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Machtkämpfe sind von Anfang an zwischen Derek und Constri abgelaufen; sie werden allmählich zu festen Ritualen.
Ungefähr zweimal im Jahr erzählt Derek herum, er wolle ausziehen. Dann kommen sogleich haufenweise Anfragen von interessierten Damen sowie von alten Bekannten, die Constri nicht leiden können. Derek wird zum begehrten Investitionsobjekt, und er scheint das zu genießen. Meistens fängt er sich innerhalb von Tagen wieder und verhält sich Constri gegenüber besonders aufmerksam und anhänglich. Es ist unübersehbar, daß Constri mit Abstand seine wichtigste Bezugsperson ist.
Kürzlich habe ich Derek einige wertvolle Vinylplatten zum Brennen gegeben, darunter auch ein "Fake", ein "Weihnachts-Potpourri" aus den Sechzigern, völlig zerkratzt mit Stecknadeln und Scheren. Ich wollte damals erreichen, daß die Platte an einer ganz bestimmten Stelle hängenblieb, aber das gelang mir nicht.
Ich bat Derek, ein Stück von dieser Plattenruine mit auf eine CD zu brennen. Als ich wiederkam, um die CD abzuholen, warf Constri das "Weihnachts-Potpourri" durch den Flur und rief den Hund, daß er apportierte. Ich nehme an, Derek wollte die Nadel seines Plattenspielers schonen.
Kappa erzählte mir in der "Krypta", er wolle ab März dort auflegen, um den Laden mehr und mehr in die Hand der Gothic-Szene zu bringen.
"Dieses gotische Kreuzgewölbe schreit geradezu danach, ein Gothic-Laden zu werden", freute ich mich.
Als ich Kappa erzählte, wo ich meine Facharztweiterbildung fortsetze, lachte er:
"Ach, im Irrenhaus, bei den Bekloppten!"
Etwas verlegen setzte er hinzu:
"Also, ich glaube, ich könnte das nicht; das wäre mir echt zu schwer."
"Das ist eine Arbeit, die mich nicht unterfordert", meinte ich. "Du hast dir ja auch eine Arbeit gesucht, die dich nicht unterfordert, für die du Kreativität und Organisationstalent brauchst. Du könntest ja auch nicht irgendwo stur 'rummalochen."
Kappa bestätigte dies.
Das Irrenhaus von Snd., wo ich jetzt arbeite, hat einen Heimbereich, der vor allem aus dem Dorf Kth. besteht - jenem Dorf mit dem Zivi-Wohnheim mit der unbeschreiblichen Toilette, wo 1993 Keiths seltsame Party stattfand. Ich jedoch bin im Nachbardorf auf einer Entgiftungsstation für Alkoholiker eingesetzt.
Im Irrenhaus gehen viele Geschichten herum, wahre und unwahre. Unwahr ist sicherlich die Geschichte vom Wasserkopf, der mit einer Hasenscharte in der Sauna sitzt.
"Ifft dir auch ffo heiff?" fragt Hasenscharte.
Der Wasserkopf gibt zur Antwort ein leises und dann immer lauter werdendes Pfeifen von sich.
Wahr ist, daß der Wodka in Rußland in halben Flaschen verkauft wird und hier in Dreiviertelliterflaschen. Deshalb prägte sich der Spruch:
"Je Moskauer, desto null-fünfer."
Unwahr ist:
"Mit zwei, drei Flaschen Doppelgorn
kann man noch brima Audo forn.
Denn bißchen Algohol am Steuer
ist nur, wenn man erwischt wird, teuer."
Einige glauben, es sei wahr:
"Das Leben ist an manchen Tagen
nur im Vollsuff zu ertragen."
Ein langjährig bekannter Patient hatte die Angewohnheit, auf Strommasten und Küchenschornsteine zu klettern. Er wartete dort oben und freute sich diebisch, wenn die Feuerwehr mit der Drehleiter kam.
"Hätte man unten eine Kiste Bier hinstellen und weggehen sollen", meinte ein Pfleger, "dann wäre er schon heruntergekommen."
"Der hat dann ja noch die Raumpflegerin von Haus 4 geheiratet", wußte ein anderer Pfleger. "Wenn der zu ist, ist der unberechenbar ..."
Wer als "verrückt" eingestuft wird, bekommt die inoffizielle Diagnose "Waffelbruch", auch "Keksfraktur", "Morbus Bahlsen" oder "Tuc Tuc" genannt. Eigenartiges Verhalten finde sich so nach und nach auch beim Personal.
"Ja, wer erstmal so'n paar Jahre dabei ist ...", werden diese Kuriositäten erklärt.
Sogar eine richtige Gummizelle soll aus früheren Zeiten im Irrenhaus von Snd. übriggeblieben sein.
"Es gibt noch eine Gummizelle im Heimbereich", erzählte ein Pfleger, "die wurde für Asgar gebaut. Mir wurde damals Asgar vorgestellt:
'Das ist Asgar, das ist ein Epileptiker mit tausend Narben, der haut überall gegen.'
Und der Stationspfleger sagt:
'Gehnse mal mit dem spazieren. Nur hinten am Gürtel festhalten und auf dem Feld loslassen.'
Und ich geguckt, ist da auch kein Hund in der Nähe? Dann habe ich losgelassen, und der ist geflitzt ... so ein paar hundert Meter weit, und dann kam er wieder zurück, mit hängender Zunge. Der hat mich richtig liebgewonnen, wenn der mich gesehen hat, hat der sich gleich umgedreht, daß ich ihn am Gürtel fassen konnte."
"Es gibt auch noch eine Zwangsjacke hier", erzählte ein anderer Pfleger, "so ein selbstgenähtes Ding."
Viel älter ist die Geschichte von dem Russen, der 1945 Kartoffeln ins Klo warf und spülte. Er nahm an, daß es sich bei dieser merkwürdigen Porzellanschüssel um eine Kartoffelwaschanlage handelte. Als die Kartoffeln nach dem Spülen verschwunden waren, dachte der Russe, die Deutschen hätten sie geklaut, und vor Wut schoß er hinterher. Da war das Klo freilich hin.
In der "Neuen Sachlichkeit" berichtete mir Sten, daß Rafa sich mit Berenice in Schweden aufhielt, um dort ein Konzert zu geben. Als ich Zenaide erzählte, daß Rafa dieses Mal Berenice mit auf die Tour genommen hat, bemerkte sie:
"Ach - mit Bedienung!"
"Sicher, das ist ein Dienstverhältnis", meinte ich. "Und er weiß, daß ich ihm so viel Dienstbeflissenheit nicht bieten kann. Deshalb will er mich auch nicht."
Es ist seltsam, daß Rafa seine Konzerttermine neuerdings immer so legt, daß sie genau über einem Termin in der "Halle" oder der "Neuen Sachlichkeit" liegen. Es kommt mir vor, als wenn er diese Veranstaltungen meiden will und dafür ein Alibi braucht, um nicht nach Rechtfertigungen suchen zu müssen.
Rafa gilt als vielbeschäftigter Musiker und kann es sich herausnehmen, zu vereinsamen, ohne daß es jemand bemerkt oder sich daran stört. Wenn er am Montagmorgen fernguckend im Bett liegt, bekommt das nur seine Freundin mit. Die übrige Welt glaubt, er hetze von Interview zu Interview, von Studiotermin zu Studiotermin, von Auftritt zu Auftritt.
Edaín erzählte ich, mit den Nebensachen im Leben käme ich zurecht, nur mit der Hauptsache nicht. Kappa wisse, worum es gehe; ich hätte schon ausführlich mit ihm darüber gesprochen.
Ace begrüßte mich, und ich wünschte mir von ihm ein wenig Industrial oder Elektro. Diesen Wunsch erfüllte er auch, als er ans DJ-Pult ging. Unter anderem spielte er "Totmacher" von :wumpscut:, das mir in seinem düsteren Gewand sehr gefällt; das liegt nicht zuletzt an dem straffen, kulthaften, abgeklärt wirkenden Rhythmus.

In einem Traum Ende Februar begegnete ich Rafa in der "Neuen Sachlichkeit". Er kam auf mich zu, und wir begannen uns zu umarmen, zu streicheln, zu beißen und was dergleichen mehr ist. Ich wartete beständig darauf, daß Berenice mich angriff, es geschah aber nicht; ich sah sie nicht einmal. Eben hing ich über Rafa, der sich nach vorn gebeugt hatte, und legte von hinten meine Wange an seine. Da machte ich mir bewußt, wie abstoßend ich es fand, daß vor mir schon viele Dutzend andere mit Rafa ungefähr das gemacht hatten, was ich jetzt tat. Und ich wollte mich doch auf keinen Fall mit den anderen in eine Reihe stellen. Ich löste mich kurz von Rafa und hielt inne. Irritiert sah er sich nach mir um, als rechne er nun mit der über Jahre hinweg befürchteten eiskalten Zurückweisung. Ich führte mir vor Augen, wie sehr ich mich immerfort nach ihm sehne und daß kein anderer mir geben könnte, was ich bei ihm finde. Das war mir wichtiger als Rafas Vorgeschichte. Ich nahm ihn also weiter in die Arme und streichelte und küßte ihn. Schließlich hielten wir uns aneinander fest wie mit Schraubstöcken.

Anfang März legte Sasch im "Elizium" auf und spielte sehr viel Industrial. Constri und ich waren begeistert. Velroes neue Freundin Hytania war etwas verwundert, weil ich einfach nicht zu tanzen aufhörte. Ihren Berechnungen zufolge hätte ich spätestens nach dem dritten Lied müde sein müssen.
Nicht nur Velroe, auch Hytania kann den Rafa nicht ausstehen. Hytania hatte auf dem letzten Festival in der "Halle" eine unerfreuliche Begegnung mit Rafa. Er schob sich mit seiner Zigarette durch das Gedränge und brannte beinahe Hytanias lange blonde Haare an. Dazu gab er noch einen recht übellaunigen Spruch von sich, etwas wie:
"Ich würd' mal aufpassen!"
Arrogant habe das gewirkt. Ätzend. Velroe und Hytania sind aus dem Saal gegangen, als Rafa auftrat.
Hytania kann sich vorstellen, daß Rafa verklemmt ist und Angst vor sich selber hat. Warum seine Angst mit mir in Verbindung steht, darauf kann Hytania sich keinen Reim machen.

Ein Traum handelte wieder einmal davon, daß Rafa gestorben war. Ich konnte seine Zimmer betreten und mir anschauen, was er zurückgelassen hatte; das half mir aber nichts mehr. Es gab nichts, was mich zu ihm bringen konnte, weil es ihn nicht mehr gab. Ich stellte fest, daß ich von ihm noch in der Gegenwart redete:
"Rafa ist ... Rafa kann ..."
In mir war Rafa allgegenwärtig, aber er konnte mir nicht mehr antworten.
Ich überlegte, ob es sinnvoll wäre, mich umzubringen, weil ich ohnehin hier unten nichts mehr zu suchen hätte. Diesen Gedanken verwarf ich rasch; ich konnte mir das nicht vorstellen; pflichtbewußt würde ich in der Welt bleiben bis zu meinem vom Schicksal bestimmten Tode, pflichtbewußt mich um alles kümmern, ohne Sinn und Inhalt, allein mit der Sehnsucht, die unerfüllbar blieb. Nicht einmal Kinder würde ich haben, denn die hätten nur von Rafa und mir sein können.

Gewissermaßen bewahre ich für Rafa jene Anteile seines Wesens auf, die er wegscheucht und die ich für wertvoll halte. Er sperrt seine ungeliebte Hälfte in den Keller, und ich kümmere mich darum.

Unlängst habe ich geträumt, mein ehemaliger Chef Ninyat würde gar nicht gut ohne mich zurechtkommen; meine Nachfolgerin könnte mich nicht ersetzen. Er würde mir das auch sagen, mit bedeutungsvoller Lautsprache und entsprechenden Gesten.

In einem anderen Traum sah ich Rafa etwas erhöht vor mir stehen, und er beugte sich langsam zu mir herunter. Ich erkannte, daß er sich einen Strick um den Hals gelegt hatte, der im Geäst eines Baumes verknotet war. Je mehr Rafa sich mir näherte, desto näher kam er auch dem Tode. Er wollte in den Strick hineinsinken, in sein Verderben.

Eines Abends war ich bei Constri und begrüßte Derek, der vor dem Fernseher saß:
"Hallo Derek!"
"Tschüß!"
"Du mußt das Kinderprogramm gucken", ermahnte ich ihn. "So spät kommen doch gar keine Kindersendungen mehr."
"Tschüß!"
"Hast du auch artig die 'Sendung mit der Maus' geguckt?"
"Wenn du so weitermachst, siehst du bald die Sendung mit der Faust!"
Sarolyn erzählte, Inya sei kürzlich im "Maximum Volume" gewesen und habe Rafa da gesehen. Er habe am DJ-Pult gestanden. Seine Freundin habe er immer noch. Inya findet, Rafa habe "voll schlecht" ausgesehen, unrasiert, mit phantasielosem Stufenschnitt, Bauchansatz und ungepflegten Fingernägeln. Sasch meinte, Rafa habe mit seinem weißen Sakko, den gegelten Haaren und dem Fünftagebart wie eine Mischung aus Mafioso und Terrorist ausgesehen.
Ist ihm nicht mehr wichtig, wie er aussieht?
Bevor wir Mitte März in die "Krypta" gingen, war ich mit Victor bei Sarolyn. Sie bot uns "Danziger Goldwasser" an, eine hochprozentige Flüssigkeit, in der echtes Gold schwimmt. Ich frage mich, ob man das Gold einfach so hinunterschlucken kann oder ob man es auswaschen sollte. Sarolyn goß es sicherheitshalber ohne Gold ein.
"Es schmeckt gut", fand ich.
"Macht breit", wußte Sarolyn.
"Also, zieht einem ganz gut die Gardinen zu."
"Jaja."
Kappa legte in der "Krypta" auf. Unter dem Kreuzgewölbe flackerten Kerzen. Die "Krypta" war sehr gut besucht, leider auch mit zahlreichen Messegästen, die das Szenegebot nicht kannten, welches heißt:
"Du sollst nicht belästigen."
In der Szene kann man so viel Haut zeigen, wie man will, ohne damit rechnen zu müssen, daß irgendwer das als Aufforderung mißversteht. Paarungswillige Fremde, die durch Zufall hereinrieseln, wissen das nicht und verursachen Ärgernisse. Edaín und ich mußten deshalb teilweise etwas deutlicher werden. Edaín trug ein enges silbrig-helles Paillettenkleid und fühlte sich wie ein Ausstellungsstück.
Alan beschäftigte sich etwa eine Viertelstunde lang damit, mir seine Verehrung auszudrücken.
"Eine Party ist nur mit dir eine Party", meinte er. "Du bist überall, jeder in der Region kennt dich, du bist ein fester Begriff."
Seine Befürchtung, daß ich das als "Anmache" verstehen könnte, zerstreute ich.
Cyra war in der "Krypta" und berichtete, Synapscape würden am Ostersamstag als Live-Act im "Radiostern" auftreten.
Kappa spielte immerhin "Solitary" von VNV Nation, "Zum Lobe des Herrn" von Drakul und "Desire" von Suicide Commando.
Revil hatte Geburtstag und gab einen aus. Mir brachte er Sambuca. Das könnte man auch gut für Parties nehmen, denke ich; dann kann sich jeder selbst den Sambuca anzünden und so viele Kaffeebohnen hineinwerfen, wie er möchte.
Ende März waren wir endlich wieder im "Zone". Das Wiedersehen mit Les freute uns alle. Er war dann auch geneigt, ein Programm für uns zu spielen.
Les berichtete, seit dem vergangenen Sepember sei Rafa nie mehr im "Zone" aufgetaucht.
Constri stellte vierundzwanzig Mini-Schokoküsse in verschiedenen Helligkeitsstufen auf unser Tischchen, die wir begierig verspeisten. Dazu gab es Kakao und Cola. Constri war hübsch verziert; sie trug ein selbstgenähtes Spitzenkleidchen und Ärmlinge aus Spitze. Sie meinte, hier zu tanzen sei so ähnlich wie eine Meditation, für Körper und Seele, und das Tanzen an sich sei durch nichts ersetzbar. So geht es mir auch. Das Tanzen ist für mich wie eine Beschwörung. Es hat auch viel mit Gemeinschaft zu tun. Alle folgen dem Rhythmus, bewegen sich in Reihen und brauchen für die Verständigung keine Worte.



An Lisas Geburtstag waren Constri und ich bei ihr und ihrer kleinen Familie in HH. zum Kaffee. Wir brachten indische Räucherstäbchen mit, und Chandra meinte, davon bekomme er Heimweh. Lisa und Chandra haben ihre Studentenbude gemütlich und kuschelig eingerichtet, ein trautes Heim in der Fremde. Sie sind beide weit weg von zu Hause, denn S., Lisas Heimat, liegt immerhin siebenhundert Kilometer von HH. entfernt.
Das Kind Ida ist inzwischen zwei Monate alt; es hat den Hautton von Chandra und das Gesicht von Lisa. Constri und ich mußten beide daran denken, wie gern wir selbst Kinder hätten.
Abends war ich mit Sarolyn bei Velroe und Hytania. Hytania feierte in ihren Geburtstag hinein. Sie hat von ihrem früh verstorbenen Vater das Haus geerbt. Hytanias Mutter lebt noch, ist aber nach der Scheidung weggezogen.
Die schnörkelige Hausbar erinnert noch sehr an die vorangegangenen Generationen. Landwirtschaftliche Geräte hängen an den Wänden, und es gibt überall Simse mit einer Unmenge von Zierkrügen und leeren Flachmännern. Auch einen Bierkrug mit einem Schloß gibt es, und der Schlüssel hängt daneben.
"Nie wieder Alkohol!" steht auf einem Schild. "Für hin und wieder - Schlüssel benutzen!"
Auf einem Holzschild ist in Zierschrift der Vers zu lesen:

Wer trinkt, pflegt immer gut zu ruhn,
wer schläft, der kann nichts Böses tun.
Wer gut ist, zieht im Himmel ein -
kurzum: wer säuft, muss selig sein!

