.

Sazar kam ins "Zone" gerauscht mit einem wehenden Umhang in einem schwarzweißen keltischen Muster. Neben ihm ging Talis, der inzwischen mit Vorliebe Netzhemden und Lackhosen trägt und sich eine verwegene Strähne ins Gesicht hängen läßt. Als diese beiden großen, schlanken, aufregend zurechtgemachten Jungen auf mich zustürmten und mich zur Begrüßung umhalsten, mußte ich daran denken, wie sehr ich mir als Teenager gewünscht habe, von schmucken Kerlen hofiert zu werden und wie unvorstellbar das damals für mich war. Talis und Sazar kämen wahrscheinlich nicht im Traum darauf, daß es eine Zeit gegeben hat, in der ich weder Verehrer noch Freunde hatte. Ich wußte nicht, wie ich mit Jungen umgehen sollte und wie ich sie kennenlernen konnte, ohne daß es gleich nur um das Eine ging.
Im "Rohbau" soll es kurz vor Weihnachten eine Tanzveranstaltung mit Ace und einem Auftritt von Rafa geben. Als ich bei "Soundhouse" die Karte holte, sagte der Verkäufer:
"Ist echt traurig. W.E. Ace hat doch schon viel bessere Bands gehabt. Ausgerechnet W.E muß es sein."
"Ja, die Musik von denen finde ich bescheuert, aber ich will lachen", sagte ich. "Mal sehen, was die dieses Mal für Peinlichkeiten bringen."
"Genau dasselbe wie immer!" wußte der Verkäufer. "Seit drei Jahren machen die dieselbe Musik. Alles wird teurer und technisch ausgefeilter, aber es ist immer noch das Gleiche."
Am 09.12. klingelte um sechs Uhr abends einmal das Telefon, dann herrschte Stille.
Carl hat Saverio kürzlich auf einer Einkaufsmeile getroffen. Saverio äußerte den Wunsch, mit Carl in ein Café zu gehen, und das taten sie auch. Saverio scheint an Carl zu hängen, will aber auf keinen Fall auf sein gewohntes Umfeld verzichten, das vor allem aus seiner reichlich schattengebenden Freundin besteht.

In einem Traum Mitte Dezember standen Rafa und ich uns gegenüber, und ich streichelte und küßte ihn.

Als Rafa im "Rohbau" auftrat, war wieder sein Fanclub aus dem Osten anwesend, wie schon im Juni im "RoseHip". Die "Jünger" klatschten und jubelten Rafa zu:
"W - E - W - E ..."
Das erinnerte mich an das "B - B - B - B ..." der Parteigenossen in "1984" von George Orwell. Passend dazu brachte Rafa ein feierlich-getragenes, klassiknahes Intro. Ich stand hinter den Reihen der Anhängerschar und rührte mich nicht.
Rafa genoß den Beifall sichtlich und bedankte sich vielmals dafür. Seltsamerweise drehte er sich immer weg, wenn ein Lied zuende war und geklatscht werden sollte, so daß er nie sehen konnte, wer klatschte und wer nicht. Ich klatschte nicht; ich konnte es nicht, weil meiner Ansicht nach weder die Musik noch Rafas Verhalten besonderen Beifall verdienten. Nach dem Intro, das ich nicht schlecht fand, folgten ernüchternd die gewohnten, ewiggleichen Sounds und Melodieläufe.
Am Keyboard hing wieder die FDJ-Fahne. Als Hintergrunddekoration lief der Film "Rendezvous unterm Nierentisch", eine schrille Sammlung von 50er-Jahre-Werbefilmen, die ich selbst gerne mag. Rafa trug die für seine Auftritte inzwischen typische Kleidung, ein schwarzes Sakko und ein weißes Hemd. Seine "Schutzbrille" nahm er nie ab. Er gebärdete sich am Mikrophon professionell entrückt und von Emotionen geschüttelt. Er gestikulierte wild, ließ sich am Mikrophonständer zusammensacken, richtete sich wieder steil auf, zuckte, schlug um sich, schrie und ruderte mit den Armen. Das ganze Theater spulte er routiniert herunter, ohne wirkliche Hingabe.
"Schmeißt euer Handy in die Mülltonne", predigte Rafa seinen Zuschauern. "Das gute alte Telefon ist besser."
Ein Mädchen mit kurzen rotgetönten Haaren kam auf die Bühne, das gepflegte Männerkleidung für Damen trug. Sie mußte die Frauenstimme in "Telephon W-48" übernehmen. Rafa bat um "Applaus für Muriel, unsere Sängerin".
Als Rafa "Wo kommen all die Geister her?" ankündigte, äußerte er sich vernichtend über Fernseh-Talkshows; dies war einer der wenigen Punkte, in denen ich mit ihm übereinstimmte.
"Kein W.E-Konzert, ohne daß es auch etwas Neues gibt", sagte Rafa dann. "Jetzt wird wieder richtig gearbeitet. Jetzt bewegt sich wieder was."
Ich mußte daran denken, daß Rafa schon lange nicht mehr arbeitet und daß sich in seinem Leben nicht eben viel bewegt.
Auf der Bühne stand jenes Ölfaß, auf dem Rafa schon bei seinem Konzert im "RoseHip" herumgehämmert hat. Es ertönte ein Abklatsch von dem Klassiker "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps, mit dem Titel "Arbeit adelt!". Zur Begleitung haute ein Junge mit selbstgebastelten Hämmern auf das Ölfaß, Stöckchen, die an einem Ende mit Pappmaché umwickelt waren.
"Wie lächerlich wirkt das, wenn man es mit den frühen Test Dept. vergleicht", mußte ich denken. "Die hat Rafa freilich nie gesehen. Wie die damals mit echten, schweren Hämmern auf einen Stahlkasten eingeschlagen haben, in jeder Faust einen, und mit welcher Geschwindigkeit - dazu gehörten wirklich Kraft und Rhythmusgefühl!"
Ein Stück kündigte Rafa an mit den Worten:
"Jetzt kommt ein Liebeslied für Tessa und Berenice. 'Deine Augen'!"
Es war eine Art Abklatsch von "Blaue Augen" von Ideal, nur ging es hier um grüne Augen.
Rafa scheint sich nicht entscheiden zu können, wem er huldigen will. Ich denke, wenn seine Freundin das hinnimmt, hat sie selbst schuld. Ich würde mich ja bedanken, wenn der Mann, den ich liebe, gleichzeitig mit mir noch andere Frauen besingt.
Für seine Version von "Robbi, Tobi und das Fliewatüüt" hatte Rafa aus Pappkartons und Alufolie zwei lebensgroße Roboter gebastelt, die aus einer Schulaufführung hätten stammen können. Die Roboter mußten auf der Bühne herumlaufen.
Rafa scheint mit der Gegenwart nicht so richtig klarzukommen, das war auch hier zu beobachten. Entweder will er weit in die Zukunft und schwerelos durch den Weltraum fliegen, oder er will in die Zeit zurück, als er klein war oder in die Zeit, als seine Eltern jung waren. Mit dem, was wirklich existiert und greifbar ist, möchte er so wenig wie möglich zu tun haben. Die Liebeslieder sind schablonenhaft und kitschig und von den Schlagern einer längst vergangenen Zeit abgeguckt. Es werden immer wieder andere Frauen besungen, manchmal auch mehrere auf einmal. Die Liebesbekundungen wirken gekünstelt und nie persönlich. Ich habe den Eindruck, daß Rafa auf der Bühne durch und durch seine Fassade lebt und weit von sich selbst entfernt ist. Er verkauft den Leuten nur das, was er gerne sein möchte. Jede Gefühlsregung ist kontrolliert und gestellt. Nichts kommt wirklich von innen.
Während des Auftritts begrüßte mich Sten, indem er seine gespreizten Hände an meine legte. Ich schaute ihn an, klopfte ihm auf die Schulter und sagte ihm, daß ich mir seine Oper "Jenseits" im "Read Only Memory" anschauen werde. Sten wollte mich nach vorne schieben.
"Geh' auf die Bühne!" riet er mit einem Blick auf Rafa. "Gib' ihm einen Rosenstrauß!"
"Er muß mir einen geben", stellte ich richtig.
Rafas Version von "Alle Jahre wieder" bildete den Abschluß des Konzerts. Dolf kam mit einem Sack auf die Bühne, in dem sich riesige Weihnachtsmänner aus Schokolade befanden, die Variante aus der Bahnhofsdrogerie für DM 1,29. Dolf schmiß die Weihnachtsmänner ins Publikum, und Rafa sang dazu:
"Alle Jahre wieder kommt das Dolfilein ..."
Einige Weihnachtsmänner wurden aufgesammelt, andere blieben liegen, zerbrachen und bedeckten die Tanzfläche mit einer klebrigen braunen Schicht aus billiger Schokolade. Nach dem Konzert wurde diese Schicht zu einer erheblichen Einschränkung beim Tanzen. Ewig mußte man sich irgendwo die Schuhe abstreifen. Zoë und ich schrieben einen Zettel für Ace, der am Pult stand:
"Lieber Ace,
könntest du unseren Musikern einen Besen beschaffen, damit sie die Sauerei auf der Tanzfläche wegfegen? Dadrauf tanzt sich's so eklig. Bäh."
Der Zettel wurde von Zoë, Sarolyn, Sarolyns jetzigem Freund Rory und mir unterschrieben, und wir drückten ihn Ace in die Hand. Vermutlich hatte er den Dreck auf dem Boden noch gar nicht bemerkt, weil er noch nicht getanzt hatte.
Auf der Tanzfläche sah ich Berenice, in dem gewohnten schlichten Kleid. Sie lief viel mit einem schlanken blondgelockten Mädchen herum, wohl eine ihrer Freundinnen.
Als Rafa aus dem Backstage kam, stellte er sich mit Berenice an einen Tisch in der Nähe von Sarolyn und mir. Er blieb dort aber nicht lange, sondern verschwand bald aufs Neue. Berenice hielt sich wieder an das blonde Mädchen. Die beiden liefen zeitweise Arm in Arm durch die Gegend. Einmal sah ich sie in der Toilette. Ich hörte sie über die Lautstärke im Konzertsaal klagen:
"Ich bin ganz taub!"
Die Stimmen hörten sich sehr gewöhnlich an, sehr oberflächlich, sehr gleichgültig. Ich denke manchmal, Rafa meidet das Besondere nicht nur, er verabscheut es regelrecht. Je durchschnittlicher ein Mädchen ist, desto lieber nimmt er es.
Kappa setzte sich auf die Bühne. Ich fragte ihn, ob Rafa etwas mit Muriel hatte.
"Nein, der ist immer noch mit Berenice zusammen", gab Kappa Auskunft.
"Na ja, dann warten wir mal, bis diese Krankheit auch wieder vorübergeht", seufzte ich. "Also, für mich ist der Mann krank, ich kann mir nicht helfen."
"Das weiß ich, das hat Rafa mir lang und breit erzählt."
"Er hält mich ja auch für krank."
"Nein", entgegnete Kappa sogleich. "Sowas hat der nie gesagt. Nie. Niemals."
"Rafa hat mal zu mir gesagt, er hätte Angst vor mir."
"Stimmt auch."
"Aber warum könnte Rafa vor mir - vor mir - Angst haben?"
"Er findet wohl, daß du ziemlich gefährlich wirkst."
"Aber warum sollte ich gefährlich sein, in welcher Weise?"
"Das weiß ich auch nicht."
"Na ja, ihr kennt euch schon sehr lange", meinte ich, "und damit kennst du Rafa auch sehr gut."
"Stimmt."
"Und deshalb ist mir wichtig, was du darüber denkst. Ich brauche deine Expertise."
Kappa schien sich geschmeichelt zu fühlen.
"Das möchte ich jetzt, ehrlich gesagt, nicht sagen", offenbarte er, "weil, ich möchte Rafa nicht verraten."
"Da muß Rafa aber etwas sehr Wichtiges vor mir zu verbergen haben", dachte ich, "wenn er es als Verrat empfindet, daß man es mir mitteilt."
"Das kann ich verstehen", sagte ich zu Kappa, "das ist nachvollziehbar, daß du das dann nicht sagen willst."
"Ich gebe dir nur einen Rat - ich würde das an deiner Stelle alles nicht so schwer nehmen."
"Man kann sich das leider in der Regel nicht aussuchen, wie schwer man etwas nimmt."
"Ja, das stimmt auch."
Als ich mit Zoë, Talis und anderen Leuten im Foyer des "Rohbau" stand und eine Brezel aß, ging Rafa an uns vorbei. Zoë sah ihn kommen und rief voller Aufregung in einer unüberhörbaren Lautstärke:
"Hetty! Rafa! Rafa! Rafa!"
Ich verzichtete darauf, Zoë zurechtzuweisen und schaute nur ein wenig zu Rafa hinüber. Rafa warf mir im Vorbeigehen einen kurzen Blick zu.
Sooft mir Velroe begegnete, langte er reflexhaft nach meiner Taille. Ich hatte das schnallenbesetzte Silberkonstüm mit dem Mieder an.
Der Sockenschuß war im "Rohbau", ließ mich aber in Ruhe. Ich sah Lena mit ihm sprechen. Sarolyn erzählte, der Sockenschuß würde immer noch zu ihr in die Apotheke kommen, mit Alkoholfahne.
Yasmin kam erst nach dem Konzert in den "Rohbau". Sie fragte mich auch dieses Mal, wie es mir ginge. Ich sagte wieder nichts über Rafa.
Talis unterhielt sich mit einem Mädchen aus E., das Mitglied in einem W.E-Fanclub ist und zu allen Konzerten geht, wo immer sie stattfinden. Ich mußte daran denken, wieviel Schönheit in der Musik sein kann und wie wenig davon ich in Rafas Musik finde.
Das Mädchen nimmt Rafas Musik allerdings nicht sehr ernst; sie hält sie für eine "Vera...ung".
Talis erzählte dem Mädchen, daß Rafa in H. kaum Fans hat und daß diese überwiegend von außerhalb kommen. Er selbst kenne niemanden, der wirklich ein Fan dieser Band sei.
Das Mädchen erzählte, als Dolf im letzten Jahr Weihnachtsmänner von der Bühne geworfen hat, flogen diese sogleich auf die Bühne zurück.
Sazar wollte mir gute Ratschläge geben. Er meinte, daß man doch eigentlich für sich selber sorgen müsse, und wenn eine Sache nichts wird und nicht geht, dann sollte man sich doch mal verabschieden und zu einer anderen Sache übergehen. Man würde sich ja sonst nur hineinsteigern.
"Was ist der Unterschied zwischen Hineinsteigern und Liebe?" fragte ich.
Darauf konnte er mir keine genaue Antwort geben. Er wollte vor allem darauf hinaus, daß es keinen Sinn habe, einem Menschen nachzuhängen, den man doch nicht bekommen könne. Er meinte, mir würde viel entgehen, wenn ich mich nicht offenhielte für eine andere Beziehung.
"Ich kann nicht entscheiden, was ich für einen Menschen empfinde", erklärte ich. "Und ich will meine Gefühle nicht verleugnen. Was ist besser - ist es besser, ehrlich zu sein, seine Gefühle anzunehmen, oder ist es besser, sie zu verleugnen und so zu tun, als hätte man sie gar nicht?"
"Natürlich soll man seine Gefühle annehmen und ehrlich sein", fand Sazar. "Aber man hat ja auch die Pflicht, für sich selbst zu sorgen und sich das Leben so gut wie möglich zu gestalten. Wenn du glücklich bist mit einem Mann, den du nicht kriegst, ist das ja in Ordnung."
"Wichtig ist mir nur, daß ich nicht scheinbar glücklich bin, sondern entweder glücklich oder unglücklich. Ich suche nach der Wahrheit, ich suche nach Deutungen, Erklärungen und Wegen."
In der kommenden Nacht fragten mich Dimitri und Velroe im "Elizium", wie mir Rafas Konzert im "Rohbau" gefallen habe. Ich antwortete, ich hätte den Eindruck, daß Rafa Gefühle nie zeigen will, sondern nur Theater spielt.
"Ja, damals im 'Exil'", kam Dimitri ins Erzählen, "da hat sich immer eine Schar von Groupies unterm DJ-Pult versammelt, die haben alle gemeinsam Rafa angebetet. Velroe und ich standen neben dem Pult und haben immer wieder versucht, ihre Aufmerksamkeit von ihrem Helden wegzulenken, aber vergeblich! Wir hätten ja auch gerne mal ein wenig geknuspert, aber das war einfach nicht möglich, denn Rafa war der Gott. Rafa hat den Mädchen aber nicht die Beachtung geschenkt, die sie erhofft haben. Seine Augen schauten in die Ferne, und zwar auf die Stelle, wo du dich normalerweise aufgehalten hast, die Stufe. Und wenn du dann gekommen bist, ist Rafa auf einmal fürchterlich nervös und flattrig geworden, und auf seiner Stirn haben sich Schweißperlen gebildet."
Daß Rafa so aufgeregt gewesen sein soll, nur weil er mich sah, erstaunt mich, tut er doch immer wieder so, als bedeute ich ihm gar nichts.
Allein ... als Rafa mit Velroe Armdrücken spielte und sogleich Velroes Arm auf die Tischplatte donnerte, wurde dies von Velroe als sehr heftig und aggressiv empfunden. Dies stützt meine Vermutung, daß Rafa sich dafür rächen wollte, daß Velroe mit mir Foxtrot getanzt hatte. Als ich Velroe von dieser Vermutung erzählte, wurde ihm klar:
"Ach, deswegen hat der mich so gern!"
"Ja, der hat dich zum Fressen gern."
Dimitri erinnerte sich daran, wie ich Rafa im "Exil" umarmt habe:
"Ich weiß noch, wie sie sich an seine breite Männerbrust schmiegte, und er stand so aufrecht wie ein Ritter."
"Na ja", meinte Velroe, "im Grunde war doch er das Kaninchen und sie die Kobra."
"Echt, ich versteh' das nicht", kam einhellig von den beiden, "er hat tausend Groupies um sich 'rum, und nur vor Hetty läuft er immer weg."
Meine Mutter hat bei mir den Hampelmann an der Lampe hängen sehen, den Rafa mir geschenkt hat.
"Was ist denn das für ein niedlicher Hampelmann?" wollte sie wissen.
Ich sagte ihr, daß ich ihn geschenkt bekommen habe.

In einem Traum kam Rafa zu mir und wollte mit mir leben. Wir machten einen Spaziergang in der Sonne, zum Fernmeldeturm. Ich konnte Rafa endlich so in den Armen halten, wie ich das immer möchte. Wir konnten endlich wieder Zärtlichkeiten austauschen.
Constri war bei uns, und es tauchten noch andere Lebewesen auf, die mit uns gingen. Da war ein neugeborenes Kind im Tragekörbchen, ein Kind von Rafa und mir. Es war sehr beruhigend für mich, dieses Kind zu haben. Ich trug es nicht immer selbst, weil Constri oder Carl es ab und zu nahmen. Es tauchten neugeborene Tiere auf, zwei Kätzchen, die aber in einem anderen Haus lebten.
Rafa wurde zwischendurch wieder etwas scheu. Auf einem Industriegelände, das wir überquerten, stand ein Tisch mitten auf einem Hof, mit einem darangerückten Stuhl. Rafa tat so, als müsse er auf einmal ganz dringend arbeiten. Er zog seine Jacke aus, hängte sie über die Stuhllehne, stellte sein Köfferchen ab, machte es auf und setzte sich in der Sonne an den Tisch.
"Dann arbeiten Sie mal, Herr Dawyne", sagten wir im Scherz zu ihm.
Als wir weitergingen, klappte er auf einmal hastig das Köfferchen zu, zog sich die Jacke wieder an und lief hinter uns her. Ich nahm ihn gleich wieder in den Arm und wollte ihm etwas Wichtiges zeigen, einen Weg, eine Straße, die ich selbst vor langer Zeit gegangen war. Als ich mit ihm in diese Straße einbiegen wollte, wurde er wieder scheu.

Am frühen Morgen des 26.12., um zwanzig vor eins, klingelte einmal das Telefon, dann herrschte Stille.
Um zehn vor drei am Nachmittag des 26.12. ereignete sich dasselbe.
Nach Weihnachten sah ich im "Read Only Memory" die Dark-Wave-Oper "Jenseits", eine Performance mit viel Schwarzlicht, Lackkulissen und Schattenwänden, mit Gesang, Tanz und Schauspielerei. Die Musik stammte vorwiegend von Bruno Kramm und Carlos Peron, und sie wirkte dementsprechend professionell. Die Darsteller - darunter Sten als Harlekin - wirkten etwas laienhaft, aber durchaus talentiert. Unter den Tänzern befand sich auch Muriel, Rafas neue Sängerin. Vermutlich hat Rafa sie durch Sten vermittelt bekommen.
Nach der Oper fuhr ich mit drei Leuten ins "Inferno". Im vorderen Raum, wo Sasch sonst ist, legte Rafa NDW auf, eine Musik, die für mich zum überwiegenden Teil unerträglich ist. Was ich daran verabscheue, sind vor allem die Banalität, die Seichtigkeit und die zur Schau getragene Heile-Welt-Stimmung. In dieser Scheinwelt gibt es keine echten zwischenmenschlichen Probleme, alles ist toll, alle sind nett, alle mögen sich, und es findet nichts anderes statt als das, was Rafa als "Party machen" bezeichnet. Die einzigen Unbilden drohen in der Gestalt von Videospielen, Konsum, Elektrosmog - kurz: demjenigen, was weit, weit weg ist von zwischenmenschlichen Beziehungen.
Rafa sah wieder einmal zum Anbeißen süß aus, mit weit über die Ohren rasierten, hochgestellten Haaren und der grauen Jacke mit den Schnörkeln. Vorm DJ-Pult lief die unvermeidbare Freundin Berenice herum, in einem langen schwarzen Kleid. Ich sah sie einmal über das Geländer mit Rafa sprechen, sonst sah ich sie nur mit ihren Freundinnen auf einem Bänkchen sitzen, mit denen sie auch herumtanzte und "Party machte", wie sich das gehörte. Rafa spielte mit seinem Publikum "Bingo", ein Gewinnspiel. Er war ganz Showmaster. In dieser Phase hielt ich mich überwiegend im hinteren Raum auf, wo Sasch wenigstens ab und zu etwas Tanzbares spielte - "Embryodead" von :wumpscut: und "Main Frame" von Sonar.
Im vorderen Raum setzte ich mich später zu Celeste und Janssen auf eine Polsterbank. Berenice näherte sich, die mit Celeste flüchtig bekannt ist.
"Rückst du mal?" fragte mich Celeste. "Berenice will hier noch hin."
In diesem Augenblick war ich auch schon aufgestanden und ging weg.
Als Sasch zum zweiten Mal "Embryodead" spielte, war auf der Tanzfläche viel mehr Platz. Ich konnte die Tanzfläche vom einen bis zum anderen Ende nutzen und das Stück richtig umsetzen. Als es danach kurz still war, klatschte jemand begeistert und rief:
"Hetty! Hetty!"
Es kann sein, daß sich da eine Gruppe von Jungen an der erhöhten Bar versammelt hatten, die ihr Bierchen trinken und etwas zum Gucken haben wollten.
Als ich in dem Gang hinter der Bar stand, in der Ecke, wo ich mein Zeug hingelegt hatte, marschierte Rafa an mir vorbei. Ich stand mit dem Rücken zu ihm und sah ihn deshalb nicht gleich. Es ist denkbar, daß er den Applaus mitbekommen hat.
Bis auf diesen kurzen "Besuch" im hinteren Saal sah ich Rafa nie das DJ-Pult verlassen. Dabei hätte er es gekonnt, weil sein Bekannter Hagan ihm assistierte.
Als ich mich mit Seraf unterhielt, saßen wir so an der Bar, daß Rafa uns beobachten konnte. Wenn er uns aber tatsächlich beobachtete, war dies nicht zu erkennen. Rafa ließ nämlich seinen Pony ins Gesicht hängen, und man konnte nicht sehen, wohin er blickte.
Seraf war überzeugt, daß es müßig ist, an einem Mann irgendetwas verändern zu wollen:
"Wenn er so ist, dann ist er so."
Wir waren noch im Gespräch, als Rafa "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps auflegte. Dazu tanze ich immer. Beim Tanzen sah ich Berenice mit ihren Freundinnen nahebei sitzen, und Berenice ging um mich herum und wieder zurück. Sie paßte nicht auf und wurde von mir gestreift. Mir gefiel das nicht, weil ich nicht den Eindruck erwecken möchte, aggressiv gegen sie zu werden. Ich hielt so sehr Abstand, wie mir das gelang.
Als ich schon meinen Mantel nach vorne brachte und auf die Sitzbank zu Sarolyn, Zoë und den anderen legte, spielte Rafa "Going round" von Xymox. Ich lief zur Tanzfläche, und da war schon Berenice, ganz allein. Sie tanzte vom DJ-Pult abgewandt. Wenn sie jemand anders gewesen wäre, hätte ich ihr gegenüber getanzt. So aber drehte ich mich von ihr weg.
Es kam mir vor, als wenn Berenice mich langsam von der Tanzfläche drängen wollte, aber das tat sie vielleicht unbewußt.
Als ich hinausging, kam es mir vor, als wenn Rafa zu mir herübersah - aber das kann auch eine Täuschung gewesen sein.
Ein Mädchen namens Lucette erzählte mir später, daß Rafa im "Inferno" mit einer Kamera herumgefilmt hat, kurz bevor ich ging. Er soll ganz frech in Lucettes Decolleté hineingefilmt haben.
Auf meiner Silvesterparty ließ Kurt einige Chinaböller unterm Kanaldeckel detonieren, und das hörte sich so schön dumpf an, daß ich von da an nur noch Chinaböller unterm Kanaldeckel detonieren ließ.
Saara und Svenson brachten einen Kumpel im weißen Sakko mit, einen Juppie aus M. Als der Juppie genug getrunken hatte, hielt er eine lange Rede und verwickelte sich in heftige Streitgespräche mit Kurt, der ebenfalls genug getrunken hatte. Es ging wohl um das Thema, wer oder was zur Elite gehöre, was auch immer mit "Elite" gemeint war.
Als die Nacht zuende ging, soll sich der Juppie im Rotlichtviertel geprügelt haben, so daß sein weißes Sakko ziemlich gelitten hat.

Am Neujahrsmorgen habe ich geträumt, ich würde vor einem schwarzen Zug stehen, der in Jenseits fahren sollte. Viele sehr zerstört wirkende Leute stiegen ein. Ich stieg nicht ein.

Aimée erzählte im "Elizium", daß Sten wegen Körperverletzung an ihr zu einer Geldstrafe von dreitausendsechshundert Mark verurteilt wurde. Dazu kommen die Kosten des Verfahrens und eventuell noch Schmerzensgeld für Aimée bei erfolgreicher Klage.
Talis brachte seine neue Freundin Janice mit ins "Elizium", eine blonde Naturschönheit im schwarzen Lackoverall. Talis sagt über sie, daß sie all das hat, was er an Zoë vermißt hat, weil sie unkompliziert und optimistisch ist.
Terry, die früher recht jungenhafte Garderobe trug, bevorzugt jetzt Feinstrumpfhosen und Minis. Sie hat einen stürmischen Verehrer, der ihr auch gefällt.
Zoë ist inzwischen mit Victor zusammen, der wie Rory aus Yodos Bekanntenkreis stammt.
Lessa sitzt neuerdings neben Violet als "Elizium"-Inventar auf einem Hocker. Mit zurückgelegtem Kopf schreit sie ihre Lästereien und ihr Gelache heraus, ohne daß jemand dem größere Beachtung schenkt.
"Peinlich" ist der einzige allgemeine Kommentar.
Am Mittwoch trafen wir uns abends bei Talis, um ins "Zone" zu fahren. Sazar kam in einem schwarzen T-Shirt, auf dem stand in großen weißen Buchstaben:
"F...en?"
Ich schlug ihm vor, er solle nach einer Braut Ausschau halten, die einen gewagten Lackbody trug mit der Aufschrift:
"Ja!"
- wobei das "Ja!" auch ohne die passende Frage auskäme.
Ich erzählte Sazar von dem schwarzen Zug ins Jenseits, in den ich nicht eingestiegen bin.
"Ist doch klar - Rafa saß nicht drinne", wußte Sazar.
Sazar glaubt, Rafa könnte deshalb vor mir Angst haben, weil er befürchtet, mir hörig zu werden. Außerdem glaubt er, daß Rafa seine Position als Weiberheld nicht aufgeben möchte und mich deshalb meidet.
In der kommenden Woche rief Rikka mich weinend an und erzählte, sie wisse gar nicht, warum sie so traurig sei. Ich schlug ihr vor, herzukommmen, und wir tranken noch bis spät in die Nacht Kaffee. Rikka berichtete, sie fühle sich oft minderwertig und unfähig, obwohl sie wisse, daß sie es in Wirklichkeit gar nicht sei. Sie führt das auf ein altes Programm in ihr zurück, ein Selbstbild auf einer tiefen Ebene, das nur sehr schwer zu korrigieren ist. Ich meinte dazu, korrigieren könne man das Selbstbild vielleicht dann, wenn man andere, Ich-bejahende Programme aufspürt, die auf derselben, tiefen Ebene liegen:
"Nur wenn sie so tief liegen, sind sie stark genug, das Selbstbild vom minderwertigen Ich zu verändern. Von oben, von der bewußten Ebene her, läßt sich kaum Einfluß nehmen auf ein so altes Programm."
Ich erklärte Rikka, daß Rafa es als Einziger geschafft hat, in mir Programme auf so tiefen Ebenen anzusprechen:
"Infolgedessen ist er auch der Einzige, der mir so nahe sein kann und dem ich so sehr vertrauen kann, daß er mir helfen kann gegen die belastenden Programme in mir."
"Jetzt verstehe ich endlich, warum du nur ihn wollen kannst und niemand anderen", meinte Rikka. "Das habe ich bis eben jetzt nie nachvollziehen können. Constri und ich haben immer gedacht, na ja ... was Hetty so sagt ..."
Das ist es halt - was ich empfinde und erlebe, scheint so unwirklich, daß mir kaum einer glaubt. Ich bin auf dieser Welt fast allein mit der Erfahrung einer Liebe, die unteilbar, allumfassend, bedingungslos und endgültig ist. Und ich suche nach Menschen, die das kennen, was ich fühle und die mir einen Weg zeigen können, der für mich auch gangbar ist. Mit dem wohlgemeinten Rat "Vergiß' ihn und such' dir einen anderen" kann ich nichts anfangen.
Rikka empfahl mir den Klassiker "Grundformen der Angst". Darin sei auch die "Angst vor Nähe" beschrieben, wie sie bei Rafa zu finden sei. Menschen mit "Angst vor Nähe" fürchteten sich davor, sich selbst in der Nähe zu einem anderen Menschen zu verlieren, und wenn sie doch einmal etwas von sich preisgäben, seien sie nachher umso verschlossener. Ihre dauerhaften Beziehungen könnten also nur oberflächlich sein, sonst fühlten diese Menschen sich eingeengt.
Das trifft auf Rafa durchaus zu.
In dem Buch steht auch, daß Menschen mit Angst vor Nähe diejenigen, die ihnen wichtig sind, darauf testen, ob sie ihnen die Treue halten, egal wie abweisend sie sich geben.
"Ich bin so mies zu dir, wie ich kann", hat Rafa einmal zu mir gesagt, als wir uns in den Armen hielten.
Er war erstaunt, weil ich mich davon nicht abschrecken ließ, und er bat mich:
"Genieß' nicht immer den Augenblick! He! Du sollst nicht immer den Augenblick genießen!"
Leider kann das Buch keine Antwort geben auf die Frage, was man gegen die Angst vor Nähe tun kann.
Rikka hat in dem Buch auch gelesen, daß die Menschen mit Angst vor Nähe tun, was sie können, um die Liebe, die ihnen ein anderer Mensch entgegenbringt, zu zerstören. Dann nämlich fühlen sie sich bestätigt in ihrer Ansicht, daß sie sowieso niemand wirklich liebt. Diesen Mechanismus hatte ich auch schon bei Rafa vermutet. Nur wird es ihm halt nicht gelingen, meine Liebe zu ihm zu zerstören.
Am 10.01. gaben Sarolyn und Rory in ihrer frisch bezogenen Wohnung einen Empfang. In gediegenem Ambiente waren Tische fein gedeckt, und man sollte möglichst leise atmen. Constri, Derek und Rikka hatten damit besonders große Schwierigkeiten, sind doch gerade sie es, die so mancher Feier einen schrägen Reiz geben - was auch verheerend sein kann, bedenkt man Dereks pyrotechnische Versuche mit Briefkästen, seine Salatschüssel-Jonglage und den Klobürsten-Weitwurf bis in Nachbars Gärtlein.
Constri und Derek waren auf dem Empfang vorwiegend damit beschäftigt, sich gegenseitig zu verhauen und sich dabei die wundervollsten Komplimente zu machen:
"He, Dickbein-Constri!"
"Das heißt 'Schönbein-Constri'!"
Onno betrachtete die beiden und meinte sinnend:
"Muß Liebe schön sein ..."
Als Derek und Rikka miteinander rauften, ging eine kostbare Vase zu Bruch, die auf dem Boden stand. Man hatte die Pretiosen nicht aus dem Weg schaffen können, da man sonst die gesamte Wohnung hätte aus dem Weg schaffen müssen. Es gab einen gewaltigen Aufstand, der Sarolyn und Rory den Spitznamen "Vasenleute" eintrug.
Rafa war erwartungsgemäß nicht im "Inferno". Ein bißchen vergnügen konnte ich mich aber dennoch. Sasch richtete mir liebe Grüße von Salt aus.
"Ein richtig netter Kerl", sagte er über Salt.
Er ist mit Salt so gut wie handelseinig, seit Kappa bis eintausend Mark hochgehen will für einen Auftritt. Zuerst sollen Winterkälte kommen, dann denkt man an Imminent Starvation zusammen mit den Publikumsmagneten Genocide Organ.
Jetzt ist wieder ein Geburtstag von Rafa gewesen, an dem ich ihm nicht gratulieren konnte, geschweige denn ihn sehen. Er wird in seinen Geburtstag - den 11.01. - hineingefeiert haben, mit ein paar Kumpanen und der unvermeidlichen Freundin.
Terry hat denn auch weder Rafa noch Dolf im "Elizium" gesehen.

In einem Traum saß ich mit Constri im Auto.
"Wir müssen uns noch was für die Todesanzeige für Mama überlegen", sagte Constri in dem gewohnten, an Pflichten gemahnenden Tonfall zu mir.
"Ach - ist Mama tot?" fragte ich erstaunt.
"Ja, die ist tot."
"Gehen wir zu Wilf?"
"Ja, wir gehen hin."
"Schade", sagte ich in mich gekehrt. "Sie konnte einen immer so schön aufbauen."
Ich wurde sehr traurig.

Ich erzählte meiner Mutter den Traum nicht. Doch am selben Tag meldete sie sich und schlug vor, daß wir, nur sie und ich, uns regelmäßig zum Kaffee treffen. So halte sie das seit längerer Zeit mit Constri, und nun wolle sie das auch mit mir so halten. Man wisse ja sonst gar nicht, was man voneinander habe.
Ich freute mich darüber, zumal sie meinetwegen auch in Kauf nimmt, daß ihr Mann eifersüchtig wird.
Am Mittwoch beobachtete Sazar Terry, wie sie im "Zone" tanzte, und sagte zu mir:
"Terry wird nochmal 'ne Hübsche, aber 'ne richtig Hübsche. Laß' die nochmal ein halbes Jahr so weitermachen, und ..."
Terry kann sich auch an Birthe orientieren, die ebenfalls abgenommen hat und inzwischen sehr hübsche Kleider trägt. Birthe hat sogar einen bodenlangen schwarzen Tüllrock. Terry hat sich jetzt ein Spitzenröckchen gekauft.
Am 16.01. klingelte nachts um zehn nach zwei einmal das Telefon.
Tags darauf war ich in Ht. auf Teds Geburtstagsfeier. Ich erzählte Lev, daß Rafa zu jedem sagt, er hätte Angst vor mir.
"Du nimmst ihm seine Freiheit", vermutete Lev.
"Wie kann ich sie ihm nehmen, wenn ihn nichts an mich bindet?" fragte ich.
"Er will was von dir", glaubt Lev. "Sonst könnte er nicht das Gefühl haben, daß du seine Freiheit bedrohst."
Zur gleichen Zeit fand in der "Halle" eine EBM-Nacht statt. Saara und Zoë waren da und berichteten mir später, was sich dort ereignet hatte:
Saara ging an die Bar, da bediente Berenice, in Hose und spitzen Schuhen.
"Wer guckt mich da bloß so an?" fragte sich Saara und entdeckte, daß Rafa sie anstarrte, aus nächster Nähe.
Rafa stand da mit einigen Leuten. Als Saara ihn nicht beachtete, knuffte er sie im Vorbeigehen.
Auch Danielle wurde von Rafa angeguckt, auch beim Tanzen.
Saara sah Rafa nie mit Berenice zusammen.
"Rafa von W.E bitte kommen!" wurde Rafa wieder und wieder von Kappa durchs Mikrophon gerufen, und das, obwohl er ganz nah beim Pult stand.
Es sah so aus, als wollte Kappa ihn ärgern.
Kappa kündigte alsbald durchs Mikrophon an, daß eine Miss-Wet-T-Shirt-Wahl stattfinden werde. Aber keines der Mädchen hatte Lust, sich für so etwas herzugeben. Also mußten die Jungen sich naßspritzen lassen, und es wurde eine Mister-Wet-T-Shirt-Wahl daraus. Hoffi, Ace, Xentrix und Rafa stellten sich in eine Reihe, nachdem sie sich T-Shirts angezogen hatten. Hoffi, Ace und Xentrix bekamen ordentlich Wasser übergekippt. Rafa wirkte unsicher, mit dem weißen T-Shirt und aus dem Gesicht gestrichenen Haaren. Als es für ihn ans Naßmachen ging, zierte er sich:
"Aber ich muß das doch nicht auch noch machen?"
Kappa ließ ihn weitgehend trocken. Dann hob er den Herren die T-Shirts hoch und ließ sie zeigen, was sie hatten. Kappa griff ihnen an die nicht vorhandene Oberweite, und Rafa gefiel ihm besonders:
"Mann, sind das Titten. Alles klar, Rafa hat gewonnen."
Jeder bekam CD's geschenkt.
Später legte Rafa für lange Zeit auf. Berenice kam in Begleitung von Hoffi zu ihm ans Pult. Rafa wirkte recht unwirsch. Berenice ging mit Hoffi wieder weg.
Hoffi erzählte Berit, daß Rafa und Berenice gar nicht mehr zusammen seien; sie würden lediglich noch miteinander schlafen.
Am kommenden Tag bekam ich Besuch von Siddra. Zehn Schritt hinter ihr ging ein verschämter Sator. Er hatte ein Tape mit industriell-technoid-hypnotischer Avantgarde mitgebracht, das mir sofort sehr gefiel. Die Bands kannte ich zum Teil noch gar nicht: Blue Byte, Monolith, Alec Empire, Obscurum, Gas, Frozen Faces. Dabei paßt diese Musik genau zwischen die Klänge von Stigma, Imminent Starvation, Wolverine, Autechre, Ytong und Saverio alias Treibkalb. Sator war sehr erfreut darüber, daß ich ihn so nett aufnahm und ihm seine Abkehr von der Arroganz auch glaubte. Er soll mit dem arroganten, oberflächlichen Ramin nicht mehr viel zu tun haben.
Vor meinem Haus ist ein indischer Bringdienst, da holten wir uns exotische Snacks.
Am nächsten Samstag kam ich kurz nach Mitternacht ins "Inferno". Ich sah Rafa nicht. Gegen halb drei erzählte mir Sarolyn, sie habe Rafa gesehen, zuletzt um zwei. Er saß mit Berenice im hinteren Tanzraum, an einer Bar in der äußersten Ecke. Ich ging nachsehen, aber er hatte sich schon davongestohlen.
Sarolyn hatte sich aufregend zurechtgemacht, mit offenen, blaugesträhnten Haaren und einem knappen Lackkleid. Sie kommt mir vor wie jemand, der lang gewohnte Bravheit ablegen will.
Sasch spielte viel Musik für mich, darunter "NOx" von Winterkälte, "Why do ...?" von Pierrepoint, "Love is a kind of mystery" von den Invisible Limits und ein Stück von einer Band namens Tourette-Syndrom. Immer wieder verwenden Musiker aus dem Elektro-Industrial-Bereich für ihre Bandnamen und Titel medizinische Bezeichnungen und Abbildungen, vor allem wenn diese mit Neurologie oder Psychiatrie in Verbindung stehen: "Neurobashing", N'Euro", "Synapscape", "Flatline Compilation", "Lobotomie", "Placebo Effect", "Angina Pectoris", "Anenzephalia", "Internal Bleeding", "Body Samples", "Tumor", "Premature Ejaculation", "Delerium", "Carcinome", "Infection", "Pineal Gland", "Dementia", "Autopsia", "Post Mortem" ... und ... und ... Manchmal gibt es auch computergesteuerte Röntgenaufnahmen wie MRT- und CCT-Bilder auf Coverbooklets zu sehen ... und Ähnliches, vielleicht auch weniger Appetitliches.
Ende Januar traf ich Hoffi in der Stadtbahn. Er berichtete, Rafa und seine Freundin würden sich demnächst verloben. Saara fragte Hoffi später, ob diese Feier in der "Halle" stattfinden werde.
"Nein", soll Hoffi geantwortet haben, "nur im kleinen, privaten Rahmen. Ich bin auch dabei."
Was Hoffi betrifft, habe ich die Erfahrung gemacht, daß man das, was er sagt, nicht auf die Goldwaage legen darf. Es wird nie so heiß gegessen, wie es gekocht wird; vor allem gilt dies für eine Gerüchteküche. Und Hoffi macht sich gern wichtig mit dem, was er angeblich alles weiß. Außerdem, so sage ich mir, macht eine Verlobung noch keine Ehe; dafür sind einfach zu viele Verlobungen in meinem Bekanntenkreis schon kaputtgegangen. Und selbst die Ehen in meinem Bekanntenkreis haben nicht alle gehalten. Sadia ist schon einmal geschieden, und Beryl und ein Mädchen namens Gwendolyn, das zum Stammpublikum des "Elizium" gehört, sind ebenfalls geschieden, obwohl sie schon Kinder von ihren Männern haben.
Auf meiner Geburtstagsparty waren dieses Mal fünfundvierzig Gäste. Die neue Wohnung reichte tatsächlich dafür aus. Ich hätte nur mehr Hilfe beim Buffet und beim Einkaufen gebraucht. Dennoch haben sich die Leute wohl ganz gut amüsiert, wie auch die skurrilen Eintragungen im Gästebuch zeigen.
Rikka hatte Probleme mit Seth, deshalb war sie allein da und rauchte von Miros Joint mit. Haschisch wurde nur auf dem Balkon konsumiert, was ich allerdings in Zukunft auch nicht mehr will. Rikka bekam das nämlich gar nicht. Sie hatte vorher schon etwas getrunken, deshalb fiel sie dann auch ohnmächtig in die leeren Flaschen. Talis schleppte sie ins Treppenhaus, wo ich mich zusammen mit vier Mädchen um sie kümmerte. Sie wachte nach wenigen Minuten wieder auf und war ganz angetan davon, daß Talis ihre Beine in die Höhe hielt. Später lag sie auf einem Haufen Mäntel im hinteren Zimmer und nahm an Constris "Therapierunde" teil. Constri hatte in den Morgenstunden etwa zehn Leute um sich versammelt, die sich alle tiefsinnig mit irgendwelchen Nonsens-Inhalten beschäftigten. Vorne im Balkonzimmer saß ich währenddessen mit den Gästen von außerhalb, und wir schlachteten den Geburtstagskuchen. Ein Mädchen namens Bridget, die wir liebevoll als "BSE-Kraft" betitelten, mußte ungefähr zehn Kannen Kaffee kochen und Kuchenstücke zur "Therapierunde" hinübertragen.
Roman konnte aus seinen reichhaltigen Therapie-Erfahrungen schöpfen. Ihm fiel denn auch etwas zu dem "Phänomen Rafa" ein:
"Er vergöttert seine Eltern. Mit Gott konkurrieren zu wollen ist frevelhaft, deshalb verzichtet Rafa auf eine glückliche Ehe."
Roman kann sich vorstellen, daß Rafa den Frauen gegenüber mißtrauisch ist, weil seine Mutter ihn irgendwann einmal im Stich gelassen hat.
"Rafa kann meine Zärtlichkeiten nicht genießen, weil er mißtrauisch ist", war mein Resumée. "Er erwartet dauernd schlimme Überraschungen, weil er diese oft erlebt hat. Er ist unsicher in dem für ihn fremden Gebiet einer tiefgehenden Beziehung. Ihm fehlen Maßstäbe."
Rikka blieb von allen Gästen am längsten. Sie schlief auf dem Sofa, während ich die Wohnung in Ordnung brachte. Am frühen Nachmittag war ich fast fertig. Rikka wachte auf und meinte:
"Mensch, du mußt doch auch endlich mal schlafen."
"Erst gibt es Essen."
Ich deckte für uns den Tisch. Rikka schluchzte und sagte, das eben sei es, was Seth nie für sie tue.
"Von Rafa kriege ich auch nichts", meinte ich dazu. "Er kümmert sich nicht um mich. Er ist nie da, wenn ich ihn brauche. Ich bin immer auf mich allein gestellt und kann sehen, wo ich bleibe."
Am nächsten Samstag sprach ich Hoffi im "Elizium" auf seine Berichte über Rafa und Berenice an:
"In der 'Halle' hast du zu Sarolyn gesagt, Rafa sei mit seiner Freundin gar nicht mehr richtig zusammen. Dann hast du zu mir gesagt, Rafa wolle sich mit seiner Freundin verloben. Das ist doch ein Widerspruch."
"Ja, das war wirklich so in der 'Halle', daß die beiden sich gestritten haben", versicherte Hoffi, "aber jetzt haben sie sich wieder versöhnt."
Rafa hat eine Neigung, sich ab und zu mit seinen Freundinnen zu verkrachen, worauf dann die tränenreiche Versöhnung folgt. Das scheint System zu haben. Rafa kann eine Beziehung besser kontrollieren, wenn er zwischendurch für Streit sorgt. Er kann Aggressionen an den Mädchen auslassen und sie dann wieder durch umfangreiche Entschuldigungen und Beteuerungen an sich binden und gefügig machen.
Velroe kam zum "Graben", wie es so seine Art ist. Er ließ sich bei meinem Stuhl nieder und gab seiner Verehrung Ausdruck. Nebenbei erzählte er, mit seiner Verlobten sei es auseinandergegangen.
Ich erfuhr, daß Rafa damals im "Exil" von Velroe und Dimitri den Spitznamen "unser Messias" erhielt.
"Das paßt", staunte ich. "Ich habe Rafa auch schon früher mit Jesus Christus verglichen. Er vergleicht sich selbst übrigens auch mit solchen Menschheitsführern."
Velroe fragte, wie ich mich denn bloß an so einen wegwerfen könne; der hätte mich doch gar nicht verdient.
Inzwischen sei diese Geschichte schon ein Kultfaktor, wußte Velroe; ganz viele Leute würden darüber sprechen.
"Eigentlich müßte man das verfilmen", meinte er, "aber das wäre wohl ein ziemlich langgezogener Film."
Velroe fühlt sich von Rafa schlecht behandelt und über den Tisch gezogen. Er hatte den Einfall, Rafa zu ärgern, indem er zu ihm sagte, er habe mit mir "ganz nett einen Kaffee getrunken".
Saverio bat Carl, ihn doch mal anzurufen. Carl hatte dazu wenig Lust, da Saverio immer noch an seiner "Regentonne" festhielt, wie wir in unseren Lästereien die entsprechend geformte Edna bezeichnen.
Kappa kam gegen Morgen auch noch ins "Elizium". Er stellte mir seine neue Freundin Edaín vor, ein hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren, züchtig in Hose und Bluse. Sie ist die erste von Kappas Freundinnen, mit der ich etwas anfangen kann. Sie wirkt offen und interessiert auf mich, nicht so künstlich und gehemmt wie Kappas frühere Freundinnen. "Gelöbnis" von P.A.L findet sie übrigens sehr gut.
Kappa will mir von Rafa auf jeden Fall die "Gothic Erotic"-Coverversion besorgen. Er will Rafa auch nicht verraten, daß es für mich sei. Ich dürfe es ihm aber auch nicht sagen.
"Ich kann es ihm eh nicht sagen", meinte ich, "er darf mit mir kein Wort reden."
"Der hat Angst vor dir."
"Ja, aber warum?"
"Du bist ihm zu gefährlich."
"Aber ich tue ihm doch nichts."
"Das weiß er doch nicht."
"Aber warum hat er dann Angst vor mir? Er muß doch einen Grund dafür haben."
Kappa schwieg eisern.
"Vorgestern hatten wir einen Spieleabend mit Rafa", ging er zu weniger schwierigen Themen über.
Er wollte auch noch wissen, was ich beruflich mache, und ich erzählte ihm, daß ich schon Patienten behandeln darf und daß ich mir Medikamente ohne Rezept in der Apotheke holen darf.
Luie spielte einen Industrial-Block, "Metrum v1.2" von P.A.L, "Fade" von Synapscape und "Kim" von Pierrepoint. Zu "Kim" tanzte sogar Kappa mit. Der Rhythmus schien auch auf ihn ansteckend zu wirken.

