aufhalten würde. Constri wollte unbedingt mit mir in den "Radiostern" fahren. Ich wollte zuerst nicht, aber dann fuhr ich doch dorthin, zumal ich ohnehin nicht wußte, wo Rafa steckte.

Waldo hat mir noch mehr Minnegedichte geschickt, in denen es unter anderem heißt:
"Ach, könnt' ich doch an seiner Stelle sein!"
Waldo meint, wenn man zuläßt, daß man sich in mich verliebt, bleibt man für immer an mir kleben, und davor hat Rafa Angst.
Auf einer Party bei Revil und Onno redete Kurt wohlmeinend auf mich ein:
"Ais ich vom Lande ins 'Elizium' kam und dich sah, warst du für mich nur 'die Tanzpuppe'. Ich war von dir einfach fasziniert. Ich frage mich, womit hat dieser Rafa dich verdient?"
Dane meinte, Kurt würde diese Sache wohl vor allem aus seinem eigenen Blickwinkel betrachten. Von außen könne man gar nicht beurteilen, inwiefern Rafa für mich wichtig sei.
"Jedenfalls ist die Beziehung zwischen Rafa und Hetty ein Phänomen", faßte Kurt zusammen. "Man kann sie mit keinen mir bekannten Maßstäben messen."
Terry und Birthe erzählten, daß sie vor anderthalb Jahren in der "Windmühle" Rafas Konzert gesehen haben. Mittendrin soll der Strom ausgefallen sein, und die beiden Mädchen riefen:
"Spiel' doch unplugged!"
Rafa kickte einen Bierkasten von der Bühne und rief:
"Bedient euch!"
Im "Elizium" erzählte Siddra, sie sei vorhin auf einer Party gewesen, da sei U.W. herumgelaufen und habe alle Damen gefragt, ob sie ihm "einen blasen" wollten. Als er keinen Erfolg hatte, fragte er Ivo Fechtner. Der wollte das aber auch nicht.
Inzwischen habe ich einen Weg gefunden, mein Berufsleben mit dem "Zone" zu vereinbaren. Ich schlafe am Mittwochabend zwei bis drei Stunden, bevor ich ins "Zone" fahre, und wenn ich frühmorgens zurückkomme, schlafe ich noch einmal ungefähr so viel und gehe dann zur Arbeit.
Ende November begegnete mir Sten im "Zone". Er hatte sich alle Haare abrasiert und trug ein gemustertes Käppi. Das paßt zu der Rolle des Harlekin, die er in seiner Dark-Wave-Oper "Jenseits" im "Read Only Memory" spielen wird. Ich erzählte Sten, daß ich jetzt in der Praxis eines Psychiaters und Neurologen arbeite.
Anfang Dezember fährt Sten mit Rafa nach HAL., wo die beiden auftreten. Ansonsten sieht er Rafa nicht mehr allzu oft. Ich erzählte Sten, daß ich zu Rafa gar keinen Kontakt haben kann, weil er immer noch eine Freundin hat und daß ich ihn in der "Halle" wegschicken mußte, als er mit mir reden wollte. Sten knuddelte mich und sagte:
"Ach ..."
und fügte wahrscheinlich in Gedanken hinzu:
"... du spinnst ja wohl."
"Die Tussi, die er da hat, soll wohl auch ziemlich dämlich sein - habe ich mir sagen lassen", erzählte ich.
"Ach, Berenice ist eigentlich ganz nett", meinte Sten.
"Zu dir vielleicht", entgegnete ich.
Les hat Liebeskummer, aber so wenig Zeit, daß er sich damit kaum auseinandersetzen kann. Ich weiß nicht, ob er wegen eines Mädchens oder wegen eines Jungen Liebeskummer hat.
Les freut sich darüber, daß "Become an angel" von In strict confidence neuerdings so gut ankommt.
"Vor einem Jahr wollte das noch keiner hören", erzählte er, "da mußte erst die kleine Hetty dazu tanzen, damit ..."
Am nächsten Morgen klingelte um zehn nach acht einmal das Telefon, dann war sofort wieder die Leitung frei.
Am Samstag feierte Gart in OS. im "Helix" seine Verlobung mit Ismene. Ich schaffte es an dem Abend nicht, nach OS. zu kommen, und ging ins "Inferno". Claras scheue Freundin Beryl kam mit. Sie geht hochgeschlossen und traut sich nicht einmal, Strumpfhosen anzuziehen. Ich riet ihr, mit Leggins zu beginnen.
Ich trug einen langen schwarzen Spitzenrock mit lauter großen schwarzen Schleifen daran, dazu das Spitzenoberteil und ein weißes Strumpfband, das im Schwarzlicht durch die Spitze hindurchleuchtete. Chantal hat von Violet ein selbstgenähtes Kleid geschenkt bekommen, aus schwarzem Kunstleder, lang und eng und an den Seiten offen. Viele schmale Riegel mit silbernen Clips halten es zusammen. Unter dem Kleid trug sie eine schwarze Netzstrumpfhose. Chantal ist hochgewachsen und schlank und sah bezaubernd aus in dem Kleid.
Seraf hat Chantal vor Kurzem von einem Tag zum anderen verlassen. Darunter leidet sie sehr.