Das erinnert mich an die "Schnapsklingel" von Wilf, die man auf den Stammtisch stellt, und wenn man klingelt, kommt die Kellnerin sogleich mit der nächsten Runde.
Diese "Suchtkultur" ist eine Mischung aus Volkstümlichkeit, traditionsbewußtem Kitsch, männlichem Imponiergehabe und Schamgefühlen.
Als Ironie des Schicksals - "Schlucksals", könnte man sagen - war auf der Feier auch ein Jüngling, der laut Bericht seiner Freundin öfters ziemlich abstürzen soll. Sie ließ sich davon gründlich die Laune verderben und schien nicht imstande, sich von ihm und seinem Trinkverhalten abzugrenzen.
"Sauf' nur, ich kümmere mich dann aber nicht mehr um dich!" - dieser Satz wäre ihr wohl niemals über die Lippen gekommen.
Sie wirkte hilflos und peinlich berührt, als handele es sich um ihre eigene Trinkerei. Auf diese Weise wälzte sie auch die allgemeine Stimmung nieder, zumal Hytania sich davon mitreißen ließ.
Hoffi blieb heiter und schwatzte über sein Lieblingsthema. Er sagt inzwischen nur noch "Mode", wenn er von den so verehrten Depeche Mode spricht. Man kann sich einfach nicht mit ihm unterhalten, ohne daß von Depeche Mode die Rede ist.
Wir nahmen Hoffi später mit in die "Neue Sachlichkeit". Wir kamen gegen zwei Uhr dorthin.
Nachdem ich meine Sachen neben eine Box gelegt hatte, folgte ich Sarolyn zur Galerie und kam auf diesem Weg dicht an Rafa vorbei, der in der Nähe der Theke stand, hinter seiner Spiegelbrille versteckt. Er schaute mir entgegen und lächelte, aber wegen der Brille war nicht zu erkennen, ob er mich ansah. Ich legte im Vorbeigehen kurz meine Hand auf seine Schulter.
Rafa trug eine hellgraue Uniformjacke, und ich fand, daß sie ihm gut steht. Allerdings war er unrasiert.
So nachlässig, wie Rafa auftritt, so viel Mühe gebe ich mir. Ich hatte das schwarze Kleid mit den hohen Seitenschlitzen und dem Chiffonschleier an, dazu ein enges brombeerfarbenes Jäckchen mit schwarzer Spitzenkante und schwarze Spitzenhandschuhe. Außerdem trug ich schwarze Netzstrümpfe mit Strapsen und Strumpfbändern. Um den Hals trug ich ein Straßkettchen.
"Ist er den Aufwand wert?" fragte ich mich.
Ich sagte mir, daß man auch für sich selbst etwas tut, wenn man sich hübsch zurechtmacht.
Manchmal denke ich:
"Wie kann mir der liederliche Rafa noch gefallen?"
Wenn ich ihn betrachte, stelle ich immer wieder fest, daß er mir außerordentlich gefällt, und das erstaunt mich.
Von der Galerie aus beobachteten Sarolyn und ich, wie Berenice zu Rafa vor die Theke kam und dort von ihm routiniert geküßt wurde. Es sah wieder einmal nach einer Demonstration aus.
Pärchen, die so viel Harmonie ausstrahlen wie Rafa und Berenice, machen mich skeptisch. Auch als Sarolyn und Rory zusammen waren, sah man Harmonie, wohin sie auch kamen. Inzwischen will Sarolyn Rorys "Visage" - wie sie sagt - nicht mehr sehen, und es geht die Rede, daß er sie verprügelt haben soll.
Als Sarolyn und ich wieder unten waren und bei der Theke standen, schob sich Rafa im Gedränge mit voller Wucht an mir vorbei, so daß eine Berührung unvermeidlich und recht ausführlich war. Ich zwickte ihn ein wenig in den Arm.
Rafa stellte sich zu Ace ans DJ-Pult, das wie sonst auf der Bühne aufgebaut war. Cyra begrüßte mich und erzählte, daß sie bei der bevorstehenden Industrial-Nacht im "Radiostern" wohl mittanzen könne, denn der DJ sei so gut, daß sie ihn gar nie ablösen müsse.
Rafa marschierte dicht an Cyra und mir vorbei; er trug ein Tablett mit Biergläsern.
Hagan fragte mich, wie es mir ginge, und ich antwortete, solange Rafa eine Freundin habe, kšnne es mir gar nicht gut gehen.
Hagan meinte, Rafa laufe seiner Freundin hinterher.
Es könnte sein, daß Rafa nach einem bewährten System vorgeht: Er heuchelt zunächst Verliebtheit, dann behandelt er seine Freundin schlecht, so daß es mit ihr Streit gibt; anschließend bittet er unterwürfig um Vergebung, und sie läßt sich erweichen. Dieses Hin und Her verschafft Rafa die Kontrolle über seine Freundin, ohne daß sie das System jemals durchschaut und begreift, daß Rafa von Anfang an in dieser Beziehung die Regie geführt hat.
Ace spielte meinen Wunsch, "Totmacher" von :wumpscut:. Cyra und ich tanzten dazu.
Edaín legt seit dem letzten Herbst ebenfalls bei Kappas Veranstaltungen auf. Sie verwendet das Pseudonym "Angel".
Als ich noch einmal mit Sarolyn zur Galerie ging, kam ich schon wieder an Rafa vorbei. Ich berührte ihn am Arm, ohne ihn anzuschauen.
Rafa küßte Berenice manchmal auch über die Theke hinweg. Er führte ansonsten längere Gespräche mit Edaín und anderen Leuten. Dolf hielt sich mehr an Magda.
Als es in der "Neuen Sachlichkeit" leerer wurde, kam Rafa vom DJ-Pult herunter und ging mit raschen Schritten dicht an mir vorbei, mit seinem Bierglas. Er gewahrte, daß ich meine Hand nach ihm reckte, und wich im Gehen blitzschnell aus. Er scheint sehr wohl zu wissen, was gemeint ist.
Etwas später kam es wieder zu einem seltsamen Zufall. Ich lief quer durch die "Neue Sachlichkeit", nur mit dem Autoschlüssel in der Hand, weil ich den Wagen umparken mußte. Ich schaute nicht rechts und links, und da kam ich schon wieder an Rafa vorbei und konnte ihn in die Taille zwicken.
Als ich zurückkam, war Rafa draußen vor der "Neuen Sachlichkeit" mit einigen Jungs. Die nahmen ihn wohl mit. Jedenfalls blieb er danach verschwunden, nur Berenice war noch da.
Am Mittwoch ist Rafa wieder im "Maximum Volume" gesehen worden. Man hat ihn nicht mit seiner Freundin tändeln sehen. Sasch hat gar kein Mädchen bei Rafa gesehen. Rafa soll hingegen viel mit Kappa geknuddelt haben.
"Für mich sind Kappa und Rafa große Kinder", meinte Onno. "Mit Rafa kann man kein richtiges Gespräch führen."
"Ich schon", entgegnete ich.
Über Edaín meinte Onno:
"Die braucht immer jemanden, den sie vorzeigen kann."
"Ich glaube, es gibt keinen, der diese Ehe ernst nehmen kann", vermutete Constri.
Es ist seltsam, daß gerade dieses Paar - Edaín und Kappa - so in Frage gestellt wird. Vielleicht wird diese Verbindung von Außenstehenden als besonders klischeehaft wahrgenommen ("Der Gruft-König und sein Blondchen" oder so ähnlich). Über Kappa hat man schon immer gerne gelästert, und wenn er dann auch noch heiratet, ist in der Gerüchteküche viel los.

Kürzlich hat Constri geträumt, ich wäre mit jemand anderem als Rafa zusammen. Carl hat auch so etwas geträumt.