In einem Traum stand ich um sechs Uhr abends am Medikamentenschrank, mein Chef saß am Schreibtisch. Die junge Arzthelferin Xenia kam mit einer Puderquaste. Sie staubte den Schreibtisch nicht ab, sondern sie staubte ihn ein, mitten in der Sprechstunde. Dann kam sie noch mit einem tropfnassen Lappen und reinigte den Schreibtisch, wobei sie das Papier in Mitleidenschaft zog, das darauf lag.
"Das Wartezimmer ist voll", sagte sie.
Auf dem Bildschirm war das aber nicht verzeichnet.
"Wie kommen die Patienten auf einmal da 'rein?" fragte ich.
Mein Chef erhob sich und sagte zu mir:
"Also, ich gehe dann."
"Schaffe ich das überhaupt?" fragte ich.
"Sie sind sehr gut in der Zeit - im Moment", erwiderte er. "Und denken Sie dran - danach sind noch fünf Hausbesuche zu machen."
"Da gibt es Probleme. Die Busse fahren nur bis halb eins."
"Sie können die Leute aber nicht warten lassen. Die wollen auch mal schlafen gehen."
"Ist es denn nicht möglich, mal zu den Patienten zu sagen: 'Es tut mir leid, ich schaffe es heute nicht mehr, bitte gehen Sie zu einem Kollegen?'"
"Wird doch bald Sommer. Tschü-hüß!"
Und weg war er.

Wahrscheinlich hat mein Chef Patrick Ninyat die Neigung, sich auf anderen Leuten auszuruhen. Daß die Sprechstundenhilfe für Ärger gesorgt hat, ließ ihn nicht aufmerken. Inzwischen hat er allerdings einen so schönen Staubwedel, daß er damit fröhlich durch die Zimmer läuft und selbst alles Mögliche abstaubt.
Daß mein Chef gerne Arbeit auf mir ablädt, kann damit zusammenhängen, daß er seine Patienten bei mir gut aufgehoben findet. Und ich erlebe, daß die Arbeit in meinem Beruf Spaß machen kann. Immer gibt es etwas zum Lachen, ohne daß ernste Hintergründe außen vor bleiben.
Als Anekdote erzählte Ninyat, wie er in B. Rosa von Praunheim besucht hat. Wenn man in Rosas Behausung gelangen wollte, mußte man durch einen Kleiderschrank gehen, der im Eingang stand.
Eine andere Anekdote handelte von einem Chirurgen, der morgens auf eine Tafel im OP einen Spruch für seine Kollegen schrieb:
"Situs wilate nises abanet."
Alles rätselte und rätselte, was das denn nur heißen sollte. Der Chirurg brachte schließlich selbst die Klärung:
"Sieht us wie Lateen, is es aba net!"
Das hieß auf Hochdeutsch:
"Sieht aus wie Latein, ist es aber nicht!"
Einstmals soll in einer Arztpraxis nachts um halb drei eine Party stattgefunden haben. Der Praxisinhaber soll von Frauen umringt gewesen sein, und seine Ehefrau soll mit einem Springseil um diese Menschentraube herumgehüpft sein.
Einmal soll eine ältere Dame ihren Mann im Rollstuhl zum Arzt geschoben haben. Der Mann klagte, seine Frau leide darunter, daß es im Bett nicht mehr klappe. Währenddessen warf die Frau, hinterm Rollstuhl stehend, dem Arzt bedeutungsvolle Blicke zu, hob abwehrend die Hände und schüttelte heftig den Kopf.
Einmal versuchten Rettungssanitäter in einer Wohnung erfolglos, einen Mann zu reanimieren. Währenddessen lief die Ehefrau in die Küche und begann das Geschirr abzuwaschen. Ein Arzt nahm ihr geistesgegenwärtig die Kanne weg. Man fand in dieser Kanne noch Reste von dem Gift, an dem der Mann gestorben war.
Diese Geschichte paßt zu einer Zeitungsmeldung, von der ich neulich gehört habe:
Ein Bestatter fand ein Messer in der Brust einer Leiche, obwohl ein natürlicher Tod bescheinigt worden war. Als man den Arzt verhörte, der den Totenschein ausgestellt hatte, erklärte dieser:
"Wenn er so ein Messer in der Brust hat, stirbt er natürlich."
Auf Ninyats Schreibtisch steht ein Plastikmodell von einer Halswirbelsäule, an die hat Ninyat ein aus einer Illustrierten ausgeschnittenes Wort geklebt namens "Stammhirnprothese". Dieses Wort ist blanker Unsinn. Der Laie mag glauben, es sei möglich, den Hirnstamm prothetisch zu ersetzen, doch dieses ist ebensowenig möglich wie das prothetische Ersetzen des übrigen Gehirns. Freilich macht die bunte Illustriertenwelt der andächtigen Leserschar auch so etwas gerne weis, nicht zuletzt aufgrund der Unkenntnis mancher Journalisten.
Am Empfangstresen der Praxis befindet sich ein Stiftköcher, in den steckte Ninyat im Vorbeigehen eine soeben verwendete Spritze. Ich meinte vorsichtig, das könne vielleicht auf den einen oder anderen Patienten abschreckend wirken.
"Hamse eigentlich auch recht", nickte er und warf die Spritze in den dafür vorgesehenen Abfallbehälter.
Öfters muß Ninyat Patienten begutachten, die eine Erwerbsunfähigkeitsrente oder eine Kur haben möchten. Zu einem solchen Patienten rief mich Ninyat mit geheimnisvoller Miene herein:
"Kommen Sie mit, sowas kriegen Sie so schnell nicht wieder zu sehen!"
Ninyat schrieb dem Patienten mit seinem Fingernagel das Wort "A..." auf den Rücken und betrachtete sein Werk.
"Ist ja schlimm, diese roten Flecken", sagte er mitfühlend.
Als ich Ninyat später zuraunte, das sei wohl ein etwas unfeiner Scherz gewesen, meinte Ninyat in sachlichem Tonfall:
"Das ist ein dicker A..., ein großer A..., ein dummer A... und ein fauler A... Das ist ein Trümmerhaufen, der sich nicht einmal entscheiden kann, wo er seine Beschwerden zu haben gedenkt."
Über einen anderen Patienten äußerte sich Ninyat ähnlich teilnahmsvoll:
"Schmerzus totalis."
Xenia beschreibt Ninyat folgendermaßen:
"Über dem seine Kinderstube ist ein Düsenjäger drübergeflogen."
Mitte Februar waren Contri, Derek, Ted, Marvin und ich im "Radiostern". Dort waren wieder lauter extreme Rhythmen versammelt, jeder auf eine andere Art extrem. Derek verhielt sich so, wie Constri sich das immer von ihm gewünscht hat. Er war lieb und anschmiegsam, und sie konnte sich schön mit ihm unterhalten. Sonst hatte er sich in Tanzläden meistens so gegeben, als sei er ungebunden, und er hatte viel getrunken.
Revco erzählte, er werde bald in einer Discothek in PE. auflegen. Ich bezweifelte, daß viele Leute aus H. dorthin kommen würden. Revco war entrüstet und meinte, sein Staraufgebot werde die Leute schon anlocken. Ich fragte, wen er denn alles zu engagieren gedenke.
"Ich will keinen Rafa am Pult", antwortete er.
"Klangwerk" fiel dieses Mal in die Karnevalszeit. Constri, Clara, Ray und ich fuhren vorher nach HB. und besuchten Rufus zum Kaffee. Dort war der Tisch liebevoll gedeckt, mit dunkelroten Servietten und dunkelroten Kerzen. Es gab Krapfen, Lakritzen, Weingummis und Cola. Ich zündete Räucherstäbchen an. In dem Zimmer von Rufus gab es überall seltsame Produkte aus dem Bereich der Industrial-Kunst zu entdecken: selbstgemalte Bilder von Ciril mit abstrakten Embryonenmotiven, ein Heftchen mit farbigen Holzschnitten, handgebogene Stahlschachteln und eigenartig verpackte Tonträger.
Rufus zeigte mir eine Ausgabe eines Musikmagazins, in der über das Album "Tanzpalast 2000" von Rafas Band geschrieben wird. Der Verriß hat mich sehr erheitert, weil ich ihn treffend fand:
"Daß ihre Musik verkrampfter Elektronik-Schrott ist, wissen wir. Daß sich ihre Texte krampfhaft-locker an den schlechteren NDW-Auswürfen orientieren, ist nichts Neues. Daß ihre Bühnenshow lustig sein soll, aber wie der Rest auch nur dahingestümpert ist, ist allen Besuchern vor allem nachts in ihren Alpträumen ständig präsent. Aber all das ist keine Entschuldigung für diesen Glasuntersetzer aus dem Hause Synthetic Symphony. Weder originell noch in irgendeiner anderen Art und Weise ergiebig; die gelbe Tonne wird's danken. Aber was soll's? Die CD wird trotzdem ihre Käufer finden; das ist das eiserne Gesetz der dunklen Seite der Marktwirtschaft. So schunkelt denn hin!"
In HH. trafen wir Lisa, aßen unser "Nachtschwärmer-Menü" und machten bei "Klangwerk" die Nacht durch. Rufus hatte sein Köfferchen voller CD's und Informationen dabei und konnte einem begeisterten Industrial-Fan aus dem Osten Plattentips geben.
Heyro hat jetzt eine Freundin, Samantha. Darien hat eine negative Weltsicht:
"Bringt eh alles nichts."
Mal und Dedis haben sich nach "Klangwerk" gestritten, und er hat sie verlassen. Dedis scheint denselben Fehler gemacht zu haben, den sich Rikka im Umgang mit Seth vorwirft: sie hat sich für alles verantwortlich gefühlt, geklammert und dem Partner zu wenig Grenzen gesetzt. Mals Beitrag war wohl seine Verschlossenheit und eine gewisse Bindungsscheu.
Lillien bekam am 22.02. ihre Tochter Ada. Für die Zeit um Ostern wollen wir uns verabreden.
Ende Februar hatten wir abends Besuch aus BI., Tila und Ral. Außer Constri waren auch Carl und Rikka bei mir. Tila brachte ein Blech mit "Donauwellen". Wir machten Erinnerungsfotos. Tila zieht wahrscheinlich aus beruflichen Gründen bald weit weg. Ral zieht nach PB., wo er seinen Computer-Laden hat.



Am Samstag trafen wir uns abends bei Merle. Vierzehn Gäste waren wir. Ich hatte Merle mein Rezept für Pasta Sciutta gegeben, und sie hatte es kunstvoll umgesetzt, mit Peperoni, Champignons, roter Paprika, frischem Basilikum und frischen Tortellini. Elaine kann schon sagen:
"Lecker, schmeckt gut."
Sie wollte bei mir auf den Schoß und saß da auch lange.
In der "Halle" berichtete Kappa, die Coverversion von "Gothic Erotic", nach der ich suche, sei nicht von Rafa. Er habe Rafa darauf angesprochen, und dieser hätte gemeint, er habe diese Version nicht gemacht, sondern sie stamme von Umbra et Imago selbst. Ich kann das nicht so recht glauben, da ich mir nicht vorstellen kann, daß Umbra et Imago ihre eigenen Schöpfungen dermaßen grob parodieren.
Ivco war in der "Halle" und auch seine Freundin Carole, das Mädchen, mit dem Rafa wahrscheinlich auf dem Bandfoto beim Tanzen zu sehen ist. Carole trug ein schmales Kleid; Tutus scheinen nicht ihr Stil zu sein. Rafa könnte sie wirklich nur für das Foto in Tutu und Abendhandschuhe gesteckt haben.
Ich trug heute auch wieder ein Tutu, das dunkelrote mit schwarzer Spitze, und dazu Abendhandschuhe.
"Du weißt aber, daß heute die neue Single von W.E vorgestellt wird?" fragte mich Ivco.
"Ja, sicher weiß ich das", erwiderte ich. "Dieses Lied 'Arbeit adelt!' finde ich ja oberpeinlich."
"Ich finde das einfach nur geil", war Ivco begeistert.
"Arbeitet er denn?" fragte ich zynisch mit Bezug auf Rafa.
Ivco dachte einen Moment nach und mußte lachen.
"Der wohnt doch wie ein Schulbub zu Hause und läßt sich aushalten", setzte ich hinzu.
Ivco meinte, daran habe er noch gar nicht gedacht.
Die MCD konnte man in der "Halle" an einem Merchandise-Stand kaufen.
Im Waschraum traf ich Emily.
"Sasch hat mir die neue MCD von Rafa schon gezeigt", erzählte ich ihr, "die ist mal wieder völlig daneben. Der hat ein Liebeslied für zwei verschiedene Frauen gemacht."
"Sparsystem", meinte Emily.
"Ich sage ja, Konservenmusik. Der hat da auch eine Textzeile, in der es heißt:
'Wir wollen keine Menschen sein, denn unsere Hirne sind zu klein.'"
"Wenn sein Gehirn zu klein ist, ist das doch nicht unser Problem?"
"Das ist alles recht traurig, recht armselig", seufzte ich. "Jetzt malen wir uns alle eine Träne unters Auge und gehen als Pierrots, was?"
Berenice sah ich nicht mit Rafa sprechen. Ich sah ihn auch kaum an der Bar, wo sie arbeitet.
Rafa trug die Jacke mit den Schnallen auf den Ärmeln und hatte sich Kajalstriche aufgemalt. Er rannte viel in der "Halle" herum. Mal lief er auch die Treppe zum DJ-Balkon hinauf und stürmte gleich wieder herunter. Einmal lief er mit einer offenen Bierflasche in der Hand in meiner Nähe vorbei, ein wenig taumelnd. Ich sah ihn auch kurz mit Yasmin sprechen.
Am späteren Abend legte Xentrix auf. Ich fror und wollte etwas zum Tanzen hören. Ich mußte das Bolero aus schwarzem Satin anlassen, weil es so kalt war. Xentrix sollte etwas spielen, von dem mir wärmer wurde. Bevor ich zu ihm ging, vergewisserte ich mich sorgsam, daß Rafa gerade nicht auf dem Balkon war. Dann stieg ich langsam das eiserne Treppchen hinauf. Wie ich eben vorn bei Xentrix angekommen war und ihn nach einem Stück von Leæther Strip fragte, quetschte sich eine schwere Gestalt neben mich in einen Engpaß. Es war Rafa, der herangeschossen kam. Ich legte meine Arme um seine Schultern. Rafa stieß etwas hervor wie:
"Weg da!"
und riß mich von sich, wobei er sich noch mehr an mich herandrängte. Er schaute aber nicht mich an, sondern Xentrix. Ich schloß meine Arme von der Seite um Rafas Taille und rief Xentrix zu:
"Spiel' mal was Schnelles, richtig zum Tanzen!"
"Ja, mach' ich", versprach Xentrix.
Ich ließ von Rafa ab und ging nach unten, ohne mich umzudrehen. Rafa blieb oben und legte zusammen mit Xentrix auf.
Gegen Mitternacht veranstaltete Kappa ein Gewinnspiel. Auf dem höheren Podest, das auch als Bühne diente, nahm sich Kappa ein Mikrophon und ließ das Publikum raten, wie das neue Side-Projekt von Funker Vogt heißt.
"Ein kranker Name", bemerkte Kappa.
Ich ging zu ihm hinauf und sagte ihm, das sei "Fusspils 11". Ein paar andere hatten es auch noch gewußt. Jeder bekam eine Single von Funker Vogt. Meine werde ich Terry zum Geburtstag schenken.
Kappa bat jeden Gewinner, ins Mikrophon zu sagen, wie er heiße. Als die Reihe an mich kam, sagte ich:
"Meinen Namen kennst du ja. Meinen Namen kennt hier wohl jeder."
"Hetty Lerag", sagte Kappa, "auch Elektro-Betty genannt."
Bald ging es für Rafa ans Aufbauen. Er trug mit Dolf und einigen Helfern die Geräte herbei. Heute mußten sogar zwei Ölfässer auf die Bühne, rechts eines und links.
Rafa gab das Konzert im schwarzen Sakko. Zwei Herren mit Zopf und entblößtem Oberkörper stellten sich an die Fässer. Sie mußten in jede Faust einen selbstgebastelten Hammer nehmen, eines dieser dünnen Stöckchen mit Klöppeln aus Pappmaché, und damit auf die Fässer losdonnern, als Untermalung zu "Arbeit adelt!". Das hielten die Stöckchen nicht lange aus. Einer der beiden Jungen schien das zu ahnen und klopfte nur ganz zart mit seinen Stöckchen. Der andere Junge nahm seinen Auftrag jedoch ernst und schlug richtig zu, wie ein Fabrikarbeiter. Erst fiel von einem der Stöckchen das Pappmaché herunter, was das Hämmern etwas erschwerte. Dann brach das Stöckchen in der Mitte durch, und ein Teil ging verloren. Der Junge warf das kaputte Stöckchen weg und klöppelte mit dem noch heilen Stöckchen weiter. Dann brach von diesem ebenfalls der Klöppel ab, und es war nur noch ein kurzes Restchen übrig, nicht länger als ein Kugelschreiber. Das zerbrach dann noch einmal und wurde fortgeworfen. Der Junge behalf sich, indem er mit einer Faust auf das Faß schlug ... und das noch nicht einmal im Takt. Der Symbolgehalt des Ganzen war dann wohl eher unbeabsichtigt: eine wuchtige Fassade, die Stück um Stück zusammenfällt wie ein Kartenhaus und am Ende nur lächerlich wirkt.
Rafa feuerte öfters mit seiner Spielzeugpistole ins Publikum. Beim Singen warf er die Beine in die Luft. Er breitete auch gerne die Arme aus und reckte dabei den Kopf gen Himmel. Von oben kam blaues Licht herunter. Er schien sich wieder einmal in die Rolle des "Menschheitsführers" zu versetzen.
Wenn ein Stück zuende war und Applaus kommen sollte, drehte Rafa sich weg, wie bei dem Konzert im "Rohbau".
Nach "Arbeit adelt!" kam "Deine Augen" an die Reihe, das Liebeslied für zwei Frauen auf einmal. Rafa trug seine "Schutzbrille", und man konnte nicht sehen, wohin er schaute. Ich stand recht nahe vor der Bühne, aufmerksam, doch einfach nicht zu begeistern, und musterte Rafa. Da er dieses Mal darauf verzichtete, irgendwelche Widmungen von sich zu geben, verließ ich den Saal nicht. Ich hatte den Eindruck, daß er sich doch eher auffällig mir zuwandte. Berenice konnte er nicht ansehen, da sie sich nicht unter den Zuschauern befand.
"Jetzt macht er das Lied für zwei andere Weiber und gafft dauernd mich an", raunte ich Bertine zu, ohne meinen Blick von Rafa abzuwenden.
"Das habe ich mir eben auch schon gedacht", bestätigte Bertine meine Vermutung.
"Weil ich dieses Lied noch nicht Derya gewidmet habe, widme ich dieses jetzt Derya", sagte Rafa nach dem Stück.
Wir bekamen nicht heraus, welche Derya er meinte.
Für jene Derya sang Rafa "Schweben, Fliegen und Fallen" und zeigte dabei auf ein Mädchen im Publikum.
Es folgte der Rammstein-Verschnitt "Wir wollen keine Menschen sein". Ein Mädchen kam auf die Bühne, klein und mit kurzen Haaren, das Rafa als "Jewel" vorstellte. Sie mußte den Refrain singen, und sie konnte singen, ähnlich wie Zinnia.
Nach dem Rammstein-Verschnitt kam eine Fehlfarben-Coverversion, von dem Stück "Es geht voran". Es trat wieder der Chor aus Freiwilligen auf, vier Jungen, die sich um ein Mikrophon aufstellten. Rafa spielte den Vorsänger. Ich nahm mir Bertines Sektglas und trank einen Schluck daraus.
"He, nicht soviel Applaus für H.!" bremste Rafa am Schluß des Konzerts, erstaunt über die dieses Mal durchaus vorhandene Begeisterung des Publikums von H.
Nach dem Konzert kam Kappa noch einmal auf die Bühne, mit einer Tüte voller CD's, die er unters Volk bringen wollte.
"Ja, also, hier wären dann noch mehr CD's zu gewinnen", kündigte er an. "Also ... das schwedische 'Energy'-Label hat wieder etwas Neues herausgebracht ... und die ersten, die mir sagen können, auf welchem EBM-Label die CD erschienen ist, die gewinnen die."
Ich lief wieder nach vorn und beantwortete die längst beantwortete Frage:
"'Energy'."
... und hatte die nächste CD gewonnen.
Xentrix übernahm das Pult mit den Worten:
"Kappa, ich will gekreuzigt sein auf dir."
Als die Bühne abgeräumt war, schlang Kappa dort oben die Arme um Rafa und tanzte Walzer mit ihm. Danach folgte ein Engtanz. Beide Herren legten ihre Hände dem Tanzpartner auf den Hintern.
Sarolyn traf Teddy in der "Halle", ihren ehemaligen Freund. Er hat wieder eine Freundin, mit der er aber nicht besonders glücklich sein soll. Er begrüßte Sarolyn freudig mit Küßchen und war wieder ganz niedlich.
"Er ist ja wirklich schnuckelig", wisperte mir Sarolyn zu.
Ich wollte von ihr wissen, wen sie denn schnuckeliger fände, Teddy oder Rory.
"Teddy", antwortete Sarolyn ehrlich.
Sie habe Rory den Vorzug gegeben, weil dieser romantischer, verläßlicher, erwachsener und geordneter sei. Sie glaube, auf lange Sicht sei Rory die bessere Wahl.
"Du weißt ja, Sarolyn", sagte ich dazu, "ich bin da etwas ungewöhnlich. Für mich zählt nur die Frage, ob ich jemanden liebe oder nicht. Ich verzichte lieber auf eine Beziehung, als eine einzugehen mit jemandem, den ich nicht liebe."
"Ach, das ist doch aber eigentlich auch traurig."
Wir stellten uns zu Carl, Zoë und den anderen. Rafa marschierte auf Carl zu, der neben mir stand, reichte ihm lächelnd die Hand und grüßte ihn:
"Carl!"
Carl erwiderte den Händedruck. Rafa ging sogleich weiter, als wollte er mir bedeuten:
"Mit dir rede ich ja sowieso nicht."
Zoë und ich blieben noch etwas länger in der "Halle" als die anderen. Xentrix spielte "Is it you" von :wumpscut:. Ich tanzte auf dem schmalen Podest vor der Bühne. Währenddessen ging Rafa dicht hinter mir vorbei, so daß ich ihn fast hätte berühren können. Kurz darauf übernahm er das Pult.
"Jetzt etwas für alle Freunde des Industrial", kündigte er an, "ganz besonders für ... den ... Ivo."
Welchen Ivo er meinte, weiß ich nicht; es könnte Ivo Fechtner gewesen sein.
Bei dem Stück handelte es sich um "Totally gone" von Blackhouse.
Einmal sah ich ein Mädchen oben bei Rafa, bei dem ich mir nicht sicher war, ob es sich um Berenice handelte. Während das Mädchen oben war, sah ich Berenice nicht unten bedienen; also könnte sie es durchaus gewesen sein. Dem Mädchen wurden von Rafa Kopfhörer aufgesetzt; es sollte sich wohl irgendetwas anhören. Dann nahm er ihr die Kopfhörer wieder ab und redete längere Zeit mit ihr. Schließlich begann er, heftig und aggressiv zu gestikulieren. Er zeigte in verschiedene Richtungen, auch auf das Pult. Das Mädchen ging eilig weg. Rafa schoß ein Stück weit hinter ihr her und lief gleich wieder zum Pult.
Rafa machte auch noch die für ihn typischen Spielchen mit dem Publikum. Er bat alle "Herren der Schöpfung", mit ihrer Freundin auf die Tanzfläche zu kommen, "wenn sie sie lieben". Jetzt käme "das ultimative Liebeslied". Er spielte "Only you" von den Flying Pickets. Nach diesem Stück kündigte er an, jetzt käme noch eines "für die ganz Verliebten". Er spielte "Moving Hands" von Klinik, das man nicht unbedingt als romantisch bezeichnen kann.
Bemerkenswert fand ich, daß Rafa das fast vergessene "Fun to be had" von Nitzer Ebb spielte. Es kam auch "49 Second Romance" von den Rainy Day Women.
Auf dem Heimweg holten Onno und ich im Hauptbahnhof Croissants und frühstückten bei mir.
So oft wie Rafa habe ich noch keine Band gesehen; inzwischen sind es zehn Konzerte ... und das, obwohl ich es nie darauf angelegt habe. Das hängt damit zusammen, daß Rafa uns meistens in der "Halle" als Dreingabe serviert wird.
In den ersten Märztagen haben Saverio und ich uns in der Stadt getroffen. Wir tranken in dem Café "Rondell" einen Kaffee, und er gab mir seine neue Tape-Box. In dieser Box befindet sich auch ein Tütchen mit Totenasche aus dem Zentralfriedhof in HH., der "Stadt der Toten". Das erinnert mich an die Katze von Giuliettas Freund, die den makabren Namen "Katzett Buchenwald" trägt.
Saverio und ich unterhielten uns über Sinn und Unsinn tabubrechender Bezeichnungen und Verpackungen von Tonträgern.
Kappa verschaffte Constri und mir die Möglichkeit, tagsüber die Fabrikhalle zu besichtigen, in der die Zelte mit den Locations "Halle", "Halle 1" und "RoseHip" aufgestellt sind. Diese durchaus geräumigen Locations wirken angesichts der übermächtigen Größe der alten Backsteinhalle klein und geduckt. Die Halle ist himmelhoch und überall undicht, so daß man den Regen an vielen Stellen auf den Boden tropfen hört. In der Weite der Halle hört sich das seltsam an. Die Akustik ist mit der einer Kathedrale zu vergleichen. Durch die hohen, blinden Fenster scheint gedämpftes Tageslicht. Unterm Dach gibt es eine die gesamte Halle umlaufende mäanderförmige Fensterreihe, vor der eine Galerie aus Stahlgittern hängt, in schwindelnder Höhe. Die Zugänge zu den Treppen, die hinaufführen, sind mit Schutt, Maschinen, Zeltwänden und allerlei Gerät verbaut. Das ganze Zeug, die Pfeiler, die Stahltreppen, alles ist verstaubt und verleiht der Halle etwas Gespenstisches, Verwunschenes.
Hendrik erzählte mir von einer Veranstaltung in MD., wo Rafa auftrat. Hendrik hat von dem Konzert nichts mehr mitbekommen, weil er erst später da war. Dolf gab Autogramme, Rafa war nicht zu sehen. Der Fan-Club war zugegen und hatte das Bettlaken mit der Aufschrift "Radio-Club C." aufgehängt. Das Keyboard war mit der FDJ-Fahne geschmückt. Hendrik fragte einige Leute, wie das Konzert gewesen sei. Er erhielt die eher beiläufige Antwort:
"Halt Party."
Es könnte sein, daß die Auftritte von Rafa allmählich zur Routine werden, mit einer routinemäßig erzeugten Stimmung.
Derek hat später noch etwas über das Konzert erfahren, das Rafa in MD. gegeben hat. Der Musiker Dagda Mor hat sich das Konzert angesehen und Derek erzählt, daß Rafa schlecht playback gesungen habe.
Talis hat sich die aktuelle MCD von Rafa gekauft, weil er sie "auf eine putzige und niedliche Art kindlich" findet. Man könne diese Musik nicht ernst nehmen, aber man könne sie "nett und lustig" finden. Über "Deine Augen" sagt Talis:
"Das ist ein Ohrwurm, das kann man drehen und wenden, wie man will."
Die MCD klaut wieder munter aus den Fünfzigern. Sie ist auf "Schlagerplatte" getrimmt, mit "Seite 1" und "Seite 2" (die es bei CD's noch nie gegeben hat), mit Vinyl-Knistern, mit Vinyl-Dekor, mit dem Hinweis auf "farbiges Vinyl" und der Ankündigung, daß "demnächst bei Ihrem Schallplattenhändler" die "Langspielplatte" mit dem Titel "Der Sinn des Lebens" zu haben sein wird - ein Titel, der schon mal für einen bekannten Witzfilm von Monty Python verwendet wurde. Auf dem Cover der MCD lächelt uns eine Fünfziger-Jahre-Werbeprospekt-Schönheit entgegen. Das Liebeslied "Deine Augen" hat Rafa nach dem üblichen Muster gestrickt. Das Geklimpere, die dick aufgetragenen, leiernden und jaulenden Analog-Sounds, der Bum-Bum-Rhythmus, die ewiggleichen Akkordfolgen und der Allerwelts-Text, in dem - wie könnte es anders sein - Rafa mit einer austauschbaren Bettgespielin ("Du allein, nur du allein ...", aber wer eigentlich, ist nicht auszumachen) durch eine fremde Galaxie fliegt, widern mich an. Unter den übrigen "deutschen Liedern" auf der MCD finden sich ein gecovertes "Telefon" von Kraftwerk, das nachgemachte "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps - "Arbeit adelt!" - und das nachgemachte "Engel" von Rammstein, das lustig wirken soll - "Wir wollen keine Menschen sein". Außerdem singt Rafa wieder über ein ernsthaftes Problem der heutigen Zeit, nämlich den "Elektrosmog". Wenn ich dieses Zeug höre, muß ich mich anschließend erstmal mit Hilfe der rauhen, unverbrämten Industrial-Musik von Ytong oder Saverio alias Treibkalb erholen. Sonst bekomme ich Vergiftungserscheinungen von dem süßlichen Heile-Welt-Gedudel.
Nein, Rafa hat sich nicht weiterentwickelt, und ich finde seine Musik nach wie vor einfach schauderhaft. Zu den wenigen Ausnahmen zähle ich Rafas "Ganz in Weiß"-Cover, das aus dem Original etwas macht, was darin nicht zu finden war.
Ich verstehe nicht, weshalb ich mich einem Menschen so nah fühle, der einen Stil kultiviert, den ich abstoßend finde. Ich fasse es nicht, wie Rafa mit Mädchen wie der Sängerin oder Berenice Beziehungen aufbauen kann. In meinen Augen sind diese Beziehungen dasselbe wie Rafas Musikstil: eine seichte, oberflächliche, unechte, gefühllose Heile-Welt-Fassade.
"Ich komme gut klar ohne dich", scheint Rafa mir vermitteln zu wollen. "Ich komme gut klar ohne tiefe Gefühle."
Rikka spricht bei Rafa von einer Spaltung, einer "Abspaltung der Gefühle vom Ich".
Rafa ist "zwei Menschen", wie die "zwei Öltanks", die vor Jahren mal überall am Straßenrand aufgestellt wurden. In einem Menschen ist noch ein anderer, den man aber von außen nicht sieht. Und ich will den sichtbar machen, den man nicht sieht.
Inzwischen ist es für mich aber fast so, als würde Rafa schon nicht mehr leben. Ich sehe ihn kaum noch, und Gespräche gibt es gar nicht mehr.
Ich wollte schon immer wissen, wie es weitergeht, wenn der Mensch, den man liebt, durch den Tod von einem gerissen wird. Kürzlich habe ich von mehreren verwitweten Leuten Erfahrungsberichte gehört. Eine Frau begegnet ihrem verstorbenen Mann oft im Traum; er kommt dann zu ihr und streichelt sie. Ein Mann sieht seine verstorbene Frau nachts im Traum vor seinem Bett stehen, und wenn er mit ihr sprechen will, wacht er auf. Eine Frau hat das Gefühl, daß der verstorbene Mann "noch da" ist und sie sogar begleitet, wenn sie verreist. Eine Frau berichtete, eine ihrer Bekannten tauscht im Traum mit dem verstorbenen Mann Zärtlichkeiten aus.
"Könnte ich das auch ...", seufzte sie. "Mir sind schon viele schöne Stunden entgangen."



Mitte März war ich mit Zoë, Bridget und Roman im "Zone". An der Kasse sah ich Rafa ein paar Schritt vor uns, mit hochgestellten Haaren, sorgsam bis über die Ohren rasiert, die Augen mit langen Kajalstrichen verziert, in seinem hübschen Kutschermantel - ich fand ihn einfach zum Anbeißen. Und wie zu erwarten hatte er Berenice dabei; sie trug ein ausgeschnittenes, enges, langes schwarzes Abendkleid mit Schlitz und dazu lange schwarze Handschuhe, ebensolche, wie ich sie habe. Vor einem barocken Spiegel am Eingang musterte sich Berenice und drehte sich dann mit einem triumphierenden Lächeln zu Rafa um.
"Sie hat eine gute Figur", dachte ich, "aber ich brauche mich neben ihr weiß Gott nicht zu verstecken."
Les spielte "Deine Augen", das Liebeslied für beliebig austauschbare Objekte. Ich gab Les meine CD's und wollte Industrial hören.
Rafa war einige Zeit am Flipper beschäftigt. Ich setzte mich auf ein Treppengeländer und schaute ihm aus der Ferne zu. Zwei Schritt hinter mir hatte sich Berenice mit ihrer blondlockigen Freundin postiert. Nach einer Weile gingen die beiden zum DJ-Pult und schienen mich unausgesetzt zu beobachten. Als Rafa mit dem Flippern fertig war, ging er mit einem fremden Jungen dicht hinter mir vorbei, Rafa besonders dicht. Sie tranken nicht weit von uns an der Bar ihr Weizen. Ich schaute mich vorsichtig nach Rafa um, und es war mir ein bißchen so, als wenn er auch mich im Auge behielt. Irgendwann wurde es Berenice und ihrer Freundin wohl zu bunt. Die Mädchen kamen ebenfalls heran, und die Blondgelockte säuselte mir im Vorbeigehen ins Genick:
"Sieh' dir ruhig den Mann an, den du nie kriegst."
Ich bewegte mich weder, noch erwiderte ich irgendetwas. Ich verhielt mich so, als sei das Mädchen nicht da. Als die beiden bei Rafa angekommen waren und ihn aus der Nähe "bewachen" konnten, sagte ich zu Birthe:
"Ich glaube, die Mädels haben ein Problem."
Nach einer Weile begann "Save me" von Suicide Commando, und ich ging auf die Tanzfläche. Als ich wieder zu unserem Tisch kam, entfernte sich Rafa mit seinen Begleitern. Ich sah Rafa irgendwann auf der anderen Seite der Tanzfläche erscheinen, wo er mit seiner Freundin längere Zeit stand. Ich konnte aus der Entfernung schlecht beurteilen, ob Rafa mit Berenice Zärtlichkeiten austauschte oder ob sie sich nur unterhielten.
Während ich mit Gart und Ismene sprach, behielt ich Rafa im Blickfeld. Rafa schaute in meine Richtung, aber es ist nie sicher, ob er mich ansieht.
"Die hat null Ausstrahlung", sagte Gart über Berenice. "Die kann sich verpacken, wie sie will, die kann sich ein figurbetonendes Kleid anziehen und alles - neben Rafa ist sie immer ein Nichts."
"Bei mir liegt die Attraktivität eben auch unter der Haut", meinte ich.
Ich erzählte Gart, was die blondgelockte Freundin von Berenice mir ins Genick gesäuselt hatte.
"Jaha, Rafa stellt das gerne so hin, als wenn du ihm hinterherrennst", meinte Gart, "dabei will er was - aber das darf ja keiner wissen ... und auf diese Art kann er es gut verschleiern."
Als ich Gart erzählte, daß Rafa und Berenice sich verloben wollen, meinte er:
"Das wird nichts! Nicht bei Rafa!"
Rafa legte schließlich den Arm um seine Freundin und ging mit ihr zum Flipper. Les spielte endlich wieder Industrial - "Head down" von Sonar und "Metrum v1.2" von PAL.
Nach "Metrum v1.2" kam übergangslos "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa. Ich verließ die Tanzfläche. Rafa stand mit seiner Freundin beim DJ-Pult. Ich ging eilig an ihnen vorbei und holte mir von Les meine CD's wieder, weil ich aufbrechen mußte.
Am Freitag traten Second Decay im "Inferno" auf. Ich konnte nicht da sein, weil ich in meiner alten Heimat S. war. Dort feierten mein Vater und sein Zwillingsbruder ihren Sechzigsten. Terry und Talis haben mir später erzählt, daß Rafa im "Inferno" gewesen ist und Second Decay interviewt hat. Berenice hatte er auch dabei. Etwas Näheres war nicht zu erfahren.
Am darauffolgenden Mittwoch konnte ich nicht ins "Zone", weil kein Fahrer zur Verfügung stand. Terry ist umgezogen nach außerhalb. Sie war im "Zone", und Rafa war dort auch wieder, mit Ivco. Ob Rafas Freundin dabei war, konnte Terry nicht sicher sagen, weil sie nicht auf sie geachtet hat. Rafa hatte seine Haare wieder hochgestellt. Meistens waren Ivco und er am Krökler und am Flipper. Rafa ging öfters dort lang, wo ich mit meinen Leuten gewöhnlich stehe, und im Vorbeigehen begrüßte er Terry mit Handschlag und sagte "Hallo". Rafa grüßt Terry sonst auch, aber er gibt ihr gewöhnlich nicht die Hand.

In einem Traum sah ich Rafa im "Zone", auf der gegenüberliegenden Seite der Tanzfläche. Er schaute zu mir herüber, und etwas wie ein Lächeln war in seinem Gesicht.

In einem anderen Traum ließ Rafa sich von mir küssen.

Wie ich festgestellt habe, ist die Website, die Rafa auf seiner MCD angegeben hat, nicht seine eigene, sondern nur die seines Fanclubs in C. Auf der Website gibt es ein paar Fotos von Rafas Auftritten zu sehen - er trägt immer seine Spiegelbrille -, und es wird darauf hingewiesen, daß Rafas "Hit-Single" gegen Videospiele für eine Fernsehserie ("So bleiben Sie gesund") als Titelmusik dient. Ein Interview ist nicht dabei und aus sonst nichts Persönliches von Rafa.



Ende März hatten wir wieder ein Treffen bei Merle. Ich hatte mich für die "Halle" feingemacht, mit dem tiefroten Taftrock und der Träger-Corsage. Elaine bekam von mir ein Überraschungs-Ei.
Als ich gerade in die "Halle" gekommen war, standen Talis und Janice vor dem Zierteich. Ich ging auf die beiden zu und bemerkte, daß nur zwei Schritt entfernt Rafa stand und mit Emanuelle plauderte, der gegenwärtigen Freundin von Sazar. Rafa trug ein Stirnband und eine Uniformjacke. Er schien mich ebenfalls bemerkt zu haben; er blinzelte vorsichtig zu mir her. Ich mußte sehr viel lächeln. Janice meinte, man könne an meinem Verhalten deutlich sehen, wie verliebt ich sei. Ich entgegnete, ich könne absolut nichts unternehmen; Rafa sei für mich unerreichbar.
Nach etwa zwei Minuten entfernte sich Rafa und kam danach nie wieder in den Bereich der "Halle", wo ich mich aufhielt. Ich sah ihn nur noch auf dem DJ-Balkon, überhaupt nicht mehr unten. Rafa blieb sogar dann auf dem Balkon, wenn andere DJ's ihn ablösten. Er setzte sich dort oben hin.
Berenice bediente an der Bar unter dem Balkon. Ab und zu tanzte sie. Sie trug nichts Auffälliges, nur eine Hose und ein ärmelloses Schnallen-Shirt. Einmal sah ich sie bei Rafa oben stehen. In dem schlechten Licht konnte ich nicht erkennen, ob sie nur redeten oder auch knutschten.
Kappa stellte durchs Mikrophon "Wir wollen keine Menschen sein" von Rafa vor. Kappa war oft bei Rafa auf dem Balkon.
Emily erzählte mir, daß sie Rafa als ätzend und abweisend erlebt hat. Wenn sie sich einen Musiktitel von ihm wünschte, verhielt er sich arrogant und unzugänglich. Ich erzählte, daß Rafa mich einmal in einem anklagenden Ton gefragt hat, warum ich mir denn nie etwas von ihm wünsche.
Emily sagte zu meinen Erlebnissen mit Rafa, sie wundere sich über das, was hinter so einer Fassade stecken könne.
Sazar erzählte stolz von seiner ersten eigenen CD, "F...en für Deutschland". Ich bemerkte, dies sei wohl die Gothic-Variante des Punk.
Gegen Morgen war Rafa allein am Pult. Ich saß bei meinen Leuten und schaute ihn an, und er stand da und schaute reglos in meine Richtung. Ich konnte sein Gesicht deutlich sehen. Einmal lächelte er; ich kann mir aber nicht vorstellen, weshalb.