"Ihr wart so verliebt ineinander, auch noch nach eineinhalb Jahren", meinte ich. "Ich glaube nicht, daß er nichts mehr für dich empfindet. Ich glaube, er ist abgehauen, weil er gedacht hat, er kann kein ganzer Kerl mehr sein, wenn er in der Damenwelt nichts mehr zu erobern hat."
Wendelin Rotauge begrüßte mich. Ihn habe ich im vergangenen Jahr in den "Katakomben" kennengelernt. Er trägt die Haare lang und toupiert und verschönert manchmal seine aufwendig geschminkten Augen mit roten Kajalstrichen. Wir freuten uns über die Musik, die Sasch im vorderen Raum auflegte. Wendelin erzählte von dem hinteren Raum, wo Kappa am DJ-Pult stand:
"Kappa spielt voll die schlechte Musik, wie immer, wenn er gute Laune hat."
"Warum hat er denn gute Laune?" fragte ich. "Hat er eine neue Biene?"
"Nein, der hat eine neue Nase."
"Zu mir hat er gesagt, er kokst seit über einem Jahr nicht mehr."
"Ha! Der läuft doch dauernd da vorne 'rein, jetzt eben wieder."
"Vielleicht wollte der nur zum Klo."
"Nein, das Klo ist da - der geht aber da drüben 'rein."
"Vielleicht gibt es da etwas zu trinken."
"Also, ich glaube, da gibt es Nasen", war Wendelin überzeugt.
Als es auf vier Uhr zuging, suchte ich mein Zeug zusammen. Kappa saß zwei Polsterbänke weiter und rief mich:
"Schatz! Komm' mal her!"
Ich setzte mich zu ihm, zeigte ihm die CD "Rage" von Synapscape und fragte ihn, ob er diese Band kenne. Erwartungsgemäß kannte er sie nicht. Ich erzählte Kappa, daß ich mich freuen würde, wenn solche Bands im "Inferno" auftreten. Kappa findet derartige Pläne immer gut, aber das heißt noch lange nicht, daß sie umgesetzt werden.
"Ich weiß, ich will nicht mehr über Koks reden", entschuldigte ich mich, "aber die Leute glauben immer noch, daß du kokst."
"Laß' sie glauben", sagte Kappa resignierend. "Und wenn du mir nicht glaubst, dann glaubst du mir eben nicht."
"Wenn jemand unbedingt will, daß man ihm glaubt, dann kann man ihm schon diesen Kredit geben", meinte ich, "bis zum Beweis des Gegenteils. 'Kredit' kommt von 'credere', und das heißt 'glauben'. Ich weiß, es ist verletzend, wenn einem niemand glaubt."
"Ach, mir ist das egal, was die Leute denken."
"Es verletzt einen aber doch. - Sag' mal, was nimmt du eigentlich wirklich?"
"Ach, ich trinke mal einen."
"Das tun ja fast alle."
"Und mehr als ich. Weißt du, wenn man so einen Laden wie den hier schmeißen will, sollte schon irgendwo ein Licht an sein."
Kappa fragte, was ich mir zum Geburtstag wünsche. Ich sagte ihm, daß ich mir die Coverversion wünsche, die Rafa von "Gothic Erotic" von Umbra et Imago gemacht hat.
"Rafa wird sich zieren", warnte ich Kappa vor. "Es kann sein, daß er sagt, er hätte das Stück nicht mehr, das Dat sei kaputt. Dann sage ihm, er soll es neu einspielen. Es kann schwierig sein, ihn dazu zu bringen. Ich würde ihn liebend gern auch zu meinen Parties einladen, aber er ist nicht solo, und dann darf er nicht mit mir reden. In der 'Halle' neulich hat er ja versucht, mit mir zu reden, aber ich mußte ihn wegschicken, weil er ja nicht solo ist."
"Ich komme schon an das Stück", war Kappa sicher. "Ich sage Rafa nicht, daß es für dich ist - erst nachher."
"Das wäre auch ratsam. Ich meine - er hat noch fünfzehn Videokassetten von mir, die kann er mir auch nicht zurückgeben, weil er nicht mit mir reden darf."
"Ach, die kriegst du schon wieder."
"Nein, er braucht gar nicht damit anzukommen, er soll sich erstmal von seiner Tussi trennen."
"Die sind wohl ziemlich glücklich miteinander."
"Ich sage ja, er soll sich von der trennen, vorher soll er gar nicht ankommen. Die soll ja auch völlig ätzend sein."
"Ach, ich kenne Berenice, die ist schon in Ordnung."
"Sie soll ätzend arrogant sein, haben mehrere gesagt."
"Ja, ein bißchen arrogant ist sie schon, das stimmt."
"Und ich finde es widerlich, wenn jemand arrogant ist."
"Rafa ist doch auch arrogant, das paßt doch zusammen."
"Ja, er ist gerne arrogant", deutete ich. "Er liebt es, arrogant zu sein. Ich finde das ekelhaft, wenn jemand arrogant ist."
Zu diesem Gespräch fiel mir ein, daß Kappa selten über andere Menschen etwas Schlechtes sagt. Wenn er zugesteht, daß Berenice "ein bißchen arrogant" ist, dann muß Arroganz schon ihre Haupteigenschaft sein, sozusagen das persönlichkeitsbestimmende Merkmal.

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