Eine solche Vorstellung verursacht mir Übelkeit, Kopfweh und das Gefühl, daß da etwas ganz und gar nicht stimmt. Es ist, wie wenn man versucht, eine Aufgabe mit ungeeigneten Mitteln zu lösen:
Ich habe Hunger, und jemand gießt mir Wasser ein.
Ich will in den Schatten, und jemand zieht die Vorhänge auf.
Ich will Arbeit, und jemand schenkt mir Pralinen.
Constri und Carl würden es begrüßen, wenn ich mir einen anderen Mann aussuche, weil sie anscheinend nicht nachvollziehen können, was Rafa wirklich für mich bedeutet. Wenn ich sage, es ist für die Ewigkeit, kann ich nicht davon ausgehen, daß mir das irgendwer glaubt. Eine Beziehung, aus der nichts wird, gilt nicht als echt.
Im "Elizium" richtete ich Chantal Grüße von Seraf aus. Sie meinte, sie wolle Seraf nicht mehr sehen.
Anfang April waren wir abends bei Reesli. Er hatte Gäste und legte für uns ein Amateurvideo ein, das er zum Geburtstag bekommen hatte. Der Film war durch und durch unernst und handelte von drei kriminellen Jugendlichen. Einer von ihnen hieß "Özcrem Drecran". Außerdem war noch die Rede von anderen Untergrundgrößen, "Wasserhan", "Gockelhan", "Wetterhan", "Kikerikihan". Die drei Helden zogen in einer Art Roadmovie durchs Land und machten nur Unsinn. Einem wurde dabei von einem Jiu Jitsu-Kämpfer der Kopf abgeschlagen, mit der Handkante. Der Versuch, den Kopf mit Tesafilm wieder anzukleben, scheiterte.
Später am Abend waren wir im "Radiostern". Dort traten Synapscape auf. "Stop yield" wurde gespielt, und sie brachten auch sehr rhythmische Titel von ihrer noch nicht veröffentlichten CD. Die Musik, die es danach zum Tanzen gab, paßte ins Programm. Der DJ wollte, daß ich unbedingt lange blieb, und das tat ich nur zu gerne. Unter anderem lief ein seltenes Stück von Winterkälte, von einem Tape namens "Demo".
Constri und ich aßen im Foyer des "Radiosterns" Pommes frites. Constri traf eine Kommilitonin, hübsch und gut geschminkt, die ich auf mindestens zehn Jahre jünger geschätzt hätte. Sie ist schon fünfunddreißig. Aus dem Berufsleben kann sie vor allem die folgende Erfahrung mitteilen:
"Vorgesetzte, die über ihre Mitarbeiter hinwegarbeiten und deren Eigenständigkeit und Kreativität nicht fördern, haben keine Zukunft."
Chantal war mit einem hübschen Begleiter namens Robin da, hat allerdings noch keinen neuen Freund.
Am nächsten Samstag war Rafa nicht in der "Neuen Sachlichkeit", Berenice jedoch war da und bediente. Sie trug ein cremefarbenes Rokokokleid mit dunklem Unterkleid. Es wirkte nicht recht passend, wie übergestülpt; das lag wohl daran, daß sie keinen Schmuck trug und sich auch nicht entsprechend frisiert hatte. Die Haare hingen herunter, wie sonst auch.
Toro hatte seine Haare zu einem gewaltigen Turm hochgefönt, der sich nach oben verbreiterte wie ein Blütenkelch; da saß jedes Strähnchen, nichts war dem Zufall überlassen. Der Turm erinnerte mich ein wenig an dem Riesentornado in dem Film "Twister".
Oben auf der Galerie hatte Toro mit seinen Freunden einen großen Stand mit Kleidern und Schmuck. Es gab wallende Samtgewänder, Spitzenhemden, Spazierstöcke, Kreuze - richtigherum und auf dem Kopf - und einiges mehr.
Vor dem Verkaufsstand sprach mich ein fescher Bursch mit Augenbrauenpiercing an:
"Du heißt doch Hetty?"
Er heißt Maxim, stammt aus BI. und ist kürzlich nach H. gezogen. Jetzt möchte er die hiesige Szene kennenlernen, und er glaubt, daß ich zu den Leuten gehöre, die man auf jeden Fall kennen müsse:
"Wenn ihr drei, Kappa, Ace und du, auf einer Party seid, dann muß es was Wichtiges sein."
Er erzählte, er kenne mich schon länger vom Sehen, er hätte sich gedacht, "voll die Achtziger-Jahre-Braut, mit Röckchen", dann müßte mir Minimal doch auch gefallen.
"Was zu penetrant nach NDW klingt, kann ich nicht ab", meinte ich.
"Also, ich stehe da völlig drauf", entgegnete er, "Kraftwerk ... W.E ..."
"Ach, das, was Rafa immer so macht."
"Die hatten mal einen Auftritt in Mo., da waren wir im Backstage und haben mit denen ein einstündiges Interview gemacht."
"Und wo habt ihr es veröffentlicht?"
"Das hat der Veranstalter alles behalten."
"Aber ihr habt doch noch ein Doppel."
"Ja."
"Dann veröffentlicht es doch in irgendeinem Blättchen. Das kommt an. Rafa ist überzeugt, mit seiner Musik mal den großen Erfolg zu haben und davon leben zu können. Bis jetzt wohnt er allerdings noch bei Muttchen im Kinderzimmer."
"Ist doch auch in Ordnung."
"Sicher, das ist so lange in Ordnung, wie seine Mutter lebt und ihn finanziert."
"Ah, so ist das."
Maxim ist bei Rafa und Dolf ein merkwürdiges Kontaktverhalten aufgefallen:
"Mal kennen die einen, mal sehen die durch einen hindurch."
"Rafa hat wirklich ein seltsames Kontaktverhalten", bestätigte ich. "Man weiß nie, wie er reagiert, wenn er einen sieht. - War Rafa eigentlich letzten Mittwoch auch im 'Maximum Volume'?"
"Ja, der hat aufgelegt."
"War da irgendetwas sehr Auffälliges?"
"Nicht, daß ich wüßte."
"Rafa erzählt seit sechs Jahren, daß er Angst vor mir hat. Warum sollte man bloß vor mir Angst haben, frage ich mich."
"Ach, ich könnte mir schon denken, daß jemand Angst vor dir hat."
"Vor mir? Das würde mich interessieren."
"Die Leute finden dich oft unnahbar."
"Aber mich kann doch jeder ansprechen."
"Das merke ich jetzt auch,deshalb wollte ich dich ja auch unbedingt mal ansprechen."
"So kann man diese Befürchtungen aus der Welt schaffen ... wenn ich nur wüßte, was an mir so furchterregend ist?"
"Ich habe eine Anzeige geschaltet, daß ich Leute aus der Szene von H. kennenlernen möchte, und auf diese Weise habe ich auch einige kennengelernt. Und die habe ich auch auf dich angesprochen, und jeder hat gesagt, oh, Hände weg, sprich' die bloß nicht an, die ist voll arrogant."
"Das verstehe ich nicht", meinte ich, "die Leute, die mich kennen, haben von mir nicht diesen Eindruck, mit Ausnahme von Dolf, zu dem war ich wirklich arrogant. Und mein Bekanntenkreis umfaßt ungefähr hundertfünfzig Leute ..."
"Die, die ich gefragt habe, haben das jedenfalls gemeint. Vielleicht waren das eben auch keine von den Wichtigen."
"Was macht einen Menschen denn wichtig oder unwichtig?"
"Na, stimmt eigentlich, wie soll man das sagen ..."
"Rafa kennt mich recht gut, und trotzdem hat er Angst vor mir, das verstehe ich nicht."
"Du bist eben außergewöhnlich ... anders als die anderen ..."
"Das ist er ja auch, der spielt sich in den Vordergrund und dirigiert ... und vor mir hat er Angst ..."
Eine schlüssige Erklärung wußte Maxim auch nicht.
Er ist dreiundzwanzig und möchte in H. auflegen, hat aber noch nicht den passenden Laden gefunden. Ich empfahl ihm, mit Sasch Kontakt aufzunehmen.
Leute wie Maxim scheint es häufiger zu geben, Leute, die mich auf irgendeine Art verehren und sich davor fürchten, mich anzusprechen.
Edaín übernahm zeitweise das DJ-Pult; sie spielte unter anderem das sehr tanzbare "Zum Lobe des Herrn" von Drakul. Edaín hantierte an den Reglern und wechselte zwischendurch die Zigarette aus. Das Rauchen fällt mir sonst nicht auf; ich könnte bei den meisten Leuten nicht einmal sagen, ob sie rauchen oder nicht. Aber Edaín zog so hastig ihre Zigarettenschachtel zwischen den Decks der Anlage hervor, als wenn sie sich daran klammerte.
Berit wirkt auf mich in der letzten Zeit damenhafter und schicker. Sie trägt Blazer und glitzernde Tränenpunkte. Sie sieht nicht mehr so mäuschenhaft aus. Sie meint, sie hat sich sozusagen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen:
"Die Therapie hat damals gar nichts geholfen, im Gegenteil ..."
Seit anderthalb Jahren ist es ihr gelungen, sich nicht mehr zu schneiden, von einem kurzen Rückfall abgesehen. Sie verhindert es, indem sie sich sagt, daß es auch andere Problemlösungsmöglichkeiten gibt und daß die Welt nicht unbedingt so schwarz sein muß, wie sie sie in schwierigen Augenblicken sieht.
Berit hat eine Ausbildung zur Floristin begonnen. Da sie schon einiges Angefangene nicht zuendebringen konnte, wäre es ein besonderer Erfolg für sie, wenn sie die Ausbildung abschließt.
Am Mittwoch war ich im "Maximum Volume" und traf einige Bekannte, auch den inzwischen kahlgeschorenen Lego, der seit Kurzem wieder mit seinem alten Freund Till redet. Sasa trägt geflochtene Zöpfe und arbeitet im Kindergarten. Hagan sagte mir einen Spruch, den jemand im Damenklo an die Kabinenwand gekritzelt haben soll:
"Frauen, die mit den Hacken klacken, kann man auch beim Kacken hacken."
Er vermutet, daß irgendein "Hengst" den Spruch währenddessen geschrieben hat.
Constri tanzte sogar einige Male im "Maximum Volume", obwohl sie zunächst reichlich Vorbehalte gegen die Location gehabt hatte.
Es liefen "Become an angel" von In strict confidence, "Zum Lobe des Herrn" von Drakul und das romantisch-melancholische "Solitary" von VNV Nation.
An einem sonnigen Vormittag ging ich den Weg hinauf zum Haupteingang des Irrenhauses von HI. Davor lief ein Mann herum, der wie ein Langzeitbewohner aussah.
"Ist anstrengend, wenn man bergauf laufen muß, nicht wahr, junge Frau?" sprach er mich an. "An Ihrer Stelle würde ich gleich wieder umkehren, hier verpassen Sie sowieso nichts."
Etwas später erwischte er mich auf dem Weg zur Caféteria:
"Passen Sie auf sich auf, junge Frau!"
Meine Zeit als "Ärztin im Praktikum" ist vorbei. In HI. will ich, wenn das Schicksal mir wohlgesonnen ist, meine erste Stelle als Assistenzärztin annehmen. Das bedeutet zum ersten Mal ein "richtiges" Gehalt und eine Tätigkeit beim Öffentlichen Dienst.
Mit Chantal fuhr ich bald darauf schon wieder nach HI., zum Konzert von Terminal Choice. Auf der Bühne brannten Pechfackeln und ein Kreuz, und es gab einen Zweikampf mit Plastikschwertern, für den sich die Akteure Masken von kahlgeschorenen Köpfen aufsetzten. Der Sänger trug einen langen, aufregend schmalen Rock aus schwarzem Leder, der hinten hoch geschlitzt war.
"Wann werden die Männer endlich begreifen, wie sexy sie im Rock aussehen?" seufzte Chantal.
Ich pflichtete ihr bei.
"Es gibt niemanden, der so erotische Hüftknochen hat wie Rafa", erzählte ich, "und wenn so ein Rock über diesen Hüftknochen spannt, sieht das so geil aus ... Rafa begreift einfach nicht, daß ausgefallene, exotische Garderobe ihm viel besser steht als dieser alberne Anzug-Look, in dem er seine Konzerte gibt."
Celeste erzählte von einem Gerücht:
"Stimmt es, daß du versucht hast, dich umzubringen und deshalb in der Klapsmühle gelandet bist?"
"Das klingt nach Ivo Fechtner", meinte ich, "der erfindet immer solche Geschichten. Ich arbeite zur Zeit in der Klapsmühle, insofern bin ich da tatsächlich."
Auf der Rückfahrt wälzten Chantal und ich altbekannte Probleme.
"Wenn solche Göttinnen wie wir keinen Mann finden, liegt es nicht an mangelnder Qualität, sondern daran, daß keiner auf unserer Ebene ist", vermutete ich. "Die trauen sich nicht, und was soll man mit einem, der einem nichts entgegensetzen kann?"
Chantals gutaussehender Bekannter, der "schöne Robin", soll von einem Mädchen namens Sanina begehrt werden. Sanina soll kürzlich auf Chantal zugekommen sein und sie gefragt haben, ob sie mit Robin ins Bett gehen dürfe. Ohne ihn zu kennen, soll Sanina zu Robin gesagt haben, sie liebe ihn und würde sofort mit ihm ins Bett gehen.
"Das ist meistens so", meinte ich, "die Jungen setzen sich in die Ecke und warten einfach, bis die Mädchen ankommen, und wenn sie keine Lust mehr haben, können sie zu den Mädchen immer sagen, wieso, du wolltest doch unbedingt was mit mir anfangen. Da haben sie nie die Verantwortung, alles ist bequem, einfach und hohl. Ehrlich ... was sollen wir mit solchen Kerlen?"
Bevor ich nach HI. wechseln kann, ärgere ich mich noch mit den intriganten Vorgesetzten an meinen jetzigen Arbeitsplatz herum, dem Irrenhaus in Snd. Auf der Arbeit war ich in den letzten Tagen fast ununterbrochen mit Kaffeeklatsch und Tratsch beschäftigt, um herauszufinden, wer verhindern wollte, daß ich nach dem Ende meiner Zeit als "Ärztin im Praktikum" in Snd. weiterarbeitete. Die Kollegen, mit denen ich unmittelbar zu tun hatte und die mich kannten, kamen aufgrund ihres Verhaltens nicht in Frage; allgemein herrschte die Ansicht, daß es keinen vernünftigen Grund gab, mich nicht behalten zu wollen; der Grund mußte also irrational sein. Wenn mich jemand loswerden wollte, mußte er auch die entsprechende Macht haben. Der rückgratlose Chefarzt wirkte nicht so, als wenn er mich haßte, allerdings schien er zu glauben, mich belügen zu müssen. Es ergab sich der Verdacht, daß er fürs Lügen nicht bestraft, sondern bezahlt wurde. Dementsprechend konnten diejenigen, die ihn bezahlten, mit der Wahrheit auch nicht eben gut Freund sein.
Parallel geistert die Geschichte von Misery weiter durch die Klinik. Inzwischen ist bekannt, daß der Inhaber der Irrenhauses die zwanzig Jahre jüngere, übergewichtige Kollegin Misery bei einem Jazzfrühschoppen kennenlernte und ihr sogleich eine unbefristete Oberarztstelle verschaffte, unter Umgehung des Chefarztes. Zur selben Zeit ließ der Inhaber verlauten, ausschließlich der Chefarzt sei für Neueinstellungen verantwortlich, weiterhin solle es nie unbefristete Stellen geben, und auf der Ebene des mittleren Managements (also des Chefarztes) seien ihm die Stellen ohnehin viel zu langfristig besetzt. Man zählt zwei und zwei zusammen und kommt zu der Vermutung, daß der Inhaber den Chefarzt gern durch Misery ersetzen würde. Über Misery sind nunmehr aus allen Berufsgruppen Beschwerden laut geworden wegen ihres aggressiven Verhaltens. Der Inhaber kommentierte diese seit Monaten aktuellen Beschwerden mit dem Satz:
"Mir ist noch nichts Negatives über sie zu Ohren gekommen."
Kürzlich hat man den - verheirateten - Inhaber und Misery abends zu zweit in einem Nobelrestaurant speisen sehen.
"Was findet der an der?" fragte eine Dame vom Betriebsrat.
"Als Domina könnte ich sie mir schon vorstellen", meinte die andere.
Misery hat durchaus Gründe, neidisch auf mich zu sein, unter anderem, weil ich zwar fast ebenso alt, aber nur halb so schwer bin und weil ich mir in den letzten Monaten ebensoviele Freunde gemacht habe wie sie sich Feinde. Wenn mich also jemand aus einem irrationalen Grund "wegkicken" wollte, würde das am ehesten zu Misery passen. Sie scheint zu ahnen, daß ich sie behandelt habe wie einen unberechenbaren, hochgradig aggressiven Patienten, von dem man sich keine "fenstern" lassen will. Und sie möchte doch so gerne um sich schlagen und treten, und ich war so frevelhaft, ihr keine Angriffsflächen zu bieten. Das ist gewiß unverzeihlich.
Misery wird unter anderem wegen ihres Aussehens so genannt, das an die Filmfigur "Misery" erinnert, eine wahnsinnige Krankenschwester. Auch die Aggressivität der Filmfigur wird zu dem heimlichen Spitznamen beigetragen haben.