In der kommenden Nacht gab es im "Inferno" Tanz in zwei Sälen. Im vorderen Saal legte Rafa Neue Deutsche Welle auf. Am Eingang bekam jeder einen kleinen Zettel mit Bingo-Ziffern.
"NDW-Party nur für dich!" stand darunter. "Ausdruck: Commodore C-64."
Diese schmalen Zettel sehen so aus wie die, auf die Rafa seine Gedichte gedruckt hat. Er hat einen einfachen Nadeldrucker verwendet.
In der Toilette lief mir Rafas Freundin über den Weg. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt und war im Stil der Sechziger geschminkt. Sie trug ein enges Kleid im schwarzweißen Hahnentrittmuster, eine weiße Strumpfhose und schwarze Pumps. In diesem Retro-Look läuft sie sonst nie herum, und Revco und Sarolyn meinten beide, daß sie sich darin auch nicht sonderlich wohlzufühlen schien. Der Stil schien von Rafa verordnet, nicht passend zu ihr selbst, sondern passend zur Veranstaltung.
"Das Kleid ist ja wohl ät-zend", fand Sarolyn.
Während sich Berenice im Spiegel betrachtete, bekam ich von einem fremden Mädchen Komplimente für mein Kleid. Ich trug das Oberteil mit den Puffärmeln und ein Tutu aus grauem Taft, das im Schwarzlicht leuchtet.
Rafa war über das Pult gebeugt, mit hochgestellten Haaren und der grauen Jacke mit den Schnörkeln. Er blieb auch, wo er war und wirkte sehr beschäftigt. Berenice stand die meiste Zeit neben dem Pult. Zwischenzeitlich kam sie kurz in den anderen Saal herüber. Hoffi war einer der Wenigen, mit denen sie sich unterhielt. Hoffi soll über sie erzählt haben, daß sie studiert.
Rafa spielt bei NDW-Parties gewöhnlich den Entertainer. Dieses Mal aber war er sehr ruhig. Er sagte nichts durch Mikrophon und schien das Bingo-Spiel einfach vergessen zu haben, obwohl er es in der "Halle" groß angekündigt und die vielen Zettel ausgedruckt hatte. Keiner konnte sich erklären, weshalb das Bingo-Spiel nicht stattfand. Als Preis hatte es eine Sektflasche geben sollen, was allgemein lächerlich gefunden wurde.
"Die hat er wohl selber ausgesoffen", vermuteten die Leute an der Kasse.
Ace bat mich, am nächsten Mittwoch ins "Zone" zu kommen, weil er da gemeinsam mit Les auflegen wollte. Kappa war sehr hektisch und versprach mir:
"Morgen brenne ich dir die CD."
Edaín fragte mich über meinen Beruf aus, und als ich nach dem ihren fragte, druckste sie erst etwas herum und erzählte schließlich, sie habe auch viel mit kranken Leuten zu tun. Sie arbeite in einer Spielhalle und müsse dort mitansehen, wie die Spielsüchtigen Haus und Hof verspielen.



Anfang April fuhr ich mit Roman ins "Zone", in dem Audi 100, den mein Vater mir überlassen hat. Im "Zone" traf ich Terry, Birthe und Tibera. Ich war ganz in Schwarz, was gut zu der weißen Haut paßt. Ich hatte das schmale, sehr kurze, hoch geschlitzte Kleid mit dem lange Chiffonschleier über dem Rock an. Es hat sehr kurze Ärmel und ein tiefes Decolleté. Ich trug ein Eisernes Kreuz um den Hals und die langen Handschuhe, verziert mit einem Glitzerarmband, und ich hatte die Glitzerstrumpfhose an und Glitzerspray im Haar.
"Besser kann man eigentlich gar nicht aussehen", dachte ich. "Daß Rafa mich ablehnt, ist ein Zeichen dafür, daß er meinen Wert überhaupt nicht schätzen kann."
Es macht mich immer traurig, wenn ich mich im Spiegel ansehe und mir gefalle. Ich muß daran denken, daß Rafa all das nicht würdigt und daß mir meine Attraktivität nichts hilft.
Kurz nachdem ich im "Zone" angekommen war, wurde "Arbeit adelt!" von Rafa gespielt, und nur ein Junge tanzte. Ich stellte mich hinter meinen Hocker. Rafa kam heran, in seiner grauen Jacke, mit Pferdeschwanz. Er führte seine Freundin an der Hand. Sie ließ ihre Haare offen herunterhängen und trug eine weite weiße Spitzenbluse über einem langen schwarzen Rock. Rafa setzte sich mitihr hinter mir an die Bar, einen Schritt von mir entfernt. Ich sah Rafa in einem Spiegel von hinten und in einem weiteren Spiegel von vorne. Wir fixierten uns durch zwei Spiegel.
Es war schwer, Rafa anzusehen, ohne gleichzeitig auch seine Freundin anzusehen, weil sie sich nah bei ihm hielt.
Als Rafa seine Freundin gut sichtbar auf den Mund küßte, verließ ich meinen Platz und ging zum DJ-Pult. Les war gerade mit seinen CD's beschäftigt, und ich konnte ihn weder mit den Händen noch durch Rufen erreichen. Also bastelte ich aus einem herumliegenden Flyer einen Flieger und beschoß Les damit. Er entdeckte mich, kam auf mich zu und busselte mir die Wangen. Ich sah, daß Rafa und seine Freundin sich umgedreht hatten und zu mir herüberschauten.
"Rafa ist schon wieder mit dieser Freundin da", erzählte ich Les. "Das macht mich rasend."
"Du willst immer nur Sex!" sagte Les so laut, daß die Umstehenden mithören konnten, was mir fast peinlich war. "Du denkst nur an Sechs. Guck' mal, die von der Scientology brauchen gar keinen Sechs. Höchstens mal Sieben ... oder Acht ... oder vielleicht mal Neun ..."
Ich ging auf die Tanzfläche. Les spielte "Is it you" von :wumpscut:. Nach dem Stück ging ich wieder an meinen Platz, wo auch Tibera, Birthe und Terry waren. Rafa stand jetzt mit seiner Freundin bei Les am Pult. Auch von dort aus sahen sie in meine Richtung, und Rafa küßte seine Freundin. Ich schaute weg, dann wieder hin, zählte mit den Fingern und kam nur bis drei, als er sie wieder küßte. Dann drehte ich mich weg und zählte bis zehn, sah wieder hin und zählte weiter. Dieses Mal geschah nichts. Les spielte "Smack my Bitch up" von Prodigy. Ich stürmte auf die Tanzfläche. Als ich zurückkam, fand ich Rafa mit seiner Freundin an einer Bar in der Ecke, zwischen dem Pult und unserem Platz. Er war für mich schlecht zu sehen, stand aber so, daß er einen guten Überblick hatte. Die beiden wirkten wie ein harmonisch turtelndes Paar. Kurz nach ein Uhr zog ich meinen Mantel über. Während ich mich von Terry, Tibera und Birthe verabschiedete, ging Berenice zu Les ans Pult. Ich konnte mich also nicht von Les verabschieden und auch nicht von Ace. Ich sah im Weggehen zu Rafa hinüber, der allein an der Bar stand und mich ebenfalls zu mustern schien.
Am Freitag legte Rikka für mich ein "Crowley-Tarot"-Spiel. Wir versuchten, aus den Karten Hinweise und Denkanstöße abzuleiten. Bisher haben sich für mich aus Kartenlegespielen noch keine neuen Erkenntnisse ergeben. Wir hatten schließlich folgendes Beziehungsmuster zusammengestrickt:
Inhalt der Beziehung zu Rafa ist für mich das große Glück. Ich suche darin Leidenschaft, Lust, Bewegung und Lebensfreude. Ich empfinde Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, weil wir nicht zusammenkommen. Ich verhalte mich in Rafas Augen widersprüchlich, weil ich ihm einerseits sage, daß ich ihn liebe, und ihn andererseits zurückweise. Daß ich ihn nur dann zurückweise, wenn er eine Freundin hat, ändert für ihn nichts an dieser Widersprüchlichkeit. Rafa hat den Eindruck, daß sich in unserer Beziehung nichts bewegt, weil er und ich gleich stark sind. Er kann seine Fassade aufrechterhalten, und ich kann mein Verlangen nach ihm aufrechterhalten. Ich bin für Rafa jemand, den er - vielleicht nur unbewußt - verehrt und der ihm Zuneigung und Geborgenheit schenken kann. Rafas Wirkung auf andere ist dadurch gekennzeichnet, daß er seine charismatische Ausstrahlung mißbraucht, um Menschen zu verletzen und zum Besten zu halten.
Unterm Strich ist ein Tarotspiel so lange nicht mehr als ein Zeitvertreib, bis diese Strickmuster in der Wirklichkeit nachgewiesen werden.
Rikka wird von Seth noch immer mit Geringschätzung behandelt. Sie hat oft für sich und ihn Tarotkarten gelegt. Für sie kamen Hinweise auf Verzweiflung und Verdrängung, die Karten für ihn konnte sie meistens nicht deuten.
Sarolyn, Rory, Talis, Janice und Merle waren am selben Abend im "Mute", wo unter anderem die NDW-Stars Joachim Witt und Markus auftraten. Das Konzert von Joachim Witt soll das einzige anspruchsvolle gewesen sein. Markus sang ein Stück von einer "kleinen Taschenlampe", das er sonst eigentlich mit Nena zusammen singen soll. Weil Nena nicht da war, bat er ein Mädchen aus dem Publikum, sie zu vertreten. Scheinbar zufällig kam da Rafas Freundin auf die Bühne, im schwarzen Abendkleid, mit Handschuhen. Zwei Jungen halfen ihr hinauf.
"Ich mach' das!" fiepte sie.
"Wie heißt du denn?" mimte Markus den Überraschten.
"Berenice", gab sie überflüssigerweise Auskunft.
"Wenn ich gewußt hätte, daß da wirklich eine Dame auf die Bühne kommt, hätte ich Blumen mitgebracht", sagte Markus, was ungefähr so echt wirkte wie der Charme von Rafa.
Berenice durfte sich auf einen Barhocker setzen und lieferte ihren einstudierten Auftritt ab. Sie mußte lächeln und ab und zu den Refrain singen:
"Kleine Taschenlampe brenn."
Die Stimme wurde aber nicht über das Mikrophon übertragen, war demnach also kaum zu hören.
Talis und Janice fanden die Vorstellung überzeugend. Sarolyn fand sie peinlich:
"Wenn die wenigstens den Text gekonnt hätte ..."
Merle fand den Auftritt ebenfalls peinlich:
"Wie die mit den Hüften gewackelt hat! Und die konnte überhaupt nicht singen."
Rafa hatte sich die Haare hochgestellt und trug die graue Jacke. Er soll sich sehr schön geschminkt haben. Rafa wurde mit Kappa gesehen, der Edaín im Arm hielt. Nach dem Festival sagte Kappa durchs Mikrophon:
"Und jetzt noch einmal W.E mit 'Deine Augen', das widmet Rafa seiner Freundin Berenice."
Im Dezember waren es noch zwei Frauen, denen Rafa das Stück gewidmet hat. Wahrscheinlich widmet er es immer wieder anderen Frauen. So schablonenhaft, wie Rafas Beziehungen nun einmal sind, sind eben auch seine Liedtexte.
Am Samstag war ich im "Elizium". Ein Junge sprach mich an:
"Mein Kumpel läßt fragen, ob du noch frei bist."
"Man könnte das vielleicht so sagen ... eigentlich ja, uneigentlich nein."
"Das ist eine gute Antwort."
Laura machte sich ausführlich an Derek zu schaffen, was ihm sichtlich schmeichelte. Er hatte ordentlich getrunken und ging schließlich mit ihr weg, angeblich nur "nach Hause, wohin sonst". Er will nicht mit zu ihr gegangen sein und nichts mit ihr angefangen haben. Daß er aber mit ihr umarmt im "Elizium" stand, fand ich auch schon zuviel.
Derek behauptet, er wolle von Laura gar nichts. Sie sei ihm "zu fett".
Ivo Fechtner war im "Elizium", aber nicht lange. Berit gab ihm nicht einmal mehr die Hand.
"Du hattest recht!" erzählte sie mir. "Ivo Fechtner ist ja so ein Sch...kerl! Mein Fehler ist, daß ich ganze drei Wochen mit dem zusammen war. Ich wollte ja nicht auf dich hören. Immer war der nur am Lästern. Der ist sowas von intolerant. 'Nur die Harten komm'n in'n Garten.' Und der Sex mit ihm war sowas von schlecht, ich habe echt noch nie so schlechten Sex gehabt."
Greta hat wieder so lange Haare, daß man ihr die Krankheit nicht mehr ansieht. Mit ihrer jetzigen schulterlangen Frisur wirkt sie auf mich eleganter und weniger kindlich als früher.
Isis erzählte, sie habe eine schüchterne Freundin, die mich auch gerne mal kennenlernen wolle. Die Freundin sei immer so fasziniert davon, wie ich tanze. Und was ich anhätte, würde immer alles zusammenpassen.

In einem Traum war Rafa gestorben. Nachdem ich das erfahren hatte, mischte ich eine todbringende Flüssigkeit, die so aussah wie Wodka "Black Sun". Ich ging mit einem Bekannten einen Berghang hinauf, das Glas mit dem Gift in der Hand. Constri und Carl wußten nichts davon und auch sonst keiner. Der Bekannte war mir nahe genug, um mit ihm über den Tod zu sprechen, und doch nicht so nahe, daß er über meinen Tod verzweifeln würde. Ich erzählte unentwegt von meiner Absicht und wollte mich dabei für diese Entscheidung rechtfertigen.
"Ich frage mich, wo ich hinkomme", sagte ich. "Wenn ich da noch laufen kann, habe ich auch einen festen Boden unter den Füßen."
Wir setzen uns auf eine Bank.
"Wenn ich wieder aufwache, dann hat es eben nicht sein sollen", meinte ich. "Aber diesen Versuch gönne ich mir."
Die Flüssigkeit sah nicht nur so aus wie Wodka "Black Sun", lila-schwarz, sondern schmeckte auch so.
"Die andere Seite ... jetzt lerne ich sie kennen, die andere Seite", sagte ich nachdenklich, während ich trank. "Ich meine, wir lernen sie alle irgendwann kennen, aber ich halt schon eher. Rafa ist da jetzt. Rafa ist da jetzt. Und ich will ihn so gern sehen."
Sprach's, trank aus und wachte auf.

In diesem Traum habe ich mich tatsächlich umgebracht, nur kam ich nicht aufdie andere Seite, sondern zurück in den Wachzustand. Rafa ist dort auch, denn er ist nicht tot.
Bemerkenswert ist für mich, daß ich bereit war, mein Leben hinzugeben in der Gewißheit, daß ich Rafa hier auf Erden niemals mehr finden würde. Die einzige Hoffnung bestand für mich darin, ihn auf der anderen Seite wiederzusehen.
Ich will nicht vergessen, daß mein Tod nur mich selbst etwas angeht. Es ist meine ganz private Trauer, die mich in dem Traum vernichtet hat. Rafa hat mich aus seinem Leben gestrichen, deshalb geht ihn mein Leben - und ebenso mein Tod - nichts mehr an. Ich bin mit meiner Liebe zu ihm allein. Ich halte sie in den Händen, ohne sie ihm schenken zu können. Sie gehört nur ihm, sie ist nur auf ihn zugeschnitten, aber er will sie eben nicht; das konnte ich nicht voraussehen, und das konnte ich auch nicht beeinflussen. Ich will mir deshalb keine Vorwürfe machen. Ich habe getan, was ich konnte; mehr konnte ich nicht tun.
Umbringen würde ich mich niemals, denn ich betrachte mein Leben als Geschenk, für das ich verantwortlich bin. Vielleicht erkenne ich eines Tages, welchen Sinn mein Leben hat trotz der Verluste und Entbehrungen. Ich folge der Regel, auch den dunklen Weg immer weiterzugehen, ohne zu wissen, wohin er führt - Anhalten birgt die Gefahr.



Am Mittwoch fuhren wir ins "Zone" und trafen uns vorher bei mir. Sazar erzählte, Nadine habe Rafa gehaßt, bevor sie seine Freundin wurde.
"Warum hat sie ihn dann überhaupt genommen?" wunderte ich mich.
Sazar erzählte, Rafa habe Nadine umworben mit seinen üblichen Sprüchen:
"Na, Schatz, wann heiraten wir?"
Davon soll die unsichere Nadine so geschmeichelt gewesen sein, daß sie Rafa sogleich zu Füßen lag.
Rafa soll auch Lara gegenüber ziemlich direkt geworden sein. Er soll ihre Hand auf seinen Unterkörper gelegt haben und sie dann gefragt haben:
"Na, wie findest du das?"
Mit solchen Verführungsmethoden hat Sazar inzwischen auch erfolgreich gearbeitet. Er berichtet, es genüge schon, zu einem Mädchen zu sagen:
"Ich weiß, du hast das Brautkleid schon im Kofferraum, also, wann heiraten wir?"
- und davon ist sie so angetan, daß sie ihm auf Schritt und Tritt folgt.
Mit Julienne war Sazar schon fast auf dem Standesamt. Eine Woche vor der geplanten Hochzeit gab sie ihm den Ring zurück und erklärte ihm, daß sie sich anderweitig verliebt habe. Sie ist nun mit Dorgath zusammen.
Sazar berichtete mir, er sei Anfang April im "Maximum Volume" gewesen, einer kleinen Location innerhalb des Veranstaltungszentrums "Mute". Das "Mute" ist in den Zwanziger Jahren als Kino gebaut worden. Der Hauptsaal ist sehr weitläufig und hoch und hat eine Empore, unter der sich eine Bar befindet. Dort finden Konzerte und Filmvorführungen statt, und es gibt einen Mainstream-Disco-Betrieb. Das "Maximum Volume" führt eine Art Schattendasein und bietet Kappa neuerdings die Möglichkeit, an jedem Mittwoch Wave und Elektro aufzulegen. Kappa ließ sich dieses Mal von einem Unbekannten assistieren. Rafa war auch im "Maximum Volume" und redete vorwiegend mit Ace, kaum mit seiner Freundin. Insgesamt sollen nur ungefähr sieben Leute im "Maximum Volume" gewesen sein.
Sazar zog wieder einmal über Rafas Freundin her:
"Die ist so häßlich, die Ausstrahlung ist null, und die Stimme - kennst du Verona Feldbusch? So, genauso redet die!"
Er ahmte die kieksige, ausdruckslose Stimme der Fernsehmoderatorin nach.
Yvette, die Mutter des Kindes von Cyber, fuhr auch mit ins "Zone". Sie ist ein hübsches, gerade zweiundzwanzigjähriges Mädchen, groß, schlank, mit langen dunklen Haaren. Ihr Kind Yves wird demnächst zwei. Yvette berichtete, daß Cyber und sie sich gut verstehen und daß er sich liebevoll um Yves kümmert. Cyber und Yvette sind aber kein Paar. Yvette scheint diese Verhältnisse mit Gelassenheit zu tragen. Schwierig wird es vielleicht, wenn ein zweiter "Vati" für Yves auftaucht.
Zoë trug Lack und Chiffon. Ihre knappen Shorts sind ein Geschenk ihres neuen Angebeteten, ein BMW-Fahrer namens Enrico. Sie kennt ihn erst seit wenigen Tagen und scheint sich mit ihm rasch über alle bisherigen Fehlschläge hinweggetröstet zu haben, bietet er ihr doch ein offenes Portemonnaie und motorisierten Charme. Als er ihr seinen BMW vorstellte, soll er ihr versichert haben, er werde stattdessen bald einen Porsche fahren.
Im "Zone" war es sehr voll. Constri und Rikka waren ausnahmsweise auch wieder dabei. Als ich mich nachschminkte, begann "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa. Sazar sagte mir, daß Rafa im "Zone" sei. Ich mußte längere Zeit Ausschau halten, ehe ich ihn entdeckte. Er stand vor der Tanzfläche, ungeschminkt, in Schwarz, die Freundin neben sich. Er blieb dort aber nicht lange, und ich konnte ihn für einige Zeit nicht sehen. Dann berichtete Sazar, er habe Rafa hinterm DJ-Pult mit irgendeinem Jungen reden sehen. Ich ging mit Sazar nachschauen. Nach einigem Suchen fand ich Rafa samt Freundin neben dem Pult. Die beiden standen dicht voreinander und unterhielten sich.
Von unserem Platz aus konnte ich beobachten, daß Berenice die Arme um Rafa legte. Teilnahmslos-routiniert ließ er sich das gefallen und küßte sie ebenso routiniert. Ich fühlte wieder die Aggressionen, von denen mir übel wird.
Schon um viertel nach eins verließ Rafa mit Berenice das "Zone". Ich erzählte Les, was für ein glückliches Paar Rafa und Berenice doch seien.
"Hör' bloß auf!" rief da Les. "Die nerven mich die ganze Zeit! Jedesmal kommen die an und wollen das dritte Stück von der neuen CD hören. Immer wieder fragen die:
'Wann spielst du endlich das dritte Stück?'
Ich sage denen schon immer, ich kann doch nicht die ganze Zeit W.E spielen."
Mal fragte Rafa, mal kam die Freundin an und wollte das Stück hören. Les hat den Eindruck, daß Rafa und seine Freundin überhaupt nur ins "Zone" kommen, um dieses dritte Stück - "Wir wollen keine Menschen sein" - dort zu einem Hit zu machen. Dabei wäre das gar nicht nötig. Als die beiden schon weg waren, spielte Les das Stück, und es gab viele, die dazu tanzten.
Als ich Les nochmals darauf ansprach, daß Rafa mit seiner Freundin sehr glücklich zu wirken bemüht ist, zog Les mit den Händen seine Mundwinkel herunter und sagte:
"Flappe."
"Ziehen die eine Flappe?"
"Die stehen da wie ... die sehen irgendwie voll degeneriert aus. Die stehen da nur 'rum, völlig ausdruckslos, und warten auf das Stück."
Am Freitag traf ich Chantal und Seraf im "Untergang". Die beiden grüßten sich, sonst redeten sie nicht miteinander. Chantal leidet immer noch sehr darunter, daß Seraf sie verlassen hat.
"Ich glaube, ich bin irgendwann gestorben", sagte Chantal zu mir.
Am Samstag habe ich mit Telgart an meiner Website gearbeitet. Er bat mich, ihn auch in der Geschichte "Im Netz" erscheinen zu lassen. Ich sagte ihm, dies sei der Fall.
Pascal fragte mich nach meiner Internetadresse und schaute sich die Website an.
"Es ist gut geschrieben", meinte er. "Es liest sich gut weg. Ich habe viel wiedererkannt. Das war faszinierend. Aber was mich erst richtig fasziniert hat, war das, wo auf einmal Rafas Vater tot war. Hat sich das wirklich so abgespielt?"
"Ja", bestätigte ich.
"Solche Geschichten schreibt nur das Leben. Erst plätschert das Gespräch so dahin, und dann auf einmal ... dieses Umkippen. Von da an habe ich das verschlungen. Und als diese Visionen kamen, das ging unters Herz."
Pascal vermutet, daß die Leute nicht alles glauben werden, was in "Im Netz" zu lesen ist. Die Geschichte könne zu mancherlei Spekulationen anregen.
Ich meinte, im Grunde sei das einerlei; es gebe kaum Beweise, ob ich die Wahrheit sage oder nicht.
Insgesamt scheint es, als wenn es mir durchaus möglich ist, mit dem geschriebenen Wort Gefühle zu übertragen. Die Menschen bewegen, das heißt für mich, etwas bewegen und verändern zu können. Letztlich muß diese Fähigkeit auch einsetzbar sein, um mein Schicksal zu wandeln.

In einem Traum am Ostersonntag fuhr ich mit einigen Leuten zu einem alten Ziegeleigelände. Es sah wieder so aus wie vor elf Jahren, eine große Fläche Brachland mit hohem Gras und in der Mitte ein kleiner fensterloser Backsteinbau, der auf einem Erdhügel stand. Wir kletterten zu dem Backsteinbau hoch, bis unters Vordach. Einer von uns ging um das Haus herum und versuchte, auf der anderen Seite eine Stahltür zu öffnen, die ließ sich aber nicht öffnen.
"Warum versucht ihr, diese Tür aufzumachen?" fragte eine Begleiterin.
"Wir wissen nicht, wie lange es dieses Gebäude noch gibt", erwiderte ich. "Da ist das schon einen Versuch wert."
Wir fanden nahebei ein hohes rostiges Gerüst, das es in Wirklichkeit nicht gegeben hat. An langen Ketten hingen zwei Stangen, ähnlich wie Schaukeln, und man konnte sie tatsächlich zum Schaukeln verwenden. Ein Mädchen und ich schaukelten hoch, fast halsbrecherisch hoch.
Am Abend gingen wir in die "Halle". Ich setzte mich an eine Bar, mit Blick auf die Bühne. Rafa stand auf der Bühne, geschminkt, mit hochgestellten Haaren. Er trug ein Kleid aus schwarzem Chiffon, weit, mit einem langen Faltenrock.
"He, es geht los - W.E", sagte das Mädchen neben mir, als die ersten Takte zu hören waren.
"Was, schon wieder?" fragte ich. "Die habe ich doch erst gesehen."
Rafa schien den Auftritt zu genießen. Er grinste unaufhörlich. Neben ihm grinste noch einer, der sich die Haare ebenso gestylt hatte. Ausnahmsweise war es nicht Dolf.
"Könnte das nicht Anwar sein?" fragte ich meine Nachbarin.
"Ja, ich glaube, das ist Anwar."
"Der hat so ein übles Grinsen", meinte ich. "So eine richtige Tritt-mich-Fresse."
"Kennst du das 'Pananavia'?"
"Nein."
"Ich auch nicht. Aber jemand, den ich kenne, war da. Rafa soll da gestern auch noch gewesen sein."
"Besoffen?"
"Kann sein."
"War seine Tussi auch da?"
"Das weiß ich nicht."

Leider wachte ich auf und erfuhr nicht mehr, wie es weitergegangen wäre.



Am Ostersonntag trafen wir uns abends in großer Runde zum Kaffeetrinken bei Merle. Sie hatte Kuchen gebacken, und ich brachte Hefeschnecken mit. Merle ging dieses Mal auch in die "Halle".
Unter anderem kam "Embryodead" von :wumpscut:, und ich ging gleich auf die Tanzfläche.
Sarolyn berichtete mir, Rafa habe sich heute besonders hübsch frisiert. Rafa kam recht bald in unsere unmittelbare Nähe. Er stellte sich auf ein flaches Podest und beobachtete die Tanzfläche. Er trug eine Uniformjacke mit silbernen Knopfreihen und roten Ärmelaufschlägen. Seine Haare waren kurz geschnitten, hochgestellt und vorne in die Stirn gekämmt. Ich hatte einen langen Spitzenrock an. Er ist mit vielen großen Schleifen verziert, und man kann die Beine hindurchschimmern sehen. Dazu trug ich das Spitzenoberteil, Spitzenhandschuhe, ein Spitzenhaarband und Spitzenschnürsenkel.
"Born Slippy" von Underworld begann, und ich mußte weitertanzen. Danach sah ich Rafa oben auf dem DJ-Balkon. Er stand dort mit Kappa. Berenice sah ich nirgends.
Während Funker Vogt auftraten, konnte ich Rafa nicht sehen. Nach dem Konzert entdeckte ich ihn an der Bar, die sich hinter dem von uns bevorzugten Platz befindet. Er unterhielt sich lebhaft mit Xentrix. Ich unterhielt mich mit Sarolyn und Talis. Rafa schaute während des Gesprächs zu mir herüber und ich zu ihm. So ging das eine ganze Weile, bis Rafa schließlich Hand in Hand mit Xentrix von dannen zog und zum Balkon hinaufging.
Onno wünschte sich von Rafa "Radioaktivität" von Kraftwerk. Rafa soll sehr albern, kindlich und überdreht gewirkt haben. Beim Sprechen ahmte er einen russischen Akzent nach. Er schnappte sich Cyrus, der vor ihm stand, und imitierte Kopulationsbewegungen.
Onno hat Rafa zwischenzeitlich auch länger allein neben einer Box stehen sehen, die hinten beim Balkon war und wo ich Rafa nicht sehen konnte.
Einmal unternahm Rafa einen Rundgang durch die "Halle", auch über die Stufe vor dem hohen Podest, wo ich gerade tanzte. Er ging sehr dicht hinter mir vorbei, zum Greifen nah. Ich faßte ihn am Ärmel, ohne im Tanzen innezuhalten.
Als ich bei Carl stand, begab sich Rafa auf das niedrige Bühnenpodest in unserer Nähe. Er schaute recht eindeutig in meine Richtung und redete währenddessen längere Zeit mit verschiedenen Leuten, darunter auch ein Mädchen, das ihn anzuhimmeln schien. Als das Titelstück von der Serie "Der kleine Vampir" kam, tanzte Rafa und ging danach wieder auf den Balkon. Er grüßte durchs Mikrophon alle Leute, die mit ihm auf der Realschule waren. Erst zu dieser Zeit erschien Berenice dort oben. Sie redete mit Rafa, umarmte ihn und ließ sich von ihm küssen, so daß für jedermann ersichtlich war, daß es sich hier um ein glückliches Paar handelte. Dann ging die Freundin wieder weg. Ich sah sie in unserer Nähe vorbeilaufen, in Pulli und Leggins.
Kappa kam auch an uns vorbei. Ich begrüßte ihn und fragte ihn, warum das Bingo im "Inferno" letztes Mal nicht stattgefunden hat.
"Wieso - das hat doch stattgefunden", erwiderte Kappa.
"Wann denn?"
"Die ganze Zeit."
"Davon war aber nichts zu merken."
"Ja, dann weiß ich auch nicht ... Du kannst ja mal Rafa fragen."
"Nein, der darf nicht mit mir reden, weil der immer noch mit dieser blöden Zicke zusammen ist", erklärte ich. "Der darf keinerlei Kontakt mit mir haben. Der wird gnadenlos abgewürgt, wenn er es wagen sollte, auch nur in meine Nähe zu kommen."
"Du weißt ja, ich halte mich da 'raus."
"Das ist auch besser so", meinte ich ehrlich. "Das ist wirklich besser so."
Kurz darauf fuhr ich mit Merle weg. Carl blieb mit den anderen noch eine Stunde länger da. Kappa sagte durch Mikrophon, "weil Rafa so lieb war", würde er noch eines seiner Stücke spielen. Es soll ein entsetzlich kitschiges Stück gewesen sein, wahrscheinlich "Deine Augen". Rafa hielt sich in irgendwelchen Ecken auf, wo Carl ihn nicht sehen konnte.
Onno hat von Rafa den Eindruck, daß er fast nur noch aus Fassade besteht und daß der eigentliche Mensch Rafa irgendwo vergraben ist, wo man ihn nicht erreichen kann. Auf einer Party vor über drei Jahren im "Nachtlicht" soll Rafa noch viel natürlicher und echter gewirkt haben. Damals spielte Rafa mit den Gästen und zahlreichen Barhockern "Die Reise nach Jerusalem".
Inzwischen habe ich Lilliens Tochter Ada kennengelernt. Ich besuchte die beiden in dem Haus von Lilliens Vater, wo sie wohnen und wo Lillien nie ausgezogen ist. Lilliens Lebensgefährte Jaron - Adas Vater - wohnt dort nicht.
Ada ist ein wenige Wochen altes Baby, sehr niedlich und dunkelhaarig wie die Mama.
Am Dienstagabend hat sich möglicherweise jemand verwählt. Um neun Uhr abends klingelte das Telefon, ich nahm ab, sagte "Ja?", da wurde aufgelegt.
Tags darauf war Rafa nicht im "Zone", dafür war Ivco da. Ivco will auf jeden Fall für längere Zeit nach Brasilien ziehen, sobald er dort Arbeit gefunden hat. Als ich Ivco fragte, was aus seiner Freundin werden soll, wenn er so weit wegzieht, hatte ich den Eindruck, daß er ungern über dieses Thema nachdenkt.
"Sie weiß bescheid, und sie will nicht mit", sagte er. "Deshalb ist dann natürlich Schluß."
Im "Zone" lagen überall Flyer für den "Tanz in den Mai". Es soll eine "Pop & Wave Party" geben mit einem Auftritt von Rafa. Ich werde nicht hingehen, weil Dane an diesem Tag in seinen Geburtstag hineinfeiert. Dane gebe ich den Vorzug, weil er mich eingeladen hat.
Am Samstag war Edaín im "Elizium" von meinem Spitzenkleid begeistert:
"Du siehst schon wieder so süß aus. Echt, du siehst immer so süß aus."
Sie trägt zum Ausgehen fast nie Abendgarderobe. Röcke sind für sie ungewohnt.
Kappa näherte sich, und ich begrüßte ihn:
"Guten Abend."
"Guten Abend", erwiderte er. "Siehst wieder toll aus heute."
"Danke für das Kompliment. Du siehst wieder breit aus heute."
"Danke für das Kompliment."
Ich fragte Kappa, wie er darauf gekommen sei, im Januar in der "Halle" eine Miss-Wet-T-Shirt-Wahl zu veranstalten.
"Das war, damit die Männer was zu gucken haben", erklärte er.
"Und das Ergebnis war, daß die Frauen was zu gucken hatten", setzte ich hinzu. "Das ist so geil, daß eine Miss-Wahl in dieser Szene einfach nicht funktioniert."
"War Rafas Idee."
"Ach, das war Rafas Idee?" kicherte ich. "Und dann wurde er selber naßgemacht ..."
"Ich wurde auch naßgemacht. Nachher."
"Ach, ich hätte mich totgelacht. Ich konnte ja leider nicht da sein."
Kappa meinte, er müsse die Leute mal wieder durchs Mikrophon beschimpfen. Ich erinnerte ihn daran, daß er sich auch schon mal selbst durch Mikrophon beschimpft hat und daß daraufhin ein Skinhead mit ihm eine Prügelei anfing.
"Kiere!" wußte Kappa.
Er wußte auch, daß Kieres großer Bruder irgendwann tot in einem Teich lag.
Ich erzählte Kappa, daß in der "Halle" schon mal jemand mit einer Waffe herumgelaufen ist, der Leute bedroht hat. Kappa meinte, in einer solchen Situation würde er sagen:
"Los, erschieß' mich!"
Er glaubt, daß der Betreffende dann nicht schießen würde. Ich meinte, daß es auch Leute gebe, die keine natürliche "Beißhemmung" hätten und tatsächlich schießen würden.
Kappa ist der Ansicht, daß Kieres großem Bruder diese "Beißhemmung" gefehlt hat.
"Der ist so übel hingerichtet worden", erinnerte sich Kappa. "Und der hat das auch verdient."
Als ich genauer wissen wollte, wie und weshalb er denn hingerichtet worden sei, winkte Kappa mit einem Grinsen ab:
"Das verrate ich nicht. Ich habe damit nichts zu tun."
Luie kam und brachte uns etwas zu trinken.
Saverio unterhielt mit Carl und schien ihm ein wenig den Hof zu machen. Carl nannte ihn "Kälbchen", weil sein musikalisches Projekt "Treibkalb" heißt.
Als ich Ende April mit Constri in HB. mit Rufus und Folter Kaffee trank, entdeckte ich eine neue Ausgabe der Musikmagazins, in dem Rafa vor einiger Zeit sehr verrissen worden ist. Dieses Mal gab es zur aktuellen MCD freundlichere Töne; "die albernen W.E" kämen zwar nicht ohne "Kirmes-Uffta" aus, aber wenigstens würde die Parodie inzwischen "greifen".
In HH. aßen wir mit Darien beim Griechen zu Abend. Darien hat sich völlig in seine Arbeit gestürzt. Er scheint sich allein zu fühlen und das durch die Arbeit verdrängen zu wollen.
Bei "Klangwerk" legte Nova mit einem neuen DJ auf, der kaum Industrial spielte. Wenigstens liefen "Modulation one" von Winterkälte, "Feed me" von Salt und "Lost Highway 45" von Imminent Starvation. Alanna hat sehr abgenommen und sieht jetzt nicht mehr dick, sondern nur etwas mollig und proper aus. Sie trug einen eleganten schwarzen Hosenanzug und hat ihr schwarz gefärbtes Haar kurz schneiden lassen. Über Saverios Freundin sagte sie:
"Die Edna soll voll explodiert sein."
Alanna ist nach vorübergehender Trennung wieder mit ihrer Freundin zusammen. Mal ist auch wieder mit Dedis zusammen. Ytong macht ab und zu an den Landungsbrücken Straßenmusik.

In einem Traum begegneten mir einige Klassenkameradinnen, die ich seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Unter ihnen war auch Blanche, mit der ich eine Zeitlang locker befreundet war. Blanche fragte mich enttäuscht:
"Warum bist du eigentlich nie mehr wiedergekommen?"
Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, daß Blanche mich nach meinem Schulwechsel auf die Oberstufe in der Innenstadt vermißt haben könnte. Sie wurde in den Jahren, in denen wir in derselben Klasse waren, allmählich so feindselig und gleichgültig mir gegenüber, daß ich mich zuletzt nicht mehr um sie kümmerte.
Ich erklärte Blanche, daß mein Leben sich damals sehr verändert hat und daß ich mich von der Vorstadt-Welt auch innerlich weit entfernt habe.




Am letzten Mittwoch im April waren wir im "Zone". Les erfüllte unseren Musikwunsch "Lost Highway 45" von Imminent Starvation und spielte auch "Down where we belong" von :wumpscut:. Wir waren schon einige Zeit da, als Rafa auf uns zukam, begleitet von Anwar. Rafa trug die graue Jacke mit den Schnörkeln. Ich hatte den Rock mit dem Silbermuster und das Oberteil mit den Puffärmeln an, dazu die langen Handschuhe.
Rafa ging mit Anwar die Treppe hinunter, dicht bei uns. Dort stellten die beiden sich hin. Ich bekam von Rafa verstohlene Blicke zugeworfen. Schließlich gingen die beiden unterhalb von uns vorbei.
Ich tanzte zu "Bite Dog bite!" von Sonar und "Armageddon" von Ars Moriendi. Als ich von der Tanzfläche kam, saß Rafa mit Anwar an der Theke, zwei Schritte von unserem Platz entfernt. Er hatte eine gute Sicht auf die Tanzfläche. Berenice war nicht da. Rafa trank viel Bier. Er wirkte ausgelassen und überdreht. Immer wieder schaute er zwischen seinen Ponysträhnen zu mir herüber und grinste. Er schien das Spiel zu genießen wie eine Achterbahnfahrt. Anwar wandte seinen Blick gar nicht erst von mir ab. Die Entfernung war so gering, daß ich mich nicht darüber irren konnte, daß Rafa mich beobachtete. Ich hatte den Eindruck, die Abwesenheit von Berenice kam Rafa gerade recht, weil er ungestört zu mir herüberschauen konnte. Anwars Rolle schien darin zu bestehen, daß er darauf achtete, was ich tat. Ich stellte fest, daß ich zu lächeln und zwischendurch auch zu lachen anfing. Ich beobachtete Rafa zeitweise durch den Spiegel, dann setzte ich Constri vor mich und beobachtete ihn durch ihre Haarsträhnen hindurch.
"Er ist nicht nur sehr intelligent", sagte ich zu Constri, "er besitzt auch die Fähigkeit, seine Fassade an jede beliebige Situation anzupassen. Seine Mauer ist flexibel, deshalb läßt sie sich nicht zerstören."
Gart kam und unterhielt sich mit Rafa. Gart berichtete mir danach, Rafa habe erzählt, er sei am heutigen Tage gegen acht Uhr abends schon irgendwo in HF. aufgetreten und habe seine Freundin nicht mitgenommen, weil wegen der Ausrüstung im Auto kein Platz mehr für sie gewesen sei. Ich fragte mich, wo Dolf geblieben war; ihn sah ich überhaupt nicht.
Les sagte durchs Mikrophon, daß am nächsten Tag der "Tanz in den Mai" stattfinden werde, und die Hauptsache daran sei Rafas Auftritt. Les spielte dann auch gleich "Schweben, fliegen und fallen" und "Deine Augen".
Nachdem Rafa und ich uns etwa eine halbe Stunde lang angeguckt hatten, kam "Totes Fleisch" von Terminal Choice; ich ging auf die Tanzfläche, und Rafa verließ mit Anwar das "Zone".
Terry und Birthe waren beim "Tanz in den Mai" im "Zone", während ich auf Danes Geburtstagsfeier war. Terry und Birthe berichteten, im "Zone" sei es sehr voll gewesen. Als Rafa auftrat, hörten sich viele Leute nur das erste Stück an und gingen dann hinüber zu "McGlutamat". Man war einhellig der Meinung, live sei die Band schlecht. Also war weniger dieses Konzert die Hauptsache an der Veranstaltung als vielmehr die 500 Liter Freibier. Les ergänzte, daß Berenice auch an diesem Tage nicht mit ins "Zone" gekommen sei. Rafa soll viel im "Zone" herumgelaufen sein. Er soll wieder seinen selbstgebastelten Papproboter auf der Bühne gehabt haben.
Am Freitag gab es im "Elizium" eine Industrial-Party. Ivo Fechtner legte auf. Saverio hatte mir sein neues Tape mitgebracht; es ist in einem Gummihandschuh verpackt. Oben ist der Handschuh mit einem Schildchen zusammengetackert.
"Wir haben eine Auflage von hundert Stück", erzählte Saverio. "Das hat vielleicht gedauert, die hundert Tapes in die Gummihandschuhe 'reinzukriegen!"
Ich bemerkte, daß Industrial- und Elektro-Tonträger sehr häufig mit medizinischen Fachwörtern, Abbildungen oder sogar Zubehör garniert werden.
"Im Industrial gibt es eben nicht mehr als drei Themenbereiche", meinte Saverio, "das Medizin-Ding, das KZ-Ding und Industrie."
Isis erzählte, sie habe Rafa Ende März in der "Halle" angesprochen.
"Er guckte mich so herablassend an und grinste dazu, das habe ich gehaßt", sagte Isis. "Er hat gefragt:
'Kenne ich dich?'
Ich habe ihm gesagt, ich kenne ihn nur mit Haare 'runter, das sieht auch viel besser und eleganter aus, und das hier sieht irgendwie klopsig aus. Rafa hat gesagt, er hätte das schon mit sechzehn so getragen."
Ein Mädchen drehte sich auf der Tanzfläche dauernd um sich selbst, so daß die langen blonden Haare wie der Schirm von einem Fliegenpilz aussahen.
"Bei der 'Gothic-Dämmerung' macht die das auch", wußte Luc, "das kann sich eine bis anderthalb Stunden hinziehen."
"Was nimmt die denn?" wollte ich wissen.
"Die nimmt nichts", erzählte Luc, "aber die, die was genommen haben, regen sich auf, weil ihnen schlecht wird, wenn sie zugucken."
Am Samstag war ich ebenfalls im "Elizium". Deva und Sandro sind inzwischen getrennt. Beryl trug ein Minikleid und halterlose Strümpfe, was sie sich früher nicht getraut hat. BMW-Fahrer Enrico hat mit Zoë Großes vor. Er behauptete, er werde Zoë "durchs Abitur schleifen". Bislang habe ich von Zoë nicht den Eindruck, daß ihr das Abitur etwas bedeutet.
Enrico glaubt, über die Menschen viel zu wissen.
"Du übernimmst gerne Menschen", sagte er zu mir. "Du herrscht gerne über Menschen."
"Wie kommst du darauf?" wollte ich wissen.
"Wenn ich dein Umfeld beobachte ...", erzählte er, "... die Leute beten dich an ..."
"Wer soll mich anbeten?"
"Guck' doch mal Roman an ... oder Zoë ... Du wirkst so selbstbewußt. Die meisten Frauen zählen mir als Erstes ihre Fehler auf. Du kommst einfach daher und sagst, also, ich bin die Hetty, und was ich sage, stimmt sowieso."
Sazar erzählte mir, Rafa habe ihm anvertraut, daß er "Deine Augen" geschrieben hat für eine Nutte, eine Schlampe, die außer ihm noch tausend andere hat. Über Berenice meinte Sazar:
"Sie ist wohl gut fürs Bett, aber sonst ist sie nichts."
"Was hat er bloß von diesen reinen Bettgeschichten?"
"Rafa muß sich selbst was beweisen, das er seinem Vater nicht mehr beweisen kann", vermutete Sazar.
"Warum fürchtet sich Rafa vor mir, was glaubst du?"
"Du willst Rafa zur Selbständigkeit erziehen", meinte Sazar, "aber die Menschen fürchten die Selbständigkeit."
Sazar nimmt an, daß Rafa die Sehnsucht nach tiefen Gefühlen verdrängt hat.
"Er ist zufrieden, aber nie wirklich glücklich", meint er. "Nur wer wirklich traurig sein kann, kann wirklich glücklich sein."
Er ist sicher, daß Rafa sich nie ändern wird.
Isis war kürzlich im "Maximum Volume". Sie hat dort auch mit Berenice geredet.
"Sie wirkte zuerst arrogant, war dann aber eigentlich ganz nett", meinte Isis.
Als ich am Freitag ins "Inferno" kam, empfing mich Hausherr Amun Hotap mit den Worten:
"Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich gesagt, die Party wird Sch... Aber wenn du da bist, dann weiß ich, die Party wird geil."
"Ach, bin ich wirklich so wichtig?" fragte ich.
Das konnte mir auch keiner so recht erklären.
Im vorderen Raum legte Cyra auf. Sie brachte ein ähnliches Programm wie im "Radiostern", darunter "Feel it in the Flesh" von Call, "Plasticity" von Front Line Assembly und "Antius" von Leæther Strip.
Kappa gab mir die CD, die er für mich gebrannt hatte. Er sagte noch einmal, die Version von "Gothic Erotic" sei nicht von Rafa, sondern von Umbra et Imago selbst. Dieses Stück sei laut Rafa nie von ihm gecovert worden.
"Von wem ist es denn dann gecovert worden?" fragte ich.
"Wir können Rafa ja nochmal darauf ansprechen", schlug Kappa vor.
"Das geht aber nur, wenn er seine Freundin abschießt", entgegnete ich.
"Ach, laß' mal", meinte Kappa, "die Nici ist echt lieb."
"Das ist mir völlig egal, mit wem Rafa zusammen ist. Für mich ist nur wichtig, daß er sie abschießt."
"Warum ist das denn wichtig?"
"Das habe ich Rafa schon einhundertundzweiunddreißigmal erklärt. Er hat ein gutes Gedächtnis, aber er vergißt, was er vergessen will. Er lügt sich in die eigene Tasche und biegt sich die Wirklichkeit so zurecht, wie es ihm paßt. Jedenfalls darf er kein einziges Wort mit mir reden, wenn er nicht solo ist."
"He - du bist sehr rigoros."
"Das muß man auch sein bei dem Kerl."
"Da läßt Rafa sich aber nicht drauf ein."
"Ich zwinge ihn ja auch nicht dazu, sich darauf einzulassen."
"Ich kenne Rafa, der läßt sich da nicht drauf ein."
"Das muß er auch nicht, ich zwinge ihn ja nicht dazu."
"Du mußt ihm den Weg ebnen", empfahl Kappa.
"Das geht aber nur, wenn er frei für mich ist."
"Nein, das geht auch anders."
"Ich unterstütze keine Seitensprünge", erklärte ich. "Oder soll ich immer nur tun, was er will?"
"Nein, aber du mußt ihm Gelegenheit geben, Gefühle zu entwickeln."
"Die sind längst entwickelt, die werden nur kräftig verdrängt."
"Wenn Rafa für dich Gefühle entwickelt hätte, wäre er doch nicht mit einer anderen zusammen. Verstehst du das?"
"Nein."
"Ahh - laß' man jetzt erstmal - müssen wir nochmal in Ruhe drüber reden ... Sind mir jetzt zu viele Leute hier ..."
"Und du bist auch schon ganz schön breit."
Das Stück "Alles bügeln", das Kappa mir gebrannt hat, ist genau die Parodie von Lacrimosas "Alles Lüge", die früher in der "Halle" gelaufen ist. Kappa weiß nicht, von wem sie stammt. Sazar behauptet, an der Entstehung beteiligt gewesen zu sein. Die anderen Musiker sollen jetzt als "Mr. President" Karriere machen.
Bei der "Gothic Erotic"-Version, die Kappa mir gebrannt hat, handelt es sich lediglich um einen Live-Mitschnitt von einem Konzert von Umbra et Imago. Die Parodie, die Rafa damals im "Exil" gespielt hat, ist nach wie vor verschollen.
Am Samstag kam Rikka mit uns in den "Radiostern". Seth ist aus Rikkas Wohnung verschwunden, was für Rikka eine gewisse Erleichterung bedeutet. Sie hatte sich mit Seth nur noch herumgestritten. Als ich ihn in der Stadt traf, wirkte er schüchtern und unsicher auf mich, und er hatte keine klaren Zukunftspläne. Er wohnt jetzt wieder bei seinen Eltern.
Für den "Radiostern" hatte ich mein neues Kleid aus Plastikfolie angezogen, mit elastischen Trägern, U-Boot-Ausschnitt, Tutu und Schärpe. Die Folie ist mit einem weißen Netz beklebt. So sieht das Ganze ein bißchen wie Tüll aus. Unter dem Kleid hatte ich ein weißes Bustier und ein kurzes weißes Radlerhöschen an. Ich trug Gummischmuck mit Metallteilchen. Die Nähte des Kleides leuchten im Schwarzlicht, und die weiße Strumpfhose leuchtet ganz besonders. Den Leuten gefiel der Aufzug wohl auch ganz gut:
"Gewagt, aber steht dir." - "Mal was ganz Ungewöhnliches." - "Gibt's auch nicht überall."
Das Kleid hat Svenson gemacht. Es soll als Filmgarderobe dienen. Obwohl es sehr empfindlich ist, kann ich darin tanzen.