Was den Inhaber des Irrenhauses betrifft, so scheint es sich, beim näheren Hinsehen, um einen vollständig asozialen Egomanen zu handeln, der die Fassade eines gealterten Jungdesigners trägt. Er vermittelt den Eindruck des launigen, leutseligen Gastgebers für Kunden und Mitarbeiter, dahinter verbergen sich jedoch Desinteresse und Überdruß. Im hauseigenen Werbeblatt stellt die PR-Mitarbeiterin abwechselnd Prominente und Anstaltsbewohner vor, und ebenso kontrastierend ist ihre Art, über die jeweiligen Personen zu berichten. Die Prominenten werden ehrfürchtig interviewt, die Anstaltsbewohner hingegen werden beschrieben mit Formulierungen wie "läuft über die Wiese mit einem großen bunten Blumenstrauß, den sie extra für uns gepflückt hat". Die "Verkinderung" der Bewohner überschreitet die Grenze zur Menschenverachtung, fast unmerkbar hinter dem Anschein liebenswert-humoriger Berichterstattung.
Das Personal, welches schon lange im Hause arbeitet, wertet die "Regentschaft" des Inhabers als gleichbedeutend mit einem qualitativen und moralischen Niedergang. Der Inhaber kaufte das Haus vor etwa fünf Jahren als eine Art "Konkursmasse"; wie man erzählt, war sein Ziel, damit einen Fuß in die Tür der Politik zu stellen. Die baufälligen Reste "besserer Zeiten" werden nun punktförmig und repräsentativ renoviert, wobei die übrige - und meiste - Bausubstanz ungebremst verfällt. Der Inhaber soll untertariflich bezahlen, und nicht zuletzt deswegen sollen schon viele der früher in Snd. beschäftigten Ärzte das Weite gesucht haben. Einer von ihnen wurde in HI. stellvertretender Chefarzt und soll dort zufrieden sein.
Im "Maximum Volume" fragte ich allerlei Leute nach ihrer Berufstätigkeit aus. Constri hatte eine Woche vorher schon June befragt. June hatte mit verlegener, leicht ungehaltener Miene geantwortet, sie mache "gar nichts". Und sie wisse auch nicht, was sie eigentlich machen wolle. Schlimm sei das schon, wenn man so schwer eine Wohnung finde, weil man Sozialhilfeempfänger sei.
Sazar ist längst ein Profi im "Ämtermelken". Er hat gerade einen Job bei einem Plattenlabel gekündigt, wo er CD's mit Etiketten versehen sollte.
"Warum hast du das getan?" fragte ich fassungslos.
"Na, irgendwie keine Lust mehr drauf", erklärte Sazar.
Ich wollte von ihm wissen, ob das nicht ein schreckliches Gefühl für ihn sei, daß immer andere für ihn arbeiten gehen.
"Ich gebe meinen Freunden so viel Zuwendung und Treue, ich mache Veranstaltungen für meine Leute, das ist doch, finde ich, schon genug", erwiderte er.
Nein, zur Zeit mache er keine Veranstaltungen.
"Hast du nicht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung?" erkundigte ich mich.
"Wenn man mir einen Job beim Rundfunk als Moderator anbieten würde, würde ich sofort ja sagen", antwortete Sazar.
"Hast du dich denn schon drum gekümmert?" wollte ich wissen.
"Vielleicht ziehe ich bald um", verriet er geheimnisvoll. "Dann mache ich ein Praktikum beim Rundfunk in K."
"Du wolltest schon mal umziehen, erinnere ich mich. Das war letztes Jahr, da wolltest du nach HH. und da studieren. Da ist auch nichts draus geworden."
Auch die Diskothek in OL., die er angeblich übernehmen wollte, hat sich inzwischen in Luft aufgelöst.
Indes, Sazar blieb zuversichtlich. Er glaubt, dieses Praktikum wirklich schaffen zu können.
Roman verteilt kostenlose Messezeitungen an Verkehrsknotenpunkten. Er hatte auch am heutigen Tage Zeitungen verteilt.
"Vielleicht fahre ich bald für einen Monat nach Frankreich", erzählte er. "Da reise ich mit einem Bärenführer. Aber wenn er mir nichts zahlt außer Kost und Logis, mache ich das nicht. Wenigstens achthundert will ich haben, die würde ich nämlich sonst schneller und bequemer bei einer Talkshow verdienen."
"Willst du etwa in so eine bescheuerte Talkshow gehen?"
"Was ich da erzähle, ist doch eh alles erfunden."
"Ach, und die braune Papiertüte für deinen Kopf hast du dir auch schon besorgt."
"Mensch, ich mach' das doch hauptsächlich wegen der Kontakte."
"Was für Kontakte?"
"Na, zum Fernsehen."
"Ach, und du glaubst, wenn du dich in irgendeiner Talkshow verheizen läßt, kriegst du Kontakte zum Fernsehen."
Luc hat einen Hexenschuß und ist krankgeschrieben. Das wirkt sich fatal auf seinen Aushilfsjob beim Paketdienst aus. Sein Vertrag soll eigentlich verlängert werden, aber er sagt sich, wenn er gleich zur Begrüßung krank ist, macht das einen schlechten Eindruck.
Auf lange Sicht möchte Luc zurück zum Theater, und er faßt endlich ins Auge, doch eine qualifizierte Ausbildung im technischen Bereich zu machen. Dann wird er viel eher in der Bühnentechnik eingesetzt und verdient auch mehr. Vor ein paar Jahren habe ich vergeblich versucht, ihm das klarzumachen.
Ovid studiert immer noch und lebt von seinen Eltern, ab und zu verdient er auch ein wenig. Er möchte ganz gerne zum Ende kommen.
Dane ist mit seinem Diplom beschäftigt. Auch er lebt mehr oder weniger von der Hand in den Mund.
Ich war nicht lange im "Maximum Volume" und freute mich darüber, daß Edaín, die am DJ-Pult stand, "Zum Lobe des Herrn" von Drakul nicht vergaß.

Ende April habe ich geträumt, ich würde Rafa in einem Saal von ferne beim Essen sitzen sehen, und wir könnten einander nicht erreichen. Er war mit irgendwelchen Leuten zusammen, ohne jedoch zu tändeln. Ich kam nicht einmal auf den Gedanken, nach seiner Freundin Ausschau zu halten; ich hatte sogar vergessen, daß es sie gibt. In den meisten Träumen, die ich von Rafa habe, vergesse ich seine sonstigen Beziehungen, als seien sie gar nicht wirklich vorhanden oder vorhanden gewesen.

Als Beryl ihren Geburtstag feierte, hatte sie ihren Sohn Boris fürsorglich entfernt, damit die Kinderseele nicht irritiert wurde, was auch immer Boris irritieren sollte, denn Skandale finden auf den Feiern, die Beryl gibt, nicht statt. Ich hatte erhöhte Temperatur, fuhr aber trotzdem hin und nahm Constri mit. Ich wollte nicht wegen meiner seit Ostern bestehenden Erkältung auf alles verzichten. Terry war auch da, mit ihrem neuen Freund Linus, der seine Haare schwarz gefärbt hatte und eine selbstgenähte Orienthose aus schwarzem Samt trug. Seit Terry mit ihm zusammen ist, scheint er sich zu mausern.
Es war gemütlich, und ich kam erst gegen halb drei mit Constri und Merle in die "Neue Sachlichkeit". Dort erzählte mir Berit, daß Rafa schon vor einer halben Stunde das Weite gesucht hatte, mit einer Pizzaschachtel in der Hand, begleitet von einigen Kumpanen.
Die letzten beiden Male, als Rafa und ich uns in der neuen "Neuen Sachlichkeit" begegnet sind, erschien ich dort immer erst nach zwei Uhr. Am Ende hat er sich das gemerkt, bewußt oder unbewußt, und gedacht, jetzt ist es Zeit, zu gehen?
Berenice war noch da und bediente, im Sweatshirt-und-Leggins-Look, mit unfrisiert herunterhängenden Haaren.
"Du hast gesagt, die wäre ganz hübsch", sagte Constri zu mir, "aber die sieht doch irgendwie nach nichts aus."
Berit erzählte, daß Rafa die Jacke mit den vielen Schnallen auf den Ärmeln trug und mit einer blauen Sonnenbrille herumlief. Er soll auf Berit zugekommen sein und ihr zur Begrüßung die Hand gegeben haben. Das ist sehr ungewöhnlich für ihn. Ich vermute, er "stürzte" sich auf Berit, weil ich mich in der "Neuen Sachlichkeit" meistens mit ihr unterhalte. Rafa hat die Neigung, auf Leute aus meinem Umfeld zuzugehen, wenn ich nicht greifbar bin.
Laut Zoë soll Rafa auch aufgelegt haben. Weder Berit noch Zoë haben Rafa mit Berenice zusammen gesehen.
Ich konnte mich nicht genug aufregen darüber, daß ich Rafa nicht gesehen hatte.
"Du bist so eine Süße", meinte Berit, "du hast doch was Besseres verdient als so einen wie Rafa."
"Du hast recht", nickte ich, "und ich verstehe nicht, was mich bei ihm hält und warum ich seit über sechs Jahren Tag und Nacht an ihn denke."
Nachdem Rafa fort war, ging Edaín ans DJ-Pult. Constri und ich meinten übereinstimmend, daß sie viel Änhlichkeit mit einer Barbiepuppe hat. Dazu trug auch ihr paillettenbesticktes schulterfreies Schlauchkleid bei.
Abgesehen davon, daß mir Barbiepuppen viel bedeuten, verkörpern sie auch ein bestimmtes Image. Bestandteile von diesem Image finde ich bei mir, andere Bestandteile sind mir aber auch fremd. Den Barbiepuppen fühle ich mich verbunden, weil sie feminin und verführerisch aussehen. Was nicht zu mir paßt, ist das Image des "Püppchens", des schmückenden Beiwerks.
Es wird erzählt, ehe Kappa sich endgültig für Edaín entschied, soll er vorübergehend noch mehrere "Ausweichfrauen" gehabt haben. Kürzlich will man beobachtet haben, wie Kappa mit einem dunkelhaarigen Mädchen im Hinterzimmer der "Krypta" verschwand und ziemlich lange dort blieb. Als Hoffi darauf angesprochen wurde, soll dieser nur geantwortet haben:
"Psst - nicht weitersagen!"
Es könnte sein, daß Edaín zu Kappa aufblickt und mit ihm in einer Art Wolkenschloß lebt. Es könnte auch sein, daß sie Kappas Vorleben nüchtern betrachtet und für ehrliche Aussprachen gesorgt hat, wenngleich sie dieses nicht nach außen dringen läßt.
Sadia ist inzwischen nicht nur von Arved geschieden, sie hat auch ihre "Fast-Ehe" mit Kasim beendet. Die beiden hatten bisher nicht standesamtlich geheiratet, weil Kasims Papiere immer noch im wilden Kurdistan lagern. Dadurch wurde die Trennung vereinfacht. Erforderlich wurde die Trennung, weil Kasim Sadias berufliches Fortkommen ebenso wie ihre Freundschaften mißbilligte und auch zu stören oder zu zerstören versuchte. Gleichzeitig hatte er zahlreiche Liebschaften. Anscheinend beabsichtigte er, wie ein Pascha zu leben, mit einem Harem voller ergebener Sklavinnen.
Inzwischen hat Sadia eine eigene Wohnung mit Geheimadresse, weil ihr ehemaliger "Besitzer" ihr nachstellt. Sie hat ihre Jugendliebe angerufen, einen Marokkaner namens Omar, mit dem sie vor sechzehn Jahren zusammen war. Omar war damals in derselben Putzkolonne wie sie, und nachts auf der Arbeit saßen die beiden in der Hochschule auf der Treppe und hielten Händchen. Sadias Mutter gefiel das nicht; sie sah ihre Tochter flügge werden, anstatt für die Familienkasse zu arbeiten. Sadia und ihr Freund waren damals beide zu unsicher und zu unwissend, um über solche Probleme reden zu können. Es bauten sich Mißverständnisse auf, die zur Trennung führten. Sadia konnte allerdings einen losen Kontakt aufrechterhalten. Heute ist Omar immer noch frei und hat in M. eine so hervorragend bezahlte Stellung, daß er Sadia ihren beruflichen Erfolg schwerlich wird neiden können. Sadia möchte in Omars Nähe wohnen, aber im eigenen Reich.
Das gemeinsame Wohnen ist auch für Derek und Constri in der letzten Zeit immer schwieriger geworden. Derek scheint einen starken Drang nach Selbstzerstörung zu haben, der sich früher schon in einem Selbstmordversuch, Beschädigung seines Eigentums und auch von fremdem Eigentum, mehreren Diebstählen und Einbrüchen, Trinkexzessen, einer Bürgschaft für seinen kriminellen Bruder, dem Aufgeben einer unbefristeten Stelle und einer Fahrt mit hundertsechzig Stundenkilometern im Ortsverkehr geäußert hat. In neuester Zeit war ihm wohl die Beziehung mit Constri zu erfüllt und innig geworden, so daß er Mittel und Wege suchte, diese zu zerstören. Mit hinein spielte wohl auch das Gefühl, gegen Constri immer weiter abzuschlagen. Sie studiert und arbeitet nebenher, und er tut - gegenwärtig - nichts. Er ist unzufrieden mit sich selbst und richtet dies nach außen.
Es begann damit, daß Derek keine Miete mehr zahlte, und nach Ostern kam es zum krönenden Abschluß. Janice hat eine beste Freundin noch aus ihrer Heimat VEC., Virginia. Mit Virginia pflegt Janice hauptsächlich zu lachen, ohne daß jemand so recht weiß, worüber. Wenn man versucht, mit den Mädchen ein ernsteres Gespräch zu führen, erfährt man lediglich, alles sei ganz toll, allen gehe es gut.
Jene Virginia, ein hübsches Mädchen mit langen roten Locken, ging auf Dereks Werben ein, nachdem er ihr erzählt hatte, er sei frei. Virginia knutschte mit ihm beim "Tanz in den Mai" im "Elizium", während Sarolyn, Victor, Zoë, Janice und Talis dabei zusahen.
Als Virginia mit Derek das "Elizium" verließ, verabschiedete sie sich vorher noch von einer gleichbleibend fröhlich lachenden Janice, die ihr so etwas wünschte wie:
"Viel Spaß noch!"
Das hat Zoë beobachtet.
Constri erfuhr es am nächsten Tag durch Sarolyn und warf Derek hinaus. Er gab sich verstört und fassungslos, wollte es kaum glauben.
"Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist", meinte er.
"Und was mit mir los ist, interessiert dich wohl gar nicht?" hielt Constri dagegen. "Wenn du meinst, unsere Beziehung unbedingt zerstören zu müssen, kann ich dich nicht daran hindern. Stell' aber die Vinylplatten von Hetty noch in mein Zimmer, damit sie nicht verlorengehen, wenn du deine Sachen packst."
"Was für Sachen?"
"Deine Sachen. Ich habe dich 'rausgeworfen."
"Aber das ist doch auch meine Wohnung."
"Das ist nur noch meine Wohnung. Du hast schon seit drei Monaten keine Miete mehr bezahlt. Und denk' daran, der Schlüssel bleibt hier."
"Das geht doch nicht, ich habe doch noch Sachen hier."
"Das geht sehr wohl."
"Und wie soll ich so schnell eine Wohnung finden? Wo soll ich jetzt hin?"
"Geh' zu Virginia."
Derek behielt den Schlüssel und ließ zeitweise den Hund bei Constri.
Einige Tage nach diesen Ereignissen tauchte nicht nur der Hund wieder bei Constri auf, sondern auch dessen Halter. Als Constri nach Hause kam, fand sie dort einen verschämten Derek. Er hatte sogar vorher angerufen und auch geklingelt, erst danach hatte er sich aufgeschlossen.
"Siehst du, wie Flex sich freut, dich wiederzusehen?" fragte er vieldeutig.
In einem längeren Gespräch erklärte Derek, die letzten Nächte bei verschiedenen Bekannten verbracht zu haben. Constri stellte die Gretchenfrage:
"Was ist mit Virginia? Bist du mit ihr zusammen?"
"Wieso, ich habe doch mit mir selber genug Probleme", antwortete Derek.
Seine Sehnsucht nach Constri war offenkundig. Es kam zu einem ausgedehnten Schäferstündchen.
Derek hat nun wohl eingesehen, daß dem Ärger mit der Miete nur vorgebeugt werden kann, wenn er sich eine eigene Wohnung sucht. Er hofft, eine Wohnung möglichst nah bei Constri zu finden, nur eine Tür weiter oder vielleicht eine halbe. Bis dahin verhält er sich in Constris Wohnung wie ein Gast; er fragt beispielsweise, ob er bei ihr übernachten darf.
Was Janice betrifft, so ist sie schon vor längerer Zeit durch eine Äußerung im "Elizium" aufgefallen. Derek hatte sich damals von Laura umwerben lassen, und Janice hatte zu ihm gesagt:
"He, was willst du denn mit der? Du kannst doch hier jede Frau haben."
Freilich war Derek zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren mit Constri zusammen, und Janice wußte das.
Constri kann dieses neue Kapitel im Fortsetzungsroman "Wirbel um Derek" anhand ihrer Träume nachstellen:

Als Virginia und Derek zu turteln begannen, träumte Constri, sie hätte ein Tier vor dem Tierheim bewahrt und sogar vor dem Tode, und das konnte sie lange bei sich halten, doch eines Tages biß es sie, und sie mußte es fortgeben, um sich selbst zu schützen.

Als Constri Derek hinausgeworfen hatte, träumte sie, er würde wieder auf sie zugehen.

Als Derek dann zurückgekommen war und Constri zögerte, ob sie ihn die eine oder andere Nacht bei sich beherbergen sollte, meinte er:
"Ich beiß' doch nicht."
Damit hatte er, ohne es zu wissen, auf Constris Traumsymbole Bezug genommen.
Immer wenn Veränderungen im Beruf anstehen, träume ich von Zügen. Diese Träume sagen mir in der Regel, wie es weitergehen wird.

Anfang Mai habe ich geträumt, ich sei in einem schmucklosen Untergrundbahnhof, und die burgunderfarbene Bahn, die dort stand, würde einfach nicht abfahren. Ich war es leid, zu warten und ging in Gegenrichtung in den Schacht, zusammen mit anderen Fahrgästen. Ich wollte nach einem Untergrundbahnhof suchen, wo es Bonbons gab. Bahnpersonal kam in den Schacht und sagte uns, die Bahn dort hinten würde endlich losfahren, und wir sollten einsteigen. Ich schaffte die Bahn nicht mehr und auch eine zweite nicht, aber das war mir gar nicht so wichtig, weil ich die Bonbons noch nicht gefunden hatte. Ich rannte also gar nicht der Bahn hinterher, sondern ging mit anderen Leuten noch weiter in Gegenrichtung durch den Schacht. Der Schacht öffnete sich in eindrucksvoller Größe, über mehrere Ebenen, alle aus schlichtem Beton. Einige Wände waren burgunderfarben gekachelt. Es gab auch Baugerüste. In einem Bahnhof lief ich durch einen lichten, offenen, luxuriös und sehr modern ausgestatteten Zug, ich stieg aber sogleich wieder aus, weil der nicht mein Fahrtziel hatte. Außerdem gab es in diesem Bahnhof auch keine Bonbons. Im nächsten Bahnhof gab es dann endlich den gesuchten Bonbonautomaten. Und dort fuhren so viele Züge, daß ich auch mein Fahrtziel finden konnte.

Mir fällt dazu ein, daß man sich in HI. am Krankenhaus-Kiosk Bunte Tüten zusammenstellen lassen kann. Es gibt dort auch Schokoladenriegel, Kaffee, Zeitschriften und Imbißgerichte. Das alles gibt es an meinem bisherigen Arbeitsplatz nicht.

Vor einigen Tagen habe ich geträumt, Ninyat würde mir durchs Telefon zuraunen:
"Also, Ihre Nachfolgerin ist wirklich nett, aber - sie packt's einfach nicht."
Einen ähnlichen Traum habe ich schon vor einigen Monaten gehabt. Da klagte er sehr.

Als ich die Arzthelferinnen in der Praxis besucht habe, war Ninyat gerade unterwegs. Ich trank Kaffee und aß Krokantbonbons. Es klingelte, und jemand schrie im Treppenhaus:
"Aaaah!"
Die Tür wurde aufgetan. Ninyat stürmte herein und rief:
"Desinfektionsmittel, schnell! Ich kriege sonst Waschzwang! Ich hatte ein Gutachten in einer total vermüllten Wohnung!"
Nach einem langen Kaffeeklatsch ging ich mit der Arzthelferin Audrey in die Stadt. Audrey ließ durchblicken, daß meine Nachfolgerin "mit mir nicht zu vergleichen" sei, Ninyat müsse fast alles selbst machen.
"Das habe ich zweimal geträumt", erzählte ich, "da ist dann etwas Wahres dran."
Am Freitag legte Sasch im "Elizium" auf und spielte wieder viel Industrial. Außerdem lief das selten gespielte "Revolution now (Daiva Mix)" von Project Pitchfork.
Derek saß mit Virginia auf dem Podest, und Janice berichtete, daß Derek Virginia gegenüber behauptet, mit ihr und nicht mit Constri zusammenzusein. Als ich Constri das am nächsten Morgen erzählte, sprach sie Derek auf sein Doppelleben an, und dieser stritt alles ab:
"Mit Virginia ist gar nichts, die Leute erzählen immer nur sowas über mich."
Constri sagte ihm, er solle den Schlüssel dalassen.
Sasch hat mitbekommen, daß Kappa und Ace kürzlich aus dem "Elizium" geworfen wurden und Hausverbot bekamen, weil sie randaliert und sich beinahe mit einem Barmann geprügelt hatten. Der Dritte im Bunde, Cyrus, bekam kein Hausverbot, weil er sich entschuldigte. Das Ganze stand dann in der Tageszeitung.
In der "Neuen Sachlichkeit" warfen Kappa und Edaín am Samstag haufenweise Hochzeitseinladungen unters Volk. Constri und ich waren um diese Zeit mit Rikka im "Radiostern". Während eines Gesprächs bei Pommes frites und Cola kamen wir zu der Erkenntnis:
"Es gibt eben Krankheitsbilder, auf die nur die Diagnose 'Mann' paßt."
Die Musik, die Cyra auflegte, war ein Rundgang durch die rhythmische Avantgarde.
"Solche Rhythmen wie die von Sona Eact versetzen mich in Begeisterung", erzählte ich Constri, "die wecken etwas in mir, das stärker ist als ich, das ist wie ein Stück vom Himmel."
Constri konnte das nur bestätigen.
Am Sonntag hatte Derek die nötigsten Sachen, den Hund und den Schlüssel mitgenommen. Constri tauschte das Schloß aus und zog für ein paar Tage zu unserer Mutter. Als sie am Dienstag wieder nach Hause kam, begegnete ihr Derek vor den Müllcontainern. Er tobte und meinte, ein Recht auf freien Zugang zu Constris Wohnung zu haben, obwohl er seit drei Monaten keine Miete mehr bezahlt hat. Es gab einen richtigen "Ehekrach", den Constri genoß, weil sie Derek sonst nur schmollend und beharrlich schweigend kannte, wenn es Konflikte gab. Am Ende schlug sie vor, man könne sich ja drinnen weiterstreiten, damit die Nachbarn nicht alles mitbekamen. Derek folgte ihr. Constri entdeckte, daß Derek das Klingelschild zerbrochen hatte, bei dem Versuch, alle dort im Laufe der Jahre hingeklebten Namenschilder abzureißen.
"Derek, das machst du aber wieder heile, nicht?" sagte sie.
Er versprach es. Er versprach ihr auch, die Miete nachträglich zu bezahlen, obwohl sie dieses Thema nicht von sich aus aufgriff.
Am Mittwoch erschien Derek mit Virginia, Talis und Janice im "Zone". Talis und Janice begrüßten Constri und mich so, wie sie es immer getan hatten. Virginia hielt sich abseits, und Derek hielt es nicht lange in Virginias Nähe. Irgendwann entfernte sich Derek mit Virginia, und wir sahen sie nicht mehr.
Constri tanzte mitten in der Menge; sie wollte sich von Derek nicht die Laune verderben lassen. Les spielte viel für uns, "More & faster" von Sona Eact, "Bite Dog bite!" von Sonar, "Snakedressed" von Dive und außerdem mehrere Stücke von dem neuen :wumpscut:-Album "Totmacher".
Ivco erzählte uns, er arbeite jetzt abwechselnd in K. und H. Carole war auch im "Zone".
Terry scheint nach wie vor mit ihrem Linus glücklich zu sein. Linus wirkt ruhig, offen und freundlich. Über Birthe erfuhren wir, sie habe ihre Pläne, weiter zur Schule zu gehen, wieder über den Haufen geworfen. Birthe scheint zu nichts wirklich Lust zu haben.
Daß ich zwischen April und Mai innerhalb weniger Tage meine Stelle in dem Irrenhaus auf dem Hügel in HI. gefunden habe, hat mich so entlastet, daß ich mich auch körperlich viel wohler fühle. Ich fahre nur eine halbe Stunde dorthin, über die Autobahn, und ich hätte gerne ein Auto, das schneller ist als der Audi. Ich denke dann, ich kann nie genug kriegen. Arbeiten, Geld verdienen, sich Freunde schaffen - wo auch immer -, die schicksten Sachen tragen und auch welche selbst entwerfen, in der schönsten Wohnung wohnen, alles soll nur vom Besten sein. Und immer, immer fehlt das Wichtigste, und durch nichts und niemanden kann ich es bekommen, es mir nicht verdienen, nicht danach suchen, nicht darauf warten, nicht darum kämpfen, es ist Schicksal.