Ein Traum handelte von zwei Straßenbahnen. In der einen fuhr ich, geradeaus. Es war eine grau gestrichene Bahn. Von rechts kam eine andere, grellbunt gestrichene Bahn, die kreuzte vor mir die Schienen und fuhr dann in der Gegenrichtung an mir vorbei. Diese Bahn wurde von Rafa gefahren. Den grellbunten Anstrich empfand ich als abstoßend und aufdringlich.

Es kann sein, daß dieser Traum auf meine Abscheu vor der seichten, grellen Musik anspielt, die Rafa bevorzugt. Ich erlebe diese oberflächliche Musik als Angriff gegen mich, ebenso wie die oberflächlichen Freundinnen, die Rafa mir vorzieht. Das Lebenskonzept von Rafa kann man beschreiben als Absage an die Wahrhaftigkeit und die emotionale Tiefe.
Mitte Mai legte Glen aus BS. in "Halle 1" auf. Berenice stand hinter der Theke und bediente, Rafa sah ich nirgends.
Malda war mit Ivo Fechtner da, ist aber ihren Angaben zufolge nicht wieder mit ihm zusammengekommen, und sie will das auch nicht. Berit erzählte, Yasmin gehe überhaupt nirgends mehr hin, seit sie, Berit, nichts mehr mit ihr zu tun haben wolle. Enrico weiß nicht so recht, was er von Zoë eigentlich noch will, da er mit ihr vor seinen Geschäftsfreunden nicht angeben könne. Schließlich arbeite sie nur in einer Videothek, und seine ehrgeizigen Bemühungen, sie "durchs Abitur zu schleifen", scheinen nicht auf fruchtbaren Boden zu fallen. Trotzdem will er mit Zoë zusammenziehen.
Rory fragte mich, was ich an Rafa eigentlich so besonders fände.
"Er löst in mir ein ganz besonderes Gefühl aus, das ich immer gesucht habe und das nur er alleine auslösen kann", erklärte ich. "Damit ist klar, daß es für mich keinen anderen gibt als nur ihn."
"Und was ist, wenn es nicht klappt?"
"Dann bleibe ich alleine."
"Könntest du dir denn nicht vorstellen, mit einem zusammenzugehen, für den du nicht ganz soviel empfindest?"
"Nein, ich liebe doch Rafa. Ich würde den anderen doch nur enttäuschen."
"Das muß für Yodo echt hart gewesen sein, als er bei dir die ganzen Bilder von Rafa gesehen hat."
"Warum, war der denn so hinter mir her?"
"Der ist doch nur wegen dir ins 'Elizium' gegangen."
"Wenn Yodo mich nicht nur verehrt, sondern wirklich als Mensch wahrgenommen hätte, dann hätte er auch gemerkt, daß ich ganz anders bin als er und daß ich gar nicht zu ihm passe", meinte ich. "Ich hätte ihm nicht viel geben können. Er hätte von mir nicht viel gehabt. Der soll man schön mit seiner Verlobten glücklich werden."
"Mir kommt das mit der Verlobten reichlich merkwürdig vor."
"Wie ein Notnagel?"
"Ja."
Constri hat eine Fotoserie über Ciril fertiggestellt. Es sind lauter Schwarz-Weiß-Bilder, auf denen Ciril eindrucksvoll mit seinen Kunstwerken verschmilzt. Er sitzt und schaut wie ein Embryo, und er ähnelt sehr den embryohaften Gestalten auf seinen Bildern. Wenn ich dieses Einswerden sehe, fühle ich mich bestärkt in der Ansicht, daß Ciril ein Ausnahmekünstler ist, ein Genie. Abgesehen davon halte ich Constri sowieso für genial.
Als Terry ihren Geburtstag feierte, fuhren wir zu ihr hinaus aufs Land. Sie hatte die Party liebevoll ausgerichtet, mit Bowle, Buffet und hausgemachtem Honigwein. Auf der Party war auch ein Baustoffhändler zu Gast. Ich hörte nebenbei mit, wie er sich in Schwärmereien überschlug:
"Hetty kennst du aus Millionen von Menschen heraus, der Tanzstil ist einmalig. Eine halbe Ballettschule und dazu Industrial-Musik."
Und so weiter.
Ich unterhielt mich währenddessen mit Beryl über die Möglichkeiten, die eine Website bietet.
"Rafa präsentiert seine Fassade", sagte ich, "und ich präsentiere das, was dahinter ist. Ich hindere ihn am Vergessen und Verdrängen. Ich zwinge ihn dazu, sich der Vergangenheit und den Gefühlen von mir auszusetzen. Er muß alles kennen, was ich über ihn schreibe, denn er kann nicht zulassen, daß andere etwas über ihn lesen, das er selbst nicht kennt."
"Ihr seid wie zwei Panther, die umeinander herumschleichen", sagte Beryl.
Constri inszenierte mit den Partygästen eine Talkrunde. Sie hatte sich die Haare ein Stück abschneiden und hochkringeln lassen und spazierte nun in ihren Kostümjäckchen herum und spielte die Talkmasterin. Jeder mußte gnadenlos zu irgendeinem Thema Stellung nehmen.
Ende Mai sah ich im "Elizium" auf der Galerie beim DJ-Pult Seraf und Berenice an einem Tisch sitzen. Er war sehr charmant zu ihr. Von Rafa war nichts zu sehen. Ich klopfte Seraf auf die Schulter, und wir begrüßten uns. Ein längeres Gespräch war nicht machbar, also erfuhr ich nicht, ob Seraf mit Berenice zarte Bande knüpft. Für mich wäre das eine Erleichterung, für Chantal eine Katastrophe. Sarolyn hatte übrigens den Eindruck, daß Berenice nicht eben gute Laune hatte. Berenice wirkt aber ohnehin nie besonders lebendig.



Als es wieder ein Abendessen bei Merle gab, erzählte Onno beeindruckt, daß Enrico immer zwanzig Frauen um sich herum habe, die alle mit ihm ins Bett wollten. Constri und ich hatten diesen Haufen Frauen noch nicht gesehen, und ich erkundigte mich, ob dieser Haufen vielleicht im "Adam & Eva" zu finden sei, der bekanntesten "Abschlepperkneipe" von H. Onno entgegnete pikiert, das "Adam & Eva" sei keine "Abschlepperkneipe", und für mich würde sich ja überhaupt kein Mann interessieren, noch nicht einmal ein halber.
Constri, Sarolyn und Rory berichtigten, sie würden durchaus einige kennen, die sich für mich interessierten, und Dane meinte, Onnos Spruch sei ganz allgemein "ziemlich Sch..., weil es eine Beleidigung ist".
Onno steigerte sich wie gewohnt in irgendwelche Gesprächsinhalte hinein und begann, eine Art Volksrede zu halten. Ihm hörte aber niemand so richtig zu. Ich fragte ihn, warum er denn noch nicht Politiker geworden sei, wo er doch so einfühlsam auf Menschen zugehen könne und imstande sei, sie in ihren Bann zu ziehen. Dane mußte kichern.
Für die "Halle" hatte ich ein ausgeschnittenes Glitzeroberteil angezogen, mein schwarzseidenes Tutu und eine Glitzerstrumpfhose. Am Eingang stand Rafa, mit Lokomotivführer-Mütze und Uniformjacke, wild gestikulierend und auf ein Grüppchen von Leuten einredend. Als ich herankam und mich in die Schlange an der Kasse stellte, rief er den Leuten noch rasch irgendetwas zu und ging nach drinnen. In der "Halle" war Rafa zuerst oben bei Kappa und begrüßte ihn umfangreich. Kappa umarmte Rafa zärtlich. Dann ging Rafa aufs Bühnenpodest und setzte sich gegenüber von Dolf an einen Tisch. Rafa saß so, daß ich sein Gesicht sehen konnte. Es war nicht eindeutig erkennbar, ob Rafa mich ebenfalls beobachtete. Er redete auf Dolf ein, weiterhin wild gestikulierend und theatralisch.
Kappa legte auf, und das halbwegs gut. Er spielte unter anderem "Is it you" von :wumpscut: und "Das geht tief" von Joachim Witt.
Für einige Zeit stellte Rafa sich an die Bar, und ich konnte ihn dort kaum sehen. Berenice bediente. Ich konnte nicht erkennen, ob Rafa sich mit ihr unterhielt. Später waren Rafa und Dolf beide oben auf dem DJ-Balkon. Sie plapperten und schnatterten. Es fällt schon sehr auf, daß Rafa viel wilder und ausgreifender redet als die anderen. Sarolyn vermutet, daß er glaubt, daß ihm sonst niemand zuhört.
Seraf war auch in der "Halle". Ich sprach ihn auf Berenice nicht an, und ich weiß auch nicht, auf welche Art er zu ihr Kontakt aufnahm.
Rafa kündigte durchs Mikrophon "Die Flut" von Joachim Witt und Wolfsheim-Sänger Heppner an, das er zum "Stück des Jahres" kürte. Es gefällt mir; es ist eine hübsche, etwas melancholische Ballade.
Während Rafa sich mit Kappa unterhielt, streckte er zweimal kurz hintereinander den rechten Arm aus, mit einer Schwurhand, in meine Richtung. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was diese heftige Geste bedeuten sollte. Kappa überließ Rafa wenig später das DJ-Pult und ging weg. Die Musik fand ich nun ziemlich seicht. Nach jedem Stück sagte Rafa irgendetwas durchs Mikrophon. Berenice kam zu Rafa auf den Balkon, und die beiden küßten und umarmten sich. Ich wollte eigentlich sofort gehen, aber Sarolyn, Rory und Merle waren mit mir im Auto gekommen, und ich wollte ihnen noch etwas Zeit lassen. Ich hörte auf, Rafa anzuschauen und blieb nur regungslos am Tisch stehen.
"Ich habe soviel Energie in mir, so viele Aggressionen", sagte ich zu Sarolyn, "und ich weiß nicht, wie ich diese Energie nutzen kann, um mein Schicksal zu beeinflussen."
Sarolyn meinte, Rafa würde bestimmt nicht mit Berenice Schluß machen, wenn ich nicht um ihn kämpfen würde. Ich wollte wissen, was ich denn tun könnte, um wirklich etwas zu verändern. Sarolyn schlug vor, ich könnte Rafa doch wenigstens "Hallo" sagen.
"Dann sagt er auch 'Hallo', und das war's", meinte ich. "Er glaubt dann, ich laufe ihm hinterher. Außerdem halte ich mich dann nicht an die Grenzen, die ich ihm gesetzt habe. Wenn ich eine freundschaftliche Beziehung mit ihm anknüpfe, müßte ich seine Freundin akzeptieren, und das werde ich niemalstun."
"Aber er muß doch erfahren, daß du etwas von ihm willst. Er muß doch Gefühle entwickeln können."
"Das ist doch alles schon passiert. Er hat diese Gefühle nicht gewollt. Und er hat mir meine Liebe niemals geglaubt."
Sarolyn hatte auch noch die Idee, ich könnte Rafa anonyme Briefe schreiben, als Fanbrief getarnt. Ich erzählte ihr, daß Rafa auf diesem Niveau schon aktiv war, als er bei mir anonym angerufen hat.
"Rafa merkt, von wem es kommt", meinte ich, "weil er selbst auch sowas macht. Das hat keinen Sinn. Ich habe ihn ja auch erkannt, als er beim Telefonieren Anwar vorgeschickt hat."
Wir verließen die "Halle" nach etwa einer halben Stunde. Ich sah mich nicht mehr nach Rafa um.

Im Traum weinte ich, und es war sehr kalt, so daß ich mich warm anziehen mußte. In Wirklichkeit ist das Wetter recht lau.

Mir fällt also noch nicht einmal im Traum ein, was ich tun kann, um mein Leben zu retten. Ich muß mir überlegen, was ich noch schaffen will, bevor ich sterbe und welche Pflichten ich noch erfüllen muß.

In einem Traum hatte ich einen gefährlichen und schwierigen Weg zu gehen, den ich obendrein noch selbst suchen mußte. Ich hatte nur wenig Zeit zur Verfügung. Ich kam durch einen Keller mit Betonwänden und einer sehr hohen Decke, ein weitläufiger unterirdischer Schacht. Die Treppen, die an der Wand nach oben zu den Ausgängen führten, wurden gerade erneuert und waren deshalb weggeklopft worden. Man sah nur noch die Reste von einzelnen Stufen aus der Wand ragen. Ich fand schließlich eine stählerne Feuerleiter, die sich schon gelockert hatte. Ich kletterte waghalsig diese Leiter hinauf, bis zu dem Ausgang am oberen Ende. Die Leiter reichte nicht ganz. Ich mußte mich über dem Abgrund schwebend an einer Stange halten und mich dann durch die Öffnung schwingen. Die Stange war dick und auch sehr glatt, so daß ich leicht abrutschen konnte. Ich dachte, mich würden die Kräfte verlassen. Es reichte aber doch. Ich streckte die Beine durch die Öffnung, und von draußen kamen Leute, die mir halfen. Ich mußte mich an sie hängen und mich dann zu einer bestimmten Seite fallen lassen. Daran entschied sich, ob ich doch noch abstürzte oder auf der rettenden Erde landete. Ich hatte aber die Verhältnisse richtig eingeschätzt, obwohl ich kopfüber hing, und ich kam in Sicherheit. Zu uns gesellte sich sogleich der "Rückschläger", den keiner leiden konnte. Ich streifte ihn bei meiner Rettung aus Versehen mit meiner Hand, und er schlug fünfmal zurück, mit einer zwanghaften Genauigkeit. Als ich ihn wegschubste, bevor er mit seinem fünften Schlag fertig war, wiederholte er das Ritual. Er konnte einfach nichts auf sich sitzen lassen und schien besessen von einer rasenden Vergeltungswut. Er fühlte sich auch dann gekränkt, wenn die anderen keine Schuld traf. Ansonsten war der "Rückschläger" ein haarloses, farbloses Geschöpf, das sich durch nichts auszeichnete als durch seine Aggressivität. Man konnte ihn als "wandelnde Eigenschaft" bezeichnen. Er schlug und störte unentwegt. Ich fühlte Mordgelüste in mir hochsteigen, ein Gefühl, dessen ich mich bislang nicht für fähig gehalten hatte.

Bei dem gefährlichen, schwierigen, kräftezehrenden Weg, den ich in einer begrenzten Zeit bewältigen muß, handelt es sich sehr wahrscheinlich um meinen Weg zu Rafa, die für mich größte Belastung und die größte Gefahr für mein Leben. Der Traum sagt mir, daß ich nicht nur Erfindungsreichtum und Mut besitze, sondern auch genügend Kraft und Durchhaltevermögen. Außerdem habe ich das Glück, einen Ausweg zu entdecken, wo es eigentlich keinen gibt, und am anderen Ende finde ich Menschen, die mir helfen. Schließlich rettet mich meine Fähigkeit, mich auf andere zu verlassen und meine Lage richtig einzuschätzen.
Ich werde gleich nach meiner Rettung angegriffen von jemandem, der sich an mir rächen will, für etwas, an dem ich keine Schuld habe. Die außerordentliche Aggressivität und das zwanghafte Racheritual, die bei mir Mordgelüste hervorrufen, erinnern mich an meine unermeßlichen Aggressionen Rafa gegenüber. Ich habe den Verdacht, daß er sich an mir rächen will und mich deshalb mit Absicht quält. Es könnte sein, daß er nicht hinnehmen kann, daß ich ihm Gespräche verweigere. Er fühlt sich völlig im Recht, auch wenn er selbst verschuldet hat, daß ich mich von ihm abwende. Er kann nicht nachvollziehen, daß andere Menschen auch verletzbar sind, nicht nur er selber.
Die übermächtigen Aggressionen, die ich in mir fühle, könnten eine Antwort auf die Aggressionen von Rafa sein. Rafa kann beobachten, wieviele Menschen unbefangen mit mir umgehen dürfen und von mir Zuwendung bekommen, nur er muß sich an bestimmte Regeln halten, damit ich ihn an mich heranlasse. Er wird ausgeschlossen, er darf nicht mitmachen, nicht dazugehören. Er fordert ein, daß ich ihm dasselbe zukommen lasse wie den anderen, ohne daß er sich deshalb an irgendwelche Regeln halten muß.
Velvet hat Saara erzählt, Rafa habe Berenice mal geschlagen. Das will auch Berit irgendwo gehört haben, und auch Hoffi soll das erzählen. Rafa soll recht aggressiv sein und auch seine vorherigen Freundinnen geschlagen haben. Das paßt zu der aggressiven Figur im Traum.
Velvet hat von einer Domina namens "Baronin" erzählt, die Lessa als Zofe und Aimée als Sklavin eingestellt haben soll. Aimée und Lessa hatten Velvet gegenüber behauptet, als Dominas zu arbeiten, und dies fand Velvet nun widerlegt. Die "Baronin" soll grundsätzlich keine "Baroninnen" ausbilden, weil sie keine Konkurrentinnen züchten will.
Lessa und Aimée sollen für jede Stunde 300,- DM bekommen.
Saara kramte noch ein bißchen in der Vergangenheit. Sie erinnerte sich daran, daß Rafa mal in der "Halle" auf sie zukam und mit ihr trinken wollte. Sie fertigte ihn damals mit frechen Sprüchen ab.
Als Rafa sie vor zweieinhalb Jahren zu seinem Geburtstag einlud, warnte sie ihn vor:
"Ich komme aber nicht allein."
"Mit wem kommst du denn?"
"Mit Hetty."
Er war einverstanden, und wir besuchten ihn. Rafa hat damals also schon vorher gewußt, daß ich mitkommen würde.
Einmal soll Rafa Lara dazu überredet haben, mit Anwar nackt über den Friedhof zu rennen. Vielleicht war diese Performance als Abwechslung für Rafas verstorbenen Vater gedacht.
Als ich Anfang Juni im "Zone" war, sprach währenddessen - also mitten in der Nacht - eine Männerstimme auf meinen Anrufbeantworter nach einer anfänglichen Pause von etwa drei Sekunden ein hauchiges:
"Hal-lo?"
Dann folgte noch eine Pause von ungefähr drei Sekunden, und es wurde aufgelegt.
Die Stimme des Anrufers konnte ich nicht zuordnen.
Mitte Juni war ich nachmittags bei Siddra und trank mit ihr und Malda Kaffee. Malda bezeichnet mich neuerdings als "Frau Gummibein", weil ich mich so mühelos bewegen würde.
Zur Zeit ist Malda viel auf Mittelalter-Märkten anzutreffen. Mit dem Sadomasochismus hat sie es gar nicht mehr so. Sie näht sich lieber satinumspannte Hüte und weite Samtkleider.
Siddra verkaufte mir ein hübsches Kleid, sehr zierlich, mit Kastenausschnitt, Samtoberteil, hoher Taille und einem glitzernden Rock.
Als ich Siddra fragte, ob sie auch einmal davon gehört habe, daß Rafa seine Freundinnen schlägt, dachte sie ein Weilchen nach, dann fiel ihr wieder etwas ein:
Rafa soll vor ungefähr sechs Jahren im "Fall" vor Luisas Augen ein Mädchen umgarnt und später auch noch mit nach SHG. genommen haben. Er saß eingerahmt von beiden Mädchen auf der Rückbank. Vor seinem Hause angekommen, stieg er mit dem fremden Mädchen aus und sagte seiner Freundin Luisa "Gute Nacht". Nun endlich beschwerte sich Luisa über Rafas Verhalten.
"Halt's Maul!" rief er da und schlug sie ins Gesicht. "Das geht dich gar nichts an!"
Falls Rafa mir gegenüber ein solches Verhalten zeigen würde, würde ich Abstand suchen und mich nicht mehr um ihn kümmern. Falls er sich wieder bei mir melden sollte, bekäme er von mir die Auflage, sich zu überlegen, wie er sein Verhalten gutzumachen gedenke. Wäre mir seine Buße nicht ausreichend, müßte er bis auf Weiteres darauf verzichten, mich zu sehen.
Im "Untergang" traf ich Charlene, die mit Jason in die Nähe von K. gezogen ist. Sie erzählte, im "Fall" gehe es mittlerweile nur noch um die Frage, wer am nacktesten sei. Eine Frauensperson, deren Figur schon etwas aus den Fugen geraten war, soll dort nichts weiter getragen haben als ein Lackmieder, Schuhe und ein baumelndes Intimpiercing.
"Da fehlt bloß noch der Tampon mit Zierbommel", meinte ich, "da könnte man ein Schild dranhängen: 'Rutschgefahr!'"
Man könnte auch ein Schild nehmen mit der Aufschrift: "Gewerblicher Verkehr frei!" ... oder: "Keine Wendemöglichkeit für LKW!" ... oder das Schild für "Sackgasse".
Mitte Juni war ich mit Constri, Clara und Ray in HH. im "Megamarkt", wo Winterkälte auftraten. Nach dem Konzert gab es noch Tanz mit Musik von Atrox, Haus Arafna, Sonar, Ars Moriendi ...
Um drei Uhr nachts frühstückten wir in einer Raststätte. Im Fernsehen lief gerade eine Comedy-Sendung. Darin wurde der "Senioren-Wildpark" vorgestellt. Dort könne man "Senioren in ihrer natürlichen Umgebung" beobachten. Wenn man Essen von der Stadtküche in die Büsche warf, kamen schon bald die ersten Senioren aus ihren Verstecken. Neben dem Kriegsversehrten-Gehege gab es eine Streichelwiese. Dort durften die Kinder sich darüber freuen, Oma und Opa zu haben, denen sie die Krücken wegnehmen oder den Rollstuhl umwerfen konnten.
Sozialkritische Elemente - wie dieser Sketch über den Umgang der Gesellschaft mit Senioren - finden sich meistens nur in den frühen Folgen von Comedy-Sendungen. Fast alle Comedies verbrauchen sich leider relativ schnell und werden albern und flach.
Während wir in HH. waren, war Berit in der "Halle". Rafa soll ab und zu aufgelegt haben. In der letzten Zeit wird Berit wieder von Rafa gegrüßt. Einmal soll er sich sogar vergewissert haben, daß sie ihn auch gesehen hatte.
Was gegenwärtig zwischen Rafa und Berenice abläuft, ist nicht bekannt; ein Mädchen erzählte Berit, Rafa habe Berenice mal geschlagen. Berit meinte, sie könne sich das von Rafa gar nicht vorstellen.

In einem Traum war ich in der "Halle". Rafa kam mehrfach dicht an mich heran, mit dem Rücken zu mir gewandt. Jedesmal fuhr ich mit einer Hand an seinem Rücken hinunter. Als er einmal für längere Zeit bei mir stehen blieb, legte ich meine Hand auf seinen Rücken und ließ sie da.
"Er müßte es merken", dachte ich. "Es kann eigentlich nicht sein, daß er es nicht merkt."
Seine Freundin hatte ich völlig vergessen; sie zählte nichts.
Rafa drehte sich schließlich ein wenig zu mir um und lächelte sein scheues Lächeln. Ich nahm seine Hand, und er wehrte sich nicht - auch nicht, als ich die Hand zu streicheln begann. Er wollte wissen, weshalb ich das tat.
"Ich liebe dich", erklärte ich.
"Aber jetzt sind das doch schon fünf Jahre."
"Ja, ich liebe dich seit fünf Jahren", bestätigte ich. "Und - es klingt merkwürdig, und man kann es eigentlich auch nicht nachvollziehen - ich fühle mich auch von dir geliebt. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle mich von dir geliebt."

Ist das alles nur Einbildung? Ist zwischen Rafa und mir wirklich nichts, nichts, Staub und Asche?
Am Freitag erzählte Isis mir in der "Halle", vor zwei Tagen habe Rafa im "Maximum Volume" aufgelegt. Er soll sehr viel mit Berenice geknutscht haben. Berenice soll andauernd bei ihm "herumhängen".
"Dem Rafa kann sein Leben nicht viel bedeuten, wenn er es mit dieser Person vergeudet", sagte ich zu Emily.
Am Mittwoch beklagte Sazar im "Zone" die Zustände im "Elizium". Dort würden so viele Intrigen laufen, daß er gar nicht mehr gerne hinginge. Ich sei vor solchen Intrigen wahrscheinlich auch deshalb geschützt, weil es über mich nicht viel zu intrigieren gebe. Man könne mir kein Verhältnis nachsagen. Mein Nachteil bestünde lediglich darin, daß die Leute mich für verrückt hielten und der Ansicht seien, ich würde Rafa hinterherlaufen.
Sazar fragte uns, was wohl ein handloser Skatbruder sagt?
"Mischen impossible."
Am 26.06. klingelte abends um viertel vor zehn das Telefon, nur ein halbes Mal.
Onno hat seinen Geburtstag dieses Jahr eigentlich gemeinsam mit Enrico feiern wollen. Es kam dann aber doch etwas anders.
Enrico hatte für die Party ursprünglich die Räume der Firma verwenden wollen, wo er arbeitet. Aus wie auch immer gearteten Gründen standen diese Räume aber letztlich nicht zur Verfügung. Also fand die Feier - wie sonst auch - bei Onno zu Hause statt. Enrico kündigte an,daß man mit siebzig Gästen rechnen müsse, da er viele Bekannte habe. Aus diesen siebzig wurden später fünfzig, und am Ende waren zwanzig Leute bei Onno, und das waren nur Onnos eigene Freunde und Berkannte. Enrico, der ziemlich spät zu der Party kam, brachte überhaupt keine Leute mit außer einem Mädchen aus dem "Adam & Eva", noch eines aus dem "Adam & Eva" und eines, das mit den anderen befreundet war. Vielleicht kam Enrico deshalb so spät, weil er die Mädchen im "Adam & Eva" noch schnell hatte aufgabeln müssen.
"Sind das alle von Enrico?" wunderte sich Sarolyn. "Er wollte doch so viele Leute einladen."
"Sind ja auch zweieinhalb da", meinte ich.
Enrico war zusammen mit diesen Gästen für ingesamt etwa zwanzig Minuten anwesend, und als er ging, nahm er nicht einmal seine Geschenke mit; die gaben wir dann Onno und Revil.
Am nächsten Tag erschien Enrico bei Zoë in der Videothek und erzählte laut, so daß es jeder Kunde hören konnte:
"Ich habe gestern Codein genommen und konnte drei Stunden, ohne zu kommen!"
Im Übrigen soll Enrico nach wie vor einen BMW und keineswegs einen Porsche fahren. Als er mit Zoë einmal zum "Zone" unterwegs war, soll er auf die Landstraße nach HF. gezeigt haben und behauptet haben, diese Straße werde er einmal erben. Zoë wies ihn darauf hin, daß man eine öffentliche Straße nicht erben könne.
"Na, aber die Häuser daran", berichtigte Enrico. "Diese Häuser werden einmal mir gehören."
Hier stellt sich die Frage, inwiefern Enrico selbst an das glaubt, was er erzählt. Und für mich stellt sich im Besonderen die Frage nach der Diagnose. Ich sehe hier eine narzißtische Störung mit Größenideen, die vielleicht Übergänge ins Wahnhafte haben.
Im "Inferno" sagte Amun Hotap zu mir:
"W.E ist out. Die sind zu oft aufgetreten, ohne dabei was Neues zu bringen. Ich habe schon gesagt, Rafa, mache dich rar, tritt nicht so oft auf. Da hat er gesagt:
'Aber wir haben doch Kosten!'
Das ist aber die falsche Einstellung."
Am 03.07. klingelte morgens um zehn vor halb neun einmal das Telefon. Ich nahm ab, am anderen Ende der Leitung herrschte Stille.
Constri hat eine Betonplattform am Kanal entdeckt, wo man gute Aufnahmen machen kann, sowohl stehende als auch bewegte Bilder. Wir sind seither mit dieser Baustelle beschäftigt. Ich werde in dem Plastikkleid verewigt. Constri meinte, erstmals würde sie sich von einem Drehort zu einem Film inspirieren lassen und nicht alles von vornherein planen. Ich bestärkte sie in dieser Arbeitsweise.
"Du bist dann schneller und effektiver", meinte ich. "Du hast mehr Output."
Im "Elizium" erzählte Saverio von seiner aktuellen Box, einem liebevoll gestalteten Plastikzylinder aus einem zurechtgeschnittenen grauen Rohr, verschlossen mit Drahtgittern. In dem Zylinder stecken ein Tape und ein Booklet voller schauerlicher KZ-Bilder. Saverio möchte den Zylinder veröffentlichen.
Andras machte Sprüche.
"Du bist mit 'Vizir Ultra' gewaschen", sagte er zu mir. "Deine Tanzkraft macht dich unschlagbar."
Zoë soll etwas angestellt haben. Sie fragte Sarolyn, die neben ihrem Freund Rory stand, ob sie die drei Jungen hübsch fände, die in der Nähe standen.
"Na, sie sehen nicht schlecht aus", meinte Sarolyn.
Da soll Zoë nichts Besseres zu tun gehabt haben, als zu diesen Jungen hinzugehen und ihnen mitzuteilen:
"Sarolyn findet euch hübsch."
Lillien hat erzählt, Rafa habe Mitte Juli im "Inferno" aufgelegt, dort sei aber schnell nichts mehr los gewesen, und sie habe Rafa in der "Halle" gesehen. Er soll hochgestellte Haare getragen haben und eine schwarzgoldene Brokatjacke. Kappa soll sich über Rafas Erscheinen sichtlich gefreut haben und ihn wild umarmt haben. Meistens soll Rafa bei Kappa auf dem DJ-Balkon gewesen sein. Einmal ging Rafa an Lillien vorbei, in seinem gewohnten forschen Schritt. Lillien sah Rafa auch mit einem Mädchen, aber welches das war, wußte sie nicht.
Bei meiner nächsten Fahrt ins "Zone" kamen Yvette und Sazar wieder mit.
"Falls du dich mal fortpflanzt", sagte Sazar zu mir, "ich meine, du wirst dich ja eh nur mit einem fortpflanzen - das Kind wird die Härte sein! Diese Kombination aus blasierter Arroganz und einer relativen Zugewandtheit zu den Menschen, die aber nur einem Menschen gilt, diese Kompromißlosigkeit ..."
"Das Kind wird wahrscheinlich früh sprechen."
"Das wird sagen: 'Papa, geh' weg, du bist häßlich.'"
Wen man auch auf Rafa anspricht ...
"Der hat eine Klatsche", sagt Bertine. "Was willst du mit dem bloß?"
"Der hat einen Schaden", sagt Chantal.
"Muß ich nicht haben", sagt Berit.
"Muß ich nicht haben", sagt Terry.
"Ist mir nicht sympathisch", sagt Talis.
"Ich mag dem seine Art nicht", sagt Emily.
"Ich mag beide nicht, Rafa nicht und Berenice auch nicht", sagt Isis.
"Er ist so ein lieber Kerl", sagt Kappa, "aber völlig durch den Wind."
"Er ist einer meiner besten Freunde", sagt Hoffi, der seinerseits nicht für voll genommen wird.
Dolf ist von Rafas Vertrauenswürdigkeit überzeugt:
"Wenn der das sagt, dann macht der das."
Wie er zu einer solchen Einschätzung kommt, ist mir unklar, zumal Rafa für seine Unzuverlässigkeit bekannt ist.
Im "Zone" erzählte Les, er habe schon vor Jahren gehört, Rafa würde seine Freundinnen schlagen.
Sazar erzählte, daß bei der "Baronin" in der Tat keine "Baroninnen" beschäftigt würden, von daher sei es durchaus möglich, daß Lessa dort als Zofe und Aimée als Sklavin arbeite.
"Aiméee!" spielte Sazar die Domina. "Der Typ hat vorhin aus Versehen auf den Boden abgespritzt, mach' das mal weg! - Aiméee! Mit der Zun-ge! Mit der Zun-ge! ... Aiméee, da ist noch voll die Bremsspur im Klo, mach' das mal weg! Du weißt ja - mit der Zunge!"

Kürzlich habe ich geträumt, ich sollte Dolfs Aufgabe übernehmen und PR für Rafa machen und für ihn Auftritte organisieren. Ich stellte fest, daß mir die dafür erforderliche Unterwürfigkeit fehlte.

In einem anderen Traum habe ich dabei zugesehen, wie Menschen mit abstoßender Grausamkeit hingerichtet wurden, indem man Nägel durch ihre Köpfe trieb. Die Opfer saßen nur da und wehrten sich nicht.

In dem folgenden Traum - zwischendurch war ich kurz wach - ging ich mit dem Henker in die Stadt zum Einkaufen. Diese zynische Mischung aus maßloser Brutalität und alltäglicher Kurzweil ist von meiner Wirklichkeit gar nicht so weit entfernt.