Am Samstagnachmittag war ich mit Sarolyn und Victor in der gotischen Backsteinkirche - die größte Kirche in H. -, wo Kappa und Edaín heirateten. Edaín hatte über ihrem engen weißen Satinkleid einen schmalen weißen Satinmantel mit hochgestelltem Kragen und einer langen Schleppe an; auf den Rücken war mit weißen Satinbändern ein großes, aufrecht stehendes Pentagramm genäht. Die Haare waren auf dem Kopf zu einem Knoten gebunden und mit einem Straßkrönchen verziert. Kappa trug einen schwarzen Gehrock. Die beiden saßen vor dem Altar und hielten sich an den Händen, als würde gleich jemand kommen und sie auseinanderreißen.
Die Gäste waren zahlreich und gehörten zum Teil zur Familie und zum Teil zur Elektro- und Wave-Szene, die in H. auch so etwas Ähnliches wie eine Familie darstellt. Sie hatten sich feingemacht. Viele Damen trugen wallende Kleider aus Samt und Spitze, viele Herren trugen historistische Garderobe oder Fantasy-Garderobe. Während Sarolyn und ich in der Stuhlreihe tuschelten, entdeckten wir Rafa, der sich unweit von uns mit seiner Freundin auf dem leeren Steinboden aufstellte, wo wir ihn gut sehen konnten - und er uns auch. Er ging mit eiligen Schritten an diesen Platz. Es wären noch genug Stühle dagewesen, aber anscheinend wollte er sich partout nicht setzen.
"Rafa ist da, immer noch mit dieser Zicke", wisperte ich Sarolyn zu.
Rafa hatte sich außen hingestellt und hielt Berenice innen; auf diese Weise konnte er immer nach mir schauen, ohne daß Berenice das bemerkte. Ich guckte nur flüchtig hin. Rafa war beim Friseur gewesen und hatte irgendetwas Schwarzes, Elegantes an, das wie ein Gesellschaftsanzug aussah. Berenice hatte sich zur Feier des Tages einen langen schwarzen Ausbrenner-Samtrock angezogen, die Haare hingen aber wie immer lose herunter.
Der Pastor sagte wenig über die Beziehung von Edaín und Kappa. Vor allem sprach er von Edaíns hübschem Aussehen und von Kappas Stellung in der Gothic-Szene.
Es gab Musik von Bach und Front 242 zu hören.
"Front zwo-vier-zwo", kündigte der Pastor an.
Nach dem Stück von Front 242 wurden Kappa und Edaín getraut. Der Pastor fragte beide, ob sie in guten und schlechten Zeiten zueinander halten wollten.
"Ja, mit Gottes Hilfe", antwortete Edaín leise, aber deutlich und ernsthaft.
Kappa antwortete auf die Frage des Pastors überhaupt nicht, weder mit "Ja" noch mit "Nein". Der Pastor wirkte etwas verunsichert, ging dann aber zur Tagesordnung über und erklärte beide für verheiratet. Nach dem Wechseln der Ringe spielte Kappa mit Edaín Händeklatschen wie auf dem Schulhof und umarmte und küßte sie dann überschwenglich, als wollte er das fehlende Ja-Wort wieder ausgleichen.
Edaín und Kappa standen für die Fotografen und Kameramänner lange vorm Altar und hielten sich lächelnd in den Armen. Das wirkte auf mich sehr angestrengt.
Was der Pastor nicht gefragt hatte, war, ob Kappa und Edaín einander treu sein wollten. Ich fragte mich, ob es eher die Ausnahme oder die Regel ist, daß Eheleute einander die Treue versprechen.
Als das Paar zum Ausgang schritt, marschierten Rafa und Berenice ebenfalls eilig dorthin. Sarolyn und ich ließen uns Zeit. In der Menge trafen wir Cyber, der seinen Sohn Yves auf dem Arm trug. Yvette ging nebenher.
Draußen stand ein offener Sarg mit Eiswürfeln und vielen Sektflaschen darin, das war der angekündigte Sektempfang. Ich sah Rafa noch ab und zu flüchtig und aus der Ferne, mit Sonnenbrille. Ich hatte wegen des Wetters auch meine Sonnenbrille auf, im Stil der 50er und mit Straß besetzt. Ansonsten hatte ich elegante graue Sachen an, wie ich sie auch bei der Arbeit trage. Ich wollte für diesen Anlaß keine Abendgarderobe anziehen.
"Heute grande dame in Grau", kommentierte Toro. "Und für die Brille brauchst du wohl einen Waffenschein?"
Wo Rafa war, war auch Berenice nicht weit, und er stand mit ihr eng umschlungen. Eigentlich sollte ich denken, das ist ein glückliches Paar, die haben sich gefunden und werden wohl auch die nächsten Jahre in inniger Zweisamkeit verbringen. Eigentlich sollte ich denken, was soll ich mit Rafa noch, der hat längst, was er will.
Aber etwas ist da, das hakt und läßt mir keine Ruhe. Irgendetwas scheint an der Sache nicht zu stimmen.
Am Abend waren Constri und ich bei Onno und Revil zum Tee. Onno beschrieb uns Virginia als "nicht vertrauenswürdig" und "hintenherum", im Gegensatz zu uns beiden. Er erzählte, als Virginia noch mit ihrem langjährigen Freund zusammengewesen sei, habe sie mit diesem telefoniert und ihre Liebe beteuert. Anschließend sei sie mit mehreren aufreizenden Wäschestücken im Gepäck nach VEC. gefahren. Auf Onnos Frage, wozu sie soviel Unterwäsche benötige, antwortete sie:
"Man weiß ja nie, was so kommt."
In der Straßenbahn begegnete uns Hoffi, der berichtete, seine Freundin habe Edaíns Bukett gefangen. Die Hochzeitsgesellschaft habe sich noch bis weit in den Abend hinein in einem Lokal aufgehalten.
Im "Lost Sounds", einer schummerigen Studentendiscothek, fand das Treffen des Abends statt, und der neueste Tratsch wurde ausgetauscht. Sasch und sein Co-DJ Abraxas waren in bester Verfassung und bedienten eine begeisterte "Industrie-Fraktion", die laufend zu wachsen scheint. Es wurde eine hemmungslose Anbetung des Rhythmusgottes. Besonders gefällt mir "Metamorphosis" von Raid!!; Raid!! ist das musikalische Projekt von Abraxas.
Derek war mit Virginia da und stand meistens an der Bar. Constri stand davor und unterhielt sich viel mit Talis und auch mit anderen Jungs, wie Saverio.
Saverio erzählte mir, er baue sein eigenes Label auf und wolle bald wieder anfangen, in einer Großküche zu arbeiten. Er glaube, daß diese Welt dem Untergang geweiht sei und daß es verantwortungslos sei, Kinder zu bekommen.
"Wenn man nicht für die Zukunft sorgt, kann man auch nichts verändern", hielt ich dagegen.
Carl erschien und wurde von Saverio freundlich begrüßt. In letzter Zeit ist es öfter vorgekommen, daß Saverio und Carl sich zufällig getroffen und miteinander Kaffee getrunken haben. Bis heute hat die Geschichte zwischen Carl und Saverio nie richtig aufgehört.
Luc will eine Umschulung machen. Er habe viele "Aus-Zeiten" gehabt, weil er in "Schwarze Löcher" gefallen sei, und es habe jedesmal eine ganze Weile gedauert, bis es ihm gelungen sei, wieder aus diesen Löchern zu klettern. Wenn sich bei ihm Aggressionen anstauen, schneidet er sich selbst, wie Berit das auch tut. Die Ursache für seine Schwierigkeiten beim Umgang mit Konflikt- und Belastungssituationen kennt Luc nicht.
Henriette bestärkte Constri in ihrer Entscheidung, Derek aus der Wohnung zu werfen:
"Der soll ruhig merken, was er mit dir verliert."
Emily erzählte, sie habe neben Rafas Freundin gestanden, als Edaín vor der Kirchentür das Bukett geworfen habe. Berenice habe das Bukett zu erhaschen versucht, was ihr aber nicht gelungen sei. Das Mädchen allerdings, das das Bukett gefangen habe, sei keineswegs Hoffis Freundin; das habe dieser sich wohl nur so zusammengesponnen.
Hagan berichtete, in der Tat habe niemand gehört, daß Kappa in der Kirche "Ja" gesagt habe. Kappa habe erklärt, vor lauter Aufregung sei ihm dieses Wort glatt im Halse steckengeblieben.
"Unter anderem bin ich auch deshalb zu der Hochzeit gegangen, weil ich sehen wollte, ob Rafa immer noch mit dieser blöden Schlampe zusammen ist", erzählte ich. "Die sind ja so glücklich miteinander ... das ist so ein glückliches Paar ... so wahnsinnig glücklich ..."
"Berenice wollte eigentlich gar nicht zu der Hochzeit", erzählte Hagan. "Rafa hat sie einfach quer durch die Kirche geschleift:
'So, da gehen wir jetzt hin ...'"
"Warum wollte Berenice denn nicht zu Kappas Hochzeit?" fragte ich vorsichtig-anteilnehmend. "Sie versteht sich doch ganz gut mit Kappa; das hat Kappa mir erzählt."
"Das war es auch nicht, das lag mehr an Rafa."
"Inwiefern lag das an Rafa?"
"In letzter Zeit ist sie einfach nicht mehr in ihn verliebt. Da war auch was mit Eifersucht ... mit einem Dreiecksverhältnis ... wenn mir mein bester Freund die Freundin auszuspannen versucht, ist das für mich auch schwierig. Das ist einfach, wie Rafa sich verhält ..."
"Ich liebe Rafa seit über sechs Jahren heiß und innig", erzählte ich einem überrascht blickenden Hagan. "Und ich habe ihm immer wieder gesagt, daß ich sein Verhalten sch... finde und daß ich für meine Gefühle, verdammt nochmal, nichts kann. Er hat mir nie geglaubt, daß ich ihn liebe, und er glaubt es bis heute nicht. Er hat gesagt:
'Wenn ich mich auf dich einlasse, läßt du mich fallen.'"
"Warte noch ein, zwei Monate, dann gehe auf ihn los", riet Hagan. "Das hält nicht mehr lange."
"Aha ...?"
"Ich kenne Rafa, und ich kenne seine Kleine, also Berenice. Es geht für Berenice auch um ihre persönlichen Ziele, die sie erreichen will. Ursprünglich hatte Berenice sich fest zum Ziel gesetzt, Rafa zu heiraten. Und jetzt ist sie so weit, daß sie sagt, sie weiß nicht, ob sie Rafa heiraten oder verlassen soll."
"Aber wenn sie schon überlegt, ob sie Rafa verläßt, wie kann sie dann noch in Erwägung ziehen, ihn zu heiraten? Welche Basis sollte diese Ehe haben?"
"Die hat keine Basis. Das wird keine Ehe. Berenice hat vor Kappas Hochzeit zu mir gesagt, das Bukett will sie nicht fangen."
Allerdings soll sie dann doch versucht haben, es zu fangen ...
Hagan nannte einen möglichen Grund dafür, warum Rafa sich an Berenice klammert:
"Es geht für Rafa auch um die Groupies, der hat ganz schön Angst vor den Groupies."
"Soso, Rafa hat also Angst vor seinen Groupies?"
"Nein, nicht Angst im eigentlichen Sinne."
"Ich meine, er hat seine Groupies doch selber gezüchtet."
"Weißt du, Rafa ist unheimlich toff, unheimlich nett, aber er ist eben auch ziemlich verklemmt."
"Oh ja, der ist verklemmt!" fühlte ich meine Beobachtungen bestätigt. "Das weiß ich nur zu gut!"
"Und die Groupies wollen meistens nur das eine, und Rafa will das nicht."
"Da kenne ich ihn aber ganz anders."
"Der hat sich verändert", war Hagan überzeugt. "Wenn du ihm jetzt sagen würdest, du willst mit ihm zusammenbleiben bis ans Lebensende, dann würde er dich nehmen."
"Das habe ich ihm doch schon vor sechs Jahren gesagt."
"Da war er aber noch nicht so weit."
"Ich habe es ihm immer wieder gesagt, zuletzt vor drei Jahren."
"Da war er vielleicht auch noch nicht ganz so weit. Jedenfalls, mit Berenice ist bald Schluß. Sie kommt mit seinem Verhalten nicht zurecht."
"Das ist doch klar, daß die mit ihm nicht zurechtkommt", meinte ich. "Wenn irgendwer mir dem zurechtkommt, dann ..."
"Dann ...?"
"Wenn irgendwer mit dem zurechtkommt, dann bin ich das."
"Haha, da sind wir aber ganz schön egoistisch ... 'Wenn einer mit dem zurechtkommt, bin ich das ...'"
"Rafa hat immer wieder gesagt, er hat Angst vor mir", erzählte ich. "Warum sollte er bloß Angst vor mir haben?"
"Ich als Mann würde sagen, ich hätte Angst vor deinem Wissen."
"Rafa ist genauso intelligent wie ich, selbst wenn er weniger wüßte."
"Er weiß mehr als du auf anderen Gebieten."
"Richtig, genauso ist es."
"Und wenn sich zwei ergänzen, finde ich es als Mann auch absolut in Ordnung."
"Das habe ich ihm doch auch so gesagt. Ich habe zu ihm gesagt, wir müssen zusammenarbeiten, nicht immer gegeneinander. Er hat sehr an unserer Beziehung gezweifelt. Ich habe gesagt, wir müssen zusammenhalten, dann wird es gut."
"Und das hat er dir nicht geglaubt."
"Genau! Er hat sich sofort wieder eine Freundin gesucht, das war damals Nadine, und er hat angefangen, bei mir Telefonstreiche zu machen, und ich habe eine Fangschaltung legen lassen und ihn so entlarvt."
"Ich sage dir, warte noch sechs Monate ... na, das habe ich über Kappa und Edaín auch mal gesagt, stimmte auch nicht, aber trotzdem ... warte noch ein bißchen, dann gehe auf ihn los ..."
"Ich glaube, Rafa erlebt mich vor allem als Feind."
"Als Feind ...? Hm ..."
"Na, als Gegner, als Gegenspieler."
"Wenn du ihm begegnest, erlebt er dich vor allem als Feind, weil du dann eine Konkurrenz zu seiner Freundin bilden könntest."
An dieser Stelle hörte ich etwas heraus, das mich an etwas erinnerte, was Hagan in der "Neuen Sachlichkeit" gesagt hatte.
"Rafa läuft Berenice hinterher", hatte er damals gemeint.
Daraus schloß ich, daß das Verhältnis zwischen Rafa und Berenice keineswegs in Ordnung sein konnte, wenn er es nötig hatte, ihr hinterherzulaufen. Nun erhielt ich die Bestätigung, daß das Verhältnis wirklich nicht in Ordnung sei. Und Hagan versah mich mit der Information, daß ich eine Konkurrenz zu Berenice bilden könne.
Ich folgere jetzt, als nächsten Schritt, daß Rafa mich nur dann als Konkurrenz für Berenice fürchten kann, wenn er entsprechende Gefühle für mich hat. Und er muß diese Gefühle ablehnen, sonst könnte er mich ihretwegen nicht als feindlich erleben.
Als ich Hagan erzählte, daß Rafa nur mit mir reden darf, wenn er keine Freundin hat, fand Hagan das hart und auch unpassend.
"Wenn ich zwischen Rafa und mir ein freundschaftliches Verhältnis zulasse, muß ich auch seine Freundin akzeptieren", erklärte ich. "Und ich werde nie irgendeine von seinen Freundinnen akzeptieren. Deshalb kann er mit mir nur ein partnerschaftliches Verhältnis haben oder gar keines."
Um zwölf Uhr mittags, als Constri eben aufgewacht war und ihr Telefon eingesteckt hatte, rief ein ungeduldiger Derek an, der wissen wollte, ob sie denn jetzt gar nicht mehr mit ihm reden würde?
Sie verwies darauf, daß er schließlich für Ärger gesorgt habe und daß es seine Aufgabe sei, sie anzusprechen.
Derek wollte sogleich kommen und seine Post in Empfang nehmen. Als er da war, kramte er eine ganze Weile in seinem Zimmer herum und wurde dann verdächtig still. Constri sah vorsichtig nach und fand einen verzweifelt schluchzenden Derek, der vor der Heizung kauerte. Sie setzte sich zu ihm und fragte mitleidig, was denn los sei. Er schaute sie für längere Zeit an, immer noch weinend. Schließlich erklärte er, er liebe sie noch immer.
"Wann ist dir das denn wieder eingefallen?" erkundigte sich Constri.
"Das fällt einem nicht ein", entgegnete Derek. "Das merkt man."
"Was empfindest du denn für Virginia?"
"Ach, ganz nett."
Er meinte, fünf gemeinsame Jahre könne man nicht einfach wegwischen, und so eine hübsche Frau wie Constri würde er doch nie wieder finden.
"Ich bin nicht wegen der Post hergekommen", gestand er, "sondern um dich zu sehen."
Ihm tue das ganze Theater furchtbar leid, und am liebsten wolle er alles ungeschehen machen.
"Hast du am Dienstag Zeit?" fragte er schüchtern.
"Da muß ich erst in meinen Kalender gucken", antwortete Constri. "Doch, wenn du um neunzehn Uhr kannst, da habe ich Zeit."
In der Presse gibt es ein hübsches Gruppenbild von Kappas und Edaíns Hochzeit. Kappa hält Edaín auf den Armen. Der Begleittext suggeriert eine klischeehaft heile Welt, eine "Märchenhochzeit". In diesem Licht erinnert die Feier an eine PR-Performance.
Derek brachte am Dienstag lauter Köstlichkeiten fürs Diner mit zu Constri. Es wurde ein stilvoller Abend. Derek beteuerte an die hundert Mal, er liebe sie und nur sie.



Am Mittwoch übernahm Rafa die Vertretung im "Maximum Volume".
"Guck' mal", sagte Zenaide zu mir, als ich hereinkam. "Ich dachte schon, du kommst gar nicht."
"Doch, wenn Kappa auf Hochzeitsreise geht, ich dachte mir das schon ..."
Rafa blieb fast die ganze Zeit hinterm DJ-Pult. Seine Freundin war nicht anwesend. Rafa trug ein schwarzes Sweatshirt mit dem Aufdruck einer Underground-Modefirma und darunter ein schwarzes Satinhemd. Seine Haare waren ungestylt, aber gekämmt. Ich konnte ihn in dem nebligen, schwachen Licht fast nicht erkennen, aber ich sah die Uhr, die er nach innen trug.
Ich hatte ein enges T-Shirt ganz aus schwarzer Spitze an, über dem ich das auberginefarbene Jäckchen mit der schwarzen Spitzenkante verknotet hatte, so daß man eben nicht sah, was man sonst gesehen hätte. Dazu trug ich das schwarze Spitzen-Tutu und eine Strumpfhose aus feinem Netz, mit Naht. Außerdem hatte ich schwarze Spitzenhandschuhe an und trug auberginefarbene Clips in den Haaren.
Nach "War" von :wumpscut: herrschte musikalische Ödnis. Neben dem DJ-Pult begrüßte ich Ovid und Sazar. Mit Ovid unterhielt ich mich über Musik und Aggressionen.
"Rafa läßt nie Aggressionen in seiner Musik aus", meinte ich. "Wo gehen seine Aggressionen dann hin? Irgendwo müssen sie doch bleiben. Und er hat eine Menge davon."
Ovid betrachtete Rafa und meinte:
"Auf mich wirkt er in der Tat ziemlich aggressiv."
"Echt, findest du? Was bringt dich zu diesem Eindruck?"
"Na, wenn ich ihn so sehe ... er wirkt aggressiv."
"Er ist oft indirekt aggressiv, indem er zum Beispiel Verabredungen nicht einhält", erinnerte ich mich. "Rafa hält vor allem diejenigen Verabredungen nicht ein, die für ihn mit Emotionen verbunden sind."
Rafa war am Pult recht einsam; allenfalls kam jemand, um sich etwas zu wünschen. Dabei war das "Maximum Volume" gut besucht.
Ich stand bei Zenaide am Tisch und entdeckte einen Spiegel, in dem ich Rafa beobachten konnte, wenn auch nur aus der Ferne. Es geschah sonst immer, daß Rafa in meine Richtung sah, wenn ich in seine Richtung sah, und es gelang mir nur durch den Spiegel, ihn zu beobachten, ohne daß er das gleich mitbekam.
Einmal schien Rafa das Manöver mit dem Spiegel zu bemerken; er schien mich durch den Spiegel gleichfalls anzusehen.
Zenaide wünschte sich "Totmacher" von :wumpscut:, das wollte Rafa aber nicht spielen. Er steckte sich den Finger in den Hals und sagte:
"Spiel' ich irgendwann, mal sehen."
Schließlich kam "Honour" von VNV Nation. Während ich tanzte, sah ich aus den Augenwinkeln, daß Rafa sich weit über das Pult gebeugt hatte. Ich ging danach wieder zu Zenaide, und die berichtete sogleich:
"Übrigens, wie du eben getanzt hast, hat Rafa voll hingeguckt."
Die Musik gefiel mir nun besser. Es liefen auch "Verschwende deine Jugend" von DAF und "Los Niños del Parque" von Liaisons Dangereuses.
Einmal nur sah ich Rafa das DJ-Pult verlassen; er holte sich Bier, während ich auf der Tanzfläche war.
Nora erzählte von Elsa. Nach wie vor soll Elsa bei ihren Eltern wohnen und "nichts" machen.
Gegen halb drei wurde es leer. Zenaide, ihr Freund und ich rüsteten uns zum Gehen. Von Rafa kam so etwas wie ein Lächeln. Ich lächelte ihn auch an. Es blieb immer bei Vermutungen, nicht zuletzt wegen der großen Entfernung und der schlechten Sicht.
Flex fühlte sich durch Dereks unklare Wohnsituation anscheinend so verunsichert, daß er bei einem Spaziergang abhanden kam. Wie durch ein Wunder tauchte er einen Tag später wieder auf. Er war einer Frau mit Hund und Kinderwagen hinterhergelaufen, die die Polizei rief. Diese brachte Flex ins Tierheim. Weil Constri und Derek die Polizei anriefen, erfuhren sie es und konnten Flex wohlbehalten abholen. Nun bleibt Flex bei Constri wohnen, damit so etwas nicht wieder vorkommt.
"Er ist ein echtes Scheidungsopfer", meinte Constri.
In der letzten Maiwoche war ich auf einer Insel zur Weiterbildung. An einem Vormittag war es im Kursraum noch sehr kühl, und als ich gegen Mittag nach draußen in die Sonne kam, zog ich alle Jacken und Schals nach und nach aus. In einem Strandkiosk hatte ich Germknödel und Milchkaffee zum Mittagessen. An der Wand hing eine Uhr, die rückwärts geht. Das sollte eine "ostfriesische Uhr" sein, diese Uhren würden immer rückwärts gehen. Ich folgte einem schmalen Weg über die Dünen, am Meer entlang, und die Sonne schien mir auf das lange silbergraue Kleid. Das war ein anderes Licht als zu Hause; es wurde durch das Spiegeln der Wasserfläche sehr verstärkt.
Ein Seefahrer erklärte spätabends die Beleuchtung des Meeres. Er zeigte die Leuchttürme und die Baken, die das Fahrwasser markieren. Er erzählte, daß es nördlich der Insel eine vielbefahrene "Schiffsautobahn" gibt, deren Spuren mehrere Kilometer breit sind. Vier leichtsinnige Berufsschullehrer fuhren einmal ohne Schwimmwesten in einem Segelboot los und kamen nicht wieder. Sie waren zu nah ans Fahrwasser der Großschiffahrt geraten und gekentert. Nach sechs Tagen fand man den ersten Toten, nach neun Tagen den zweiten, nach elf Tagen den dritten, und den vierten hat man gar nicht mehr gefunden.
Ich habe mich schon öfter gefragt, wie ein Anker sich so in den Meeresboden haken kann, daß er das Schiff hält. Der Seefahrer erklärte, daß der Anker das Schiff gar nicht hält. Die schwere Kette sei es, die sich viele Meter lang auf dem Meeresboden ringelt.
Einige Leute badeten bei dem sonnigen Wetter, obwohl das Wasser nur vierzehn Grad warm war. Ich hatte mir noch schnell einen grauen Einteiler besorgt und zog ein kleines T-Shirt über, als Sonnen- und Kälteschutz.
"Die Tante hat gebadet", erklärte eine Frau ihrem Kind, als ich aus dem Wasser stieg.
Ihr Mann erschauerte.
"Und jetzt muß die sich erstmal umziehen", fuhr sie fort.
Im Wellenbad war es viel wärmer. Am Ende, wo die Wellen am höchsten waren, machte ich mit einer Kollegin eine Art Kaffeeklatsch.
Constri hat mir eindeutig voraus, daß sie sich von Sprungtürmen heruntertraut. Ich empfahl ihr, vom Fünfmeterbrett zu springen, um ihrer Prüfungsangst zu begegnen. Sie suchte ein Freibad aus, wo ein Turm stand, und sprang. Sie meinte, man müsse sehr auf die richtige Haltung achten, weil einem Arme und Beine in die Höhe geweht werden. Und dann sei man lange unter Wasser. Ansonsten sei es für sie nicht weiter schwierig gewesen. Weil die Prüfungsangst dann trotzdem nicht weg war, überlegt sie, vom Siebeneinhalber oder vom Zehner zu springen.



Als wir am Samstag in die "Neue Sachlichkeit" kamen, begann "Solitary" von VNV Nation. Constri und ich tanzten dazu. Cyrus war am DJ-Pult. Rafa gesellte sich zu ihm. Nach "Solitary" kam "Is it you" von :wumpscut:. Rafa blieb oben bei Cyrus. Er hatte ein schlottriges weißes T-Shirt an und darüber die schwarze Weste mit dem roten Rücken, die ich so gern mag. Es stört mich, daß Rafa sich nicht mehr über den Ohren rasiert.
Alienne erzählte mir, sie habe sich auf Kappas Hochzeit angeregt mit Rafa unterhalten, er sei offen und gesprächig gewesen. Man habe allerdings nur über sachliche Themen wie Musik geredet. Berenice habe abseits gestanden, Rafa sei ihr gegenüber nicht sehr aufmerksam gewesen, was sich auch in ihrem Gesichtsausdruck niedergeschlagen haben soll.
"Ich finde die so häßlich", sagte Alienne über Berenice. "Ich kann die nicht ausstehen."
Über Edaín meinte Alienne, sie sei hübsch und nett, aber auch sehr naiv und gutgläubig, und das nutze Kappa wahrscheinlich aus.
Ich stand mit Alienne vor einer Box und konnte Rafa gut beobachten. Berenice kam zu ihm ans Pult und küßte ihn mehrmals, wie um zu zeigen, daß er ihr nach wie vor gehörte. Dann ging sie mit ihm nach unten. Cyrus wurde schon bald danach von Rafa abgelöst.
Gegen ein Uhr trat Rafa auf. Dolf mußte auf einem Sockel stehen, wie er für Zirkuselefanten verwendet wird. Wahrscheinlich soll er dadurch größer wirken. Rafa und Dolf trugen beide ihre schwarzen Sakkos und ihre Kravattenknoten. Rafa hatte seine Spiegelbrille aufgesetzt. Im Hintergrund lief auch dieses Mal "Rendezvous unterm Nierentisch", als wenn ihm kein anderer Film eingefallen wäre. Auch unter den Titeln war keiner, der nicht schon im letzten Herbst gelaufen wäre. Anscheinend hat Rafa noch gar nichts Neues. Neu war lediglich die Ansage zu "Deine Augen" - er hatte die Widmung geändert:
"Das nächste Stück richtet sich an die Herren der Schöpfung, damit sie darüber nachdenken, wann sie der Frau, die sie lieben, zum letzten Mal gesagt haben, was sie für schöne Augen hat."
Bisher hatte er "Deine Augen" stets seiner Freundin - oder Freundinnen - gewidmet.
Rafa hat trotz aller Routine am Mikrophon noch dieselben unsicheren, verkrampften Bewegungen, die ich seit Jahren von ihm kenne. Er vermischt das mit einer grandiosen Selbstdarstellung, die ihm wahrscheinlich von nicht wenigen Leuten abgekauft wird. Es gab allerdings keine vor der Bühne herumhüpfenden Groupies, da der Fanclub nicht anwesend war.
"Die Technik schützt ihn nicht davor, sich mir unterlegen zu fühlen", ging mir durch den Kopf.
Rafa holte sich auch dieses Mal sein Ölfaß und schlug mit einem Stöckchen darauf ein. Der Klöppel ist inzwischen so gut verklebt, daß er nicht mehr abreißt.
"Soll das Arbeit sein?" dachte ich. "Oder soll nur 'Arbeit' gespielt werden? Oder soll das eine Aggressionstherapie sein? Oder nur Performance?"
"Er wirkt verklemmt", meinte Constri, "und Dolf auch."
Wir sahen uns das Ganze aus geringer Entfernung an, klatschten nicht und aßen stattdessen grüne Saure Bänder.
Abraxas begrüßte mich und erzählte, er sei extra spät gekommen, in der Hoffnung, daß das Konzert schon vorbei sei, und nun sei es noch mittendrin, und er werde ins "Elizium" gehen und vielleicht später wiederkommen.
Ob Rafa mich wahrgenommen und beobachtet hat, kann ich nicht sagen. Die Brille hatte er auch nach dem Konzert meistens auf, und sie schützt ihn, weil man nicht sieht, wohin er guckt.
Rafa siezt sein Publikum neuerdings; das kann etwas damit zu tun haben, daß er seinen Vater imitiert. Vielleicht will er zwanzig oder dreißig Jahre älter sein, um noch mehr "über den Leuten" zu stehen. Er zeigte auch wieder sein oberlehrerhaftes Verhalten, als er die Geschichte von einem Freund erzählte, dem er erklärt habe, man müsse keineswegs fünftausend Mark für einen PC ausgeben, wenn man doch für fünf Mark einen C64 bekäme.
Die Spielzeugpistole wurde eingesetzt, als Rafa sein Stück gegen Videospiele auskramte. Er meinte, dieses Stück finde er heute "gar nicht mehr so gut", aber man sei immerhin schon vor sechs Jahren damit aufgetreten.
Nach jedem Stück sagte Rafa "Danke schön", manchmal noch vor dem Applaus. Am Ende spulte er wie ein Tonband ab:
"Vielen Dank, Sie waren ein tolles Publikum, W.E freut sich auf ein Wiederhören."
Dann verabschiedeten Rafa und Dolf sich mit einer steifen Verbeugung, und ohne auf Zugaben-Rufe zu warten, mußte Cyrus sofort ein Stück von Covenant einblenden.
Rafa hielt sich längere Zeit in dem Raum oberhalb der Bühne auf und kam umgezogen zu Cyrus herunter, in T-Shirt und Weste. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn; es war hochsommerlich, und der Saal dampfte.
Ich traf Onno an der Box, wo man vorbeigehen muß, wenn man von der Bühne herunterkommt. Onno erzählte mir begeistert vom diesjährigen Pfingstfestival in L. Da habe es Mode im Stil des Mittelalters gegeben, Künstler und Gaukler, Gelage, Kirchenkonzerte und lyrische Musik von Dead can dance unterm Kreuzgewölbe, aufgelegt von Xentrix. In der Tageszeitung von L. habe gestanden, man sei vor allem beeindruckt von der Gewaltfreiheit, der Toleranz, der Kreativität und dem Sinn für Romantik und Kultur in der schwarz gewandeten Szene.
"Das finde ich faszinierend", sagte ich und beobachtete, wie Rafa von der Bühne kletterte und sich schrittchenweise der Stelle näherte, wo ich mit Onno stand.
Rafa sprach einige Worte mit den Mischern und ging dann eilig an Onno und mir vorbei, so dicht, daß ich ihn an der Schulter kraulen konnte. Er hätte mir ausweichen können, legte es aber nicht darauf an. Andererseits könnte ich nicht sagen, daß Rafa in augenfälliger Weise meine Nähe gesucht hat.
Rafa war längere Zeit nicht im Saal. Als er denselben Weg zurückkam, war ich gerade wieder vor dieser Box und tanzte zu "Getting closer" von Nitzer Ebb. Ich konnte Rafa nur sehr flüchtig am Rücken erhaschen, da ich nicht im Tanzen innehalten wollte. Rafa trug ein volles Weizenglas. Er verschwand in dem Raum oberhalb der Bühne, tauschte sein T-Shirt gegen ein weites weißes Hemd aus und blieb dann am Pult. Zu Alienne hatte er gesagt, er werde "gute Musik" auflegen. Das waren dann solche Sachen wie Depeche Mode und Nena. Constri drängelte, sie wollte nach Hause. Ich wollte noch zu "Das geht tief" von Joachim Witt tanzen und tat das auch. Danach begann Constri zu schreien und an mir zu zerren. Möglicherweise hätte sie mich auch noch geschlagen und gekratzt, wenn ich nicht schnell meine Sachen genommen hätte und davongeeilt wäre.
Am Morgen habe ich Folgendes geträumt:

In einem Bilderbuch erzählte ein etwa zehnjähriger Junge - nennen wir ihn Greg - von seinem gleichaltrigen Freund - nennen wir ihn Lasse. Lasse verschwieg jahrelang, daß er Diabetiker war. Er glaubte, wegen dieser Krankheit ein Schwächling zu sein, eben kein "ganzer Kerl". Deshalb dachte er sich lauter abenteuerliche Geschichten aus, um krankheitsbedingte Ereignisse zu erklären. Greg machte sich schließlich Sorgen um Lasse und hielt ihm die Widersprüche vor, in die er sich im Laufe der Zeit verwickelt hatte. Lasse regte sich sehr auf und wurde wütend auf Greg, konnte aber gleichzeitig unter diesem Druck endlich die Wahrheit erzählen und fühlte sich dadurch deutlich entlastet. Das Gespräch verhalf Lasse zu mehr Selbstbewußtsein und Vertrauen, und es brachte die Freunde eng zusammen.

Rafa vermeidet seit Jahren Gespräche mit mir; er macht sie unmöglich, indem er sich mit Freundinnen ausstattet. Gespräche könnten etwas ans Licht bringen, etwas aufwecken, sie könnten verbinden.
Anfang Juni berichtete mir Seraf im "Elizium", er habe zur Zeit allem Irdischen abgeschworen und kümmere sich nur noch um seinen Beruf. Ansonsten finde er Rafas Freundin nach wie vor "süß". Ich solle es nicht weitersagen, aber Berenice habe ihm zum letzten Silvester eindeutige Angebote gemacht. Sie habe mit ihm ins Bett gehen wollen.
"Wo ist denn da die Logik?" fragte ich. "Sie hat mit Rafa Heiratspläne, und da geht sie los und macht anderen Leuten eindeutige Angebote."
"Na, man weiß ja nicht, wie die Beziehung da gerade war. Die Beziehung zwischen Rafa und Berenice ist ziemlich turbulent."
"Warum denn das?"
"Weil Rafa und Berenice von Anfang an nicht zueinander gepaßt haben."
"Eben, und das habe ich von Anfang an gesagt."
"Und Rafa und du, ihr paßt auch nicht zusammen."
"Das sehe ich nicht so."
"Das paßt schon vom Niveau her nicht. Echt, das ist keine Liga, in der du spielen solltest."
"Das erheitert mich sehr", meinte ich, "einmal deshalb, weil du damit recht hast, und einmal deshalb, weil ich fühle, wie ich so richtig Lust kriege, mich mit Rafa herumzustreiten. Er läßt mich nur immer nicht ..."
"Na, ob das so die Basis für eine Beziehung ist, sich herumzustreiten ..."
Die Musik, die Rafa macht, findet er "unprofessionell", und er glaubt, daß Rafa auf dem Weg in eine Sackgasse ist.
In derselben Nacht fand in HI. ein Konzert von VNV Nation statt, auf das ich wegen der Elektro-Industrial-Veranstaltung im "Elizium" verzichtet hatte. Onno und Ray waren bei diesem Konzert und berichteten erbost von der amerikanischen Versteigerung, die danach stattgefunden hatte. Diese Versteigerung war nicht angekündigt worden, und es entstand der Eindruck, daß Kappa und Ace die Fanartikel von VNV Nation allesamt für sich haben wollten. Wenigstens sollte das Geld der Krebshilfe zugute kommen. Das rettete Kappas Image in den Augen des Publikums allerdings auch nicht mehr. Er schickte Edaín ins Rennen, die bot und bot, und als sie schon eine Weile geboten hatte, fragte sie in die Menge:
"Kann jemand einen Fünfhunderter wechseln?"
Das brachte das Faß endgültig zum Überlaufen. Einige Leute kündigten an, in die "Neue Sachlichkeit" würden sie nicht mehr gehen, seit sie mitbekommen hätten, wie Kappa mit dem Geld um sich werfe, das sie als Eintritt gezahlt hätten.
Kappa scheint nicht klar zu sein, daß es in der Szene nicht ankommt, wenn man große Scheine aus den Taschen hängen läßt. Die Leute müssen ihr Geld in der Regel mühselig verdienen (wenn man von einigen professionellen Sozialhilfeempfängern einmal absieht), und sie fühlen sich verhöhnt, wenn Kappa ihre Eintrittsgelder als seinen Reichtum zur Schau stellt ... zumal Kappa in Wahrheit keineswegs sorglos mit Geld um sich werfen kann. Er muß sich genauso sein Geld erarbeiten wie die anderen, nur wenn er mal etwas mehr verdient hat, kommt es vor, daß er damit prahlt.
Als Constri Geburtstag hatte, brachte Derek ihr eine Plüsch-Schnecke mit, die Amors Pfeil und Bogen trug. An einem warmen Tag traf ich Derek im Tankstellensupermarkt in der Nähe von Constris Wohnung. Derek würde sich am liebsten dauernd bei Constri aufhalten.
"Ich habe lauter Gummibäume gepflanzt", rief er, "alle für dich!"
Ich sah ihn zu Constri zurücklaufen, mit seinen schwarzen Satinhosen und dem graumelierten Teenie-T-Shirt, und ich dachte, dieser martialische Lausbub ist doch genau das Richtige für sie, da hat sie eine immerwährende Herausforderung.
Am Mittwoch war ich mit Constri im "Zone". Außer tanzbarem Elektro wie "Bewußtseinserweiterung" von Tumor spielte Les auch "Laß' uns ein Computer sein" von Rafa.
"Fürchterlich", sagte Constri, "diese aufdringliche Musik behält man immer im Ohr, obwohl man sie gar nicht mag. Das ist mir schon in der "Neuen Sachlichkeit" bei diesem Konzert so gegangen."

In einem Traum begegnete mir Rafa unerwartet in einer fremden Gegend in einem fremden Einfamilienhaus. Rafa sorgte dafür, daß dieses Treffen längere Zeit dauerte und daß wir ein Stück Weg gemeinsam gingen. Als er im Hauseingang stand und ich ihm in die Arme fiel, lächelte er gerührt, und gleichzeitig wehrte er mich vorsichtig, aber bestimmend ab. Er suchte das Gespräch, vermied jedoch körperliche Nähe. Und er schien unsere Begegnung auch nicht allzu lange ausdehnen zu wollen. Berenice spielte bei diesem Treffen keine Rolle; ich hatte vergessen, daß es sie gab.

In derselben Nacht - gegen halb vier Uhr morgens - sprach Derek sechzehnmal auf Constris Anrufbeantworter, fordernd, vorwurfsvoll ("Du willst wohl nicht mehr mit mir reden?"), bis sie dann endlich den Hörer abnahm. Er klagte ihr sein Leid: Er habe Virginia soeben im "Elizium" vernachlässigt und sei gegangen, ohne sich bei ihr abzumelden, und jetzt habe sie ihm in ihrer Wohnung eine Szene gemacht und sei türenknallend verschwunden.
"Was soll ich jetzt bloß machen?" jammerte Derek. "Hast du nicht einen Tip für mich?"
"Ich habe einen Tip für dich", entgegnete Constri, "aber den befolgst du sowieso nicht: Sei ehrlich, sag' allen die Wahrheit."
"Das kann ich aber nicht."
"Dann kann ich dir auch nicht helfen."
Am Samstag gab Constri ihre Geburtstagsfeier. Derek kam auch, schon nachmittags, und brachte Folter und Drees gleich mit, weil er sie in der Stadtbahn getroffen hatte. Derek schien es sehr zu genießen, mit Ray, Folter und Drees zu düsteren Industrial-Klängen über Neuerscheinungen, Label und Raritäten zu fachsimpeln. Das Herrenzimmer hüllte sich in blauen Qualm, und die Bierdosen zischten. Derek fühlte sich wie zu Hause.
Als dann aber gegen zehn Uhr Talis und Janice gutgelaunt erschienen, schloß sich die Tür zu Dereks Zimmer fast geräuschlos. Drinnen machte Ray für Derek heimlich das Fenster auf, damit dieser entweichen konnte, und verschloß es wieder sorglich, als sei nichts gewesen. Derek machte sich mit einer Dose Bier als Vorrat aus dem Staub.
"Ist deren Problem", war Constris Kommentar. "Ich hab' das nicht nötig, durchs Fenster zu klettern."
Elaine kam im schwarzen Spitzenkleidchen und zeigte ihre silbern lackierten Fingernägel. Sie erzählte, das Ballett mache viel Spaß.
"Du bist schwer geworden", fand ich.
"Nein", erwiderte sie, "ich wachse."
Sie inszenierte in Constris Zimmer mit zwanzig Stofftieren und einigen Fantasy-Puppen ein Drama, das an die aufgeregte Action in Trickfilmen erinnerte. Ich fand vor allem Elaines ausdrucksstarke Mimik bemerkenswert, in der sich jede dargestellte Stimmung spiegelte.
Sadia brachte ihren Freund Omar mit, ihre Jugendliebe. Er zeigte das Verhalten eines intelligenten Besserwissers, der sich wichtig machen möchte und sich gern elitär gibt.
Nachts ging ich noch in die "Neue Sachlichkeit" und traf dort Saara. Rafa war nicht da. Berenice bediente, im weißen Sweatshirt.
Saara erzählte, als sie zur "Neuen Sachlichkeit" kam, traf sie Kappa vor dem Eingang, der sie freundlich begrüßte.
"Wie ist das denn so, verheiratet zu sein?" erkundigte sie sich.
Er antwortete:
"Super."
Wenn Edaín tanzte, dann neben dem DJ-Pult und in Gesellschaft von Kappa. Sie hatte ein kurzes Lackkostüm an und hohe Lackstiefel, was ihr sehr gut stand.
Alienne versuchte mir weiszumachen, ich hätte einen ganzen Haufen gefährlicher Feinde. Ich tippte sogleich auf Ivo Fechtner, aber davon wollte Alienne nichts hören. Der würde gar nicht mehr schlecht über mich reden. Dabei wird am ehesten er das Gerücht in die Welt gesetzt haben, ich sei in der Irrenanstalt gelandet und von meinem Vater herausgekauft worden. Das soll Alan angeblich verbreitet haben. Ivo Fechtner streut gern abstruse Geschichten aus, um sich größer und gefährlicher zu machen. Er lebt in einer Welt voller vermuteter Feinde, ähnlich wie Alienne. Das Motto dieser beiden lautet: "Abknallen oder abgeknallt werden."
Daß Alienne persönlichkeitsgestört ist, konnte Ray bestätigen. Sie soll mal drogensüchtig gewesen sein und ihm auch mal eine CD geklaut haben.
Intrigante Menschen mit unkontrollierten aggressiven Ausbrüchen, die ihre eigenen Ängste in anderen Menschen unterzubringen versuchen, die Menschen vereinnahmen, konsumieren, benutzen, die ihre innere Leere damit füllen, Menschen gegeneinander auszuspielen und zerstörerisch auf fremde Beziehungsgefüge einzuwirken, die Menschen nicht als Menschen betrachten, sondern nur als "Gute" und "Schlechte" - wobei diese Zuordnung sich häufig und abrupt umkehrt -, die sich vor lauter innerer Leere selbst schädigen, etwa durch Drogen oder durch systematisches Verbauen von Zukunftschancen, die mal beißen wie ein Kampfhund und mal distanzlos sich jedem beliebigen Fremden an den Hals werfen - diese "emotional instabile", unreife Struktur finde ich sehr häufig, in allen Bereichen, in allen Schichten.
Diese unberechenbaren, um sich schlagenden Geschöpfe, meistens Opfer von Mißhandlungen oder Vernachlässigung, sind deshalb so schwer lenkbar, weil ihnen aufgrund ihrer Unreife die Grenzen fehlen. Die Opfer sind stets auf Opfersuche. Ehe man an ihnen kleben bleibt, indem man sich näher mit ihnen befaßt, gilt es einen Weg zu finden, sich von ihnen zu entfernen, ohne daß es ihnen bewußt wird. Es geht darum, diese Leute glauben zu machen, man sei zufällig voneinander weggedriftet oder sie selbst hätten sich entschieden, nichts mehr mit einem zu tun haben zu wollen. Nur dann hält man sie sich dauerhaft vom Leib, weil sie nur diese Art von Abstand akzeptieren.