Anfang August fuhr ich mit Sazar, seiner neuen Freundin Argia und einer seiner Bekannten namens June ins "Zone". Die drei kamen abends zu mir und brachten eine Flasche Puschkin Red mit. Die Flasche fiel auf den Boden, und die Gäste veranstalteten ein großes Aufwischen. Ich sagte, ich hätte noch eine halbe Flasche Wodka da. Sazar entgegnete, die brauche er nicht:
"Reserve hab' ich sowieso."
Und er zog eine ganze Flasche Wodka hervor.
Beim Trinken gab er eine Geschichte zum Besten:
Er war einmal in einem Mietshaus, wo man öfters eindeutige Geräusche aus dem darüberliegenden Geschoß hörte. Ihm fiel auf, daß zwischendurch jemand "Cut!" schrie und daß dann stets die Geräusche aufhörten. Langsam dämmerte ihm, daß hier Pornofilme gedreht wurden.
Als Argia im Bad war, legte Sazar den Arm um June und fragte sie:
"Na, morgen früh poppen?"
"Mensch, du hast doch eine Freundin", raunte sie ihm zu, peinlich berührt.
Auf der Rückfahrt fragte ich Sazar, ob ich ihn und die beiden Mädchen bei ihm zu Hause absetzen könnte.
"Nein", erwiderte er, "Argia muß nach Hause, in meinem Bett ist nur Platz für zwei."
Es wunderte mich sehr, daß Argia nichts dazu sagte. Entweder liegt es daran, daß sie eben erst volljährig geworden ist und sich nicht vorstellen kann, daß Sazar wirklich abgebrüht genug ist, sie zu betrügen und ihr gegenüber das sogar noch anzudeuten - oder es liegt daran, daß es sie gar nicht weiter stört, wenn er sie betrügt, da er ihr nicht sonderlich viel bedeutet.
Am 06.08. klingelte frühmorgens das Telefon, ich wachte auf, machte Licht, da war es verstummt.
Als Saara bei mir zum Kaffee war, erblickte sie ein sehr schräges Kunstwerk, das ich eben erst aufgehängt hatte. Ich habe es von Folter und Erdnußkopf bekommen. Es ist ein Computerausdruck in einem kitschig-silbernen Rahmen. Auf einer weißen Fläche sieht man in stilvoll verschnörkelten Buchstaben das Un-Wort "f...en", Folters Lieblingswort, das er ohne Bezug von sich zu geben pflegt. Ich werde nie die Szene vergessen, wie ich einmal nachts um zwei aus einem Taxi stieg und über die menschenleere Straße der Ruf hallte:
"F...en! F...en!"
Ich drehte mich um und sah Folter im Hauseingang stehen, der mich schon erwartete.
Saara hat sich von diesen Geschichten anstecken lassen und sagte während des Kaffeetrinkens öfter mal so zwischendurch:
"F...en."
Wir saßen auf dem Balkon, in eleganten, figurbetonenden schwarzen Sommersachen, und futterten Mokka-Sahne-Schokoladenstückchen, eine Vorliebe, die bislang ohne Folgen geblieben ist. Saara wußte wieder einmal alles Mögliche - etwa, daß Aimée schwanger sein soll und mit ihrer Puffmutter abgesprochen hat, daß sie auch in diesem Zustand noch arbeitet, weil manche Freier darauf stehen.
Im "Radiostern" gab ich Cyra Dereks neue CD. Cyra war von "No Control" ebenso begeistert wie ich, und auch die Leute waren es; sie tanzten zu dem Stück, als würden sie es schon lange kennen, und es wäre das Allerselbstverständlichste.
Cyra erreichte, daß die Leute in die industriellen Rhythmen hineingezogen wurden wie bei rituellen Tänzen. Unter anderem liefen "Tentack (live)" von Imminent Starvation und "Wumpsex" von :wumpscut:.
Terry, Berit und Tibera trugen Lack und Netz. Sie hielten im "Radiostern" eine Art Kaffeeklatsch. Tibera wollte von mir wissen, ob ich eine Ballettausbildung hätte. Ich erzählte ihr, daß ich als Teenager das mal gemacht habe.
"Das sieht man", meinte Tibera. "Echt, jeder, dem ich sage, wie du heißt, sagt:
'Wir haben sie immer nur 'die Ballerina' genannt.'
Für mich warst du zuerst auch nur die Ballerina."
Reesli beklagte sich, er sehe hier einfach keine Frauen.
"Du bist da, immerhin etwas, aber du willst mich ja nicht", sagte er zu mir, "und ich biete mich immer nur einmal an, nie zweimal."
"Das ist richtig", bestärkte ich ihn. "Man hat als Mensch ja auch seinen Stolz. Man muß auf die Suche gehen nach jemandem, der wirklich zu einem paßt."
Reesli glaubt, daß Dale zu ihm passen würde. Aber sie ist sehr labil und hat ihn schon sehr beansprucht, ohne ihm geben zu können, was er erhofft hat.
Am Sonntag waren Constri und ich bei unserer ehemaligen Nachbarin Valeska zum Kaffee. Als wir alle noch Kinder waren, wohnten wir in derselben Straße. Es ist eine abgelegene Siedlung, mitten im Grünen. Valeska hatte auf der Terrasse ihres Elternhauses gedeckt. Auch eine Bekannte aus unserer Jugendzeit, Deborah, war zu Gast. Valeska machte Eiskaffee und servierte uns eine selbstgebackene Obsttorte. Wir erinnerten uns daran, wie wir früher hier draußen gespielt haben. Valeska wußte noch, daß Constri einmal eine Wetterkarte gezeichnet hat, die zu ihren Kenntnissen in Geografie paßte. Constri hängte bei einer Geburtstagsfeier diese Karte auf und spielte den Wetterbericht, wie es nur jemand kann, der von Meteorologie und Geografie wirklich keine Ahnung hat.
Valeska erinnerte sich auch noch an die "Ungerechtigkeitstorte", eine Geburtstagstorte, die Constri so unterteilt hatte, daß mit Sicherheit keine zwei Leute ein gleich großes Stück bekamen.
Am Mittwoch war ich mit Saara, ihrem Bekannten Antonio und Roman im "Maximum Volume". Roman war wie immer auf Frauensuche, bei Saara konnte er aber nicht landen. Sie wurde von dem Latin Lover Antonio umgarnt, der ihr schon seit Längerem den Hof macht. Sie sorgt dafür, daß er nie richtig weiß, ob sie mit Svenson nun zusammen ist oder nicht. Saara hatte mit Kappa Blickkontakt und fand das ungeheuer aufregend, sonst wollte sie aber nichts mehr von ihm. Sie war ohnehin mit Antonio ausreichend beschäftigt.
Kappa knuffte mich und rief begeistert:
"Echt, wir kennen uns schon hundert Jahre! Ich find's so geil."
Er spielte ab und zu Stücke, zu denen ich tanzen konnte, darunter "Theremin" von Covenant und "Moldavia" von Front 242. Kappas Co-DJ Hagan tanzte mit Edaín und wollte auch mit mir tanzen. Ich machte ihm zur Bedingung, daß ein Stück lief, das mir gefällt. Hagan wünschte sich für uns "War" von :wumpscut:.
Hagan meinte, daß ich einst für "Black Easter" von Sol Invictus in der "Halle" nochmal umgekehrt bin, obwohl ich schon den Mantel anhatte, werde er nie vergessen.
Edaín ist überzeugt, daß Kappa keine Drogen nimmt. Sie erzählte, sie hänge andauernd mit Kappa zusammen, wenn sie nicht gerade arbeite oder er abwesend sei, daher müsse sie es wissen. Sie ist zu Kappa in dessen Mansarde gezogen; ein eigenes Reich, das sie für sich allein gestalten könne, sei ihr in ihrer Beziehung mit Kappa nicht so wichtig. In ihrer vorherigen Beziehung habe sie jedoch lieber ihre eigene Wohnung behalten wollen.
In diesem Frühjahr habe sie sich mit Kappa verlobt, und sie seien nach Tunesien gereist. Das goldgestickte Käppi, das Edaín zu ihrem straff geknoteten Haar trug, stammt daher. Edaín muß nicht viel tun, um flott auszusehen. Ein rückenfreies T-Shirt und eine gewöhnliche Baumwollhose genügen bereits. Mir würde das noch nicht einmal im Alltag ausreichen; ich bin nicht der Typ für schlichte Garderobe. Ich trug einen ausgeschnittenen Rokoko-Body aus grauem Samt, mit schwarzer Borte und einer Schnürung vorn, die mit Stäbchen verstärkt ist. Dazu hatte ich den langen Spitzenrock mit den Riesenschleifen an, Spitzenhandschuhe und in den Zöpfchen grauschwarz gemusterte Zierbänder. Um den Hals trug ich mehrere Ketten aus verschiedenen grauen Perlen. Edaín bewundert diese Kostümierungen sehr, will aber selbst nicht so herumlaufen, weil sie findet, daß das nicht zu ihr paßt. Sie möchte nicht auffallen, nicht im Mittelpunkt stehen. Sie spielt lieber die Rolle des Zuschauers und Bewunderers. Das zeigt sich auch in ihrer Beziehung zu Kappa.
"Kappa und ich sind beide ziemlich extrem", sagte ich zu Edaín. "Er fällt einfach überall auf, und ich kann nachfühlen, wie das ist, weil ich auch überall auffalle. Ich bin schon immer aufgefallen, auch als ich noch normal 'rumgelaufen bin, und ich bin auch immer deswegen angegriffen worden."
"Die Leute sind neidisch, wenn jemand etwas Besonderes ist", meinte Edaín. "Ich finde übrigens gar nicht, daß du 'extrem' oder 'auffällig' bist. Du bist einfach nur eine starke Persönlichkeit. Du bist, wie du bist. Ich bewundere das an dir. Du stehst zu dir, und das ist doch das Wichtigste, was es gibt. Bleib' bloß so, wie du bist."
Edaín trifft sich privat nicht so häufig mit Freunden und Bekannten, hat keinen eigenen Haushalt mehr und arbeitet - gegenwärtig - nicht an kreativen Projekten. Sie kann es sich daher auch leisten, ihre gesamte freie Zeit mit Kappa zu verbringen. Das Unternehmen, das sie gerne aufbauen würde, arbeitet Kappa unmittelbar in die Hände: sie möchte eine Discothek eröffnen, eine Heimat für die Szene. Übrigens war auch ihr vorheriger Freund DJ.
Edaíns Rolle könnte ich nicht spielen. Ich bin nicht anpassungsfähig und unkompliziert, sondern anspruchsvoll, fordernd und herausfordernd. Ich frage mich, wozu Leute wie ich gut sind, wenn man es mit Leuten wie Edaín viel leichter haben kann.
Ich kann mich nicht auflösen in dem Wesen eines anderen. Ich bin als Mensch eine Herausforderung, eine Lebensaufgabe. Ich gebe ohne Grenzen und nehme auch ebenso viel. Ich stehe im Licht, in der Mitte. Eher werde ich verehrt, als daß ich jemanden verehre. Die Menschen können mich als Objekt gebrauchen für Verehrung oder Neid.
Rafa scheint nicht damit umgehen zu können, daß ich ihm ein Gegenstück bin, statt Begleiterin zu sein. Er will nicht an sich arbeiten oder an sich arbeiten lassen. Er will nicht mit jemandem zusammenarbeiten.
Henriette erzählte mir, Tinus habe sich von ihr getrennt, nachdem er sie schon ein halbes Jahr lang mit Karenia betrogen hatte.
"Ist das nicht die Schwester von der Tonne?" fragte ich entgeistert.
Henriette lachte.
"Das ist die, ja."
"Die ... mit Karenia habe ich einmal geredet, seitdem ist die für mich erledigt", erzählte ich. "Das war im 'Elizium', da habe ich die mal gefragt, hast du eine Uhr? Da guckt sie mich groß an und sagt: Ja. Und das war's. Seitdem kann die mich mal. So was Widerliches, Arrogantes. Wie kann Tinus die nur besser finden als dich?"
"Mit Tinus war das nichts mehr. Ich bin ganz froh, daß der Schluß gemacht hat. Ich war nur noch mit dem zusammen, weil ich mich vor dem Alleinsein gefürchtet habe. Der hat mir wirklich nichts gegeben."
"Würdest du im Nachhinein sagen, daß sich diese Beziehung in irgendeiner Weise für dich gelohnt hat?"
"Nein."
"Wäre es also besser gewesen, wenn du allein geblieben wärst und die Beziehung gar nicht stattgefunden hätte?"
"Ja."
"Ich frage das nur, weil ich mein Leben lang konsequent auf halbe Sachen verzichtet habe", erklärte ich. "Deshalb bin ich auch immer allein gewesen, und ich möchte wissen, was andere denken über den Wert ihrer vergangenen Halbheiten."
Dana hatte sich Kajal-Ornamente um die Augen herumgemalt und erzählte, sie sei auf der Suche nach sich selbst. Die Jungen schienen sie zur Zeit gar nicht besonders zu interessieren.
Sasa erzählte, sie habe mehr Selbstbewußtsein, seit ihre Beziehung mit Wolven beendet sei. Er habe nur andauernd zu irgendwelchen Göttern gebetet und heidnische Rituale befolgt, sei aber nie richtig arbeiten gegangen und manchmal auch recht aggressiv gewesen. Sie hole jetzt ihren Realschulabschluß nach und wolle auch das Abitur machen. Sie guckte tief ins Glas, wie ich es von ihr kenne, und ich dachte:
"Wenn sie ihre nächste Abhängigkeitsbeziehung hat, ist es mit den hochgesteckten Zielen vielleicht schon vorbei?"
In meinem Heim habe ich jetzt einen industriell wirkenden Kleiderschrank in Silber und Glas, ein Gitterregal, Designer-Leuchten aus Reispapier und weißem Plastikmaterial und Dekorationsstücke aus weiß lasiertem Holz. Es sieht immer mehr wie ein Gesamtkunstwerk aus, ein bewohnbares Gesamtkunstwerk, das lebt und sich auch ändert. Außerdem ist jetzt meine Lieblingsfarbe Grau in, ich kaufe sehr viele Kleider und lasse mir auch viele anfertigen. Ich sollte mich daran freuen, aber stattdessen mache ich mir nur Sorgen, wie im letzten Jahr, als ich diese Wohnung mit himmelhoher Decke, Dachgärtchen und Fernblick bezogen habe, die man sich gar nicht schöner wünschen kann, höchstens auf eine andere Art schön. Ich denke immer nur daran, wie ich für mehr Geld zum Leben sorge, wie das Auto möglichst lange heile bleibt und wie ich erreiche, daß ich es jedem recht mache. Und eine todeskalte Furcht begleitet mich Tag und Nacht, die bekannte Furcht, daß es mir nicht gelingt, in diesem Leben mit Rafa Kinder in die Welt zu setzen. Für Constri und Rikka sieht das ganz einfach aus; sie sind der Ansicht, daß ich durch meine Gefühle für Rafa davon abgehalten werde, mich in einen anderen zu verlieben. Daß meine Liebe keinem anderem gehören kann und daß sie in den vierzehn Jahren, bevor ich Rafa kannte, auch keinem anderen gehört hat, ist für Constri und Rikka keine überzeugende Aussage.
Constri hat in der Zeitung eine Todesanzeige gefunden, in der ein Witwer seine Wertschätzung für die verstorbene Ehefrau bewegend zum Ausdruck brachte. Sie erinnerte sich daran, daß Derek ihr viel mehr Aufmerksamkeit und Achtung schenkte, als die Beziehung noch in den Anfängen war. Sie suchte und fand eine Möglichkeit, diese Wertschätzung wiederzubeleben, indem sie sich selbst mehr gönnte und schenkte. Sie ließ sich von Giulietta hübsche, figurbetonende Kleider aus edlen Stoffen machen, und sie geht wieder öfter weg, auch ohne Derek.
Zoë hat erzählt, Enrico habe sie gefragt, ob sie bereit wäre, Aktfotos von ihm zu machen, die er dann an ein Blättchen schicken wolle. Enrico behauptet zur Zeit, ein Büro in HB. zu haben. Seine neue Flamme, mit der er angeblich zusammenziehen wollte, soll er inzwischen gegen eine noch neuere Flamme ausgetauscht haben, die siebzehn Jahre als sein soll.
Mitte August waren wir bei Carl zum Grillen. Elaine bekam von mir Kinderschminke und Barbie-Kinderschmuck, und sie beschäftigte sich ausgiebig damit. Nachdem sie sich selbst angemalt hatte, malte sie Merle an, auch an den Schultern. Merle hat erzählt, daß Elaine schon Häuser und Clowns malt und ein "A" schreiben kann.
Der Blitz an Merles Pocketkamera wollte nicht mehr, nicht einmal mit frischen Batterien. Derek vermutete, daß diese Batterien eben nicht frisch genug waren.
"Versuch's mal mit dieser", sagte Merle und hielt mir eine Batterie hin, "die habe ich eben in der Hand angewärmt."
Da hatte Merle die Lacher auf ihrer Seite.
"Wir bauen dich als Generator ein", schlugen wir vor, "dann sparen wir Stadtwerke."
"Pole sind falschrum", sagte Miro mit Blick auf die Batterien im Apparat.
"Der Pole ist falschrum", sagte Constri mit Blick auf Miro, der immerhin zur Hälfte Pole ist, wenn auch nicht "falschrum".
Wir stellten fest, daß fast alle von uns irgendwelche Verwandte im Ausland haben, in Bulgarien, Norwegen, Schweden und eben Polen. Elaine macht keine Ausnahme; sie ist ja zur Hälfte Engländerin. Constri und ich stammen zu einem Viertel aus NDH.; freilich wird man die ehemalige DDR nicht unbedingt als Ausland bezeichnen.
Wir erzählten uns einige Polen-Märlein, die wirklich passiert sind:
Es war einmal ein polnisches Auto, das Schlangenlinien fuhr. Auf der Rückbank saßen drei Männer. Das Auto wurde von der Polizei angehalten. Als die Polizisten durchs Fahrerfenster schauten, sahen sie, daß auf der Rückbank vier Männer saßen und auf dem Fahrersitz niemand.
"Wer von Ihnen ist denn gefahren?" fragten die Polizisten.
"Keiner ist gefahren", antworteten die Polen.
Ein anderes Märlein stammt aus der Presse:
Nachts vor dem Hauptbahnhof kam ein Auto in eine Polizeikontrolle, in dem fünf Leute saßen. Der Fahrer war Pole, die anderen waren Russen, und einer von denen war tot. Es stellte sich heraus, daß der Pole ein Schlepper war und die anderen illegale russische Einwanderer. Unterwegs war der älteste Russe an Herzversagen gestorben, und weil eine Überführung unter den herrschenden Umständen recht schwierig gewesen wäre, ließ man den Toten weiter auf der Rückbank mitfahren und antwortete auf alle störenden Fragen:
"Ist Großvater, ist krank, kann nicht sehen, kann nicht hören, kann nicht sprechen, kann nicht aufstehen."
Ein weiteres Autogeschichtchen handelte von einem Mann, der beabsichtigte, seinen Porsche zu heiraten. Er hatte sich mit dem Auto bereits verlobt. Es bleibt zu fragen, wie das Fahrzeug ihm das Ja-Wort geben sollte und wie man sich fortzupflanzen gedachte.
Die folgenden Märlein handelten von den Propheten des bevorstehenden Weltuntergangs:
"Uriella", eine geschäftstüchtige Schizophrene, ist das einzige lebende Sprachrohr Gottes und hat eine dorfgroße Schar von Jüngern um sich versammelt, die daran glauben - und in der Tat dran glauben müssen, wenn sie sich auf Uriellas Heilkräfte verlassen. Es gab schon Todesfälle.
Uriella lächelt immer. Sie ist inzwischen ungefähr sechzig Jahre alt, heiratet oft und ist stets im Brautkleid anzutreffen. Auch die Jünger haben Weiß zu tragen, damit sie das Licht der Welt verbreiten können. Die Jünger zeichnen sich durch mustergültigen Gehorsam aus. Als ein Pärchen aus der Sekte gefragt wurde, warum sie geheiratet hätten, antworteten sie freudig lächelnd:
"Weil Uriella uns gesagt hat, daß wir heiraten sollen."
"Und wenn Uriella Ihnen nicht gesagt hätte, daß Sie heiraten sollen?"
"Dann hätten wir nicht geheiratet."
"Lesen Sie denn auch mal Zeitung?"
"Nein, Uriella sagt uns alles, was wir wissen müssen."
Uriella hat ihren Jüngern auch gesagt, daß nächste Woche der Weltuntergang stattfindet. Als Uriella gefragt wurde, was denn wäre, wenn sie sich irrt und die Welt nächste Woche doch nicht untergeht, antwortete sie nur mit einem entrückten Lächeln:
"Die geht unter."
Während sie spricht, schaukelt sie rhythmisch, ähnlich wie hospitalistische Kinder.
Uriella stellt astralreines "Atron-Wasser" her, indem sie einundzwanzig Minuten lang mit einen Teelöffel linksdrehend das Wasser in der Badewanne umrührt. Dadurch wird das Wasser mit kosmischer Energie aufgeladen. Die Jünger trinken es mit Begeisterung. Das Institut "Fresenius" hat dieses Wasser untersucht und geurteilt:
"Keine Trinkwasserqualität. Wenn man es stehen ließe, würde es anfangen zu faulen und zu stinken."
Es gibt noch mehr Leute, die wissen, was man tun muß, wenn man zu den 140.000 Auserwählten gehören will, die den Weltuntergang überleben und entscheiden dürfen, wer in die Hölle kommt und wer nicht. Da ist zum Beispiel eine Frau, die täglich bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang aufs Feld geht, um Kuhfladen mit einer Fettlösung zu begießen. Anscheinend verfügt sie über ausreichend Zeit für dieses Ritual.
Mein Vater hat von einer Talkshow erzählt, wo einer zu Wort kam, der sich bei einem Katasteramt in Amerika als Besitzer des Mondes und aller Planeten des Sonnensystems eintragen ließ. Man erlaubte ihm das unter der Voraussetzung, daß niemand Einspruch erheben würde. Und tatsächlich machte ihm keiner die Besitzansprüche streitig. Mittlerweile soll ihm sogar jemand ein Stück Mond abgekauft haben.



Als Synapscape im "Inferno" auftraten, waren nicht viele Leute da, weil gleichzeitig die "Halle"-Abschiedsparty stattfand, aber diejenigen, die gekommen waren, brachten den Saal in Stimmung. Das Konzert war sehr schwungvoll und rhythmusbetont, ganz besonders das Stück "Stop yield", das innerhalb von Sekunden die Leute auf die Tanzfläche reißt, selbst wenn sie das Lied vorher nicht kannten. Constri hatte sich einen meiner Strapsgürtel ausgeliehen und sprang in ihren neuen roten Samtkleid herum. Ich trug dieselben Sachen wie am Mittwoch im "Maximum Volume".
Am Merchandise-Stand entdeckte Constri ein Geschenk für Folter, eine Tape-Box von dem Musikprojekt Asche & Morgenstern. Die Box hat die Gestalt eines Bildes mit einem Rahmen aus Polystyrolschaum. Das Bild selbst besteht aus Nostalgie-Tapete, und in der Mitte befindet sich, mit Goldknopf verschlossen, das Behältnis mit dem Tape. Ich kaufte Asche, der an dem Stand bediente, die Box gleich ab.
Die Musik, die sonst im "Inferno" lief, gefiel mir auch. Darunter waren "Memories" von Klinik und Terrys und Birthes Wunsch "Entenmann" von Fusspils 11, bei dem es sich um einen Kerl mit Entenkopf handeln soll, der nicht mit den Wildgänsen wegfliegen darf:
"Sie nehmen mich nicht mit, weil ich Ente bin."
Amun Hotap erzählte, Kappa habe ihn empört angerufen und ihm vorgehalten, er erzähle über ihn herum, er habe ihn wegen seines Drogenkonsums aus dem "Inferno" geworfen.
"Wieso, daß du Drogen nimmst, weiß doch die ganze Welt", will Amun Hotap erwidert haben.
Ich sagte ihm, Edaín sei überzeugt, daß Kappa keine Drogen nehme.
"Ha, die ist doch genauso verstrahlt", war Amun Hotap sicher. "Die nimmt das Zeug doch auch."
"Den Eindruck hatte ich von ihr aber nicht. Hast du die denn schon koksen sehen?"
"Ja, klar."
Rufus lag irgendwann betrunken auf einem Podest. Ich wollte ihn nicht so im "Inferno" zurücklassen. Er mußte sich im Audi in den Graben vor der Rückbank legen, damit man von außen nicht sehen konnte, daß wir zu sechst waren. Er schlief dort gleich weiter. Constri nahm ihn mit zu sich und gab ihm eine Decke. Ich brachte die anderen weg und fuhr allein zu "Halle". Gegen drei kam ich dort an. Es waren noch recht viele Leute da. Ich suchte nach bekannten Gesichtern und fand an der Bar unterm DJ-Balkon Berit und zwei ihrer Freundinnen. Mit denen unterhielt ich mich. Berenice bediente. Sie hatte sich die Haare abschneiden lassen, zu einem Pagenkopf, und sie gebleicht und rötlich gefärbt. Sie trug ein kurzes cremefarbenes Etuikleid mit Stehkragen und ohne Ärmel. Dazu hatte sie eine schwarze Spitzenstrumpfhose an. Sie war so ähnlich geschminkt wie ich, nur noch härter, mit mehr Schwarz. Mir drängte sich der Gedanke auf, ob Rafa vielleicht wollte, daß sie sich für ihn hübscher und verführerischer zurechtmacht, weil sie an sich eine unauffällige Erscheinung ist, die man leicht mit anderen Mädchen verwechselt.
Rafa war am DJ-Pult und half Kappa. Berit erzählte, bevor ich gekommen sei, sei Rafa zwischendurch mal kurz unten gewesen, habe sich dort aber nicht viel mit Berenice beschäftigt.
Hagan umarmte mich. In einem werbenden Tonfall fragte er mich, ob ich nicht nachher noch ins "Elizium" kommen wolle. Ich bat ihn, "Black Easter" von Sol Invictus zu spielen.
"Ich lege gerade nicht auf", bedauerte Hagan. "Rafa läßt mich einfach nicht 'ran. Und er wird immer schlechter."
"Hat er was getrunken?"
"Nein, kein bißchen! Deshalb ist er wohl auch so schlecht."
"Warum hat er denn nichts getrunken?"
"Was weiß ich? Vielleicht weil seine Freundin hier arbeitet?"
"Dann ist er jetzt wohl ausgesprochen glücklich."
"Ja, das ist er, deshalb will er wohl auch andauernd auflegen."
Nicht nur Rafa, auch Berenice schien es gut zu gehen; sie lächelte häufig.
Das Auflegen konnte für Rafa keine Herausforderung mehr sein, eher war es eine Fließbandarbeit, denn er spielte gnadenlos lauter altbekannte, viel zu oft gehörte Stücke herunter. Es war ein Musikprogramm, wie es ebensogut jeder Gast in der "Halle" hätte zusammenstellen können. Zwischendurch sagte Rafa ins Mikrophon, in der "Halle" sei jemand, dessen Freundin Ariane sei an Herzversagen gestorben, "ein hartes Brot", kommentierte Rafa in dem Tonfall eines Betroffenheit mimenden Fernsehmoderators. Diese Ariane habe ihren Freund gebeten, sich nach ihrem Tode für sie Depeche Mode zu wünschen. Also gebe es jetzt ein Stück von Depeche Mode zu hören.
"Um in der 'Halle' Depeche Mode zu hören, hätte Ariane nicht zu sterben brauchen", dachte ich.
Schließlich laufen jedesmal mehrere Stücke von Depeche Mode in der "Halle".
Rafa grüßte "alle aus SHG." und veranstaltete ein kleines Gewinnspiel. Er bot Freikarten an für die ersten zwei Leute, die ihm sagen konnten, von wem das nächste Stück sei. Er gab noch eine Hilfe:
"Es ist eine einheimische Band."
Alsdann erklang "Schweben, fliegen und fallen", Rafas eigenes Stück. Ich hütete mich freilich, zu ihm hinaufzugehen.
Als zwischendurch "Firestarter" von Prodigy lief, konnte ich endlich auch tanzen. Berenice huschte nach oben zu Rafa, und nach dem Stück huschte sie wieder herunter.
Als Kappa eine Art Abschiedsrede hielt, klang seine Stimme lallend, und er verhaspelte sich mehrmals. Rafa ergriff endlich das Wort und sagte zu seiner "Gemeinde":
"Acht Jahre 'Halle' ... das muß man sich mal vorstellen ... acht Jahre ... saugt das mal in euch hinein wie ein trockener Schwamm ..."
Kurz vor Schluß sah ich Rafa endlich auch mal unten. Er saß nicht weit von mir auf einer Bank und unterhielt sich mit einem Mädchen, das ihm angeregt zuhörte. Rafa gestikulierte wie gewohnt wild herum. Seine Kleidung wirkte lieblos übergestreift. Er hatte ein abweisendes, ungesund aussehendes Gesicht. Er war überhaupt nicht geschminkt, und die Haare hingen zerzaust herum. Sie hatten eine Wäsche und einen neuen Schnitt dringend nötig. Rafa machte auf mich den Eindruck eines Menschen, der sich gehen läßt. Er wirkte auf mich wie jemand, der Verantwortung ablehnt und keine Einschränkungen akzeptiert. Er scheint nicht im Miteinander eingebunden leben zu wollen, sondern ohne Bezug im luftleeren Raum schweben zu wollen, wo er nichts von sich hergeben muß und auch nichts bekommt.
Kappa spielte "Is it you" von :wumpscut:. Ich tanzte mit drei anderen Leuten über die sonst leere Tanzfläche. Rafa verschwand währenddessen, vielleicht nach oben, und kam danach gleich wieder und redete weiter auf das fremde Mädchen ein.
Als das letzte Stück begann, schaute Rafa mit gleichgültiger Zufriedenheit im Gesicht zu mir herüber, gerade in die Augen.
"Ich gehe nach Hause; was sollte ich auch sonst tun?" sagte ich zu ihm, ohne daß er mich hätte hören können.
Er schaute kurz weg und dann wieder her, um alsbald zu Berenice herüberzugrienen und zu winken. Die Musik verklang, und Rafa lief zu Berenice an die Theke und trank Bier. Ich ging weg.
Saara ist wieder von Velvet angerufen worden. Velvet hat erzählt, daß sie in der "Halle" oben auf dem DJ-Balkon mit Rafa geredet hat. Sie wolle überhaupt nichts mehr von ihm, der Reiz sei weg; er sei für sie nur noch irgendein Bekannter.
"Na, was macht die Liebe?" erkundigte sich Rafa.
Velvet antwortete, es gehe ihr sehr gut, sie habe immer noch ihren Freund.
Rafa bemängelte, daß Velvet zu freizügig gekleidet sei. Er meinte, sie solle sich etwas mehr bedecken.
"Wieso, das gefällt dir doch", gab Velvet zurück.
Rafa erzählte, er sei furchtbar beschäftigt mit Musizieren. Über seine Freundin soll er nicht gesprochen haben. Velvet fragte ihn, ob er noch mit Anwar die montäglichen Treffen veranstalte. Rafa bejahte und schlug Velvet vor, daß sie ihn anrufen könne, wenn sie daran teilnehmen wolle. Velvet fragte nun Saara, ob sie denn vielleicht mit ihr nach SHG. fahren würde. Saara lehnte das ab.
Rafa soll in der "Halle" vor den Augen von Berenice mit einer Blondine geschäkert haben, und er soll mit ihr sogar die Telefonnummern ausgetauscht haben. Berenice soll das nicht gekümmert haben.
Vielleicht handelte es sich bei diesem Flirt um das Mädchen, mit dem ich Rafa auch gesehen habe.
Bevor ich in der "Halle" war, soll Rafa durchgesagt haben, alle Leute, die acht Jahre "Halle" miterlebt hätten, würden Freikarten für das letzte große Festival in der "Halle" bekommen. Außerdem forderte er alle Jungen auf, ihrer Freundin acht Küsse zu geben.
Solche Spielchen widern mich an, weil ich immer an die Seichtigkeit denken muß, mit der Rafa zwischenmenschliche Bindungen gestaltet - und vernichtet.
Am nächsten Samstag gab es im "Radiostern" ein Industrial-Festival mit den Hybryds, Imminent Starvation und P.A.L. Die Hybryds spielten ein rasantes Stück namens "Noise 2 Trance", dessen Besonderheit ein an- und abschwellendes Weißes Rauschen ist. Dieses Crescendo-Decrescendo liegt über einem monotonen, an Stammesrituale erinnernden Trommelrhythmus. Das ebenso meditative wie tanzbare Stück kenne ich schon lange, muß allerdings noch an das entsprechende Album kommen. Imminent Starvation führte die musikalische Meditation weiter. Die endlosen Rhythmusschleifen zogen den ganzen Saal mit sich. P.A.L schloß an mit dem nicht weniger heftigen "Metrum v1.2".
Der Barmann erkundigte sich, wo ich mein Plastikkleid herhätte. Die Leute betrachteten es verwundert. Ich bekam Kirschsaft ausgegeben.
Constri hat sich von Giulietta ein sehr hübsches tailliertes Minikleid machen lassen, in einem dunklen, weichen Graugrün, mit einem Überkleid aus schwarzem Chiffon, das den Stehkragen und die langen Ärmel ausspart. Constri trägt dazu die rötlichen Haare aufgesteckt und hängt sich ein schwarzes Samtkreuz um den Hals. Das sieht sehr fein aus.
Derek ist so kreativ, daß er in jedem Monat mehrere Alben fertigstellt, die er allerdings zunächst noch in der Schublade läßt. Von Rafas angekündigtem neuen Album hört man immer noch nichts, obwohl es im Frühjahr erscheinen sollte. Nicht einmal in der Website von Rafas Fanclub wird dieses Album erwähnt. Es gibt in der Website immer noch kein Interview mit Rafa. Ein Fan schreibt dort, so genial er das Konzept des "Elektronik-Schlagers" auch finde, inzwischen sei dieses Konzept "zu etwa 90 % ausgereizt". Trotzdem sei es immer noch zehnmal besser als experimentelle Musik, lobt er. Die Schlager von Rafa seien wenigstens noch klar und einfach strukturiert.
Rikka schrieb mir einen mit Skelett-Aufklebern verzierten Brief, in roten Kapitälchen, worin steht, sie würde Seth wohl immer noch lieben, es sich aber nicht eingestehen wollen, da sie sonst mit der Trennung von ihm nicht fertig werden könne. Sie habe wohl ihre eigenen Sorgen mit meinen vermischt. Sie höre von mir immer nur, daß ich meine Gefühle nicht verleugnen will, und das erschwere es ihr, ihre Liebe zu Seth zu verleugnen. Sie erlebe meine Hilflosigkeit dem Schicksal gegenüber als ihre eigene Hilflosigkeit. Sie glaube immer noch nicht, daß Seth sie wirklich nicht mehr liebt; sie glaube vielmehr, "eine böse Macht" habe ihn diese Bindung zerstören lassen.
Ich denke, eine "böse Macht" gibt es wirklich, als etwas schwer Abgrenzbares, schwer Erfaßbares, als unscharfen Begriff von "dem Bösen". Man kann "dem Bösen" kein Gesicht geben, weil nicht allgemeingültig zugeordnet werden kann, welches Verhalten "böse" ist und welches nicht. Es gibt nur Arbeitsraster, in denen der Begriff "böse" für eine bestimmte Lebensform, eine bestimmte Gruppe von Menschen oder ein bestimmtes Umfeld beschrieben wird.
Jede Art erhält sich auf Kosten anderer. Nur der Tod vereint die Lebenden. Wir alle berühren die Erde, von der wir kommen, und dorthin kehren wir auch zurück.
Am Mittwoch kam im "Zone" ein Junge in einem weiten weißen Hemd auf mich zu und fragte mich, ob ich allein sei oder ob ich einen Freund hätte. Ein Bekannter von ihm habe nämlich ein Auge auf mich geworfen. Ich antwortete, ich sei verliebt und deshalb nicht zu haben, aber ich hätte nichts dagegen, Leute kennenzulernen, auf freundschaftlicher Ebene. Der unbekannte Verehrer wollte das dann wohl nicht, oder er traute sich nicht.
In der kommenden Nacht waren Constri und ich auf einer Industrial-Party im "Reentry", wo Cyra zusammen mit einem Plattenhändler auflegte. Die beiden machten ihre Sache hervorragend und wurden von uns auch sehr gelobt. Drei Stunden lang haben wir fast ununterbrochen getanzt, bis die Musik ausging.
Constri trug ein raffiniertes Kleid, das Giulietta genŠht hat, ein Kleines Schwarzes mit einer zweiten Lage aus hauchzartem dunkelgrünem Chiffon.
Am Freitag hatte ich abends Siddra, Constri, Derek und Carl zu Besuch. Ich machte für uns Spätzle und italienische Gemüsepfanne mit Hack. Siddra hat für Sator eine Spielzeuglok gekauft, die sie uns zeigte.
Siddra versucht wieder einmal, den Kontakt zu Malda abzubrechen. Als sie kürzlich bei Malda war, soll sich deren Wohnung in einem Zustand befunden haben, den Siddra bis heute nicht verkraftet hat.
Malda hat schon ihre frühere Wohnung "verwohnt", und mit der jetzigen, die einmal sehr hübsch und gepflegt gewesen ist, treibt sie es noch schlimmer. Wenn sich ihre Gäste über den Dreck und die Unordnung beschweren, antwortet sie gleichgültig:
"Mir ist es so recht, und wenn es anderen Leuten nicht gefällt, brauchen die ja nicht zu kommen."

In einem Traum hatte Saara mit Rafa ausgemacht, daß sie und ich ihn besuchen würden, um Fotos anzuschauen. Ich war einverstanden, bedachte aber, daß ich mit Rafa nicht sprechen konnte, weil er immer noch die Freundin hatte. Saara und ich fuhren nach SHG. und kamen zu Rafa in sein Zimmer. Er saß am Tisch, allein. Als er mich sah, stand er auf und begrüßte mich, freundlich lächelnd. Ich lächelte auch und winkte, sagte aber nichts. Er ging auf mich zu. Ich nahm ihn in die Arme und streichelte ihn, seinen Hals, seine Schultern. Er setzte sich neben mich und streckte sein Bein aus, so daß ich auch das Bein streicheln konnte. Ich sagte immer noch fast nichts und überließ Saara das Reden. Zwei Kleinkinder kamen ins Zimmer, die wahrscheinlich mit Rafa verwandt waren; daß es seine eigenen Kinder waren, war jedoch unwahrscheinlich. Im Laufe der Zeit kamen noch mehr Leute ins Zimmer, die dem Treffen etwas Öffentliches gaben. Allerdings war Rafas Freundin nicht dabei.

In einem anderen Traum sprach mich ein Mädchen an, das wollte mit mir über Rafas Freundin reden. Ich nahm mir vor, dieses Gespräch abzublocken, da ich die Freundin nicht kennen will und nichts über sie wissen will. An ihr ist für mich nur bedeutsam, daß sie mit Rafa zusammen ist. Rafa verhindert durch die Beziehung mit ihr, daß er und ich uns nahekommen.

In einem weiteren Traum war Rafa verletzt und verlor sehr viel Blut. Dies alles wurde auf meinen Einfluß zurückgeführt. Ohne daß wir uns getroffen hätten, wäre es dazu nicht gekommen, hieß es. Ich sollte zusehen, wie ich das wieder in Ordnung brachte.

Am Samstag gingen Sarolyn und ich mit Siddra in den von ihr bevorzugten House-Laden "Krypta". Die Location finde ich zwar hübsch - es ist ein echter alter Gewölbekeller -, doch die Musik gefiel mir nicht, ich fand sie zu seicht und zu banal. Siddra gefiel es, sie tanzte unentwegt. Sie trug ein rückenfreies schwarzes Glitzerminikleid, eine beigefarbene Strumpfhose und ein beigefarbenes Haarband. Ich finde, sie sieht immer niedlich aus, ohne dabei ein Model-Gesicht zu haben. Sie hat eine Ausstrahlung, die so manchem Model abgeht.
Ausgerechnet in der "Krypta" begegnete Sarolyn ihrem Exfreund Teddy. Der lachte fröhlich und belagerte Sarolyn, die Rory nicht mitgenommen hatte.
Als Sarolyn und ich später noch im "Elizium" waren, kam Teddy auch dorthin. Er verschwand mit Sarolyn für ein Schwätzchen nach draußen, während Rory drinnen auf der Heizung saß.
Ich erinnerte Sarolyn zwischendurch daran, daß Rory auch seine Vorzüge habe. Immerhin sei er sehr verläßlich.
"Zu verläßlich", urteilte Sarolyn. "Und er erwartet das dann auch von mir. Er legt an die anderen immer dieselben Maßstäbe an, die er auch an sich anlegt."
Roman stellte Sarolyn und mir den langhaarigen "Fliegenpilz" Amanita vor, seine neue Eroberung, die sich auf der Tanzfläche endlos um die eigene Achse zu drehen pflegt. Unter der Mähne war Amanita eine Art wabbeliger Haufen, der die Backen aufpustete und kaum einen verständlichen Laut von sich gab. Roman setzte sich diesen Haufen auf den Schoß und vollführte mit dem Gallertberg Ruckelbewegungen, die entweder Wünsche ausdrückten oder bereits in Taten mündeten; so deutlich war das im Dunkeln nicht zu erkennen. Die beiden waren jedenfalls über Stunden hinweg mit nichts anderem beschäftigt. Amanita ließ ihre Mähne hin- und herschlottern und verzichtete zugunsten der Ruckelbewegungen sogar auf die von ihr so gern geübten Drehbewegungen.
Sten war auch im "Elizium" und stellte mir Bruno Kramm vor, dem es gelungen ist, im Musikgeschäft seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Bruno klagte, daheim in BT. sei rein gar nichts mehr los, man könne nirgendwo ausgehen. Er wolle BT. aber nicht verlassen, weil er dort ein Schloß gekauft habe. Die Renovierung kostet freilich mehr, als er sich anfänglich vorgestellt hat.
Bruno sorgt für eine dauerhafte Absicherung, indem er sein Tonstudio vermietet und Bands produziert. Ein Wermutstropfen ist der Fiskus.
Wie Sten für seinen Lebensunterhalt sorgen werde, sei unklar; schließlich habe Sten noch an der Geldstrafe zu zahlen, die er sich durch seine Tätlichkeiten gegen Aimée eingehandelt hat. Bruno ist nicht sicher, ob diese Strafe abschreckend genug ist, um Stens Verhalten dauerhaft zu ändern.
Sten legte den Arm um mich und preßte mich hungrig an sich, was hier aber wohl so zu verstehen war wie ein unverbindlicher Smalltalk.
Etwas später sah ich Sten und Bruno im Vorraum auf einer Bank sitzen. Vor ihnen stand Janssen und redete laut und wild gestikulierend auf Bruno ein. Bruno stand schließlich auf, nahm seinen Rucksack und flüchtete mit einem empörten:
"Also, der nervt mich jetzt."
In einem Stadtmagazin sind Sazar und June in voller Montur zu sehen, umringt von einem Artikel über die Achtziger Jahre und die Schwarze Szene. June trägt einen Rock mit Schleppe und zahlreiche Kreuze um den Hals, Sazar hat seine Kajalstriche bis zu den Ohren gezogen und kommt im Rüschenhemd daher.
In dem Artikel wird die Szene als Modeerscheinung dargestellt und nicht mit Ideologien oder Religionen in Verbindung gebracht. Das könnte dabei helfen, den Volks-Irrglauben zu bekämpfen, geschminkte Schwarzgekleidete seien "Satanisten".
Am Mittwoch sah ich im "Zone" zwei seltsame Gestalten. Durch den Tanzsaal wandelte ein Junge im Gehrock, mit toupiertem Pferdeschwanz. Hinter ihm marschierte ein kleiner Asiate, der eine brennende Kerze trug.

In einem Traum hatte ich in der "Halle" eine Veranstaltung besucht. Es ging auf Mitternacht zu. Eine große Menschenmenge war dort. Ich machte mich auf den Weg zur nahegelegenen Bahnhaltestelle. Als ich aus der Menge herauskam und über das dunkle Gelände ging, schrie hinter mir eine blondierte junge Frau, betrunken und verwahrlost wirkend:
"Ich trete dich gleich in die Fresse, wenn du sowas nochmal machst, was fällt dir eigentlich ein! Ich mache dich gleich platt!"
Ich ließ mich davon nicht beeindrucken, hatte mir auch niemanden zur Hilfe mitgenommen. Es kam mir vor, als wenn das Mädchen vor mir Angst hatte und deshalb drohen wollte:
"Wenn du es wagst, mir ..."
Sie hatte wohl geglaubt, daß ich sie angreifen wollte und hatte vorwegnehmend reagiert, wie vor einem übermächtigen Gegner. Und ich hatte doch niemals vorgehabt, sie anzugreifen; ich kannte das Mädchen gar nicht. Ich ging weiter und hörte hinter mir ab und zu noch lautes Schreien, Lärm; mit ihr gingen noch andere Leute, die hätten mich auch angreifen können, aber es geschah nichts. Ich ging den einsamen, dunklen Weg zur Bahn, ohne daß mich irgendjemand angriff oder behelligte.
Als ich in die Bahn stieg, war es genau die Zeit, um welche die Bordelle schlossen und die Prostituierten nach Hause fuhren. Die Prostituierten hatten ihre Hunde dabei, so daß sich in der Bahn viele Hunde tummelten. Den Beruf merkte man den Frauen an durch ihre Aufmachung und durch das, was sie erzählten. Eine rief mit lauter Stimme:
"Also, ich hatte heute ein fettes Schwein!"
Eine etwa vierzigjährige blonde Frau gesellte sich zu mir.
"Ich denke manchmal nach über diese vielen jungen Gesichter und diese dreckige Arbeit", erzählte ich ihr, "was das eigentlich bedeutet, was diese Frauen mit ihrem Leben machen. Was das eigentlich bedeutet, sich so wegzuwerfen."
"Ich habe schon Einiges hinter mir", meinte die blonde Frau, "solche Jobs habe ich auch schon mitgenommen. Damals. Ist aber lange her. Ja, wie ich damals zwölf war, da habe ich das auch mal gemacht."
"Wenn Kinder sowas machen", meinte ich, als wir ausstiegen, "ich meine, mit zwölf Jahren ist man ja ein Kind - dann fehlt meistens in aller Regel die Fürsorge."
"Ja, wenn ich so darüber nachdenke - das ist bei mir zu Hause so gewesen."
"Da fehlt die stützende, feste Hand der Eltern."
"Na ja, meine Eltern waren schon ziemlich streng."
"Die Kinder brauchen positive Zuwendung."
"Ja, ja, das brauchen sie."
"Sie müssen gelobt werden. Sie müssen aufgebaut werden. Sie müssen ermuntert werden."
Wir gingen den Bahnsteig entlang. Die blonde Frau nahm meine Hand und sagte:
"Ich schreibe da was drauf."
Sie schrieb mit dem Finger ein "J" auf den Handrücken, zwischen Zeige- und Mittelfinger. Dann malte sie noch einige Muster dazu und rezitierte ein Gedicht. Das klang ähnlich wie ein Weihespruch:
"Das Göttliche sollst du empfangen, das Menschliche sollst du geben."

In einem Traum nahm Rafa in einem Fernsehinterview und auch schriftlich Stellung zu dem Thema "Dreißig werden". Es kam mir so vor, als wenn er selbst mit dreißig endgültig glauben würde, die Weisheit für sich gepachtet zu haben. Er zählte in dem besinnlichen, belehrenden Tonfall eines Mattscheibenroutiniers die Besonderheiten und Vorzüge dieses Lebensalters auf:
"Das Jahrzehnt, in dem man das schaffen kann, was man sich vorgenommen hat ..."
Er ging allerdings über negative Aspekte völlig hinweg und sprach nie von Sorgen und Konflikten in dieser Altersgruppe.

Das paßte meiner Ansicht nach zu Rafas Selbstkonzept: Was man nicht ertragen kann, wird weggeschwiegen.



Anfang September gab es das letzte große Festival in der "Halle". Als ich hereinkam, war Rafa gerade mit den Soundcheck beschäftigt und intonierte die "Moorsoldaten". Er sang auch ein paar Verse daraus, mit einer kippelig sitzenden Stimme. Er trug ein tailliertes Sakko mit einem Bandlogo-Aufnäher auf dem Ärmel. Das ist dann wohl seine "Auftrittsuniform". Die Haare waren immer noch nicht ordentlich geschnitten. Bevor es losging, setzte Rafa eilig seine Schutzbrille auf und steckte sich eine Zigarette an. Das erste Stück war "Telephon W-48". Rafa drehte sich dieses Mal nicht weg, wenn Applaus kommen sollte. Es schauten nicht sehr viele Leute zu, und die klatschten auch eher verhalten, bis auf einen Fan, der das gleiche Sakko trug wie Rafa und regelrecht vor der Bühne klebte. Rafa sagte an, als nächstes käme ein Liebeslied, "Deine Augen", und das sei seiner Freundin gewidmet. Nach dem Stück wetterte Rafa über Elektrosmog und erzählte von seinem "Robbi, Tobi und das Fliewatüüt"-Cover; wahrscheinlich hat er die Sendung als Kind immer geguckt. Er ließ wieder einen selbstgebastelten Roboter über die Bühne wandern.
"Dieses Stück ist auf unserer neuen CD 'Der Sinn des Lebens'", kündigte Rafa an. "Die kommt ... nächsten Monat ... ja, nächsten Monat."
Dann versuchte Rafa, über Talkshows zu lästern und wollte zu "Tanz mit mir" übergehen. Es erklang aber das Intro von "Die Moorsoldaten". Rafa drehte an den Knöpfchen herum und entschuldigte sich mit brüchiger Stimme:
"Dreißig Minuten Soundcheck ... da kann das schon mal ... ich war schon lange nicht mehr nervös."
Warum er so flatterig, unsicher und verschwitzt war, konnte ich mir nicht erklären; immerhin hat er schon etwa fünfzig Auftritte hinter sich, mit sehr unterschiedlichem Erfolg.
Auch seine Bewegungen wirkten auf mich trotz aller Routine steif und verklemmt.
Rafa kramte ein Weilchen herum und erwischte schließlich das gesuchte Stück, "Tanz mit mir".
"Rammstein sagen, wir wollen keine Engel sein", wurde dann der Rammstein-Verschnitt angekündigt. "Quatsch! Wir wollen keine Menschen sein!"
Für den Refrain war keine Sängerin da, also ließ Rafa ihn playback und hielt Dolf das Mikrophon hin. Der machte eine abwehrende Geste. Das zweite Mal bewegte Rafa selber die Lippen.
Danach erzählte er, daß er früher mit seinen Kumpels versucht habe, am C64 seine Traumfrau zu erschaffen. Davon handele "Schweben, fliegen und fallen". Rafa spielte das, warf seine Sonnenbrille beiseite und nahm sich seine Spielzeugpistole, an der ein Kabel hing. Es kam ein Stück, das wohl hart und rhythmisch sein sollte. Rafa feuerte um sich, schrie und zappelte.
Eine Zugabe wurde nicht eingefordert. Das lag wohl daran, daß der Radio-Club C. nicht zu Gast war.
Nach dem Auftritt sah ich, wie Kappa dem Rafa hinter der Bühne entgegenging und ihn erst einmal liebevoll in die Arme nahm.
"Was für eine Rolle spielt Kappa eigentlich?" dachte ich. "Er wirkt auf mich wie ein Erziehungsberechtigter, der Rafa umsorgt, aufmuntert, lobt und tröstet."
Ich blieb bei Sarolyn und Rory vor der Bühne stehen. Ich sagte zu den beiden, es wundere mich, daß Rafa sich so sehr von der Szene zurückzieht.
"Vielleicht tourt er viel", vermutete Sarolyn.
"Der hat schon eine ganze Weile nicht mehr getourt", erwiderte ich. "Schau, da ist er."
Rafa stand ganz in unserer Nähe und blickte zu uns herüber. Dann ging er dicht an uns vorbei, eine halbleere Wasserflasche in der Hand, etwas zögernd, mit steifen Beinen, und grüßte Rory. Dazu sei angemerkt, daß Rafa fast gar nicht oder gleich überhaupt gar nicht mit Rory bekannt ist.
"Auf mich wirkt er so, als wenn in der Flasche nicht Wasser wäre, sondern Wodka", meinte Sarolyn.
Nach einer Weile sah ich Rafa noch einmal im Zuschauerraum. Unweit von uns stand er mit einem Herrn, den ich nicht kenne; dieser trug einen Zopf und hatte eine rote Windjacke an. Rafa hatte sich umgezogen; er trug jetzt ein graues Hahnentritt-Sakko und darunter ein T-Shirt. Yasmin kam zu Rafa gelaufen, unvorteilhaft gekleidet mit einer weiten Lackhose unterm Rock. Sie begann ein Gespräch mit ihm, und auf ihrem Gesicht bildete sich ein entrückter Ausdruck. Rafa redete einige Sätze mit ihr und ging dann mit seinem Begleiter zur Vorhalle.
Den Auftritt von Second Decay wollte Rafa nicht verpassen. Er hatte wieder den Rotgekleideten neben sich. Mir fiel auf, daß Rafa nie applaudierte. Ab und zu war es mir, als wenn Rafa zu mir blickte; ich war mir aber nie sicher. Rafa schien das Konzert nicht zu gefallen, obwohl es gerade so klang wie auf den CD's, die Rafa so mag. Er ging schon nach wenigen Stücken mit dem Rotgekleideten ins Backstage.
Janssen hatte sich Zutritt zum Backstage verschafft, indem er den Türstehern bei der Arbeit half. Er durfte den Zugang zum Backstage bewachen und wußte auf diese Weise immer, wer sich wo aufhielt. Ich sah Berenice erst jetzt; sie lief zwischen dem Backstage und der Theke hin und her und brachte Getränke ins Backstage. Sie trug wieder eines ihrer üblichen Kleider, lang, schwarz, eng, geschlitzt; es hatte einen Durchbruch vorn und Spaghettiträger.
"Sie ist wirklich nichts Besonderes", dachte ich.
Ich wunderte mich darüber, daß ich Rafa nie mit ihr sah, sondern immer nur allein oder mit dem Rotgekleideten. Ich wollte von Janssen wissen, was Rafa mit Berenice im Backstage machte.
"Ich habe Rafa heute noch mit überhaupt keiner Tussi gesehen", erzählte Janssen.
Als Dive auftrat, kam endlich richtig Stimmung in den Saal. Ob Rafa davon etwas mitbekommen hat, weiß ich nicht. Besonders "Grownig deep inside", "Dark room", "Wake up screaming", "Sufferhead" und "Power of passion" sorgten für Bewegung.
Das Konzert von Umbra et Imago war eine aufwendige Performance mit Feuerspielen, Striptease und Akrobatik. Mozart, der den Beinamen "Ferkel" verpaßt bekommen hat, zog zwei Mädchen aus und hängte eines davon an einen Haken. Es mußte nun über dem Publikum schweben und wurde mit Kerzenwachs begossen und mit einer Neunschwänzigen Katze gestreichelt. Anschließend hängte Mozart sich selbst kopfüber an den Haken und ließ sich bis unters Zeltdach hinaufziehen. In den Händen hielt er Stöckchen, an denen rot leuchtende Bengalfeuer abbrannten. Mozart entblätterte sich nicht, hatte aber einen Slip an, den man getrost als "Push up" bezeichnen konnte.
"Vielleicht gibt's bei ihm nicht viel zu sehen, deshalb polstert er den Slip aus", vermutete ich.
Dolf interessierte sich für diesen Auftritt, Rafa sah ich hingegen nicht. Dolf war vorwiegend mit Magda unterwegs, Rafa war fast immer im Backstage.
Ein Mädchen schrie zu dem unterm Zeltdach baumelnden Mozart hinauf:
"Oh, Süßer! Süßer! Oh, der Mann ist so scharf!"
Ich frage mich, was sie mit dieser Verehrung anfangen will - und was sie überhaupt von Mozart will. Die reine Verehrung ist für mich etwas völlig Sinnloses, weil sie nicht zu einer zwischenmenschlichen Beziehung führt.
Den Gegenpol zum ergebenen Fan-Dasein bildet Rafa, der kaum mehr applaudieren kann. Er kann die künstlerische Leistung anderer Menschen vielleicht deshalb nicht anerkennen, weil es sich nicht um seine eigene handelt.
Als Suicide Commando spielten, kam Rafa allein aus dem Backstage und ging zur Theke. Ich schaute von der Bühne weg und folgte ihm mit meinen Blicken. Er sah das, und auf einmal lächelte er mir ins Gesicht, hob einen Arm senkrecht in die Höhe und winkte. Er hielt in seinem Schritt nicht inne. Als ich zögernd die Hand hob, wandte er sich schon ab.
Sein Lächeln und Winken wirkte auf mich, als wollte er sagen:
"Gaff' nur, du kriegst mich doch nicht!"
Während "Save me" lief, war Rafa noch einmal draußen. Ob er zu mir geschaut hat, weiß ich nicht.
Ein letztes Mal sah ich Rafa, als In the Nursery spielten. Rafa mischte sich mit dem Rotgekleideten unters Publikum. Ich konnte kaum zur Bühne schauen, mußte mich immer zu Rafa umdrehen. Weil ich weiter vorne stand als er, war es unvermeidlich, daß er dies bemerkte. Unsere Blicke trafen sich kurz. Rafa ging schon nach zwei oder drei Stücken mit dem Rotgekleideten zurück ins Backstage. Ich fragte mich, ob er neidisch ist auf In the Nursery, die musikalisch viel gereifter sind als er und viel ernster genommen werden, oder ob ihm diese getragenen, von Military Drums untermalten, fast klassisch wirkenden Klänge nicht gefallen, oder ob er es nicht leiden konnte, daß ich ihn immer ansehen mußte.
Mein Friseur Mauro fand Rafas Auftritt "arm". Rafa habe sehr schlecht zum Playback gesungen - immer neben dem Text. Ihm sei außerdem aufgefallen, daß Rafa sehr oft den Kopf ins Genick warf, als wollte er seine Ponysträhnen zurückschleudern.
"Absolut simpel strukturiert" findet Rory die Musik von Rafa.
Velvet hat wieder bei Saara angerufen und ihr erzählt, was sie auf dem Festival alles erlebt hat. Velvet ist es gelungen, an einen der letzten Backstage-Ausweise zu kommen. Als Kappa sah, wie sie stolz ins Backstage marschierte, soll er sie angefaucht haben:
"Bei wem hast du dich denn jetzt wieder eingeschleimt? Was willst du hier überhaupt? Hau' bloß ab, du!"
Velvet war insgesamt lange im Backstage. Sie sah sowohl Rafa als auch Berenice dort, aber sie sah die beiden nicht zusammen. Berenice sei sehr zuvorkommend zu Velvet gewesen. Sie habe Velvet angesprochen mit den Worten, man würde sich doch kennen; sie sei vor zwei Jahren mit Velvets ehemaligem Mitbewohner zusammengewesen. Velvet erzählte ihr daraufhin, dieser Mitbewohner sei ein ganz schmuddeliger Kerl, eklig und schlampig. Berenice soll etwas irritiert entgegnet haben, bei ihr sei er immer sauber und gepflegt erschienen.
Über Rafa habe man sich allerdings nicht unterhalten. Als Velvet mit Rafa sprach, ging es auch nicht um Beziehungsdinge.
Berenice versorgte das Backstage mit Speisen und Getränken und brachte Velvet die verlangten Nudeln. Velvet fand die Nudeln "eklig", und Rafa ließ sich daraufhin dieselben Nudeln bringen und aß sie.
Rafa soll über die Maßen nervös gewirkt haben.
Lana glaubt, daß eine solche Nervosität auf Kokain zurückzuführen ist. Ich bin mir nicht sicher, ob Rafa sich bei seinen Auftritten mit Kokain zu helfen versucht.
Immer wieder habe ich überlegt, welche Problematik bei Rafa bestehen könnte. Gemeinsam mit Lana bin ich schließlich zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Selbstwertstörung, wie sie bei Rafa vorliegt, dem Begriff der narzißtischen Störung zugeordnet werden kann. Es heißt zwar, der Narzißt sei in sich selbst verliebt, das ist aber in Wirklichkeit nicht so, vielmehr wird die Selbstverliebtheit zur Schau getragen, um Selbstunsicherheit und das Gefühl der Wertlosigkeit zu überdecken. Es heißt auch, daß der Narzißt sich für andere Menschen nicht interessiert, aber das halte ich nicht für allgemein zutreffend. Narzißmus hat viele Gesichter, vom egozentrischen Aufschneider bis zu der sich aufopfernden Krankenschwester, die von der Anerkennung durch die Patienten lebt. Man kann zusammenfassend von einem "instabilen Ich-Gefühl" sprechen. Das bedeutet auch, daß sich ein Mensch in seiner Identität fortwährend unsicher oder bedroht fühlt.
Lana hat mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten Blister B. über das Thema "Narzißmus" gesprochen. Sie hat den Eindruck, daß bei ihm eine solche Problematik besteht. Er kann durchaus nachvollziehen, daß er nicht frei von dieser Störung ist. Insofern ist er Rafa voraus, macht es sich jedoch möglicherweise auch einfach, indem er sich darauf zurückzieht:
"So bin ich eben."
Blister soll sich sehr an die Flasche klammern. Manch ein Suchtkranker glaubt, daß er nur kreativ arbeiten kann, wenn er sich im Rausch befindet. Er glaubt nicht an sich, vertraut nicht auf sich, braucht immer den Halt einer Droge.
Lana bereut es nicht, daß sie vor etwa sieben Jahren Jules geheiratet hat, den ersten Mann in ihrem Leben und zugleich denjenigen, dem sie sich innerlich am nächsten und am engsten verbunden fühlt. Mit Blister hat sie nur freundschaftlichen Kontakt behalten, und das ist ihr recht. Als Lebensgefährte war er ihr zu unzuverlässig, und sie fühlte sich ihm auch menschlich nicht nahe genug.
Am Mittwoch war Rafa im "Zone", ausgerechnet an einem Tag, als ich nicht da war. Terry hat ihn gesehen. Rafa kam mit einem langhaarigen blonden Mädchen ins "Zone", dasjenige wohl, mit dem er in der "Halle" geschäkert haben soll. Terry sah ihn aber nicht mit der Blonden turteln oder knutschen.
Rafa ging sogleich auf Terry zu, begrüßte sie und wollte ihr eine Zigarette anbieten. Sie lehnte ab, weil sie nicht raucht. Da sie sich nicht weiter um ihn kümmerte, entfernte er sich.
"Er hat wohl gemerkt, daß er nervt", meinte Terry.
Rafa blieb unweit von ihr stehen, mit der Blonden.
Auf der gemeinsamen Geburtstagsfeier von Clara und Carl waren auch Folter und Rufus. Folter spielte auf meine Nervosität an und rief jedesmal, wenn er mich sah:
"Noch zehn Jahre! Zehn Jahre machst du noch, bis zum Herzinfarkt!"
Er meinte, sowas wie mich müßte man als Barbiepuppen-Sonderedition herausbringen.
Clara erzählte Rufus von ihrem "Noch-Freund" Ray, mit dem sie zuerst begeistert Heiratspläne geschmiedet hatte, der inzwischen aber immer weniger ihren Vorstellungen entspricht. Rufus erzählte Clara, daß er immer noch in Clarice verliebt ist. Clarice kam in einem prächtigen Samtkleid mit langen Tütenärmeln, in Blau und Schwarz. Ihr Freund Leander begleitete sie.
Ende September verstarb Merles Vater an den Folgen langjährigen Alkohol- und Zigarettenkonsums. Merle erfuhr es spätabends, als wir bei ihr zu Besuch waren. Sie weinte und legte sich schlafen, während wir uns um die quirlige Elaine kümmerten. Elaine spielte mt ihren Fingern Theater. Der kleine Finger bekam den Namen "Baby" und setzte sich bei "Mama", dem Ringfinger, auf den Schoß. Elaine wollte immerzu springen und tanzen. Zwischendurch half sie beim Aufräumen und Abtrocknen. Dann wurde sie zu Merle ins Bett gelegt. Sie fand sich schnell damit ab.
Merle nimmt Elaine mit zur Beerdigung. Elaine wird nicht verstehen, was vor sich geht, aber sie kann solche Ereignisse als zum Leben gehörig erfahren und einordnen.
Sarolyn erlebt ihre Beziehung mit Rory als immer schwieriger. Sie schaffe es nicht, Rory zu erklären, daß seine Maßstäbe nicht allgemeingültig sind.
Rory hat erzählt, er wünsche sich nun doch ein eigenes Zimmer. Er scheint erkannt zu haben, daß bei der bisherigen Wohnzimmer-Schlafzimmer-Einteilung weitgehend die Rückzugsmöglichkeiten fehlen.
Yodo soll übrigens geheiratet haben.
Rikka ist über die Trennung von Seth immer noch nicht hinweggekommen. Sie möchte gemeinsam mit Giulietta ihre Erinnerungen an Seth symbolisch begraben, in einer feierlichen Zeremonie. Es gibt einen jungen Kollegen, mit dem Rikka gerade eine Beziehung anfängt.
In der Nähe des Hauses, in dem ich wohne, hängt am Zaun ein Totenkranz, verziert mit einem Teddybären und einer Schleife, auf der steht:
"Zum 8. Geburtstag, Sascha und Familie."
Das Kind, das dort überfahren wurde, bekommt regelmäßig frische Blumen an die Ampel gesteckt.
Am Mittwoch traf ich Ivco im "Zone". Er hat noch keine Stelle in Brasilien, dafür eine in K. Er hat die Stelle bekommen, als er sich bei einer Präsentation der Firma erkundigte, ob sich eine Bewerbung lohne. Carole und Ivco sehen sich an den Wochenenden.
In Brasilien soll es eine lebendige Elektro-Independent-Musikszene geben. Die Leute dort sollen auf den "schwarzen Geschmack" gekommen sein.
Revco war auch im "Zone", mit Laura. Weil Laura auf der Hinfahrt ohne Punkt und Komma redete, stolperte Revco in eine Blitzfalle. Vor eben dieser Falle hatte man uns rechtzeitig an einer Tankstelle gewarnt.
Als ich Revco auf seine gigantischen DJ-Pläne ansprach, die er in H. gehabt hatte, meinte er nur:
"Ich habe zu nichts mehr Lust."
Einmal hat er in PE. aufgelegt, NDW und Wave, und das war es.
Revco lebt noch immer von seinem Unfall vor über zwei Jahren. Man zahlt ihm Krankengeld, und er hofft, danach noch Schmerzensgeld zu bekommen. Arbeiten möchte er nicht.
Über Rafa hat Revco lediglich gehört, daß dieser mit Kappa im "Maximum Volume" auflege. Meines Wissens hat Rafa bisher nur einmal dort aufgelegt.
Beryl hat Ärger mit ihrem Freund Gerson. Er soll ihr andauernd Vorschriften machen und inzwischen sogar erklärt haben, er halte sich eine Zweitfrau. Er habe vor, sich mit dieser Zweitfrau "auszutoben" und anschließend Beryl zu heiraten. Beryl entschied sich für eine vorübergehende Trennung.
Beryl und ihr Sohn Boris waren mit Merle, Elaine, Constri und mir auf dem Oktoberfest. Es war sehr kalt, und wir gönnten uns heiße Leckereien. Die Kinder wurden in die Karussells gesetzt, und wir fuhren mit ihnen Autoscooter.
Als Constri und ich mit Merle beim Kaffee saßen, holte Elaine ihr Schminkzeug herbei und fragte mich:
"Hast du einen kleinen Piegel?"
Ich gab ihr mein Spiegelchen, und sie dankte artig.
Nachdem Elaine lauter Farben benannt und sich damit verziert hatte, räumte sie das Schminkzeug weg und brachte mir das Spiegelchen wieder, ohne daß ich etwas dazu gesagt oder auch nur daran gedacht hätte.
Kürzlich gab Elaine mir ein Bild und sagte:
"Das ist für dich. Ich habe gemalt."
Sie faltete es sogar zusammen, damit ich es besser in die Tasche stecken konnte.
Die Spielzeugautos läßt sie eindrucksvoll vom Tisch stürzen und schreit dazu:
"Aaaahh ..."

Anfang Oktober habe ich geträumt, ich sei in einem großen Tanzsaal mit einer Galerie. Oben auf der Galerie sah ich Rafa. Ich schaute ihn an, und er schaute auch mich an. Ich sehe keinem anderen Menschen so ins Gesicht wie ihm, so lange und ohne mich abzuwenden, fast ohne zu blinzeln. Rafa kam nicht näher an mich heran; ich konnte ihn nicht erreichen.

Saara entdeckte in der Hülle einer CD, die sie lange nicht mehr gehört hatte, noch eine zweite CD, und zwar "Alles ist möglich" von Rafa. Wie dieses Album da hineingekommen war, konnte Saara sich beim besten Willen nicht erklären. Es wäre höchstens denkbar, daß Rafa bei einem seiner letzten Besuche vor zweieinhalb Jahren die CD in die fremde Hülle geschmuggelt hat, vielleicht um Saara auf diese Weise das längst versprochene Weihnachtsgeschenk zu überreichen.



Am 09.10. klingelte nachmittags um zehn vor vier einmal das Telefon. Als ich abnahm, hörte ich nur noch das Freizeichen.
Abends war ich mit Constri zum Kaffee bei Erdnußkopf. Danach fuhr ich mit Erdnußkopf in die "Halle", wo Kappa eine seiner letzten Parties gab. Im Frühjahr soll die gesamte Fabrikhalle leergeräumt und anderweitig genutzt werden. Ich hatte mich zurechtgemacht mit grauen Strapsen, einem grauen Kleidchen mit Netz und Samtblümchen, einem grauen Samtbody, Zopfgummis aus grau geblümtem Tüll, vielen grauen Ketten und grauen Satinschnürbändern. Das fand durchaus Anklang, aber was Rafa davon hält, kriege ich im allgemeinen nicht heraus. Rafa stand bei Kappa oben auf dem DJ-Balkon. Kappa knuddelte ihn und war wie immer liebevoll und fürsorglich. Rafa legte nicht auf; Kappa war durchgehend am DJ-Pult.
"Im Rhythmus bleiben" von Front 242" war eines der wenigen Stücke, zu denen ich tanzen mochte. Als "Take me Baby" von Jimi Tenor begann, ging ich ebenfalls auf die Tanzfläche. Lillien tanzte links neben mir, und links von ihr tanzte Rafa. Es war ungewöhnlich für ihn, überhaupt zu tanzen, und schon gar zu diesem Stück. Noch ungewöhnlicher war es, daß er dazu in die Ecke kam, wo ich meistens bin. Rafa trug seine graue Jacke mit den Schnörkeln. Ansonsten sah er - wie ich fand - entsetzlich aus; er war fürchterlich unrasiert, die Haare saßen nicht; er wirkte richtig vernachlässigt auf mich.
Nach dem Stück suchte Rafa wieder das Weite. Er kam aber kurze Zeit später noch einmal in meine Nähe. Fünf Schritt von mir entfernt stellte er sich an den Rand der Tanzfläche. Er war allein. Ich schaute ihn fortwährend an, und er drehte sich auch zu mir um und blickte mir in die Augen. Weil es so dunkel war, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht einschätzen. Rafa ging bald wieder weg und erschien oben auf dem Balkon.
Berenice bediente an der Bar. Ihre Haare sind schon wieder länger geworden, und sie steckte sie wieder hinter die Ohren, was, wie ich finde, ihr Allerwelts-Aussehen unterstreicht.
In dem Kunstnebel konnte ich nicht erkennen, ob Rafa sich mit Berenice befaßte. Berit stand die meiste Zeit dort an der Bar und will nichts Derartiges beobachtet haben.
Als Kappa das "Dave Dancing" moderierte, sah ich Rafa nicht mehr. Hoffi hatte seinen großen Auftritt, zappelte, wiegte sich in den Hüften und zog sich das T-Shirt aus. Als er auf dem Balkon zum Sieger gekürt wurde, kam Berenice hoch und brachte Moët & Chandon.
Gegen zwei Uhr machte ich einen Rundgang durch die "Halle". Rafa war nirgends zu finden, auch nicht außerhalb des Zelts in der himmelhohen Fabrikhalle. Ich ging langsam durch das Licht eines Scheinwerfers, der aus zwanzig Metern Höhe auf den lehmigen Boden herunterstrahlte. Einige der schmalen Fenster an der Seitenwand sind zugemauert. Man sieht überall Gerümpel, Reste und Ruinen. Aus dem schäbigen Backstage nahm ich als Erinnerungsstück den Zeitplan für die Auftritte bei dem großen Festival mit. Rafa war als kleinster Act Letzter im Soundcheck mit der geringsten Zeitreserve. Er hatte als Erster seinen Auftritt und auch hier am wenigsten Zeit.
"Und der will auf Musik seine Existenz aufbauen", dachte ich.
In einem Mailorder-Katalog ist vermerkt, daß das neue Album von Rafa erst im November erscheinen soll - statt, wie zuerst angekündigt, im April.
Edaín erzählte mir, daß sie dieses Mal nicht die ganze Zeit oben bei Kappa war, sondern sich auch ein wenig unter die Leute gemischt hat. Sie trug einen hochgeschlossenen Overall aus schwarzem Lack, der ihr sehr gut stand. Sie scheint allmählich doch ganz gerne aufregende Abendgarderobe anzuziehen.
Edaín berichtete, sie werde am 15. Mai Kappa heiraten, in einer der größten Kirchen von H., einem Bauwerk der Backsteingotik. Ich fragte sie, ob Kappa es schaffen werde, die Kirche vollzukriegen, da er fast keine Freunde habe. Edaín war sicher, er werde es schaffen.
In der Samstagnacht erzählte Chantal im "Radiostern", sie komme nicht über Serafs Verlust hinweg. Serafs Eigenschaften habe sie in dieser Form bisher bei keinem anderen Mann gefunden. Sie suche nach jemandem, der Seraf übertreffe. Sehen wolle sie Seraf nicht, das ertrage sie nicht.
"Bei mir kommt es nicht einfach auf den Ausprägungsgrad der einzelnen Merkmale an", meinte ich, "mir geht es um das Vorhandensein eines bestimmten Menschen. Rafa kann keiner übertreffen, weil keiner mehr er sein kann als er."
Sasch und Shirley waren beide im "Radiostern", sind aber inzwischen getrennt.
"Ich wollte nicht in der Schlange stehen mit all den Mädchen, die hinter ihm her sind", erklärte Shirley.
Sie sah niedlich aus mit ihrem schwarzen Spitzenblüschen und den großen Spitzenschleifen in den hochgebundenen Zopfschwänzen. Sie trug ein knappes Lackmieder und aufregend gemusterte Strümpfe. Die Augen waren liebevoll mit Kohlestift ummalt.
"Und dich will er nicht mehr?" fragte ich erstaunt.
"Irgendwie war ich ihm egal", meinte Shirley. "Er ist jedenfalls nicht mehr der, den ich damals kennengelernt habe."
Sie sei nicht einsam, habe gute Freunde, aber es würde eben etwas fehlen.
Am Mittwoch sah ich im "Zone" kunstvoll kostümierte Mädchen mit Reifröcken, über die Pannesamt fiel, mit Hut und Federn. Ein Junge kam daher wie ein untoter Graf.
Les veranstaltete ein CD-Gewinnspiel und raunte mir zu, ich solle "BI." antworten, wenn nach der Heimatstadt von Synapscape gefragt werde. Dafür bekam ich einen Sampler geschenkt.
Auf der Arbeit gibt es weiterhin allerlei Seltsamkeiten zu hören und zu erleben. Ein Patient kam strahlend aus dem Wartezimmer, eine Illustrierte in der Hand, und las einen Witz vor:
"Wie heißt die Erektion bei Pavarotti? 'Notenständer' ... oder 'Zauberflöte'!"
In einem der Altenheime, die von der Praxis betreut werden, zerschneidet ein neuer Bewohner Nacht für Nacht den Zaun mit einem Küchenmesser, um "einzukaufen". Er will sich Valoron N in der Apotheke besorgen. Regelmäßig läßt er sich in der Apotheke abholen und ins Heim zurückbringen.
Eine Bewohnerin hat die Angewohnheit, ausdauernd im Stakkato mit der Handfläche gegen den Spiegel zu trommeln und dazu zu schreien. Eine andere Bewohnerin, die der Sprache nicht mehr mächtig ist, redet nur noch in Zahlen, je nach Stimmung:
"5 ... 22 ... 14 ... 3! 3! 3!"
Ninyat zeigte einer Bewohnerin ein Feuerzeug und fragte sie, was das sei.
"Toll", sagte sie.
Dann zeigte Ninyat ihr seine Armbanduhr und fragte, was das denn sei. Sie meinte:
"Ist auch nicht so schlimm."
Ein Bewohner neigt dazu, längere Zeit im Kreis zu laufen. Es kam öfter vor, daß er ohne Ankündigung und ohne erkennbaren Anlaß Mitbewohner schlug. Seine Miene war traurig, und als man ihm ein Antidepressivum gab, schmetterte er frohe Marschlieder und schlug weiterhin seine Mitbewohner.
Ein Bewohner wollte zur Herbstzeit die Holztiere schlachten, die im Treppenhaus des Altenheims zur Dekoration aufgestellt waren. Die Enten mußten in den Stall, das Großvieh mußte sein Leben lassen. Der aus ländlicher Gegend stammende, hochbetagte Bewohner war mit den im Haus befindlichen Toiletten nicht zufrieden. Er bevorzugte die Treppenhäuser.
Gerade jetzt, wo bald die Herbstferien anfangen, sorgt eine schwere Erkältung dafür, daß ich nicht arbeiten kann und daß an den freien Tagen alle Unternehmungen ausfallen, auf die ich mich gefreut habe. Krankheiten kommen bei mir unter anderem dann, wenn ich die Stelle wechseln muß, wie in diesem Fall, wo ich nicht aus der Praxis wegwill, es aber muß, um die erforderlichen Krankenhaus-Jahre für die Facharztprüfung zu sammeln. Als ich Fieber hatte, habe ich geträumt:

In der "Halle" wollte Rafa ein Mädchen herumkriegen, indem er es zärtlich in die Schultern zwickte und mit routiniertem Charme bearbeitete. Ich stand einige Stufen höher als er auf einem langgestreckten Podest. Rafa schaute zu mir hoch und lächelte stolz; das sah aus wie:
"Hehehe, ich kann's immer, und ich kann's immer noch."

Anscheinend war es wichtig für ihn, gerade mir das zu zeigen ... und nachzuweisen, wie unabhängig er von mir ist und wie wenig das, was ich ihm vermittelt habe, ihn beeinflussen konnte.

In einem anderen Traum fuhr ich alleine zum "Zone". Weil ich erkältet war, konnte ich mich nur schwer aufs Autofahren konzentrieren. Das letzte Stück Wegs nahm ich noch ein Mädchen mit. Ich fand es an der Straße und fragte es, ob es nicht einsteigen wollte.
Als ich in den großen Tanzsaal kam, sah ich überall sich bauschende Reifröcke, gewaltige Federboas und aufgetürmte Frisuren, weit über den Boden fließende Schleppen, lange, wehende Schleier und Glitzerschmuck. Die Kostüme leuchteten in durchscheinendem Rot, weichem Violett und kühlem Blau; die Farben waren in allen Zwischentönen hingegossen über den schwarzen und weißen Untergrund. Auf der Bühne des "Zone" hatten sich mehrere weißgekleidete Damen in Reifröcken aufgestellt. Sie hielten etwas in den Händen; es konnten Blüten sein, das war aber nicht genauer zu erkennen, weil die Bühne noch nicht erleuchet war. Ein Mann, der gekleidet war wie ein hoher Adliger im historischen Gewand, führte eine Dame über die Tanzfläche, die ein Schleppkleid trug. Rings um die Tanzfläche war es menschenleer; da warenStoffbahnen auf dem Boden ausgerollt, und feiner durchsichtiger Organza hing von der Decke. Der Rand der Tanzfläche war effektvoll mit indirekten Strahlern ausgeleuchtet, in Rosa- und Blautönen.
Ein bekannter Musiker wollte hier seine Hochzeit feiern, und für die Zeremonie hatte er den Saal in Beschlag genommen, ohne daß das vorher angekündigt worden war.
"Laß' den doch seine Hochzeit feiern", dachte ich, "Hauptsache, ich komme hier irgendwie nochmal zum Tanzen. Wie soll denn das werden; ich möchte auch meine Industrial-Sachen hören."
Einige CD's hatte ich mit und konnte den Bestand von Les ergänzen.
"Wie soll denn das laufen", dachte ich, "müssen wir jetzt die ganze Zeit dieser Zeremonie zugucken?"
Nur in der Nähe des Eingangs war noch nichts im Saal aufgebaut, und nur hier konnte man sich ungestört bewegen. Ich ging bis ans Ende dieses Bereichs, hinein in das Schleiergewirr, gegenüber der Bühne. Dort legte ich meine Sachen auf die Stoffbahnen und richtete meine Garderobe. Ich trug die schwarze Trägercorsage und einen Tüllrock. Ich holte Ketten und schwarze Perlenschnüre hervor und wollte mich damit verzieren, weil ich mir noch nicht schön genug war. Dazu setzte ich mich auf eine Treppenstufe. Als ich nach einer Weile aufblickte, war die Bühne erleuchtet und leergeräumt, und nur ein einziger Mensch stand da im Scheinwerferlicht, und das war Rafa. Er war nachlässigt gekleidet und frisiert, ließ die Jacke offen hängen, war weder gekämmt noch geschminkt und bastelte an einem Mikrophon und irgendwelchen Kabeln herum. Ich sah ihn, er sah mich, über eine Entfernung von etwa dreißig Metern. Er ließ alles stehen und liegen und ging um die Tanzfläche herum zu mir. Er beugte sich über mich, kniete sich nah bei mir hin mit aufgestützten Armen und fragte:
"Sag' mal, wollen wir das jetzt hier immer nur so machen, daß du mich anguckst und daß da nie was bei 'rauskommt?"
Ich saß zwischen seinen Armen und schnappte ihn mir; ohne aufzustehen, legte ich den Arm um ihn. Er zeigte sich verständnislos:
"Was soll das?"
"Es ist so, wie es immer ist", entgegnete ich. "Ich liebe Rafa."
"Das kann ich mir gar nicht vorstellen."
Ich tastete an ihm herum und konnte feststellen, er war es wirklich.
"Doch, ich liebe dich", sagte ich. "Und ich habe unheimliche Sehnsucht nach dir, und ich möchte am liebsten immer mit dir zusammensein. Ich möchte mit dir reden und noch viel, viel mehr. Aber das ging ja immer nicht, all die Jahre, weil du mir ja nie treu sein wolltest."
"Ja, wieso geht das denn nur, wenn ich dir treu bin?"
"Oh Mensch, du bist viel zu intelligent und alert, um nicht zu wissen, wie wichtig das ist, daß zwei Menschen, die zusammen sind, einander treu sind. - Was glaubst du denn? Warum bist du nicht treu?"
Rafa merkte wohl, daß diese Frage aufs Glatteis führte, und sagte gar nichts mehr.
Ich tastete seine Hände ab und fand keinen Ring. Am rechten Handgelenk fand ich jedoch die Uhr, die er von seinem Vater geerbt hat. Ich verdrehte seinen Arm etwas und sagte:
"Ja, das ist die Uhr, ich erkenne sie wieder, genau das ist sie, so sieht sie aus. Du trägst sie aber dieses Mal nach außen und nicht nach innen."
Andauernd umarmte und streichelte ich ihn.
Schließlich kamen Leute, die Rafa sprechen wollten. Er meinte, er müsse jetzt "erstmal wieder da 'rüber". Ich hielt seinen linken Arm in meiner Hand, und er ging ohne Arm mit den Leuten weg. Für eine Weile konnte ich den Arm noch behalten. Dann flog der Arm durch die Luft hinter Rafa her und saß gleich wieder an seinem Körper.
Die anderen Leute hatten gesehen, daß ich einen Bestandteil von Rafas Körper abgetrennt und in meinen Händen gehalten hatte. Sie fanden das anscheinend recht unerhört, aber gleichzeitig auch etwas amüsant.
Ich bastelte an meinen Kettchen weiter, und wenn mir Perlen herunterfielen, wurden sie von den Leuten aufgesammelt, die sich inzwischen unterhalb von mir auf die Stufen gesetzt hatten, und mir wieder zugeworfen. All diese kleinen Glitzersteinchen und Perlen waren auf gewisse Weise auch Bestandteile von Rafa, wie die Augenblicke, die ich mit ihm verbringen konnte, Schätze, die mir für immer erhalten bleiben. Die Leute hatten den Eindruck, ich würde Rafa "sammeln" ... Begegnungen, Berührungen, Bilder, Gespräche.
Ich betrachtete meinen Sitzplatz.
"Das ist die Ecke, wo ich nun immer hinüberschauen werde und denken, hier habe ich Rafa wieder umarmen können", ging mir durch den Kopf.

Rafa ging in dem Traum rasch von mir weg, als fremde Leute ihn ansprachen. Durch die Leute fühlte er sich wahrscheinlich verunsichert. Vielleicht schämte er sich dafür, daß er sich von mir streicheln ließ.

In einem Traum klingelte es abends an der Tür. Ich öffnete, und da stand Rafa. Er hatte sich sorgsam über den Ohren rasiert und guckte sehr nett. Ich konnte ihn endlich wieder auf mein Bett ziehen und auch entkleiden. Am Ende hatten wir fast nichts mehr an. Ich konnte ihn umarmen und streicheln, wie ich wollte. Das Licht war an. Wir warfen irgendwann die Decke fort und froren nicht.
In der Anlage lief eine Kassette von neunzig Minuten Dauer einmal ganz durch. Danach lagen wir immer noch auf dem Bett. Wir redeten viel miteinander. Rafa erzählte, daß er von mir träume.
"November 1998", dachte ich. "Ich habe ihn jetzt wieder bei mir, nach so langer Zeit."
Über andere Frauen redeten wir jedoch nicht. Ich freute mich, weil ich ihn endlich wieder umarmen konnte, und er stieg über mich und kroch unter mir hindurch. Ich konnte auf ihm liegen und mich an ihn kuscheln. Rafa war sehr aufgeregt. Einmal versteckte er seinen Kopf in den Armen, und seine Stimme veränderte sich, als wenn er traurig war und weinen mußte. Ich fragte ihn, ob es nun doch besser sei, daß er wieder zu mir gekommen sei.
"Ja", antwortete er in einem herausfordernden Tonfall, "leider."
"Oh - das ist einerseits eine Bestätigung und andererseits Bedauern."
"Ja."
Dann band er sich die Haare in Zöpfchen hoch, wie um mich nachzuahmen, sprang auf dem Boden herum und lächelte mich an. Es war immer sein Gesicht, immer er, so wie ich ihn kenne. Seine Haare hatten wieder eine natürliche Farbe, mal heller, mal dunkler, jedenfalls waren sie nicht mehr schwarz gefärbt.
Rafa lief in meiner Wohnung herum und schaute sich alles an. Kinder waren nun auch anwesend. Rafa betrachtete die Kinder neugierig. Schließlich kam er auf die Idee, unbedingt Fotos von mir aus den letzten fünfzehn Jahren sehen zu wollen. Ich suchte nach Fotos. Langsam hörte der Traum auf. Nach wie vor waren Rafa und ich uns sehr nahe, und er wirkte sehr zutraulich.

In einem Traum stieg mein Vater mit mir in ein Taxi aus Marmor, und ungezogen, wie er war, legte er seinen Regenschirm auf den Beifahrersitz, so daß der teure Lederbezug ganz naß wurde. Der Fahrer war ein livrierter Affe - nicht im übertragenen Sinne, sondern wahrhaftig ein Tier, das Livrée trug. Mein Vater wollte unbedingt selber fahren und verstaute den Affen auf dem Beifahrersitz und den Schirm im Kofferaum, wo er eigentlich hingehörte. Dann fuhr er mit neunzig Stundenkilometern die engen Serpentinenstrecken durch seine Heimatstadt S. Der Wagen schlingerte schon und kam fast gegen die hohe Mauer am Straßenrand.
"Papa, Papa, fahr' langsamer!" rief ich. "Ich will kein Grab an der Mauer finden, das haben schon andere. Siebzig kannst du fahren, aber nicht mehr."
Daraufhin mäßigte er seinen Fahrstil geringfügig, aber noch nicht so, wie ich es wollte.

Das sind wahrscheinlich die unartigen Gene, die sich immer wieder gegen die Spießigkeit und Verklemmtheit meiner Ahnen durchgesetzt haben. Viel habe ich von meinem Vater nicht geerbt, aber die Dreistigkeit sehr wohl. Ich setze mich auch gerne auf eigene Faust durch, wenn ich etwas unbedingt haben oder schaffen will.
Constri, Rikka und Giulietta hatten die Idee, eine "Heulparty" zu veranstalten, wo unbegrenzt geklagt und gejammert werden darf. Auf diese Weise versucht Rikka, wenigstens teilweise ihren Liebeskummer abzubauen.
Giulietta und Rikka haben Symbole für die Erinnerungen an Seth im dunklen Wald rituell bestattet. Dazu gehört auch ein Bukett, das Rikka mal auf einer Hochzeit gefangen hat.
Sarolyn hat erzählt, inzwischen könne sie nachvollziehen, daß ich eine Beziehung nur mit jemandem eingehen möchte, den ich liebe. Rory sei ihr unheimlich geworden, weil er so aggressiv sei. Sie sei damals mit ihm vor allem deshalb zusammengekommen, weil er den Wunsch danach hatte und es ihr daher leicht machte. Bei einem gemeinsamen Essen habe sie den entscheidenden Schritt gemacht und ihn geküßt. Um wirkliche Leidenschaft habe es sich allerdings nicht gehandelt.
Sarolyn hat vor, sich demnächst eine Wohnung für sich allein zu suchen.
"Als du mit Rory zusammengezogen bist, ging es dir wohl vor allem darum, zu Hause auszuziehen", vermutete ich, und sie konnte das bestätigen.
Was Rafa betrifft, meinte Sarolyn:
"Rafa hat für mich immer etwas Böses an sich gehabt."
Beryl und Gerson sind wieder zusammen, da Gerson seine "Zweitfrau" abgeschafft hat.
Constri und ich haben Carl eine Gardinenpredigt gehalten, um ihm bewußt zu machen, daß zu einer Freundschaft auch Verantwortung gehört. Eines Tages war er der Meinung, daß Clara ihn zu sehr an seine Mutter erinnert und daß er deshalb nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Daß sie darunter leidet, wenn er drei Jahre Freundschaft einfach wegwirft, zählte für ihn nicht. Und daß man Konflikte und Mißstimmigkeiten auch anders lösen kann als durch Trennung, Weglaufen und Aufgeben, kam ihm nicht in den Sinn.
"Dann sind wir wohl die Nächsten, auf die du keine Lust mehr hast", vermuteten Constri und ich. "Im Grunde machst du mit Clara nichts anderes als das, was Malda mit dir gemacht hat."
Ob Carl das begreift, wissen wir nicht. Vor einigen Jahren lag ich jedenfalls krank im Bett und bat Carl, mir von der Tankstelle eine Flasche Cola zu holen. Seine Antwort war:
"Da habe ich jetzt keine Lust zu."
Damals mußte er sich von mir auch eine längere Predigt anhören, mit dem Erfolg, daß er wenigstens bereit war, einzukaufen, wenn ich es selbst nicht konnte.
Wenn Carl seine Haltung nicht ändert, wird er mit der Zeit vereinsamen, weil niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben will.
Constri mußte sich von mir ebenfalls eine Predigt anhören. Weil Derek aufgrund seiner Schulden seinen Mietanteil nicht mehr bezahlt, glaubte sie, ihre Miete auch nicht mehr bezahlen zu müssen. Ich habe sie daran erinnert, daß sie es gar nicht gern hat, wenn man ihr Vertrauen mißbraucht und Versprechen bricht, die man ihr gegeben hat. Da solle sie sich doch dem Vermieter gegenüber so verhalten, wie sie es von anderen Leuten auch erwartet. Sie sei schließlich dazu erzogen worden, ihre Schulden zu bezahlen und andere nicht über den Tisch zu ziehen. Derek läßt sich fallen und wartet, bis er aufschlägt, und dann wird gejammert, daß die Welt doch so schlecht ist. Und Constri müsse sich doch nicht mit ihm fallen lassen. Wenn Derek drei Monate lang seinen Mietanteil nicht bezahle, müsse er eben in Kauf nehmen, daß sie ihn vor die Tür setzt. Es ginge nicht an, daß sie Derek aushält, und es ginge ebensowenig an, daß sie seinetwegen ihre Wohnung gefährdet.
"Der weiß, daß du Trennungsängste hast", meinte ich, "und er spielt damit. Ich würde aber nicht mit mir spielen lassen."
Ende Oktober unterhielt ich mich im "Elizium" an der Bar mit Seraf. Auf die Frage nach seinem Befinden antwortete er, er genieße die Freiheit.
"Frauen können die Männer einfach nicht verstehen", meinte er. "Sie sind viel zu verschieden."
"Ich frage mich immer noch, wie es eigentlich zu der Trennung von Chantal gekommen ist."
"Das ist gewiß multifaktoriell und polydimensional", erklärte Seraf.
Insgesamt hat es wohl etwas damit zu tun, daß Chantal sich fest an ihn gebunden hat. Seraf ist nämlich der Ansicht, daß Monogamie gar nicht zu den Menschen passe.
"Und warum gibt es dann Eifersucht?" fragte ich.
Darauf bekam ich vorerst keine Antwort. Vielleicht fiel Seraf keine ein.

Ein Traum handelte von drei wildlebenden Katzen, die sollten von einer Baustelle weggebracht werden, in Sicherheit. Die erwachsene Katze nahm mein Vater mit, und ich wollte die beiden kleinen tragen. Das erste der kleinen Kätzchen war schwarz und saß ruhig im Fenster. Es ließ sich vertrauensvoll aufnehmen. Mein Vater zog dann das zweite kleine Kätzchen aus einem Winkel hervor, es war ein buntgeschecktes. Dieses Kätzchen strampelte sehr. Ich nahm es zu dem anderen auf den Arm. Da sagte das buntgescheckte Kätzchen:
"Ich bin häßlich, ich bin es nicht wert."
Dabei war das Kätzchen gar nicht häßlich.

Das erinnert mich auch wieder an Rafa. Ich glaube, er erträgt es nicht, daß er mir viel bedeutet, weil er glaubt, daß er nichts Bedeutsames ist.
Ted rief mich an und berichtete, er werde nun endlich sein "Coming out" vollenden. Vor vier Jahren hat er auf seiner Geburtstagsfeier Carl offenbart, daß er "bi" sei. Vor zwei Jahren hatte ich auf Teds Geburtstagsfeier ein Gespräch mit Blancas Mutter Lisbeth, die schon recht angetrunken war. Lisbeth erzählte mir von Teds neuer Freundin, und ich meinte dazu:
"Das kann ich nicht ernstnehmen. Ted liebt doch eh Marvin."
"Waas?" rief Lisbeth außer sich.
"Ach, das weißt du nicht?" mußte ich mich wundern. "In unserem Freundeskreis in H. wissen das doch längst alle."
Lisbeth schoß auf Ted zu und schrie:
"Du liebst Marvin! Du liebst Marvin!"
Ted hörte sich das an und dachte:
"Stimmt eigentlich."
Er begann langsam, an die große Liebe zu glauben.
Inzwischen führen Ted und Marvin die Firma gemeinsam, haben ein gemeinsames Konto, fahren gemeinsam in den Urlaub, gehen im Partnerlook, haben einen gemeinsamen Freundeskreis und treten stets als Paar in Erscheinung. Ted hat Marvin aber noch nie seine Liebe gestanden.
Wenn einer der beiden vorübergehend eine Beziehung hat - stets zu einem Mädchen -, wird der andere furchtbar eifersüchtig. Und nach wie vor stehen beide füreinander immer an erster Stelle. So kam es, daß Teds Freundin nach wenigen Wochen zu ihm sagte:
"Das hat keinen Sinn mit uns. Du stehst doch eh nur auf Marvin."
Als Ted kürzlich zu seiner Nachbarin sagte, daß er von der anderen Seite sei, meinte sie nur:
"Das habe ich doch längst gewußt. Du und Marvin, ihr seid doch das Paar."
Marvin spricht das Thema "Liebe" nie von sich aus an, machte aber immerhin die Bemerkung:
"Wir haben bald Zehnjähriges. Mensch, Ted, wir kennen uns schon so lange - das ist mehr, als die meisten Paare schaffen."
Ted will Marvin demnächst reinen Wein einschenken und ist deshalb ziemlich aufgedreht. Er spricht mit vielen Freunden und Bekannten darüber, um sich ein möglichst objektives Bild von seinen Chancen zu machen.
Derek hat von einem Bekannten dessen Hund übernommen, weil der Bekannte umzieht und das Tier in der neuen Wohnung nicht halten darf. Der Hund ist ein friedlicher Mischling, ein kuscheliger Familienhund. Er hieß eigentlich Rex, das fand Derek aber langweilig und nannte ihn um in "Flex".
Anfang November feierte Rufus seinen dreißigsten Geburtstag. Er hatte etwa zwanzig Gäste, darunter auch Dag, Marianna und Ciril. Das Buffet war - wie schon im vergangenen Jahr - üppig und liebevoll angerichtet. Rufus freute sich, weil Constri ihn zu einem "virtuellen Brot" erklärt hatte, was auch immer das sein sollte. Er gab sein Gästebuch herum, das er zur Konfirmation geschenkt bekommen hat. Damals haben seine Gäste nur ihre Namen hineingeschrieben, und das Gästebuch wurde bis vor fünf Jahren nicht mehr angerührt. 1993 ließ Rufus es wieder auferstehen, und seither verewigten sich die Gäste mit langen Gedichten, Geschichten, Sprüchen und Witzen:

Fliegt eine Birne an zwei Äpfeln vorbei, der eine Apfel zum anderen:
"Du, sag' mal, seit wann können Birnen fliegen?"
"Keine Ahnung, frag' sie doch!"
"Hallo Birne, seit wann können Birnen denn fliegen?"
"Ja, sag' mal! Kennst du mich nicht? Ich bin doch die Birne Maja!"

oder ...

Neuwerk, der Friedhof der namenlosen Seeleute.
Namenlos, wie weh das klingt,
namenlos ins Grab gesenkt,
den kein Mutterarm umschlingt,
dem kein Bruder Blumen schenkt.
Ach, im Wind, der diesen Stein,
diesen Hügel sanft umweht,
wird manch banges Klagen sein,
das Euch weinend suchen geht!

In dem Gästebuch habe ich vorwiegend die Ereignisse auf der Geburtstagsfeier mitgeschrieben und dabei einzelne Anfangsbuchstaben mit Rot ummalt, was den Text lebhafter gestalten sollte:

7 I 11 I 98
Rufus ist 30, Folter ist älter, Erdnußkopf hat 1981 seinen Führerschein gemacht. Das Telefon bei Folter ist immer noch abgestellt, Linda de Mol ist geschieden und Onno hat ein Fellwämschen an. Brinkus hat kein Telefon und kennt ganz viele unheimlich intelligente Leute, die wir unbedingt kennenlernen müssen - und die auch kein Telefon haben. Flex ist imstande, Rufus' Hauseingang zu erschnüffeln, wenn man ihm Rufus' Telefonnummer zu riechen gibt. Onno hält flammende Reden zur Rettung des Films "Titanic". Jeder will dann auch mal mitmachen + auch flammende Reden halten.
Vorsicht, Folter - asche nicht auf Flex! Woran merkt man, daß die Polen im Weltall sind? Wenn der Große Wagen geklaut worden ist! Folter schreit + grimassiert, wenn ich anfange, von R. zu reden (Insider). Lieber Rufus, zu Deinem Wiegenfeste wünschen wir Dir alles Gute auf Deinem weiteren Lebenswege. Folter pustet den Rauch aufs Blatt, damit ich nichts mehr sehe. Er beschließt, dieses Buch zu verbrennen; das sei die einzige Möglichkeit, hier lebend 'rauszukommen. Drees hat jetzt 1 neuen Rufnamen: Grübelfant! Und die Presse ist auch schon hier und berichtet von Constris Innenleben. Rufus serviert uns 1 geschichtsträchtiges Buffet mit Alk-freier Bowle und kleinen Zettelchen, auf denen die Namen der Spezialitäten stehen. Es gibt auch wieder Hack mit einem Gesicht aus Gurken und Zwiebelchen. Constri will, daß ich in dem anderen Raum weiterschreibe, weil das doch so wichtig ist, die Titanic zu retten. Fellhöschen ist heute nicht da, aber Talis ist da, mit Janice, die über die bizarren Rufnamen staunen muß.

"Und Rufus hat immer noch Liebeskummer", schreibt Folter dazu.
Und es geht weiter:

Um Gottes Willen, die haben sein Gästebuch gefunden. Und Onno heißt jetzt Onno di Cabrio! Achtung, Achtung! Das ist Sechzehnung. 8ung + 8ung = 16ung. Folter preist meine Vorzüge an:
"Die ist voll intelligent, die kann schreiben!!"
Er will mich mit Rufus verkuppeln. Er behauptet, Rufus würde Rafa ähnlich sehen. Voll ähnlich. Und er sei immerhin noch einer der Nüchternsten! Derek gräbt sich durch Rufus' CD's und begutachtet Constris Laufmasche. Constri erwägt eine Gruppentherapie, um die Laufmasche zu verarbeiten. Da die Strumpfhose auch schlecht verarbeitet sei, brauche sie ebenfalls eine Therapie. Als Grübelfant das bezweifelt, nimmt Constri die Strumpfhose in Schutz: Die Strumpfhose sei schließlich ein eigenständiges Wesen und brauche Schutz und Fürsprache, und das sei irgendwo nicht besonders zartfühlend, so abwertend über sie zu reden. Man bedenke, die Strumpfhose hat Ängste, in den Müll geschmissen zu werden, nur weil in ihrer Kindheit so manches abgelaufen sei - eine Masche zum Beispiel! Und man darf das nicht zu platt formulieren.
Jetzt haben sich schon so viele Menschen zusammengefunden, die eine Gesellschaft zum Schutze der Strumpfhosen gründen wollen.
Kollektives Umdenken ist gefragt, um das Problem fiktiv am Schopf zu packen.
Constri fragt Revil, ob er Onno zur Frau nehmen will. Derek findet, in die "Halle" gehen nur Armleuchter, die keine Frau finden!

Es folgen kurze Grußworte von mehreren Gästen. Dann geht es mit höchst zweifelhaften, politisch unkorrekten und alles andere als stubenreinen Sprüchen weiter:

Folter bespringt Talis, und Derek ruft:
"Ab in die Gaskammer!"
Eines Tages saß Folter in seiner Sonntagshose im Zug, und da kam ein Punker vorbei und sagte:
"Wenn ich dich sehe, kriege ich keinen mehr hoch!"
Jetzt schreit Folter:
"Juden können keine Zigaretten drehen!"
Derek ruft:
"Verrecke!"
Da hat man sich mal wieder verstanden!
Folter sagt, er will Derek nicht mehr f...en, weil Derek in der letzten Zeit voll häßlich geworden ist. Derek geht in Rente, weil keiner seine Musik hören wollte - meint Folter und lacht ein unnachahmliches Lachen.
"Missratener Sohn im Kasperletheater!"
Derek glaubt, er muß nur zweimal auftreten, "dann ist die Sch... eh verboten".
Wer ist Walnußmann? Wer ist Paranußkopf? Rufus ist jedenfalls ein virtuelles Brot. Folter sagt, er hat die bessere Frigur. Was auch immer das ist. Grübelfant sagt:
"Ach, wie gut, daß niemand stieß, daß ich weiß Rumpelhärter."
Haunted by IKEA!
Derek führt seine (angeblich) schwedische Abstammung ins Feld. Ein Sound läuft, der erinnert an einen Preßlufthammer, und man hört Hämmern auf Stahl. Das könnte "E 605" heißen. Ist aber Politics of Death.

Constri schreibt weiter:

Ich finde das richtig gut - Grübelfant hat eine ganz richtig innige Beziehung zu einem Cocktailspießchen aufgebaut. Jetzt grübeln sie beide gemeinsam herum. Thies packt einen Thriller in eine bestimmte Kategorie, trillert herum, Ciril findet das einfach nicht gut, Schubladen - findet Thies - sind rein menschlich, Thies hat sich einen Thriller genommen, weil ein Thriller nicht nur trillert, sondern sogar in eine Schublade paßt. Jetzt finde ich aber nicht gut, daß Grübelfant sein Spießchen schlägt! Thies ist, so findet er, nicht so schlimm, wie er ist. Es ist laut Ciril gar nicht komisch, wenn Thies sagt:
"Du hast Ähnlichkeit mit einem Typ namens Hein Blöd."

Dann schreibe ich weiter:

Ciril doziert von nun an unbeirrbar über Kategorien, und wehe dem, der es wagt, das Thema zu wechseln! Im Endeffekt wechseln die Leute lieber den Raum und versammeln sich in der Küche, anstatt Cirils Lehrstunde zu unterbrechen. Ciril studiert Philosophie und ist emsig damit beschäftigt, die Welt zu verbessern; dabei wollen wir ihn nicht stören.

Dann folgt ein unsignierter Eintrag, wahrscheinlich von Folters Kumpel Drees, in dem Rufus' jüngerer Bruder Thies auf die Schippe genommen wird:

Thies ist sauer auf Rufus, weil seine Eltern erst ihn Thies nennen wollten, aber dann ist ihnen noch ein besserer Name eingefallen, da blieb für Thies nur noch Thies über.

Dann schreibt Constri:

Torten Richard Hakenkreuze
Es kräuseln sich ihm die Nackenhaare:
Thies Hinrich Kräusen
(aus Präusen)

Dann schreibe ich:

Derek sitzt vollgetankt auf dem Stuhl und schreit:
"F...en! F...en! Ich kann nicht mehr ohne F...en!"
Folter:
"Kannst dich selber f...en, du alte Sau. Gustl, du bist Sch..."
gez. Hetty

Hier sei angemerkt, daß Derek mich "Gustl" nennt und daß der eine oder andere diesen Spottnamen gelegentlich übernimmt.
Die Einträge im Gästebuch enden mit einem letzten Spruch:

Smash your head
Release your mind

Mitte November gab es noch eine weitere Party in der "Halle". Berenice bediente. Rafa war nicht anwesend.
Am 16.11. kam ich abends erst gegen zehn, halb elf nach Hause. Auf dem Anrufbeantworter hatte sich jemand mit unverständlichen Lauten vorgestellt, die ich nicht zuordnen konnte. Dann kam in einem ziemlich fordernden, recht ungezogenen Tonfall:
"Ich weiß doch, daß du da bist, Hetty, nun komm' schon, nimm' schon den Hörer ab, los, ich weiß doch, daß du da bist."
Der Anrufer wartete noch etwas und legte schließlich auf, rief jedoch nicht wieder an, und ich kann mir nicht vorstellen, wer das gewesen sein könnte.
Am Mittwoch fuhr ich ins "Zone", mit Constri, Derek und Zoë. Es war glatt und schneite. Wiir fuhren über die Landstraße, weil auf der Autobahn ein siebenstündiger Stau war. Wir hatten eine Art Kaffeekränzchen im Auto, ein munteres Dahinplaudern. Ich erzählte von einem Bestattungsunternehmer, der im Rücken einer Leiche ein Messer gefunden haben soll. Auf dem Totenschein stand "natürlicher Tod". Als man den Arzt zur Rede stellte, der den "natürlichen" Tod bescheinigt hatte, erklärte dieser:
"Wenn der so ein Messer im Rücken hat, stirbt er natürlich!"
Im "Zone" begrüßte mich Asche und meinte:
"Du warst ganz lange nicht da."
Er erinnerte sich noch daran, daß ich im "Inferno" die hübsche Tapeten-Box gekauft habe.
Am Freitag fand im "Inferno" ein Festival statt, wo unter anderem Blood Axis auftraten. Ivo Fechtner hatte die Veranstaltung so arrangiert, daß seine eigene braune Färbung überall durchschimmerte. Ich hatte Amun Hotap schon gewarnt und ihn darauf hingewiesen, daß das "Inferno" vielleicht in Verruf kam, wenn man Ivo Fechtner allzu freie Hand ließ. Im Türbereich standen eigens bestellte Sicherheitskräfte und wollten verbieten, daß man seine Tasche mit hineinnahm. Ich machte mit den Sicherheitskräften aus, daß ich meine Sachen in mein schwarzes Ripstuch knotete, das mit zwei Knoten wie eine Tasche aussieht und wie eine Tasche gefüllt und getragen werden kann, und daß ich dann die leere Tasche abgab. Während ich am Umräumen war, fiel mein Blick auf ein Papierschild an der Kasse.
"45,-" stand da.
"Ist das etwa der Eintrittspreis?" fragte ich nach.
Als dies bejaht wurde, meinte ich nur:
"Macht's gut, viel Spaß und grüßt alle. Das muß ja nun nicht sein."
Ivo Fechtner saß im Tarnanzug auf einem Barhocker und rief hämisch:
"Tjaa, Hetty, hier gibt's heute für dich nicht viel zu melden! Hähähä! Heute keine Chance für die Antifa!"
Philipp berichtete später, das Festival sei friedlich verlaufen, ohne Krawall. Bei den anwesenden Vertretern der Rechtaußen-Fraktion habe es sich überwiegend um ordentlich gescheitelte "Edelnazis" in weißen Hemden und schwarzen Bindern gehandelt, denen es mehr um angebräunte heidnische Kultur ging als um Schlägereien.

In einem Traum kam ich nach Hause und ging gleich zu meinem Kater Bisat, um ihn zu streicheln. Eine Kollegin tippte mich an die Schulter und sagte:
"Kümmer' dich um dein Kind."
Da sah ich ein Baby, das demnach also meins sein mußte, und ich kümmerte mich darum und nahm es mit mir. Es war ein Junge. Unter meinen Händen kam es aus den Babykleidern heraus in die Kleider eines Kleinkindes.
Merle und ich saßen auf einer Eckbank, jede am äußeren Ende, und zwischen uns hatten wir die Kinder sitzen, Merle neben sich ihr Töchterchen Elaine, und zwischen Elaine und mir saß mein Kind.
Es machte mir viel Freude, mich mit dem Kind zu beschäftigen. Ich führte mit ihm lange Gespräche, während Elaine ihre kleinen Sätzlein sprach. Elaine verhielt sich wirklich wie ein kleines Kind, während mein Kind schon fast wie ein Erwachsener mit mir redete.
"Es ist so frühreif", dachte ich, "es liegt an den Eltern, die es hat."
Und ich dachte:
"Rafa will Vater werden. Nur weiß er nicht, daß er es schon ist."
Dann überlegte ich, wo das Kind herkäme:
"Es kann nur von Rafa sein, aber ich kann mich gar nicht daran erinnern, wie ich es bekommen habe."
Als ich das Kind dann zu jemandem in Aufsicht gab und alleine mit dem Fahrstuhl fuhr, der nicht einfach zu bedienen war, dachte ich:
"Wenn jetzt das Kind da wäre, das würde mit dem Fahrstuhl schon zurechtkommen."

Am Samstag traf ich Kappa im "Elizium". Er war ohne Edaín da und erzählte, er habe gerade schlechte Laune.
"Warum?" erkundigte ich mich.
"Na ja, wie das halt so ist, wenn man schlechte Laune hat", wich Kappa aus.
"Warum ist Rafa eigentlich nicht in der 'Halle' gewesen?" wollte ich wissen.
"Er hat in einer Kneipe in SHG. aufgelegt."
"Hat er jetzt wieder eine Arbeit?"
"Der hat nur in so einer Kneipe in SHG. aufgelegt."
Rafa soll über die mysteriöse Coverversion von "Gothic Erotic" gesagt haben, die gebe es nicht mehr.
"Mir hat er auch erzählt, das Dat sei verlorengegangen oder kaputt", sagte ich dazu. "Aber weil er das Stück damals in fünf Minuten gemacht hat, kann er es ja auch wieder einspielen."
Dann erzählte ich:
"Ich mache mir nach wie vor viele Gedanken über Rafa."
"Ich weiß."
"Rafa hat wohl eine narzißtische Störung."
"Ein bißchen, ja."
"Na ja, nicht nur ein bißchen."
"Na ja, irgendeine Macke haben wir ja alle."
"Das ist schon wahr. - Für mich gibt es ja nach wie vor keine Alternative. Das glaubt er mir nur immer nicht."
"Oh, ich denke, das glaubt er dir schon."
"Das kann ich mir gar nicht vorstellen."
"Er hat eben nur schon eine andere Frau."
"Die ist absolut hohl."
"Das habe ich zuerst auch gedacht, das ist aber nicht so, die Nici ist das nicht", war Kappa sicher. "Mit dir ist sie zwar nicht zu vergleichen, aber hohl ist sie nicht. Und es ist ja auch immer eine Frage des Geschmacks."
"Die ist bequem für ihn."
"Bequemlichkeit gehört doch am Ende zu jeder längerdauernden Beziehung da zu."
"Die ist pflegeleicht."
"Das stimmt nicht, ein Auto hat sie zum Beipiel gar nicht."
"Da meine ich auch eher etwas anderes. Bequem ist es, wenn Rafa nicht genötigt ist, sich weiterzuentwickeln. Wenn er sich auf mich einlassen würde, wäre er gezwungen, sich weiterzuentwickeln, und das lehnt er ab."
"Er will sich dem Druck nicht aussetzen."
"Bei der, mit der er jetzt zusammen ist, muß er sich nicht weiterentwickeln. Da kann er auf dem Niveau stehenbleiben, wo er immer gestanden hat. Da muß er nie Gefühle an sich heranlassen."
"Das tut er jetzt schon. Rafa ist älter geworden und reifer. Früher hat er keine Gefühle gewollt, aber jetzt läßt er sie zu."
"Das kann ich mir kaum vorstellen. Aus meiner Erfahrung weiß ich, wenn Emotionen in ihm hochgekommen sind, dann war es so, daß er fürchterlich aufgeregt war und ängstlich und daß er dann schließlich aggressiv geworden ist und Emotionen aggressiv abgewehrt hat. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, daß er sich jetzt wirklich auf Gefühle einläßt."
"Doch, wie ich das sehe, läßt er sich darauf ein."
"Es ist mir aufgefallen, daß Rafa in der letzten Zeit immer wieder Annäherungsversuche gemacht hat, wenn die auch teilweise so waren, daß man sie hätte anders deuten können. Aber es gab eben auch welche, die hätte man nicht anders deuten können."
"Da halte ich mich 'raus."
"Das ist ja auch in Ordnung so."
Ich erkundigte mich, ob Kappa die Backsteinkirche ohne Schwierigkeiten für seine Hochzeit bekommen habe.
"Ich habe am Telefon nur gesagt, hier ist Kappa", erzählte er, "und da war das ganz einfach."
Kappa war zuversichtlich, daß genügend Leute in die Kirche kommen würden, wenn Edaín und er dort heirateten. Schließlich wollten sie es ja sehen.
"Bei der Heirat ist mir nur eins wichtig, nämlich das Ja-Wort", meinte ich. "Alles andere ist mir egal."
"Ja, schon, aber ich bin eben Kappa, und da muß das so ablaufen."
Auf die Frage, ob er Nachwuchs plant, meinte Kappa:
"Erstmal nicht. Ich muß dafür noch Einiges aufbauen. Aber so in sechs, sieben, acht Jahren kann ich mir das schon vorstellen."
"Ich würde ja lieber heute als morgen Kinder haben, aber wie du weißt, ist es für mich praktisch unerreichbar."
"Ja, weil du sie nur von einem willst."
"Ja."
"Das wird schwierig."
"Ich mache mir keine Illusionen."
"Das ist dein Handicap."
"Ja, meine Liebe ist mein Handicap."
"Ja, dann würde ich mal sehen, daß du das änderst."
"Das ist ja eben der diskussionswürdige Punkt."
"Da gibt es gar nichts zu diskutieren."
"Nur dann, wenn ich mit einer Sache ganz im Einklang stehe, fühle ich mich damit wohl."
Ende November haben Constri und ich in Merles Wohnzimmer eine Päckchenkette für Elaine aufgehängt, hoch genug, daß Elaine sie nicht erreicht. Elaine verlangte dauernd:
"Geschenke auspacken!"
Schließlich verstand sie aber, daß dieser Adventskalender zum Abwarten und Sich-Freuen gedacht ist.
Über das, was sie sieht und erlebt, macht sich Elaine ihre eigenen Gedanken. Zu einem Nacktfoto auf einer Zeitungsseite kommentierte sie:
"Die hat vergessen, sich anzuziehen! Die hat keine Schuhe an ... und kein Kleid!"
Im Booklet von Rafas neuem Album "Der Sinn des Lebens" befinden sich mehrere Bilder von Rafa, meist sogar ohne Spiegelbrille, aber coloriert, süßlich-verkitscht und nostalgisch getrimmt; auf einem Bild sieht man ihn in Sakko und schwarzen Handschuhen im Sessel sitzen und "Die Zeit" lesen. Dieses Bild finden Constri und ich regelrecht peinlich; man nimmt ihm das mit der "Zeit" einfach nicht ab. Ich habe das Bild als Kopie aufgehängt und den Schriftzug "Die Zeit" durch ein rosafarbenes "Heidi" ersetzt; das erscheint mir passender.
Die Kopie eines Bildes, auf dem Rafa mit einer Tütenlampe zu sehen ist, habe ich verziert mit einer Collage aus Stacheldraht-Ornamenten. Ein Bild zeigt Rafa schräg von hinten; er blickt auf den Monitor seines C64. Eine Kopie dieses Bildes habe ich in ein dafür geeignetes Mousepad gesteckt und kann Rafa jetzt immer mit der Computermaus streicheln, wenn man es kitschig ausdrücken will.
Rafa hat die Musik auf seiner CD wieder mit Plattenknistern ausgestattet und die CD wie eine Vinylplatte gestylt. Man versteht die Texte gut und hört Rafa sogar ohne musikalische Begleitung reden, etwa wenn er sich von seinen Hörern verabschiedet. Zinnia hat wieder ihre Gesangsparts. Die Musik ist vorhersagbar und hat sich in keiner Hinsicht weiterentwickelt. Man hört immer noch die bekannten jaulenden Analog-Sounds, die immergleichen Melodie-Versatzstücke und die zahmen Rhythmen, die tanzbar wirken sollen, aber Lichtjahre entfernt sind von dem, was Imminent Starvation oder Sonar zu bieten haben. Es ist eben alles gesittet, reglementiert und engbegrenzt, niemals hemmungslos, entfesselt und leidenschaftlich. Selbst die "Stöhn-Samples", die Rafa in ein Stück über eine frustrierende Bettgeschichte eingerührt hat, sind weder etwas Neues, noch wirken sie in irgendeiner Weise provokant. Wenn ich in diese verklemmte Atmosphäre tauche, will ich am liebsten so richtig für Unordnung sorgen. In mir nimmt das Bedürfnis überhand, diese glatte Fassade zu sprengen. Vielleicht sehe ich deshalb so gerne dabei zu, wenn etwas in die Luft fliegt oder wenn Mauern abgerissen werden.
"Gib' mir meine Gefühle zurück", bettelt Rafa und beklagt sich darüber, daß seine Partnerin so kalt ist und daß er für sie nichts empfindet.
Gleichzeitig versichert er aber:
"Ich liebe dich."
Ich frage mich, ob ihm dieser Widerspruch überhaupt bewußt ist. Eigentlich darf er ihm gar nicht bewußt werden, denn dann müßte er mit seiner Freundin Schluß machen.
Insgesamt ließe sich das Booklet hervorragend in einem psychiatrischen Lehrbuch als Beispiel für eine narzißtische Störung verwenden. Eines seiner Stücke heißt "Nur mit mir allein" und ist schon für sich genommen ein Beispiel für Narzißmus. Bezeichnenderweise singt er es nicht selbst, sondern gibt es an Zinnia ab. Es wäre ihm vielleicht sonst zu entlarvend. Der Text lautet folgendermaßen:

Meine Welt ist wunderschön
wenn ich keinen Menschen seh'.
Alles dreht sich nur um mich.
Jeden anderen will ich nicht.

Für mein eig'nes Seelenheil
brauch' ich ja nur mich allein.
Niemals fühl' ich einen Schmerz
in meinem kleinen süßen Herz.

Und es kann nicht schöner sein.
Die Welt ist wunde(r)voll -
nur mit mir allein!

Weil ich niemand' lieben kann
nehm' ich mich selbst in den Arm.
Und bin ich mal GANZ allein,
schalt' ich mein' Computer ein.

Und es kann nicht schöner sein.
Die Welt ist wunde(r)voll
nur mit mir allein!

Wir haben in dem Wort "wunde(r)voll" sogar einen Hinweis darauf, daß dieser Rückzug in sich selbst eben nicht wirklich glücklich macht.
Auch in diesem Booklet wird die ewige Flucht vor dem Hier und Jetzt wieder zum Thema. Neben dem angestaubten Nachkriegs-Design und Technik-Hymnen, in denen mit dem Fortschritt in Gestalt von Computern und Fernsehgeräten Zwiesprache gehalten wird, gibt es auch hier eine Reise ins Nirgendwo.
"Wir düsen los durch Zeit und Raum und fahren endlos durch die Nacht ... und es wird niemals Halt gemacht ...", kommt das Ewiggleiche, hundertmal Gehörte.
Schließlich gesteht Rafa:
"So fliehen wir der Wirklichkeit."
Die Begleitperson scheint dabei austauschbar und belanglos zu sein; die Freundinnen haben im Laufe der Jahre mehrfach gewechselt, die Texte sind dieselben.
Rafa verbindet seine ziellose Flucht mit einem sexuellen Höhepunkt, was die Deutung nahelegt, daß Sex für ihn eben auch nur eine Art Flucht ist, das Gegenteil von tief empfundener Leidenschaft. Und dieses schale, oberflächliche Dasein bezeichnet Rafa als "Der Sinn des Lebens". Von ewiger, inniger Bindung und der Sehnsucht nach eigenen Kindern ist in dem gesamten Booklet nie die Rede. Das erstaunt mich, hat Rafa doch auf dem Cover die Zeichnung einer Familie mit "Der Sinn des Lebens" untertitelt.
"Wir wären monoton und kühl,
es geb' kein Schmerz und kein Gefühl", heißt es stattdessen.
"Das ist ein Zustand, der sich lohnt,
von allem Menschlichen verschont.
Wir würden bald die Welt regieren
und jeden Sinn für Zeit verlieren."
Er hat sich gut verborgen, sich hinter der Wir-Form versteckt:
"Niemand erkennt uns!"
Die selbstgewählte Einsamkeit wird freilich zum Kerker:
"Wir sind gefangen in uns selbst
und laufen immer nur im Kreis."
Als Ausweg bietet Rafa an, zum übermenschlichen Wesen zu mutieren:
"Jetzt sind wir keine Menschen mehr.
Wir leben für die Ewigkeit.
Wir wissen alles und haben die Macht.
Wir können fliegen um die Welt.
Jetzt sind wir Gott sehr nah
und stehen fast über ihm.
Wir wollen keine Menschen sein!"
Rafa beschreibt auch hier eine Flucht, die Flucht in Grandiositätsideen und in die Selbstverleugnung. Das Ergebnis ist ein Zustand, den Rafa als "Lebendig begraben" bezeichnet. Er schildert, wie jemand im Sarg erwacht und die Ausweglosigkeit seiner Lage erkennt:
"Nur noch ein Wort, die Luft wird rar,
und jetzt wird dir alles klar.
Niemand ist da, du bist allein
und wirst das auch für immer sein ..."
Das folgende Stück heißt "Betäubung" und handelt davon, wie ein Fernsehapparat dem Rafa seinen eigenen Willen wegnimmt. Was betäubt werden soll, erfährt man nicht, man kommt aber zu der Annahme, daß Rafa viel Zeit vor dem Fernseher verbringt und Schwierigkeiten hat, sich von diesem Leere erzeugenden Füllmaterial loszureißen:
"Ich bin verloren für alle Zeit,
wenn ich mich nicht bald wehren kann."
Und da soll mir einer erzählen, Rafa sei endlich imstande, Gefühle zuzulassen. Ich sehe hier nur oberflächlichen Sex und eine beständige Flucht vor dem eigenen, abgelehnten Ich. Ich sehe innere Leere und die fehlende Bereitschaft zur Weiterentwicklung. Ich sehe unterdrücktes Leiden und bewußt gewählte Vereinsamung.
Auch an seine Freundin scheint Rafa keine tiefe, tragfähige Bindung zu haben. Ohne sonderliches Bedauern singt er für sie:
"Ich denk' an dich, wenn du gleich einen anderen nach mir hast."
Auf der letzten Seite wird sie selbstverständlich gegrüßt:
"Berenice, der kleine Chakotay."
Was auch immer ein Chakotay ist, es handelt sich um einen "Insider", der wohl eine besonders enge Verbundenheit und Vertrautheit kennzeichnen soll, eine Bindung ohne Bindung. Rafa ist mit ihr glücklich, ohne glücklich zu sein, er liebt sie, ohne sie zu lieben. Für Rafa schließt sich anscheinend nichts gegenseitig aus; seine innere Spaltung macht alles möglich - um auf einem früheren Albumtitel von ihm Bezug zu nehmen.
Ich werde in dem Booklet selbstverständlich nicht gegrüßt, aber das hätte mich auch gewundert. Für Rafa gibt es mich nicht, es hat mich nicht zu geben. Er verleugnet und flieht mich genauso wie seine Gefühle.
Rafa hat in allen wesentlichen Szenezeitschriften Interviews. Die Kommentare der Rezensenten zu seinen Ausführungen sind wohlwollend-anerkennend, machen zum Teil aber auch deutlich, daß Rafa sich mit dem gewichtigen Titel "Der Sinn des Lebens" doch ein bißchen übernommen hat. Auf die Frage, was für ihn der Sinn des Lebens sei, fällt Rafa nichts Tiefgründigeres ein als:
"Nach langer Arbeit, einigen Demoskopien und genauer Erforschung unseres Commodore C-64 fanden wir heraus, daß er irgendwo im Computer verborgen ist und mit dem Befehl 'SYS 64738' abgerufen werden kann. Nach diesem Komplettkaltstart verbindet man seine Möglichkeiten mit seinen Ambitionen, denkt, hört, sieht, fühlt, spricht und macht das Unmögliche wahr. Arbeit adelt!"
Ergänzend fügt er den Hinweis bei, daß "Demoskopie" soviel bedeutet wie "Meinungsumfrage" und daß "Ambitionen" mit "Bestreben, Ehrgeiz" zu übersetzen ist. Daß er nicht gleich deutsch geredet hat, kann daran liegen, daß er seine Kenntnisse über Fremdwörter vorführen will.
Rafas gestelzte Antwort wirkt auf mich ebenso vieldeutig wie nichtssagend. Es kommt mir vor, als wenn Rafa gar nicht weiß, was er hier unten auf der Erde eigentlich soll. Jedenfalls scheint er nach wie vor nicht arbeiten zu gehen.
Nicht einmal in den Interviews spricht Rafa darüber, daß eigene Kinder dem Leben einen Sinn geben können. Und der Gedanke, daß Geben und Schenken und die Freude im Herzen der anderen für sich genommen schon ein Sinn sein könnten, kommt ihm anscheinend erst recht nicht. Das hätte ja etwas mit Gefühlen zu tun ...
"Nicht daß ich bekomme, sondern daß ich geben darf", lautet der Gebetstext in einer Totenwache.
Suche, so wirst du finden, schenke, so wird dir geschenkt werden ...
Wenn man die Fensterläden schließt, kann die Sonne nicht hinein.
Ich glaube nicht, daß Rafa mit seiner verleugnenden, abweisenden, ichbezogenen Haltung die Abgründe in seinem Leben jemals verarbeiten wird.
Das Datum über einem der Interviews lautet "31-10-84 + 14". Demnach scheine ich Recht zu haben mit meiner Vermutung, daß für Rafa im Todesjahr seines Vaters die Zeit stehengeblieben ist, auch wenn er es mir gegenüber bestritten hat.
Auf die vorsichtige Frage, ob Rafa darüber nachdenkt, sich langsam von der Verherrlichung längst vergangener Elektrowelten zu lösen, erwidert er voller Überzeugung, daß es keine bessere Welt gebe als die seiner Kinderzeit. Er verweist dazu auf die ITT-Stereoanlagen von vorgestern, die sein Bruder sammelt. Es sei einfach alles besser gewesen als heute, beharrt er. Deshalb müsse man sich mit der Gegenwart auch nicht näher beschäftigen.
Zum Thema einer persönlichen Weiterentwicklung meint Rafa, am besten solle man überhaupt kein Mensch sein, das sei doch überholt. Anscheinend möchte er die Gegenwart auslassen und in ein entkörperlichtes Zukunftsdasein überwechseln.
Der Rezensent kommentiert das mit dem zarten Hinweis, daß er sich früher selbst mal mit einem C64 herumgeplagt habe und froh sei, heute an einem PC sitzen zu können.
Über seine Vorstellungen von Musik erzählt Rafa, diese solle "nicht unbedingt emotional", dabei aber "gefühlvoll" und "eiskalt" zugleich sein, steril, minimal, humorvoll und gleichzeitig ernst, deutsch und gleichzeitig weltumspannend, einfach und ehrlich. Wahrscheinlich möchte er selbst gerne all diese Eigenschaften haben. Daß er sich über die Widersprüche in seiner Beschreibung im Klaren ist, bezweifle ich.
Ich erlebe die Musik von Rafa als steif, künstlich und fassadenhaft, nicht eigenständig, sondern abgeschaut, gewollt tiefgründig und dabei nur kitschig, vorhersehbar und eintönig, kindlich-ungelenk, angestrengt auf eine bestimmte Wirkung ausgerichtet und weder zum Tanzen noch zum Lachen geeignet. Das einzige, womit ich mich näher beschäftige, sind die Texte, die zwischen den Zeilen immer auch ein wenig Wahrheit enthalten, aber eine Art von Wahrheit, die Rafa weder bewußt sein dürfte, noch die er der Allgemeinheit mitteilen möchte. Er gefällt sich in einem "arroganten" Image, scheint immer kalt und unangreifbar wirken zu wollen, wirkt auf mich aber verletzbar und unsicher. Nicht ein einziges Mal gibt er in seinen Interviews persönliche Tiefschläge oder Mißerfolge zu, nicht einmal berichtet er von eigenen Sorgen oder inneren Kämpfen. Gefragt nach seinem "schlimmsten Konzerterlebnis", antwortet er denn auch mit kryptischem Gekritzel, das in einen "Syntax Error" übergeht. Er hätte doch wenigstens erzählen können, wie er einmal mit offenem Hosenstall auf der Bühne der "Halle" segnend die Hände ausbreitete. Aber dann hätte er wohl auch erzählen müssen, daß ich ihn darauf aufmerksam gemacht und ihn sozusagen "gerettet" habe.
Niederlagen sind mit seinem Selbstbild anscheinend unvereinbar, sie können nicht integriert werden, nicht als Teil der Wirklichkeit anerkannt werden.
"Ich bin ein glücklicher Mensch", erklärte Rafa in einem früheren Interview, was wohl bedeuten sollte, daß ihm andere Menschen nichts mehr geben können und daß er alles schafft, was er sich vornimmt; daß er unangreifbar und unverletzbar ist.
Eine offensichtliche Lüge ist Rafas Behauptung, man trinke kein Bier und verabscheue jede Art von Drogen. Das muß nicht nur ich besser wissen! Jeder Zuschauer hat Rafa wohl schon auf der Bühne hektisch an seiner Zigarette nuckeln sehen, jeder Gast in der "Halle" hat ihn schon mit seinem Bierglas herumlaufen sehen.
Seine Freundin erwähnt Rafa mit keinem Wort. Das ist allerdings auch nichts Ungewöhnliches; die meisten lassen ihre Beziehungen im Interview aus dem Spiel.
Clara hat sich von Ray "in Freundschaft" getrennt. Sie wolle nie wieder einen Freund haben, dessen Intellekt unter dem ihren liege.
"Du kannst dir am Ende doch nicht aussuchen, für wen du Gefühle hast", meinte ich. "Ich denke, du solltest dir sagen, es geht gar nicht darum, nach einem vollkommenen und tadellosen Freund zu suchen, denn den wird es nicht geben."
Anfang Dezember gab es im "Inferno" eine Veranstaltung, wo Rafa auflegen sollte, aber nicht erschien. Mit ein paar Jungen fuhr ich zur "Halle", weil im "Inferno" kaum etwas los war, nicht zuletzt wegen der Wetters. Es herrschte schlimmes Glatteis, und ich war froh, nicht selbst fahren zu müssen.
In der "Halle" war Rafa auch nicht. Seine Freundin bediente. Kappa veranstaltete auf dem DJ-Balkon eine Art Miss-Wahl für die Freundinnen seines Herrenclübchens. Berenice beteiligte sich nicht daran, vielleicht weil Rafa nicht da war. Die Aufgaben für die Mädchen bestanden darin, irgendetwas auszuziehen und Scherzfragen zu beantworten. Edaín entblößte ein Stück ihres Dessous. Lillien fand das mutig. Ich hätte bei so einer "Miss-Wahl" nicht mitgemacht, weil ich mich nicht zur Schau stellen lassen würde.
Hoffi hatte sagenhafte Schuhe an, dicksohlige Treter mit hohen Absätzen. Diese Absätze waren aber nicht massiv, sondern man konnte sie eher als Gestelle bezeichnen. Dazu fällt mir ein, daß ich auch schon mal Schuhe gesehen habe, die ganz und gar durchsichtig waren.
Die Jungen und ich hatten schon bald keine Lust mehr. Sie wollten mich beim "Elizium" absetzen. Auf dem Hof vor der "Halle" rutschte das Auto und drehte sich einmal vollständig im Kreis.
Im "Elizium" traf ich Sarolyn, die sich von Rory getrennt hat und nun mit dessen Freund Victor zusammen ist. Rory erzählte, ihn störe an Sarolyn vor allem die Eifersucht. Saroyn findet Rory unerträglich zwanghaft. Immerzu sei man bei Spieleabenden gewesen, zwei- bis dreimal in der Woche habe man Brettspiele spielen müssen. Sie möchte jetzt allein wohnen und auch nicht mehr so schnell mit jemandem zusammenziehen.
Ich hatte mein durchsichtiges Plastikkleid an, das viel bewundert wurde, von Chantal und einem schlanken Jungen in Barocktracht, mit Zopf und Rasur über den Ohren.
"Geiles Outfit, ou Mann", sagte er. "Jedenfalls bist du heute voll der Blickfang."
Der wilde Tim mit seinem Stacheldrahthalsband sagte:
"Hetty, du bringst mein Herz zum Aussetzen."
Im Vorraum saßen zwei Mädchen an einem Tisch.
"Jetzt fehlen nur noch die Flügel und der Zauberstab, und sie sieht wie eine Fee aus", sagte eines.
Nachdem ich in der "Halle" nur gefroren hatte, lief im "Elizium" endlich für mich Musik zum Tanzen. Luie erfüllte viele Wünsche von mir, darunter "Harsch-Sequence" von Nobdrun, "Stop yield" von Synapscape und das grabesnahe "Und ich lauf'" von Joachim Witt.
Deva erzählte mir, daß sie nebenberuflich 0190er-Nummern bedient.
"Die Männer sind doof", meinte sie. "Was die einem alles so erzählen, ihre ganzen Probleme, und das für über drei Mark die Minute ..."
"Das ist teurer als eine Therapiestunde", bemerkte ich.
Deva kicherte. Freilich mache sie nicht nur "Therapie"; meistens wollten die Männer nur, daß sie eine Nummer abspule, und das sei es gewesen.
Das Therapeutische an meiner Arbeit in der Praxis ist für mich unter anderem, daß es immer wieder etwas zum Lachen gibt. Wenn ich mich im Bad etwas länger aufhalte und mein Chef es eilig hat, weil er mit mir zur Visite ins Altenheim fahren will, kann es sein, daß er durch die Tür ruft:
"Ach, wie schön, daß Sie das Klo neu verfugen!"
Eine frisch eingestellte Azubi brachte ein Formular mit, in das sich mein Chef als ihr Ausbilder eintragen sollte. Etwas indiskret wurde auch nach seinem Geburtsdatum gefragt.
"Schreiben Sie: 'Alter: Volljährig'", forderte er das Mädchen auf. "Oder - schreiben Sie '1866', damit der Computer abstürzt und sich in lauter kleine Teilchen zerlegt. Oder vielleicht - '4711'. Das ist auch schön. Oder schreiben Sie - 'unbekannt'."
Einmal freute sich Ninyat auf einen Film im Fernsehen:
"Heute gibt's 'Philadelphia'."
"Da eß' ich am liebsten die Sorte mit Lachs drin", meinte ich, "die schmeckt von allen mit Abstand am besten."
"Wissen Sie was?" meinte Ninyat. "Sie haben etwas -"
"Destruktives?"
"Könnte man sagen."
Pharmareferenten bringen nicht nur Geschenke, sondern auch Witze mit.
"Was ist das Gegenmittel von Viagra?" fragte eine. "Terpentin - das macht jeden Pinsel weich. Und ... warum werfen die Baumschulgärtner Viagra in die Fichtenplantage? - Damit sie die Weihnachtsbäume gleich mit Ständer verkaufen können."
Ninyat hat viele ältere Patienten, einige von ihnen sind Heimbewohner und zum Teil erheblich verwirrt. Manchmal wird Ninyat auch zu verwirrten Menschen gerufen, die noch keinen Heimplatz haben und deren Angehörige die Pflege nicht mehr bewältigen. Ein Fax meldete:
"Bitte Hausbesuch dringend!
Frau H. - völlig desorientiert, zeitweise, häufig ab Spätnachmittag. Lebt in der Vergangenheit. Schmeißt Geschirr etc. über Balkon auf die Straße."
Ninyat kritzelte auf das Fax:
"Ich würde ja mittags kommen, trau mich aber nicht hin, weil ich Angst habe, daß mir was auf den Kopf fällt. Jemand schmeißt Geschirr aus dem Fenster!"
Sehr wahrscheinlich ist Ninyat dann aber doch hingefahren, freilich ohne daß ihm Geschirr auf den Kopf fiel.
Im Praxisdokumentationssystem gibt es über jeden Patienten eine Datei, in der die Verläufe fortgeschrieben werden. Über eine Heimbewohnerin diktierte Ninyat:
"Es ist ganz furchtbar, weil sie einen nicht zu Wort kommen läßt und auch wild um sich schlägt, wenn's denn sein muß, und wenn sie dann ein wenig erschöpft ist, legt sie sich für 10 Minuten in das Bett von Herrn M. oder sonstwem und ruht sich aus, und hinterher ist sie wieder genau wie vorher."
Beim nächsten Besuch im Heim diktierte Ninyat:
"Erst kommt sie ins Zimmer der Heimleiterin und läßt sich daraus kaum wieder entfernen, weil sie unbedingt wissen will, wann der nächste Zug nach Msb. fährt. Dann raucht sie in der Raucherecke und pinkelt im Stehen auf die Rabatte; die zahlreichen Zuschauer scheinen sie nicht zu stören. Sie benutzt weder Toilettenpapier, noch reinigt sie sich in irgendeiner Form die Hände, kommt zur Heimleiterin rein und fragt, wie sie nach Msb. kommt."
Bei einem weiteren Besuch diktierte Ninyat:
"Während ich mich mit einem Bewohner unterhalte, habe ich das Gefühl, daß mir jemand in die Jackentasche greift. Gut 2 Minuten später zupft mich Frau P. am Ärmel, reicht mir mein Handy herüber und meint, ob ich das haben wollte. Ich habs dankend angenommen."
Über einen Patienten mit einer langjährigen Schizophrenie schrieb ich ins Dokumentationssystem:
"Er glaubt, daß die Toten auf einem anderen Planeten wohnen und uns durch den Fernseher zugucken können.
Erzählt von seiner 'Stein auf Stein'-Wohnung, wo sie jetzt die Heizanlage erneuert haben, seitdem friert er (das ist übrigens bei allen 'Stein auf Stein'-Wohnungen so). Schläft nur noch 12 Stunden täglich. Das Soz hat für den Wohnungsanstrich ganze 135,- DM ausgespuckt, die wurden dann konsequent von Herrn L. und seinem Mitbewohner in der Kneipe verflüssigt."
Die "Stein auf Stein" hat vor zwei Jahren auch in dem Wohnblock, wo ich lange gelebt habe, die Heizanlage erneuert und meine Wohnung durch die Kälte und einen andauernden Summton für mich unbewohnbar gemacht. Constri und Derek stören sich an diesem Mangel nicht und konnten die Wohnung deshalb übernehmen.
Ein Patient schilderte in der Praxis vielerlei Ängste.
"Aufs Oktoberfest geht er nicht, weil es ihm nur Spaß macht, wenn er trinkt", schrieb ich mit, was er erzählte. "Richtig einen in der Kiste haben, das ist am besten, dann merkt man nämlich gar nichts mehr. Nur am nächsten Tag merkt man es dann.
Biertabletten müßt es geben, davon kann man schweben. Früher ist er vom Brückenbogen ins Wasser gesprungen, da kam von der Reifenfabrik so warmes Wasser raus, das war noch viel höher als der Zehner. Zehner ist doch gar nichts."
Ninyat ergänzte später inoffiziell:
"Rp.: 1 x Bungee-Sprung N3"
Ein Patient schilderte seine Wanderungen von Therapeut zu Therapeut.
"Er erwarte von einem Therapeuten immer eine ganz bestimmte Form der Resonanz, und da diese Resonanz immer nur kurze Zeit wirke, habe er einen hochgradigen Therapeutenverschleiß", dokumentierte ich. "Strenggenommen sei die Wahrscheinlichkeit nahe null, daß ein Therapeut wirklich das bringt, was er erwartet. Er bestätigt, daß er im Grunde nicht therapierbar ist.
Befund: Er baut ein System auf, das sich durch Widersprüche selbst blockiert. Er ist demnach perfekt geschützt vor jedweder Gesundung, wovon er durchaus profitiert (und dies sogar zugibt!!).
Beurteilung: Er ist am ehesten zu leiten, wenn man ihm möglichst viel selbst überläßt und ihn in kein Regime einbindet. Kontraindikation für Medikamente oder irgendwelche therapeutischen Konzepte."
Eine ältere Dame hatte durch einen Schlaganfall teilweise ihre Sprache verloren und schrieb viel in ihr Tagebuch, um die Verluste so weit wie möglich auszugleichen. Sie kam vorwiegend in die Sprechstunde, um sich mitzuteilen und Halt zu finden bei ihren Bemühungen, die Sprache wiederzugewinnen.
"Sie müssen mehr", sagte sie zu mir. "Mehr Liebe - mehr essen - ach, was rede ich da."
Ein Herr störte sich sehr an der Unordnung, in der er seinen Arbeitsplatz häufig vorfand; er nahm an, die Kollegen wollten ihn schikanieren. Er hatte einen umfangreichen Ordner angelegt, in dem sich zahlreiche Fotos dieser Unordnung befanden. Auf einem Foto klebte ein roter Pfeil, der zeigte, wo angeblich "verschmutzte Luft" aus einem Gerät kam. Der Patient war vor Kurzem von seiner Frau verlassen worden. In der Sprechstunde schilderte er seine Zukunftspläne. Als erstes wolle er seine Frau zurückgewinnen und dann weiter Psychotherapie machen. Als er das nächste Mal kam, teilte er mit, er habe seine Frau zurückerobert, jetzt könne es weitergehen. Im Laufe der Wochen wirkte er immer fröhlicher und entspannter. Irdische Güter, so meinte er, seien doch auch nur etwas, an das sich die Menschen klammern würden, um Halt zu finden:
"Ich brauche keinen Kaviar. Es gibt ja Leute, die müssen das essen, damit sie glauben, sie sind was Besseres."
Mitte Dezember habe ich Folgendes geträumt:

In einem großen, von Leuchtröhren erhellten Raum saß ich an einem Tisch. Vor mir lag ein Formular. Jemand erschien im Türrahmen und warnte, wenn ich dieses Formular unterschriebe, würden ungewisse Mächte wirken, und ich würde mich einem ungewissen und gefährlichen Schicksal überantworten mit unvorhersehbaren Aufgaben und Bedrohungen.
Ich unterschrieb, weil es für mich eine Selbstverständlichkeit war, die Herausforderung anzunehmen.

Ich vermute, das hat etwas mit meinem Arbeitsvertrag im Irrenhaus zu tun, der ab dem neuen Jahr gültig werden soll. Ninyat will mich so ungern gehen lassen, daß er mir dieses Irrenhaus als eine Art Geisterbahn verkauft.
Wenn Ivo Fechtner im "Elizium" auflegt, geht er übrigens nur noch mit einem baumlangen Bodyguard aufs Klo. Wo er den Bodyguard herhat, weiß keiner, und es weiß auch keiner, wie er ihn bezahlt.
Einmal erzählte mir Constri am Telefon:
"Derek beschießt Flex mit Krampen."
"Und wie reagiert Flex?" wollte ich wissen.
"Er freut sich, wie immer", berichtete Constri.
Derek begann lausbübisch zu lachen.
"Das Lachen müßte man versampeln", schlug ich vor. "He, sag' ihm das mal."
"Derek, Hetty will dein Lachen versampeln."
"Und, wie reagiert er?" fragte ich neugierig.
"Jetzt beschießt er mich mit Krampen", gab Constri Antwort.
Als ich in diesen Tagen Constri besuchte und in Dereks Zimmer schaute, rief er:
"Oäh!"
"Na, kannst du dir eine liebevollere Begrüßung vorstellen?" fragte mich Constri.
Wenn man Derek so hört, will man fast glauben, er sei ein Haustier, das keine Besucher mag.
Am 16.12. klingelte kurz nach vier Uhr nachmittags ein halbes Mal das Telefon.
Am Abend fuhr ich mit Ariadne und ihrem Bekannten Rasmus im "Zone". Ariadne hatte den ganzen Tag über Marzipan gegessen und aß auf dem Weg zum "Zone" immer noch Marzipankartoffeln. Sie bot auch mir welche an. Ich kaute langsam an einer herum, da bot sie mir schon die nächste und wieder die nächste an, die ich aber ablehnte, weil ich mit der ersten noch nicht fertig war. Ich bekam hierdurch eine Ahnung von dem Tempo, in dem Ariadne die überaus zuckerreiche Masse in sich hineinschluckte.
Als wir nach HF. kamen, klagte Ariadne über schrecklichen Hunger. Rasmus und sie holten sich in einem Imbiß je eine Pizza, die wurden im Auto gegessen.
"Erster!" rief Ariadne stolz, als sie mit ihrer Pizza fertig war.
Rasmus hatte noch drei Stücke übrig, die er mir abgab.
Im Stillen nenne ich Ariadne "Marzipanschweinchen", wegen ihres Fassungsvermögens und ihrer dementsprechenden Ausmaße. Ariadne war wie immer aufgekratzt und erzählte allerlei Kurzweiliges. So wußte sie, daß es in der Nähe von VER. drei Orte gibt, die "Jerusalem", "Adolfshausen" und "Alf" heißen. Weil das Ortsschild von "Alf" besonders oft geklaut wurde - noch öfter als die anderen Ortsschilder -, brachte man schließlich am Pfahl eine Alarmanlage an. Das ging eine Weile gut, bis jemand den Pfahl durchsägte und den ganzen oberen Teil mitnahm, die Alarmanlage eingeschlossen. Da gab man das Unternehmen auf, weil es billiger war, regelmäßig die Ortsschilder zu ersetzen als die teure Alarmanlage.
Im "Zone" gefiel mir die Musik sehr; unter anderem lief "Distorience" von Test II, eine kaum bekannte Techno-Perle von 1992, die mich an die Morgendämmerung im "Trauma" erinnert.
Ein W.E-Fan lief mit dem hochgestellten "Sachsenring"-Emblem auf der Jacke herum und verteilte Flyer für einen Auftritt von Rafa.
Frühmorgens waren wir noch bei "McGlutamat", weil Ariadne schon wieder Hunger hatte. Ich aß Pommes Frites und nahm ein buntes Fähnchen mit, für Constris Adventskalender. Ariadne rauchte die nach Nelken duftenden indonesischen "Gudang Garam"-Zigaretten, von denen Rafa mich einst hat probieren lassen.
Als Kappa in der "Halle" seine endgültig letzte Party gab, war Rafa wieder nicht da. Er gab auswärts ein Konzert. Berenice reichte ein Buch herum, in das jeder, der Rafa kannte, über sich selbst einen "Steckbrief" schreiben sollte, wie in "Meine Schulfreunde" für Kinder, wo der "Lieblingssänger" benannt werden soll und Adresse sowie Geburtsdatum anzugeben sind. Dieses Buch sollte Rafa zum Geburtstag bekommen. Ich habe das Buch freilich nicht gesehen und hätte ohnehin nichts hineingeschrieben, zum einen, weil es durch die Hände von Berenice gehen mußte, zum anderen, weil ich Rafa während seiner Beziehung mit Berenice ohnehin keinen Kontakt zu mir gestatte.
DJ Kairo, ein Bekannter von Les, war als Ehrengast geladen und brachte einen erfreulich frischen Wind in die "Halle"; mir hat die Musik dort selten so gut gefallen. Es lief sogar das freche "You know what you are" von Ministry aus dem Jahre 1988.
Tims Freund Morgan lieferte einen interessanten Nachschlag zu Ivo Fechtners jüngster Industrial-Nacht im "Elizium". Zu vorgerückter Stunde, als die meisten Gäste fort waren, sah Morgan Ivo Fechtner mit seinem Bodyguard stocksteif oben am Pult stehen. Der Bodyguard hielt sich das Handy an die Lippen und sagte mit verkniffenem Mund:
"Er - kommt - jetzt - 'raus."
Anschließend marschierte Ivo Fechtner zum Ausgang, um sich wie ein Gefahrgut wegtransportieren zu lassen.
Ace hat in einem Stadtmagazin betont, die "braune Soße", die Ivo Fechtner bei dem Festival im "Inferno" ausgekippt habe, sei keineswegs für die Szene der Schwarzgekleideten repräsentativ, im Gegenteil. Wenn heidnische Bands auftreten, sind für die meisten Hörer die Sounds, nicht aber die Symbole wichtig. Bisher ist es noch keiner ideologischen Gruppierung gelungen, die Szene zu "unterwandern" oder sonstwie zu vereinnahmen. Das hat auch etwas damit zu tun, daß die Szene überwiegend aus Leuten besteht, die vor allem ihre Ruhe haben wollen und einfach nur sein wollen, wie sie sind.
Rory hat sich inzwischen getraut, wieder bei Constri und Derek anzurufen, Derek, dem "Vasenmörder", wie Sarolyn ihn scherzhaft nennt, in Anspielung auf Dereks Malheur mit Sarolyns Bodenvase. Rory wollte sich gerne CD's brennen lassen und trug diese Bitte in so höflichem Ton vor, daß Constri sie erfüllen wird.
Clarice hat erzählt, daß Lessa aus dem Sadomaso-Bordell geflogen ist, in dem sie gearbeitet hat. Lessa sei unpünktlich und unzuverlässig gewesen. Ich frage mich, was aus Menschen wird, die so asozial und persönlichkeitsgestört sind. Vielleicht geht Lessa auf den Strich. Kriminalität ist ihr auch nicht fremd. Sie hat Violets Töchterchen Sheena Morgen für Morgen das Brötchengeld vom Küchentisch gestohlen, als Violet sie für ein paar Tage bei sich wohnen ließ, weil Lessa nicht in ihrer Plattenbau-Wohnung bleiben wollte.
Kurz vor Weihnachten traf ich Ivco und Lara im "Zone". Wir kamen darauf zu sprechen, daß Rafa wohl nach wie vor nicht arbeiten geht.
"Sag' mal, willst du etwa immer noch was von Rafa?" fragte mich Lara entgeistert.
"Sicher."
"Mensch, das ist doch voll das A...loch ..."
"Ich kann nichts dafür, daß ich ihn liebe."
"Echt, such' dir 'n anderen, echt ..."
"Was soll ich denn mit einem, den ich gar nicht will?"
Lara berichtete stolz, daß sie seit einiger Zeit in festen Händen sei. Sie meinte, sie wolle schon lange nichts mehr von Rafa. Im Nachhinein findet sie die Angebote lächerlich, die er ihr gemacht hat, als sie ihn noch vergötterte.
"Wenn du fünf Kilo abnimmst, darfst du für W.E singen!" hat er ihr damals versprochen.
Trotz alledem scheint Lara sich noch nicht vollständig von dem Gedanken an Rafa gelöst zu haben. Sie will sich an ihm "rächen".
"Ich will ihn anrufen, echt", sagte sie.
"Dann kann er sagen, tut mir leid, keine Zeit", hielt ich dagegen, "und das war's."
"Nein, bei mir nicht!" war Lara überzeugt. "Das hat der immer nur mit anderen Frauen gemacht, wenn ich bei ihm war. Vor mir kriecht der doch immer."
"Hast du dir denn schon ein Konzept für deine Rache überlegt?" erkundigte ich mich. "Wie willst du ihn innerlich treffen?"
"Das habe ich noch nicht weiter überlegt."
Lara wußte eine spannende Geschichte. Vor einem Dreivierteljahr ist sie auf Ivcos Geburtstagsfeier gewesen und hat dort auch Rafa und seine Freundin getroffen. Rafa nahm Lara beiseite und raunte ihr zu:
"Ich bin mit meiner Freundin nicht mehr zusammen. Wenn du willst, können wir!"
"Ich habe bereits einen Freund", lehnte Lara ab.
Im Hinblick auf Berenice sagte Lara zu mir:
"Echt, du bist doch Frau genug, um ihn dieser ollen Zicke auszuspannen."
"Sicher habe ich mehr Format als die", meinte ich. "Aber eben deshalb ist er ja mit ihr zusammen - weil sie hohl ist wie eine alte Blechbüchse. Ich durchschaue ihn, und das mag er nicht."
Constri hat erzählt, wie bei Derek und ihr der erste Weihnachtstag begann. Derek rief von seinem Bett aus durch die offene Zimmertür zu Constri hinüber, die sich ebenfalls noch in die Kissen kuschelte:
"Brötchen!"
Als Constri nicht aufstand, gab Derek seinem Hund Flex kleine Zettel ins Maul, mit denen Flex zu Constri laufen mußte. Auf diesen Zetteln stand:
"Zack-zack!"
oder:
"Brötchen holen!"
Constri hat Flex mit den Zetteln zu Derek zurückgeschickt, und so ging das eine Weile hin und her. Schließlich stand Constri auf und fuhr zur Weihnachtsfeier bei unserem Vater. Als sie gegen Abend heimkam, lag Derek immer noch so da wie am Morgen und sagte:
"Brötchen!"
Constri schickte ihn zum Brötchenholen, um den Gabentisch aufbauen zu können. Als Derek mit frischen Brötchen von der Tankstelle zurückkehrte, war er von dem Gabentisch sehr gerührt. Für Constri hatte er eine Karte, auf die eine Schwebebahn gemalt war. Das bedeutete, daß er mit ihr nach Wuppertal zur Schwebebahn fahren möchte.
Derek nennt sich selbst der "King" oder "Don King". Constri ist deshalb jetzt die "Queen".

Am zweiten Weihnachtstag habe ich geträumt, Rafa und ich würden Zungenküsse austauschen. Er küßte mich wieder und wieder, voller Leidenschaft. Daß Rafa mit Berenice zusammen ist, hatte ich vergessen.

Im "Elizium" traf ich Aimée und deren Freundin Alienne. Auf der Galerie neben dem DJ-Pult zeigte mir Alienne stolz ihr Brustpiercing, ohne Hemmungen, sich zu entblößen. Auf mich wirkt Alienne in ihrer Überschwenglichkeit naiv und gleichzeitig versteckt aggressiv. Ich traue ihr nicht über den Weg. In meinen Augen bietet sie ein typisches Verhaltensmuster bei emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung.
Aimée freut sich sehr auf die Geburt ihres Sohnes Allister. Sie erzählte, sie könne das Rauchen einfach nicht lassen, trotz des Kindes. Sie ist ziemlich sicher, daß Andras der Vater ist. Die Beziehung der beiden ist schon seit einer Weile beendet. Andras soll es nach wie vor schwerfallen, eine mögliche Vaterrolle für sich anzunehmen.
Luie erzählte, er wolle nicht mehr weitermachen als DJ; er fühle sich ausgelaugt. Zur Zeit bewirbt er sich bei Plattenfirmen.
Seraf bat mich, Chantal von ihm zu grüßen. Ich sprach ihn auf Berenice an, mit der ich ihn vor einiger Zeit im "Elizium" habe am Tisch sitzen sehen.
"Die ist voll süß", schwärmte Seraf von Berenice.
Ohne etwas dawiderzuhalten, nahm er zu Kenntnis, durch welches Benehmen sie es sich schon mit manchen Leuten verdorben hat.
Silvester traf ich Telgart in der Straßenbahn. Er war auf dem Weg in die Stadt und wollte jetzt noch, um ein Uhr mittags, einen 6-Mhz-Quarz kaufen, den er für ein selbstgebasteltes Chipkartenlese- und -schreibgerät brauchte. Ich machte ihm behutsam klar, daß er um diese Zeit kaum ein Spezialteil im Fachhandel würde kaufen können.
"Ich brauche aber jetzt sofort einen 6-Mhz-Quarz", beharrte er.
Er lebt mit seinem Wohnungsnachbarn und langjährigen Freund Gerry in einer Art kreativer Eremitage, wo sich alles nur um Programmieren, Hacken und Geldverdienen dreht. Telgart war kürzlich bei einem Hackerkongreß und hat sich Vorträge über das Beschreiben von Telefon-Chipkarten angehört.
Ich machte eine Bemerkung über Telgarts ausgeprägte telefonische Erreichbarkeit:
"Worauf man sich bei dir immer verlassen kann, ist, daß du niemals zurückrufst, wenn man auf deinen Anrufbeantworter spricht."
Telgart zog den Kopf ein und kicherte wie ein Schulkind.
Auf meiner Silvesterparty ließ sich Elaine von mir die Nägel lackieren. Sie pustete gekonnt ihre Hände und schüttelte sie, damit der Lack ordentlich trocknete. Außerdem wollte sie unbedingt einen Rock anziehen, so daß ich ihr einen Minirock gab, den Lessa bei mir zurückgelassen hatte. Ich band ihr den Rock mit einem Gürtel fest. Er war bei ihr nicht mini, sondern maxi.
Zu vorgerückter Stunde gab Talis etwas zum Besten:
"Zwei Schwule langweilen sich vor dem Fernseher. Schlägt der eine vor:
'Laß' uns doch Analraten spielen.'
Der andere:
'Ahh ... jaa ... zwanzig Zentimeter lang ... sechs Zentimeter breit ... mit Noppen - die Fernbedienung!'
'Stimmt! Jetzt du. - Ahh ... jaa ... vier Zentimeter breit ... leicht gekrümmt ... eine Banane!'
"Stimmt! Jetzt wieder du. - Aaaah-aahh ... jahaaa - ein Kürbis!'"
An dieser Stelle hielt sich Talis die Hand vor Mund und Nase und ließ den Schwulen mit hohler Stimme antworten:
"Nein! Nochmal!"
Drees stellte die Frage in den Raum, warum es nicht schlimm ist, wenn eine Blondine die Kellertreppe 'runterfälllt?
"Weil sie dann noch Bier mit hochbringen kann."
Zoë kam mit einer niedlichen Fledermaus-Haarspange und einem langen grauen Abendkleidchen. Sie trug einen Verband am Arm, denn Alan hatte am Vortag die zierliche Zoë gequetscht, weil sie nicht mit ihm ins "Maximum Volume" gehen wollte. Das war dann zum zweiten Mal das Ende der Beziehung zwischen Zoë und Alan.
Um Mitternacht haben Talis, Ray und ich versucht, gleichzeitig drei Knaller im Kanalschacht detonieren zu lassen. Außerdem haben wir ein Feuerchen aus mehreren Knallkörpern und angezündetem Papier gemacht und gewartet, bis alle Knaller in die Luft gingen. Gegen vier Uhr morgens klingelte einmal das Telefon, dann war Stille. Dasselbe wiederholte sich einige Minuten später.
Drees fand auf meinem Bett ein von Constri genähtes Zierkissen, kunstvoll bestickt mit dem Schriftzug "F...en". Von da an gab es nur noch ein Thema. Die Jungen beschrieben Kleenexbahnen und mehrere Seiten in meinem Gästebuch mit Wortspielen und Sprüchen:
"Wer f...t zuerst in 1999?"
"Bumsen statt Knallen!"
"Lieblingsessen: F...eroni"
"F...tory - Victory - Vicken"
"f...tiv"
"Bumsman"
"Virginia sagt: 'Nicht in mein Bier!'"
Außerdem wurde ein Plastikbecher mit zahlreichen Alternativen zu dem Un-Wort beschriftet.
Constri wollte mit etwas werfen, und ich gab ihr einen Beutel Kunststoff-Granulat. Also bewarfen Constri, Folter, Rikka und Drees sich mit dem Granulat. Als das alle war, warfen sie mit Fladenbrotstückchen.
Constri wurde von Drees so mit Kleenextüchern verziert, daß sie wie eine Nonne aussah. Dann ließ sie sich als Model ansagen und spazierte herum, als sei sie auf dem Laufsteg; währenddessen löste sich der Kleenex-Aufbau langsam, und die Papierbahnen hingen ihr bis zu den Knien.
Am 02.01. morgens kurz vor acht klingelte einmal das Telefon. Ich wachte davon auf und konnte nicht mit letzter Sicherheit unterscheiden, ob das Klingeln Traum oder Wirklichkeit war.
An Rafas Geburtstag war meine Stimmung ausgesprochen schlecht, und das hatte ich nicht anders erwartet. Ich konnte Rafa weder sehen noch anrufen noch ihm sonst auf irgendeine Art gratulieren oder ihm gar etwas schenken. Abends im Institut habe ich vor mich hingeweint und zu Hause auch, und mir konnte rein gar nichts und gar niemand helfen, das wußte ich, und deshalb habe ich mir nur weiter den Kopf darüber zerbrochen, was ich denn selbst tun könnte.
Am nächsten Tag war ich bei Telgart und arbeitete mit ihm an meiner Website. Telgart lebt in einem ziemlichen Chaos, und das einzige Handy, das ich bei ihm fand, war eigentlich nur das Fragment eines Handys. Telgart zeigte mir eine "Hacker-23-Gedächtnis-Platine", in die das Emblem des verstorbenen "Hacker 23" eingeätzt war. Er soll im Alter von dreiundzwanzig Jahren auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sein. Am 23. Mai jährt sich sein Todestag zum zehnten Mal.
Ich war sehr angespannt und hustete dauernd, und ich mußte wieder einmal verwundert feststellen, daß Telgart sich davon nicht irritieren ließ, sondern im Hinblick auf die Arbeit stets bei der Sache blieb. Diese Eigenschaften sind es, die unsere Zusammenarbeit so effektiv machen. Man verliert weder Zeit noch Kraft durch Diskussionen, Streitereien und Hektik. Wahrscheinlich ist Telgart auch durch seine Faszination für die Arbeit mit Rechnern so beschäftigt, daß ihn sonst nichts mehr kümmert. Insgesamt war er sehr großzügig - wie er es übrigens immer ist. Er gab mir das Essen vom Bringdienst aus und bezahlte mir auch noch das Taxi für die Heimfahrt.

In einem Traum sah ich ein Bandfoto von Rafa und Dolf. Rafa war auf diesem Foto so zurechtgemacht, daß er wie sein eigener Vater aussah - sein "strahlender Held".

Derek hat im Videotext gelesen, daß Rafas neue CD es in den Alternativ-Charts eines Musikkanals bis auf Platz eins geschafft hat. In einer Rezension bekam Rafa großes Lob für seine CD. Die sei so originell, so witzig, so hintergründig; es gebe zwar auch Leute, die mögen diese Musik nicht, aber er, der Rezensent, könne sie gar nicht genug loben.
Rafa droht in der Presse, die Leute, denen seine Musik nicht gefällt, dürften eben nicht mit, wenn er mit seinem Raumschiff und seinen Anhängern - oder Jüngern? - in die "NEUE WELT" fliegt. So etwas habe ich schon mal von gewissen Sekten gehört. Da sollen 144.000 Auserwählte am Jüngsten Tag mit einem Raumschiff wegfliegen dürfen, wenn die Welt untergeht, oder so ähnlich.
Jedenfalls darf ich bestimmt nicht in Rafas Raumschiff mitfliegen. Wer etwas an seiner Musik auszusetzen hat, muß zu Hause bleiben und ist sowieso nicht ganz richtig im Kopf.
Eine wichtige Gottheit ist für Rafa der C64. Rafa berichtet von einem sechsjährigen Sohn, der unbedingt ein solches Gerät haben wollte. Erstens kann nach unseren Recherchen Rafa unmöglich ein sechsjähriges Kind haben, zweitens möchte ich doch stark in Frage stellen, daß ein Sechsjähriger sich schon für Antiquitäten interessiert.
"Ich frage mich, in was für einer Welt lebt der", meinte Rikkas jetziger Freund Adrian, als ich ihm Rafas Äußerungen vorlas. "Dessen Geist scheint weit weg zu sein."
Über die Inhalte von Rafas Phantasiewelten urteilte Adrian:
"Das sind lauter Schablonen. Alles hat man schon irgendwo mal gehört."
Rafa hatte Berenice in seinem CD-Booklet als "Chakotay" bezeichnet. Inzwischen habe ich herausgefunden, was ein Chakotay ist. Es handelt sich um eine Figur aus "Stark Trek Voyager", einen dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Commander. Mit dieser Gestalt hat Berenice höchstens den brünetten Typ gemein. Ich sehe in diesem Vergleich einen weiteren Hinweis dafür, daß Rafa täglich viel Zeit vor dem Fernseher verbringt, wahrscheinlich mit seiner Freundin.
Mitte Januar legte Luie zum letzten Mal im "Elizium" auf. Alienne ließ sich mit mir fotografieren, für Luie als Erinnerung. Über sich selbst sagt Alienne, sie sei "durch und durch böse". Weshalb sie sich so böse findet, sagte sie aber nicht.
Aimée tanzte nur sehr vorsichtig und ging recht früh. Sie hofft, daß Allister sich noch etwas geduldet und daß sie vor der Entbindung ihren zwanzigsten Geburtstag feiern kann.
Mit einer Bekannten von Rory, Revil und Onno - Zenaide - unterhielt ich mich über Männer. Ich erzählte von Rafas widersprüchlichem Verhalten:
"Wenn ich ihm das Gesicht streichle, reißt er meine Hand weg und rastet aus. Ansonsten aber dreht er jedes Mädchen um, notfalls in der Besenkammer."
Zenaide vermutete:
"Der Mann braucht Hilfe. Und man muß eben abwarten, bis er es merkt."
Warum Rafa sich vor mir fürchtet, weiß niemand zu erklären, weder Bekannte noch Fremde, weder Laien noch Psychiater. Sie alle können mit Rafas Verhalten nicht viel anfangen. Es wird höchstens vermutet, ich sei für Rafa wohl nicht bequem genug, aber als Erklärung für seine Furcht - ein Gefühl der Bedrohung - dürfte dies kaum ausreichen.
Der Betrieb der "Halle" ist in eine andere ehemalige Fabrikhalle umgezogen, ohne Zelt und deutlich kleiner, dafür ist es dort aber auch nicht so kalt wie in der früheren "Halle". Die Location heißt "Neue Sachlichkeit". Sie befindet sich in der Nähe der Bahngleise für den Güterverkehr.
Rafas Konzerttermine liegen in der letzten Zeit fast regelmäßig parallel zu den Parties in der "Halle" oder der "Neuen Sachlichkeit". Das war früher fast nie so; Rafa scheint darauf geachtet zu haben, an den Veranstaltungen in der "Halle" trotz seiner Auftritte teilnehmen zu können. Heutzutage scheint es eher umgekehrt zu sein; Rafa scheint die "Halle" und jetzt die "Neue Sachlichkeit" zu meiden.
Ende Januar habe ich Folgendes geträumt:

In der "Neuen Sachlichkeit" ging ich durch einen Seitenflur, den es in Wirklichkeit nicht gibt. In diesem Flur gab es einen Mauerdurchbruch, als Bar hergerichtet. Hinter der Theke standen zwei Mädchen, Berenice und eine blonde Kollegin. Rafa war nicht anwesend.
In dem angrenzenden Raum, einer Nebenhalle, traf ich Kappa auf einem Holzpodest. Er verhielt sich Constri und mir gegenüber zurückweisend und kurz angebunden. Mit einiger Mühe lockte ich aus Kappa eine Erklärung heraus:
"Das hat mit zwei Leuten zu tun."
"Welche zwei Leute?" wollte ich sogleich wissen.
"Das darf ich nicht sagen."
"Dann laß' mich raten ..."
Kappa nahm mich bei der Hand und lief mit mir zu dem Mauerdurchbruch. An der Theke stand nur noch die blonde Barfrau; sie beobachtete, wie Kappa neben der Bar ein Türlein öffnete und mir voran hindurchging.
"Jetzt weiß sie, daß ich mehr weiß", dachte ich, "und das kann Ärger geben mit den Dealern."
Wir kamen in einen dunklen, niedrigen, schmalen Flur, wo der Putz von den Wänden fiel. Dann öffnete Kappa noch ein Türchen, und vor uns lag ein heller, großer Raum, eingerichtet wie ein Wohnzimmer, mit einer Couchgarnitur über Eck, alles vom Sperrmüll. Dort saßen starr wie die Puppen lauter junge Leute, die Kokain genommen hatten. Auch Berenice war dabei, nicht aber Rafa. Was ich besonders widerwärtig fand, war das gestelzte, äußerst verklemmte und ritualisierte Verhalten dieser Süchtigen. Sie wollten ganz besonders fein sein und schienen alle, die nicht dazugehörten, als Untermenschen zu betrachten. Darüber hinaus stand die Drohung in der Luft, daß jeder, der sich hier einmischte, damit rechnen mußte, "ausgeschaltet" zu werden.
Berenice saß dem Fenster zugewandt und drehte sich auch nicht nach mir um. Ich sah Elaine mir entgegenlächeln; ich verstand nicht, wie sie hierher gekommen war. Kappa hob mich an meiner Hand in die Höhe und trug mich so über die Polstermöbel, bis zur hintersten Ecke vorm Fenster. Dort setzte ich mich zu Elaine und knuddelte sie. Kappa setzte sich mir in einiger Entfernung gegenüber. Ich sah nur Kappa an und Elaine, sonst niemanden.
"Und es ist immer Süddeutschland", sagte Kappa. "Das meiste Kokain ist in Süddeutschland."
"Ich habe von einer Tante gehört, daß S. einer der größten Drogenumschlagplätze ist", erzählte ich.
Wir waren unversehens nach Süddeutschland gelangt, nur durch diesen kleinen Flur, und wir waren eingetaucht in eine ferne, unberechenbare Welt.
Kappa, Elaine und ich redeten und bewegten uns lebendig und natürlich, was sehr abstach gegen die leichenhafte Arroganz der Kokainsüchtigen um uns herum. Wir waren wie Besucher in einer ägyptischen Grabkammer, bedroht vom Fluch der Pharaonen. Man konnte uns auch vergleichen mit Menschen, die auf einen Vampirball eingeladen sind und als einzige noch Spiegelbilder haben.
Ich wollte unbedingt mehr wissen über diese Versammlung von Kranken und über die Gefahr, die sich aus meiner Kenntnis dieser Kokain-Clique ergab. Außerdem wollte ich herausfinden, wer der zweite Mensch war, der Kappa von mir fernhalten wollte. Ehe ich aber mehr erfahren konnte, wachte ich auf.

Ich hatte das Gefühl, in diesem Traum wichtige Erkenntnisse gewonnen zu haben. Nach vielen Träumen, in denen ich Rafa sehr nahe komme, habe ich ebenfalls ein solches Gefühl. Es ist ein gutes, sicher machendes Gefühl, das Gefühl, im Bilde zu sein und eine Sache unter Kontrolle zu haben.
Diesem Traum nach zu urteilen, hängt Kappas arrogantes Verhalten auf irgendeine Art mit Drogen zusammen, vielleicht Kokain. Außerdem könnte es mit dem arroganten Verhalten seiner Clique zusammenhängen; er möchte es den anderen gleichtun, damit sie ihn nicht ausschließen. Das Bemerkenswerte ist, daß Kappa während des Traums seine Arroganz ablegte und sich auf meine Seite schlug.
Cyber hat sein Versprechen nicht vergessen, daß er mir vor zwei Jahren gegeben hat. Er setzte mich auf die Gästeliste für das nächste Konzert von Project Pitchfork und Covenant im "Mute". Er ließ mich unter "Elektro-Betty" eintragen, was die Kassiererin sichtlich amüsierte.
Cyber erschien dieses Mal gemeinsam mit Yvette, denn man hatte den kleinen Yves zu den Großeltern geben können. Ich traf sehr viele Bekannte schon auf den ersten Metern in der Vorhalle, fast dreißig Leute liefen da auf mich zu. Auch Seth war unter ihnen, der sich in letzter Zeit kaum noch irgendwo gezeigt hat. Er fragte, ob Rikka denn gelegentlich im "Elizium" sei. Ich schlug ihm vor, zu meiner Geburtstagsfeier zu kommen. Das traute er sich freilich nicht, sagte das aber nicht.
Edaín erzählte, daß sie Darryl vor einiger Zeit dreihundertfünfzig Mark geliehen hat. Sie hatte mit Darryl eine heftige Auseinandersetzung, weil er sie ihr nicht zurückgab. In diesem Zusammenhang erfuhr ich, daß Alienne eineinhalb Jahre lang mit Darryl zusammen war und daß er ihr etliche tausend Mark Telefonschulden hinterlassen hat.
Übrigens hat Darryl auch Edaín Märchen erzählt. Er hat ihr gegenüber behauptet, Peter Spilles zu sein, und weil sie Project Pitchfork damals noch nicht kannte, hat sie ihm zunächst geglaubt.
In den letzten fünf Jahren hat es immer wieder ähnliche Klagen über Darryl gegeben. Er prahlte mit großartigen Lügengeschichten, klammerte sich mit Hilfe seines Charmes an andere Menschen, griff nach fremdem Eigentum und belästigte andere, wurde sogar tätlich. Er nutzt immerzu andere Menschen aus. Er genießt Verehrung, die ihm nicht zukommt, gibt Geld aus, das ihm nicht gehört, gibt Freundschaft vor, die er nicht verdient.
Sasch hat im "Elizium" die Industrial-Schiene übernommen und spielte ein Stück namens "Schwarz", das von Janssens "Nekroseprojekt" stammt. Mir gefällt es sehr, Derek jedoch findet, es sei primitiv gemacht, "nur mit Preset-Sounds", die nicht selbst hergestellt wurden, sondern vorinstalliert sind.
Sandro trug einen langen Mantel, der sah aus wie das Fell einer lila Kuh und hatte Knöpfe in Form kleiner Kuhglöckchen. Hinten hing ein Kuhschwanz daran.
Gwendolyn hatte mit viel Mühe einen Babysitter für ihre kleine Tochter gefunden. Ihr Geschiedener wollte sich eigentlich um das Kind kümmern und hatte Gwendolyn versetzt, weshalb sie sehr wütend war.
An meinem Geburtstag rief mich Lisa kurz nach Mitternacht an, um mir zu gratulieren. Sie hatte ihre Tochter Ida auf dem Arm, die am 23. Januar zur Welt gekommen ist. Lisa und ihr Freund Chandra freuen sich sehr darüber, zu dritt zu sein. Heiratspläne haben sie noch nicht.
Als seltener Gast kam Telgart zu meinem Geburtstag. Mit kindlichem Vergnügen mischte er sich unter die Leute. Andauernd nötigte er die Leute zum Mittrinken:
"Los, noch so einen kleinen Roten, den man nicht merkt! Laß' uns nochmal zusammen einen wegmachen!"
Er betrachtete sinnend eines der kleinen Kirschlikörfläschchen und stellte fest:
"Guck' mal, die Flasche da ist irgendwie voll leer."
Telgart ätzt inzwischen selbst und hat auch schon eine eigene Platine fertiggestellt. Er plant langfristig, sich eine Platine in den Kopf einzubauen, mit einer Schnittstelle im Genick. Freilich ist das alles noch in den Anfängen.
Telgart will sich digitalisieren, um Unsterblichkeit zu erlangen. Das erinnert mich an Rafas Behauptung, sich in einen Computer verwandelt zu haben und bereits unsterblich zu sein.
Auf einer Hackermesse sollen Roboterkämpfe ausgetragen werden. Wer als Letzter noch funktioniert, bleibt Sieger.
Ein Mitbewohner in Telgarts WG heißt Torben, und dieser Torben ist so lange nett, wie er nüchtern ist. Er soll kürzlich nachts einen Passanten angefallen und gegen ein Auto getreten haben. Seinen Führerschein hat er verloren, als er betrunken ein parkendes Auto gerammt und Fahrerflucht begangen hat.
Constri und ich haben Ida einen Kautschuk-Elefanten geschickt und Lisa einen langen Brief geschrieben. Constri wußte zuerst nicht, was sie schreiben sollte:
"Ich tue mich schwer mit diesen Glückwunschbriefen."
"Was sollst du auch über ein Kind schreiben, das du noch gar nicht kennst", meinte ich. "Schreib' doch was über dich, da hast du wenigstens was zu erzählen."
Lisa war sehr dankbar dafür, umso mehr, als sie wahrscheinlich mit standardisierten Grußkarten regelrecht zugeschüttet worden ist.

Anfang Februar habe ich geträumt, ich sollte mit Gift umgebracht werden.

Reesli ist inzwischen dreißig geworden und möchte mir seinen Sarg verkaufen. Ich bin mir aber nicht sicher, was ich damit anfangen sollte. Wenn man einen Sarg nicht bestimmungsgerecht verwendet, ist er recht unpraktisch.
Reesli hat einen Freund, der "Satan" genannt wird. Reesli hat von Satan ein Stück Unterarmknochen geschenkt bekommen. Satan ist Pathologie-Gehilfe. Er durfte den Knochen mitnehmen, nachdem dieser ausgehöhlt worden war.
Im Irrenhaus wurde erzählt von einem Mann, der durch Alkoholentzug in ein Beschäftigungsdelir geriet. Er belud andauernd eine unsichtbare Schubkarre mit unsichtbaren Steinen, schob diese in einen Aufzug und leerte sie darin aus. Er strengte sich dabei sehr an und geriet in Schweiß. Die Schwestern versuchten vergeblich, ihn von seiner unsichtbaren Arbeit abzuhalten. Er schuftete und schuftete. Da schließlich rief ein geistig abgebauter Mitpatient, der in der Nähe auf einer Bank saß:
"Feierabend!"
In diesem Augenblick stellte der delirante Alkoholiker erleichtert die unsichtbare Schubkarre weg.
Kürzlich habe ich die geschlossene Drogenstation besichtigt. Das alte Gemäuer ist mit wilden Farben aufgefrischt. Neben fahlgelben Sechziger-Jahre-Kacheln strahlen grellgelbe, in Wischtechnik gestrichene Tapeten. Alle Lampen stammen von Designern; da sieht man einen sündhaft teuren Kronleuchter, verspielt geschnörkelt, verziert mit blauen Glassteinchen und silbrig blitzenden Metallteilchen. An den Wänden sind zierliche Lämpchen mit ankerähnlichen Ausläufern und denselben blauen Glassteinchen befestigt. Die Decke ist voller stiftförmiger Energiesparlampen.
"Das ist abgefahren", bemerkte ich und zeigte auf die Wandlämpchen.
"Die hängen doch überall", meinte der Pfleger, der uns herumführte. "Das hier, das ist abgefahren."
Er schob einen Trennvorhang zur Seite, so daß der Blick auf ein seltsames Birnenbündel frei wurde. Von der Decke hing ein Strang aus etwa zwanzig schwarzen Kabeln, an deren Ende je eine Glühbirne saß; das Ganze erinnerte an einen Blumenstrauß. Die Birnen hingen so tief, daß man dagegenstoßen konnte, wenn man sich zu eilig im Bett aufrichtete.
Der eitle Inhaber der Klinik hatte diese Station als "Vorzeigestation" eingerichtet. Als die Pfleger ihn darauf aufmerksam machten, daß ein lebensmüder Patient sich mit den spitzhakigen Lämpchen etwas antun könnte, interessierte ihn das nicht.
Die Glasveranda wird auch "römische Dampfsauna" genannt, weil der Architekt auf Jalousien verzichtet hat. Früher war es ein "Affenkäfig", ein vergitterter Balkon. Damals konnte man im Sommer dort wenigstens noch atmen.
Das Fernseh- und Videoregal nennen die Pflegekräfte "Kasperltheater". Es ist in Blau und Grün gehalten und sehr wuchtig. Der Wunsch der Station nach einen beweglichen Möbel war wohl etwas untergegangen.
Eine Krankenschwester bastelt kleine Tierchen aus schimmernden Perlen, in wilden und subtilen Farben, die ich mir an den Schlüsselbund hänge. Weil die anderen auch solche Tierchen sammeln, kann man leicht erkennen, wem welcher Schlüsselbund gehört. Mein Hübschestes ist ein Krake. Der Tausendfüßler sieht auch recht dramatisch aus. Ich habe noch eine Kreuzspinne bestellt und eine Schlange. Außerdem will ich einen Skorpion haben, vielleicht auch einen Fugu. Bei aller Begeisterung für niedliche Wesen, besonders hat es mir doch das "üble" Getier angetan, "the evil" ... zumindest als Symbol. Da könnte man auch noch Stechinsekten hinzunehmen ... und Fledermäuse ... es ist, als wollte man das "Böse" greifbar und damit beherrschbar machen.



Mitte Februar feierten wir in Clarices Geburtstag hinein. Giulietta war auch da und erzählte abstruse Geschichten von ihrem ehemaligen Kunstlehrer. Dieser Lehrer war ein verkannter Künstler und brachte das in wilden, die Grenzen der Peinlichkeit mehr als nur streifenden Reden zum Ausdruck.
"Dieses jungfräuliche Weiß", rezitierte er mit theatralischer Gebärde, "wird von dem schwarzen Balken befruchtet."
Üblicherweise steht bei solchen Äußerungen auf Lachen die Todesstrafe.
Ich denke, man muß nicht im Irrenhaus arbeiten, um Bizarres und Absonderliches, vielleicht Abartiges zu erleben; den Wahnsinn hatte ich schon vorher ausgiebig kennengelernt als Teil des Alltags. Der Sockenschuß ist ein anschauliches Beispiel.
Gegen halb zwei fuhr ich zur "Neuen Sachlichkeit". Ich trug ein graues Girlie-Minikleid aus Netzstoff mit Samtblümchen. Ich hatte wieder den grauen Samtbody an und die grauen Strapse, und im Haar steckten grauen Samtklemmen. Rory hatte mich schon darauf aufmerksam gemacht, daß Rafa in der "Neuen Sachlichkeit " herumlief. Ich sah ihn an der Bar rechts vom Eingang, wo Berenice bediente. Er unterhielt sich mit einigen Jungen. Er hatte einen Stufenschnitt mit Ponyfransen, den ich albern fand, und trug ein weißes Sakko mit schwarzen Aufschlägen, was ich ebenfalls albern fand. Die Hose gefiel mir aber; es war eine schwarze Pluderhose im Orient-Stil.
Als ich meine Sachen hinter dem rechten Lautsprecher auf die Bühne legte, begann "Deine Augen". Ich kletterte sogleich zu Ace hinauf und bat ihn, etwas Schnelles zu spielen. Er versprach das. Ich ging dann zu Emily vor den Lautsprecher und beobachtete Rafa. Er sprach mit Dolf.
"Immerhin hat Rafa mal keine Spiegelbrille auf", bemerkte Emily.
Rafa lieh sich von einem Jungen eine große Sonnenbrille aus und probierte sie kurz. Während Emily und ich tratschten, ging Rafa uns vorbei und drehte mir das Gesicht zu. Er machte bedeutungsvolle Blicke und lächelte, als wollte er sagen:
"Oh, auch mal wieder hier!"
Ich machte ebenfalls bedeutungsvolle Blicke.
"Ou Mann, der kann ja lächeln", stellte Emily überrascht fest, als Rafa weitergegangen war.
Rafa blieb in der Nähe, und ich konnte ihn beobachten. Er begann mit einigen Jungen zu plaudern, und das sah aus wie:
"Wir verstehen uns so gut, wir sind die besten Kameraden!"
"Rafa hat immer überall Freunde, wenn es darauf ankommt", sagte ich zu Emily.
Als ich neben Gabrielle zu "Totes Fleisch" von Terminal Choice tanzte, ging Rafa so dicht hinter mir vorbei, daß ich kurz seinen Arm fassen konnte. Er fing dann mit Gabrielle eine Plauderei an und ging für ein Weilchen hoch zum Pult, wo sich Ace und Kappa aufhielten. Als "Take me baby" von Jimi Tenor kam, tanzten ich und auch Rafa, er allerdings etwas weiter weg, wenn auch mir zugewandt.
Etwas später erschien Rafa wieder auf der Bühne am DJ-Pult und verhandelte mit Kappa; das Ergebnis war, daß Rafa auflegen durfte. Er machte eine Show daraus. Er setzte sich die Sonnenbrille auf, zog an seiner Zigarette und wippte heftig im Takt, sang sogar mit, was man aber nicht hörte, weil das Mikrophon nicht angeschaltet war.
"Der Mann ist so voll sch...", war Emilys Reaktion. "Für den bist du doch viel zu schade."
Sie meinte, eigentlich müßte er "Kasper" heißen, nicht Rafa.
Im Laufe des Abends sah ich Rafa öfter mit einem Bierglas in der Hand, was nochmals seine Behauptung im Interview unterstrich, er lehne Drogen grundsätzlich ab.
Berenice hatte wohl mitbekommen, daß ich Rafa beobachtete. Sie griff zu einem ebenso einfachen wie bewährten Mittel, um die Verhältnisse klarzustellen: sie stieg hinauf zu Rafa und begann ihn am Pult ausgiebig zu küssen, so lange, bis sie meinte, ich müßte es bemerkt haben. Ich hatte meine Aufmerksamkeit jedoch Emily zugewandt und kümmerte mich nicht um die Tändeleien hinterm Pult. Was ich aus den Augenwinkeln sah, kam mir allerdings nicht besonders leidenschaftlich vor, eher routiniert und demonstrativ.
Ich beschloß, die Sache mit Rafa als Zweikampf aufzufassen, als Machtkampf zwischen mir und ihm; auf diese Weise konnte ich über Berenice hinweggehen und sie als bloßen Gegenstand bewerten, ähnlich einem Schild oder einer Waffe.
"Er tanzt!" sagte Zenaide und wies auf Rafa, den ich schon einige Minuten lang nicht mehr beobachtet hatte.
Es lief "New gold dream" von den Simple Minds; dazu tanze ich immer, also auch dieses Mal. Rafa entwich und marschierte in einem großen Bogen um die Tanzfläche herum, bis er wieder vor der Bar angekommen war und mich aufmerksam betrachtete. Schließlich ging er geradewegs über die Tanzfläche auf mich zu und dicht an mir vorbei, und so konnte ich, ohne innezuhalten, wieder seinen Arm greifen.
Wenn Rafa und ich uns begegnen, ist es bei mir so, wie es bei ihm auch ist: jede Bewegung, jeder Blick gehört zu einer Performance, einer Choreografie. Es ist, als würden wir uns von einer Ecke des Saales in die andere Bälle zuwerfen, über alle Köpfe hinweg.
Rafa stieg wieder auf die Bühne. Ich ging vor die rechte Bar und lehnte mich neben Berit an die Wand zwischen der Treppe zur Galerie und der Eingangstür. Rafa ging in die äußerste rechte Ecke der Bühne, wo es viel künstlichen Nebel gab und man ihn kaum sehen konnte. Ich sah aber wohl, wohin er blickte, mir nämlich gerade in die Augen. Ich beschrieb Berit den Stand der Dinge. Rafa kletterte von der Bühne und kam bis auf einen Schritt weit zu uns, wo er mit einem Jungen ein Gespräch anfing.
"Ih, der kennt Julian", schüttelte sich Berit, die Rafas Gesprächspartner nicht leiden kann.
"Rafa kennt jeden, den er kennen will, wenn er ihn gerade brauchen kann", erklärte ich. "Rate mal, warum er sich gerade hierhin gestellt hat?"
"Damt er näher an dir dran ist", meinte Berit.
"Bingo!" rief ich. "100 Punkte!"
Rafa drehte sich um, lächelte Berit und mich schelmisch an und hob sein Bierglas. Ich machte große, bedeutungsvolle Augen und sagte, er habe selber schuld, daß er nicht mit mir reden dürfe. Freilich hörte er das nicht, weil die Musik so laut war, aber daß es um ihn ging, konnte er sich wohl denken.
Rafa setzte sein Gespräch mit Julian fort.
"Ha, sonst grüßt der mich nie!" wußte Berit.
Sie stellte fest, daß Rafas Verhalten auch Berenice aufgefallen war:
"Sie guckt schon!"
Berit findet, daß Berenice ein recht armseliges Geschöpf ist:
"Wie die schon aussieht!"
Rafa blieb bei uns stehen. Als "Louise" von Clan of Xymox kam, ging ich auf die Tanzfläche und danach indie Damentoilette. Berenice kam mir nach und stellte sich neben mich vor den Spiegel.
"Was will die hier?" fragte ich mich, und ich mußte daran denken, daß die Sängerin Tessa mir damals auch häufig in die Damentoilette gefolgt ist.
Wie die Sängerin sprach auch Berenice mich nicht an. Sie verließ die Toilette eher als ich.
Wieder im Saal, tanzte ich zu "Being boiled" von Human League, und währenddessen stellte ich fest, daß Rafa hinter mir auf der Bühne stand. Er ging nach einer Weile zur Theke, wo auch Seraf war, und ich wartete ab, bis Rafa zu der weitläufigen Galerie hinaufstieg, die sich hoch oben neben der Bar befindet, über dem Eingangsbereich der Location. Ich unterhielt mich mit Seraf, gestenreich und in einer Mischung aus Flirt und Theater; mich erstaunte das, weil ich mir gar nicht vorgenommen hatte, mich so zu geben. Über uns stand Rafa am Geländer und beobachtete uns.
Berenice wurde wohl auch das wieder zuviel; sie ging nach oben zu Rafa. Rory sagte mir, daß man gleich fahren werde, und ich schloß mich ihm, Zenaide und deren Freund an.
Im Auto erzählte ich Zenaide, daß Berenice mir in die Damentoilette nachgegangen war und daß die Sängerin das früher auch gemacht hat.
"Kenn' ich!" erzählte Zenaide. "Als ich mit meinem früheren Freund noch zusammen war, sind mir seine Ex-Freundinnen auch immer ins Klo gefolgt."
"Was? Ja, was, um Himmels willen, wollten die damit bezwecken?"
"Das weiß ich auch nicht."
"Warum machen die sowas? Warum haben die das nötig?"
"Das weiß ich beim besten Willen nicht."
Es ist merkwürdig, wie häufig dieses Verhalten auftritt, ohne daß mir bisher jemand erklären konnte, welche Logik dahintersteckt.
Was sollten diese eifersüchtigen Mädchen in der Damentoilette erfahren, das sie nicht schon wüßten? Glauben sie, daß in der Toilette geheime Strategien ausgearbeitet werden? Hoffen sie, daß sie sich eines Tages trauen, die Rivalinnen anzusprechen oder anzugreifen?
Constri und ich kamen zu dem vorläufigen Schluß, daß es sich dabei um ein Revierverteidigungsverhalten handeln könnte, einen Einschüchterungsversuch, der allerdings nicht zielgerichtet geplant wird, sondern eher unbewußt abläuft.

.
.