Ein Traum handelte davon, daß Rafa eine Chronik über seine Musik veröffentlichte. Auf der letzten Seite war Berenice abgebildet.

Rafa und andere Männer mit Selbstdarstellungswünschen haben die Angewohnheit, ihre Freundinnen - oder Ehefrauen - in den Rang von Heiligen zu erheben, sogar dann, wenn sie sie - wie Rafa - betrügen und schlecht behandeln. Ich frage mich, wie das zu erklären ist. Ich vermute, daß die Mädchen deshalb so überhöht werden, weil sie zum persönlichen Besitz der Männer gerechnet werden.
"Seht mal, was ich habe", will der Mann sagen und führt stolz seine Freundin vor.
Sie wird verwendet als Gegenstand, auch als Gegenstand der Verehrung und als Mittel zur Selbstdarstellung. Die Überhöhung der Freundin dient in Wirklichkeit der Selbstüberhöhung. Mit mir geht so etwas nicht, ich eigne mich nicht dafür, weil ich zu sehr ich bin, ich passe nicht in solch ein Gefüge.
Constri und ich haben versucht, uns vorzustellen, was hinter der Fassade eines Pärchens abläuft, das in der Öffentlichkeit nur gemeinsam auftritt und unentwegt knutscht oder auf andere Weise Zusammengehörigkeit demonstriert.
"Wenn so ein Mädchen Tagebuch führen würde", sagte ich zu Constri, "dann würde jeder zweite Satz lauten: 'Und mein Freund fiel mir um den Hals und küßte mich.' Was muß das für eine endlose Leere und Langeweile sein ..."
Routiniertes öffentliches Geturtel ist nicht zuletzt auch eine Form der Selbstisolation. Constri und ich empfinden es als unangenehm, mit der Hälfte eines Pärchens eine Unterhaltung anzufangen, das sich beständig in den Armen liegt. Wenn man solche Menschen fragt, wie es denn so geht, kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts als ein abwesend-desinteressiertes:
"Oh, gut!"
Also rede ich mit solchen Pärchen gar nicht erst; ich mache einen großen Bogen um sie.
Ewig zusammenhängende Pärchen signalisieren in der Öffentlichkeit im Grunde, daß sie nicht gestört werden möchten und allein zu zweit wunschlos zufrieden sind. Es steckt allerdings wahrscheinlich etwas anderes dahinter:
Wenn man jemanden "ganz für sich" hat und ewig an ihm klebt, kann man ihn auch lückenlos kontrollieren. Wenn man jemanden öffentlich abküßt, kennzeichnet man ihn als persönlichen Besitz, dem sich andere, vor allem mögliche Konkurrenten, nicht nähern sollen.
Die Spannungen, die in diesen Beziehungen entstehen, gehen wahrscheinlich darauf zurück, daß es unter lückenloser gegenseitiger Kontrolle keine Rückzugsmöglichkeiten mehr gibt. Eigene Freunde sind weitgehend abgeschafft, Telefonate werden mitgehört, oft fehlt sogar der Schlüssel zum Badezimmer. Der Wunsch nach "Ausbrechen" entsteht.
Bei der nächsten Veranstaltung im "Inferno" - die Parties heißen jetzt "Nacht und Nebel" - war es nicht sehr voll, aber die Leute und die Dekoration konnten sich sehen lassen. Im hinteren Tanzraum stand ein Andreaskreuz, an das ein Skelett gefesselt war, davor brannten zwei Kerzenleuchter. Im vorderen Raum hatte Toro seinen Stand aufgebaut mit Kleidern, Schmuck und Düster-Nippes; da gab es viel zu schauen. Wildor aus Bayern erzählte, das Skelett habe man auf dem Beifahrersitz hertransportiert. Eine lebensgroße Puppe habe auch noch im Auto gesessen. Wildor hatte sich für die Party ein Breitschwert auf den Rücken gebunden und trug eine zünftige, ans Mittelalter erinnernde Kluft. Er macht sich über Esoterik lustig, scheint es aber gleichzeitig zu genießen, daß ihn viele in der Szene für einen Magier halten. Er beschäftigt sich ebenso stark mit Zauberei, wie er über sie herzieht. Er schreibt sogar ein Buch über eine Gruppe von Magiern, die sich als Ausgestoßene zusammentun und irgendwelche Fabelwesen besiegen.
Ich erzählte Wildor von Yasmin, die sich ein Zauberbuch gekauft hat und Rafa mit einem Liebesmahl betören wollte. Er wußte zu der Geschichte ein passendes Gegenstück:
Eines Nachts kamen zwei recht hübsche Mädchen auf ihn zu, und eines der beiden hielt ihm ein Glas hin und forderte ihn auf, daraus zu trinken.
"Bei mir geht das nicht", erwiderte er, "ich bin nämlich mit einem Gegenzauber ausgestattet, da kann das nicht wirken."
Reesli erzählte, in letzter Zeit habe er das Gefühl, er sei gar nicht richtig in der Wirklichkeit.
"Das bist du doch nie", sagten Norman und ich wie aus einem Mund.
"Nein, echt, ich stehe voll neben mir."
"Das tust du doch immer", sagten Norman und ich wie aus einem Mund.
Alienne und Gwendolyns Bruder Yannick gingen auf mich zu, und Alienne sagte in ihrem gewohnten aggressiven Tonfall:
"Wir möchten mal mit dir reden."
"Ja, bitte?" fragte ich.
Yannick erzählte mir eine Geschichte:
"Ich habe gehört, du hast Wetten abgeschlossen über meine Beziehung mit Lilith."
"Wer hat denn diesen Unsinn erzählt?" erkundigte ich mich staunend.
"Den Informanten darf ich nicht verraten", druckste Yannick.
"Also wieder Ivo Fechtner", schloß ich. "Der denkt sich dauernd so ein Zeug aus. Ich kann dazu nur sagen, daß es mich nicht interessiert, was dieser oder jener für Beziehungen hat und daß ich keine Zeit zu verschwenden habe für solche Inhalte. Ivo Fechtner hat dafür offenbar Zeit. Ich jedenfalls habe meinen Kopf für andere Sachen, und ich habe es nicht nötig, mich auf solch ein Niveau zu begeben."
Mit diesen Worten entfernte ich mich und kümmerte mich nicht mehr um die beiden. Etwas später kam Yannick noch einmal an und entschuldigte sich:
"Nicht, daß du jetzt denkst, ich hätte etwas gegen dich."
Ich bereitete ihn darauf vor, daß Ivo Fechtner in der nächsten Zeit noch mehr solcher abstrusen Geschichten in die Welt setzen könnte.
Der DJ kam von auswärts. Er trug einen schmalen Lederrock mit Seitenschlitzen bis zu den Hüften, durch die netzbestrumpfte Beine hervorguckten. Ich sagte ihm, wie wichtig ich es finde, daß Männer Röcke tragen, gerade solche schmalen, wo man viel Figur sieht.
"Ich habe zehn Röcke", erzählte der DJ. "Da haben sich die Leute auf dem Kirchentag aber gewundert, als ich denen das gesagt habe."
Am Mittwoch spielte Les im "Zone" gleich zweimal hintereinander etwas von Rafa, "Die Computer verlassen die Welt" und "Das muß Liebe sein". Ich hatte das Gefühl, daß Les mich damit ärgern wollte, und ich fragte ihn, ob das denn unbedingt sein müsse. Er rief fröhlich:
"Hab' ich nur für dich gespielt!"
Später setzte er noch eins drauf mit "Wir wollen keine Menschen sein" - ehe er dann endlich mit :wumpscut: begann.
Am Freitag fand der erste Teil der "Elizium"-Abschiedsparty statt. Nach zehn Jahren läuft der Mietvertrag aus, und die "Elizium"-Besitzer wollen oder können ihn nicht verlängern.
Die Gäste kamen in Scharen, die Musik fand ich zum Gotterbarmen. Ich war erleichtert, weil Ivo Fechtner und Alienne nicht gekommen waren. Xentrix machte wieder seine Grimassen und die gewohnten Sprüche ("Es gibt keinen Industrial! Weib, weiche von dannen!"), Ted trank reichlich, Marvin war verhindert, Cyan war stattdessen dabei. Inzwischen beginnt Cyan langsam mit dem Coming out, ohne jedoch seine Frau darüber in Kenntnis zu setzen. Die Eheleute haben einen zweijährigen Sohn.
"Weißt du eigentlich, wie gern ich dich habe?" sagte der alkoholisierte Cyan und knuddelte mich.
Ted, Cyan und ich stießen miteinander an, später gab es dann noch eine Runde Bailey's von Onno, der Geburtstag hatte.
Janssen gab Küßchen und äußerte lebhafte Verzweiflung über den Untergang des "Elizium", das ihm die reichste "Frauenausbeute" seines bisherigen Lebens beschert hat. Das "Adam & Eve" scheint für ihn keine befriedigende Alternative zu sein.
Am Samstag fand der zweite Teil der "Elizium"-Abschiedsparty statt. Es soll so überfüllt gewesen sein, daß die Leute sich draußen im Hof, im Torweg und auf der Straße sammelten, eine schwarze Schar, die sich erst auflöste, als es hell war. Constri, Clara, Ray und ich zogen es vor, nach HH. zu "Stahlwerk" zu fahren, die regelmäßige Veranstaltung im "Megamarkt", die inzwischen die Nachfolge der "Klangwerk"-Parties angetreten hat. Constri hat sich schon mit dem Audi vertraut gemacht. Weil unser Vater ihr den Führerschein bezahlt hat, schenkte sie ihm seinen Lieblingspudding - "Sahne-Caramel" -, garniert mit einem Auto aus Schokoladenstreuseln und Gummibärchen. Wir brachten ihm den Pudding auf dem Weg nach HH. noch schnell vorbei. Er freute sich sehr und aß den Pudding sogleich auf. Wir bekamen Kirschen aus seinem Garten.
In HH. besuchten wir zuerst Lisa und ihre Familie. Lisa hat kürzlich Ytong gesehen. Er führte vor dem Hauptbahnhof eine Performance mit seinen selbstgebastelten Instrumenten auf, Stahlklänge im Straßenlärm.
Als wir nachts zum "Megamarkt" kamen, lehnte Darien vorm Eingang am Geländer, mit einem Fellchen auf dem Kopf. Ich erkannte ihn zuerst nicht, weil er sich sonst bis auf den Pony alle Haare abgeschoren hat. Als er uns aber rief, wußte ich gleich wieder, wer er war. Auch viele andere Bekannte waren bei "Stahlwerk", unter ihnen Mal, Dedis, Sofie, Rega, Steffen, Heyro, seine Freundin Samantha und sein Bruder Irvin.
Darien ist nach wie vor fast ausschließlich mit Arbeit beschäftigt. Er hat inzwischen vier Rechner und ein Tonstudio im Büro. Irvin ist zu ihm gezogen, Heyro lebt jetzt mit Samantha zusammen. Sofie ist von Rega getrennt und hat eine Affäre nach der anderen. Eigentlich ist sie seit zwei Jahren in Darien verliebt, aber mehr als reden konnte sie bisher nicht mit ihm. Sie hatte ihn mit Mühe zu sich nach Hause geholt, und das Ergebnis war, daß beide nach einem langen Gespräch einschliefen. Immerhin sei es ihr gelungen, mit Darien über etwas anderes als die Arbeit zu reden.
Rega ist neu gebunden. Mal ist wieder mit Dedis zusammen, nachdem man doch so einige Gemeinsamkeiten entdeckt hat, die als wertvoll empfunden werden. Dedis will keine Kinder und hat sich sogar sterilisieren lassen. Sie hätte können und wollte nicht. Ich will Kinder und bekomme sie nicht.
Ted kam am Sonntagnachmittag zum Kaffee. Er schlug vor, daß wir unsere nächsten Filmaufnahmen in seiner eigenen Fabrikhalle machen könnten. Das kann ein sehr lustiges Wochenende werden. Wir essen dann bei Ted unten im Haus beim Griechen Hühnersuppe und Pommes frites. Bis dahin ist wahrscheinlich auch mein hellgraues durchsichtiges Kleid fertig.
Ted wird immer wieder von außen darin bestärkt, daß er und Marvin zusammengehören. Teds kleiner Neffe ordnete eine Hälfte von Teds Doppelbett spontan Marvin zu, obwohl Marvin in der Wohnung gar nicht lebt.
Am 03. Juli heirateten Kurt und seine Freundin Cecile kirchlich. Am Tag zuvor waren sie standesamtlich getraut worden, genau fünf Jahre, nachdem sie zusammengekommen waren. Cecile studiert Sonderpädagogik, ebenso wie Clara. Kurt hat eine Ausbildung im Informatikbereich und auch schon eine Stelle. Kurt und Cecile leben seit etwa zwei Jahren zusammen. Ich kenne beide aus dem "Elizium". Für die kirchliche Trauung hatten sie eine romantische Kapelle in einem ehemaligen Bauerndorf ausgesucht, das inzwischen ein Stadtteil von H. ist. Die Feier fand im kleinen Kreis statt. Es gab ein rüschenbesetztes Reifrock-Kleid für Cecile, einen steifen schwarzen Anzug für Kurt, eine gemietete weiße Stretchlimousine mit Chauffeur, fotografierende und filmende Verwandte, die nach den Studioaufnahmen das eigentliche Fest dokumentierten, Blumenkinder in Spitzenkleidchen, eine Traurede mit viel Gefühl, Reis, Bukettwerfen, ein Festessen im Gasthof, eine Hochzeitstorte mit Plastikpärchen und einen Walzer für das Brautpaar, das beim Tanzen mit Rosenblättern beworfen wurde. Ceciles "Szene-Ich" schimmerte insofern durch die Satinröschen hindurch, als das kurze Ärmelchen nicht ausreichte, um ihr kleines Tattoo zu überdecken.
Das Bukettwerfen fand gleich nach der Trauung statt. Ich hatte das Bukett sofort in der Hand, obwohl ich es nicht darauf anlegen wollte.
"He, schreib' schon mal die Einladungskarten", sagte jemand.
"Ich habe nichts dagegen", meinte ich, "und schön wär's, wenn das so alles stimmen würde."
Das Bukett hängte ich daheim mit dem Kopf nach unten an die Gardinenstange, in einem Zimmereckchen, damit es nicht jeder gleich sieht.
Rikka hat auch schon einmal ein Bukett gefangen, sie legte es aber sehr darauf an, weil sie Seth damit zeigen wollte, daß sie sich wünschte, ihn zu heiraten. Nachdem Seth sie verlassen hatte, begrub sie das Bukett. Inzwischen hat sie über Dritte gehört, daß Seth gesagt haben soll, er liebe sie immer noch.
Mir wäre es wichtig, beim Heiraten ein Kleid anzuhaben, das nicht eindeutig nach Brautkleid aussieht. Viele Leute würden mit mir feiern wollen, und ich würde sie auch gerne einladen, aber die Ungewißheit würde mir raten, mich erst in aller Stille in Standesamt trauen zu lassen und dann zu sehen, ob Rafa zu einer Feier überhaupt in der Lage ist. Ich glaube nicht, daß er sich jemals in irgendeiner Form zu mir bekennen wird. Und ich müßte auch unmittelbar vor einem festgesetzten Termin im Standesamt mit seinem Rückzug rechnen.
Eine Woche nach der Hochzeit von Kurt und Cecile gab Merle ihre Geburtstagsparty. Kurt und Cecile kamen auch, schlicht und schick in Schwarz gekleidet, ohne Anzug und Rüschen. Elaine verteilte Süßigkeiten und sagte unvermittelt:
"Ich hasse es."
"Was haßt du?" erkundigte ich mich neugierig.
"Die Kerzen da", sagte sie leidenschaftlich und zeigte auf einen Leuchter, der mit Kunstblumen garniert war. "Die weißen. Und die gelben auch."
"Und warum haßt du die?"
"Die sind kitschig. Und die Blumen sind auch kitschig."
Vielleicht wird Elaine sich noch zu Merles Beraterin für Raumausstattung entwickeln.
Was mit Merles Kunstblumen im Laufe der Zeit passiert, ist allerdings schon abenteuerlich. Zuerst habe ich sie auf dem Heizkörper im Bad liegen sehen, glitzernd und mit künstlichen Tautropfen benetzt. Dann wurden sie in den Kerzenleuchter gestopft. Vielleicht klemmen sie als Nächstes hinter der Spüle oder liegen zerrupft im Kinderzimmer.
Am späteren Abend fuhren Constri und ich zum "Radiostern". Dort trafen wir Norman und Reesli. Reesli kam sogleich mit der Frage auf mich zu:
"Willst du mich heiraten, ja oder nein?"
"Ich will Rafa heiraten", antwortete ich aufrichtig.
"He, das ist eine geschlossene Frage, jetzt gib' mir auch eine geschlossene Antwort - ja oder nein?"
"Nein. Es geht nicht, weil ich Rafa heiraten will."
"Ach, du hättest Thorlev die Freude ruhig machen können", meinte Norman, als ich ihm davon erzählte. "In zwei Stunden hätte er es eh wieder vergessen."
Zwei Stunden später meinte Reesli, es täte ihm weh, sich vorzustellen, daß das mit Rafa nie was wird und daß ich einsam sterbe.
"Die Vorstellung ist traurig, aber durchaus realistisch", meinte ich.
Cyra ließ sich am DJ-Pult vertreten. Sie erschien als Gast und erzählte, sie habe gehört, daß Ivo Fechtner am letzten Tag der "Elizium"-Abschiedsparty in SS-Uniform erschienen sei. Er habe auch ein BDM-Mädel mitgebracht, aller Wahrscheinlichkeit nach Alienne. Die beiden durften wegen ihrer Nazi-Garderobe nicht hinein, und als Ivo Fechtner sich umzog, wurde er trotzdem nicht eingelassen.
"Daß er das überhaupt versucht", staunte ich, "wo doch auf jeden 'Elizium'-Flyer ein durchgestrichenes Hakenkreuz steht."
Constri und ich unterhielten uns darüber, daß es für Jungs schwerer als für Mädchen ist, ausgefallene Kleidung aus edlen, ungewöhnlichen Stoffen zu finden. Die Jungen in der Szene laufen meistens entweder schlicht in T-Shirt und schwarzer Hose herum oder tragen Kostüme aus billigen Materialien, die für Underground-Läden hergestellt werden, wo aus Kostengründen bei der Wahl der Stoffe nicht viel Abwechslung und Anspruch an die Qualität möglich sind. Das Angebot in gewöhnlichen Herrenabteilungen ist trist, auch im Sinne von "traurig". Für uns Damen gibt es dagegen Boutiquen mit schrägen und dennoch günstigen Sachen.
Ein Junge hatte sich phantasievoll verkleidet; er trug eine Mönchskutte, die an den Seiten hoch geschlitzt war und den Blick auf netzbestrumpfte Beine freigab. Unter der Kutte trug er ein handgearbeitetes Kettenhemd.
Saara wurde kürzlich von Velvet angerufen. Velvet meint nunmehr, Berenice sei doch eigentlich "voll nett", man könne sich gut mit ihr unterhalten. Das erstaunt mich im Grunde nicht, siedele ich Velvet und Berenice doch auf ungefähr dem gleichen Niveau an.
Berenice soll einen Motorroller besitzen, mit dem sie immer nach SHG. fährt. Velvet will sich auch einen Motorroller zulegen. Etwa auch, um damit nach SHG. zu fahren?
Anscheinend spielt sich das Liebesleben von Rafa und Berenice in der Tat vorwiegend neben der Küche seiner Mutter ab. Da kann sie beim Kaffeekochen mithören.
Clarice hat ihre Konditorlehre abgeschlossen und feierte das Ende ihrer Lehr- und Leidenszeit als ausgebeutetes "Mädchen für alles". In ihrer Wohnung servierte sie den Gästen viele leckere Sahnetorten. Um Mitternacht fand auf dem Balkon die "rituelle Käppiverbrennung" statt. Das Käppi, das Clarice bei der Arbeit in der Backstube hatte tragen müssen, war aber auch besonders häßlich ... und besonders feuerfest! Zunächst brannte deshalb nur der Schnaps, den wir darübergegossen hatten, und das Käppi ging unversehrt aus den Flammen hervor. Erst beim zweiten Versuch begann die Kunstfaser langsam und geruchsintensiv zu verschmoren.
"So viel Hitzebeständigkeit muß sein bei einem Konditorkäppi", vermuteten wir. "Es muß auch überleben, wenn es aus Versehen in den Backofen gerät."
Auf Clarices Party war ein Gast namens Etto, der alle Weisheit gepachtet haben wollte. Er beschäftigt sich viel mit Drogen und dem unteren Rand der Gesellschaft; das scheint ihn magisch anzuziehen. Er glaubt vielleicht, daß in der Gosse das spirituelle Bewußtsein zu finden ist.
Etto erinnerte sich, daß er vor Jahren in GT. auf einem Konzert von Rafa war. Da seien drei Gestalten auf der Bühne gewesen, Dolf auf einem Podest, damit er größer als die Sängerin war.
"Und was dann aus den Synthesizern kam, das war einfach nur schlecht", erzählte er, und ich nickte wohlwissend. "Das hörte sich an, als wenn ein Zwölfjähriger auf einem C64 herumspielt."
"Rafa ist auch auf diesem Niveau geblieben", erzählte ich. "Mit ungefähr dreizehn Jahren hat er den C64 bekommen, und dann blieb er in seiner Entwicklung stehen."
Endgültig erledigt hatte sich für Etto der "Fall Rafa", als er einmal Rafa und Dolf in schwarzen Bomberjacken ins "Elizium" marschieren sah, mit gegelten Haaren und einer Körpersprache, die sagte:
"Hergucken alle, wir sind wichtig!"
"So will Rafa immer wirken", meinte ich. "Das ist sein Image, und deshalb mögen ihn viele nicht."
Als es im Inferno wieder eine "Nacht und Nebel"-Party gab, stand im hinteren Saal ein offener Sarg auf einem Podest, mit einem Skelett darin. Das Skelett lag auf weißem Samt, der gespenstisch im Schwarzlicht leuchtete. Rechts und links von dem Sarg flackerten Kerzen.
Ivo Fechtner stellte sich mit Alienne auf die Tanzfläche und ließ sich von ihr küssen. Immerhin waren die beiden so sehr miteinander beschäftigt, daß sie nicht auf die Idee kamen, mich anzusprechen oder zu belästigen. Yannick soll nach Rays Auskunft Aliennes Meinung absorbiert haben, die ihrerseits die Meinung von Ivo Fechtner absorbiert hat; dementsprechend soll Yannick mich jetzt unglaubwürdig und unausstehlich finden.
Der DJ spielte "Schweben, fliegen und fallen" von Rafa. Hytania und Velroe fanden Rafas Musik immer schon schlecht. Velroe erinnerte sich, daß er 1995 bei Rafa zu Besuch war. Im Kinderzimmer soll eine heillose Unordnung geherrscht haben.
Ende Juli kaufte ich am Stadtrand in einem Gartencenter ein. Als ich danach zur Haltestelle ging, rief vom Bahnsteig aus jemand nach mir. Ich schaute, wer es war, und da stand Henk, den ich fast sieben Jahre lang aus den Augen verloren hatte. Wir fielen uns freudig um den Hals und vereinbarten sogleich ein Kaffeetrinken. Ich fuhr eine halbe Stunde später mit dem Wagen zu ihm in den Stadtteil Msb., wo er seit dem letzten Herbst wohnt, unweit von mir. Die alte Vertrautheit war nach wie vor da, ungestört, als wäre der Kontakt nie abgebrochen. Es war in allem so, wie ich es mir gedacht hatte. Henk ist in der Zwischenzeit gereift und sagt von sich selbst in aller Ehrlichkeit, daß er ohne feste Bindung leben möchte - er ist auch schon seit acht Jahren allein, hat nur dann und wann kurze, flüchtige "Eintagsfliegen".
Henk ist nach H. gezogen, weil sein Vater einen Herzinfarkt erlitten hat und weil seiner Mutter nach einem Kurzschluß die Wohnung beinahe ausgebrannt ist. Er wollte für seine Eltern zur Verfügung stehen, hat allerdings eine eigene Wohnung. Bisher lebte er immer mit anderen Leuten zusammen, nur einmal vorübergehend allein in einem "Loch", wie er es nennt. Henk arbeitet nach wie vor als Friseur und verdient ausreichend.
Henks Bruder Marek ist 1994 gestorben, zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau Ginette. Die Eheleute liegen unter demselben Grabstein, in einem Urnengrab in DO. Henk hatte Marek immer in DO. besuchen wollen, es allerdings vor sich hergeschoben. Eines Tages wurde Marek von der AIDS-Hilfe halbtot in seiner Wohnung aufgefunden. Henk besuchte ihn nun endlich, in einem Krankenhaus, dessen Atmosphäre er als abweisend und häßlich erlebte.
"Was denkst du, wenn du mich so siehst?" fragte Marek.
"Ich denke, daß du stirbst", gab Henk Antwort.
Eine Krankenschwester bat Henk, beim Umlagern zu helfen. Henk sah, daß Marek ausgemergelt und durchgelegen war und daß er Knöchelödeme hatte. Er lief weinend nach draußen.
Als Henk mir das erzählte, wirkte er innerlich sehr bewegt, als wäre das gestern passiert.
Henk hat sich auch an andere belastende Ereignisse in seinem Leben erinnert. Sein Vater ist Alkoholiker, seine Mutter tablettensüchtig. Marek war bereits mit vierzehn Jahren heroinsüchtig - Drogen bekam man damals im Kirchenkeller von Awb., wo auch die Pfadfinder tagten. Als Henk sieben Jahre alt war, setzte man ihn eines Abends ins Auto und brachte ihn nach GF. zu den Verwandten seiner Mutter. Ihm wurde nicht erklärt, was das zu bedeuten hatte. Er weinte vor Heimweh und wurde deshalb von seinen neuen Stiefeltern, die beide Lehrer waren, gemeinschaftlich verprügelt.
"Ist eigentlich ein Wunder, daß ich so stabil geblieben bin, nach allem, was ich erlebt habe", meinte Henk.
Sein Drogenkonsum hat sich inzwischen auf einem festen Niveau eingependelt. Er trinkt abends seine zwei Bier, raucht einige Joints und außerdem Zigaretten.
Ein alter Bekannter von Henk und mir, der kleine blonde Deon, ließ sich, wie Henk erzählte, vor einigen Jahren einen ellenlangen Bart wachsen und turnte auf einer großen Kreuzung herum, woraufhin man ihn geschlossen einwies. Mit seinen Medikamenten kommt Deon inzwischen einigermaßen zurecht, mußte sich allerdings berenten lassen. Gelegentlich verrennt er sich in Details; so machte er Henk schwere Vorwürfe, weil dieser bestimmte Markenartikel im Supermarkt kaufte. Als es dann wegen einer anderen Sache Streit gab, wollte Henk ihn ärgern, indem er haufenweise von eben diesen Markenartikeln kaufte.
Die kurzhaarige "Kampflesbe" Berry, die persönlichkeitsgestört und drogensüchtig ist und nie in ihrem Leben eine Arbeit angefaßt hat, soll mittlerweile im Gefängnis sitzen.
Henk und ich wurden durch den Besuch einer Hure gestört, die Henk unlängst in einer Eckkneipe aufgegabelt hat. Henks Neigung, sich um soziale Grenzfälle zu kümmern, ist erhalten geblieben. Die Hure riß beim Grillen auf dem Balkon alle Aufmerksamkeit an sich und wurde mit steigendem Alkoholkonsum immer distanzloser. Henk schien nicht in der Lage zu sein, sie aus der Wohnung zu werfen. Ich war froh, als sie endlich selbst auf die Idee kam, sich ein Taxi zu rufen ... der Wein war alle ...
Weil Henk nicht "datefest" ist - was er selbst zugibt -, haben wir vereinbart, daß ich beim nächsten Treffen wieder zu ihm komme und ihn dann mit zu mir nehme, damit nicht wieder irgendwelche uneingeladenen Leute zu Besuch kommen.
Henk gab mir Blumentöpfe mit Waldmeister und Tausendschönchen. Sein Balkon ist voller Pflanzen, ein Blütenmeer. Die Katze Feline, die Henk seit elf Jahren hat, lebt zur Zeit bei seiner Mutter.
Henks Fotoalbum ist damals nicht verlorengegangen, wie er vor sechs Jahren noch glaubte. Deons Mutter hat es aus einem Sperrmüllhaufen gerettet. Henks Vermieterin hatte damals ohne Henks Wissen seine Wohnung in BS. zwangsräumen lassen und alles, was Henk besaß, in einen Hinterhof werfen lassen.
Am Mittwoch war ich mit Constri, Clara, Ray und Zoë im "Zone". Les erzählte, Rafa sei am vorigen Mittwoch nach langer Zeit wieder dagewesen.
"Und, hatte er seine Schlampe wieder dabei?" erkundigte ich mich.
"Wir leben in einem zivilisierten Land, da benutzt man solche Ausdrücke nicht", tadelte Les. "Also, wenn du seine komische Freundin meinst, die war mit, also die mit den schwarzen Haaren. Die hat sich andauernd W.E gewünscht."
"Und er, hat er sich das nicht gewünscht?"
"Nein, nur sie kam immer an."
"Hat er sie also vorgeschickt."
"Da kam ich gar nicht dazu, das zu spielen, weil die sich das dauernd gewünscht hat."
Lana erwartet im Januar ihr erstes Kind. Ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, weiß sie noch nicht, und sie und Jules haben sich auch noch keine Namen überlegt. Sie suchen schon nach einer größeren Wohnung. Inzwischen haben sie auch eine Katze, ein hübsches dreifarbiges Tier. Es ist noch ziemlich scheu.
Am Samstag waren Constri und ich bei Sarolyn und machten Hefeschnecken, mit Mandeln und Zimt. Wir redeten viel über Männer. Sarolyn ist mit ihrem Victor zufrieden und nimmt es hin, daß wir finden, er sieht "nach gar nichts aus". Sie fühlt sich bei ihm gut aufgehoben und schätzt seine Verläßlichkeit.
Abends war ich in der "Neuen Sachlichkeit". Rafa war wieder nicht da, und ihn hat seit Mai dort auch keiner mehr gesehen. Berenice bediente an der Theke. Edaín blieb bei Kappa hinterm Pult und spielte immerhin "Solitary" von VNV Nation.
Als ich mich in der Damentoilette nachschminkte und Sanina sich meinen Kohlestift auslieh, kam Berenice herein und stellte sich an die Wand hinter uns. Eine Kabine war offen, und vor dem Spiegel gab es noch Platz, dennoch blieb Berenice, wo sie war, und stand wie angewachsen. Ich ließ mich von ihr nicht stören und redete mit Sanina belangloses Zeug:
"Die Leute, die ich kenne, sortiere ich meistens nach ihren Cliquen ein, dann kann ich sie mir besser merken. Ich selbst kann mich eigentlich in gar keine Clique einsortieren."
"Das ist auch gut so", meinte Sanina und ging in die Kabine.
Ich ging seelenruhig und langsam hinaus. Wie ich eben die Tür hinter mir zuzog, stieß sie jemand von innen mit Absicht heftig ins Schloß, als wollte er mich wegstoßen. Das konnte nur Berenice gewesen sein, weil sonst niemand im Vorraum war.
Als ich Velroe das erzählte, meinte dieser:
"Wenn Rafas Freundin so eifersüchtig ist, muß Rafa ihr gegenüber irgendeine Bemerkung gemacht haben, die sie auf dich eifersüchtig gemacht hat. Vielleicht hat er gesagt, die Frau verfolgt mich, oder so etwas."
Robin begrüßte mich und gab mir etwas aus. Er wurde nicht von Berenice, sondern von ihrem Kollegen bedient; sie hatte wohl gesehen, daß ich in der Nähe stand.
Robin war martialisch gekleidet mit einem schwarzen Oberteil, das mehr Löcher hatte als Stoff und mit einem Unterarm aus Plastik, den er über seinen richtigen Unterarm gestülpt hatte. Der falsche Unterarm war mit einem Muster aus künstlichen Schnittwunden verziert.
Robin arbeitet als Erzieher in einem Behindertenheim. Er konnte scheußliche Geschichten erzählen von den eigentümlichen Angewohnheiten der Behinderten.
Zu Chantal hat Robin keinen Kontakt mehr. Das hat vielleicht etwas damit zu tun, daß Chantal sich weder für noch gegen ihn entscheiden konnte und schließlich eifersüchtig wurde, als er andere Mädchen mit ins Bett nahm. Vor allem ging es um Sanina.
Am Sonntag kam Henk zu mir zu Besuch. Das ist das erste Mal, daß er mich überhaupt besuchte. Er war von meiner Wohnung sehr angetan, er möchte auch gern so hübsch wohnen. Er brachte mir ein Geschenk mit, ein Foto, das Marek gemacht hat, von einer Uhr in einer U-Bahn-Station.
Henk betrachtete die Fotos, die ich von ihm noch hatte, und meinte:
"War ich da schlank! Wie werde ich das nur wieder?"
"Kein Bier mehr", antwortete ich.
Später besuchten wir noch Henks Mutter. Sie bot uns sogleich etwas an, für mich gab es Tartufo. Sie wollte, daß wir unbedingt lange blieben. Henk legte sich auf den Teppich und stützte sich rückwärts mit den Armen auf, was er früher schon gerne gemacht hat. Von unten nach oben sah er mich mit seinem gewohnten schrägen Blick an und meinte zum wiederholten Mal, meine Bluse sei wirklich hübsch. Es war aber auch eine hübsche Bluse, schulterfrei, mit weißen Röschen aus Satinband garniert. Henks Art, mich zu betrachten, erinnerte mich an die Zeit vor dreizehn Jahren.
"Ich kann mir denken, warum ich mich damals in ihn verliebt habe", dachte ich. "Das hatte schon eine gewisse Logik, und es ging nicht nur von mir aus."
Wie viele andere Leute hält Henk meine Bindung an Rafa durchaus nicht für endgültig, auch nicht für zukunftsweisend. Er meint, daß ich mich von Rafa abwenden sollte:
"Das bringt doch nichts."
Ich entgegnete, daß es sicher für Außenstehende schwer sei, die Bedeutung dieser Bindung zu erfassen.

Constri hat von Häusern geträumt, und Häuser sind bei ihr ein Sinnbild für Beziehungen. Sie wohnte in einem hohen Haus auf einem hohen Berg, und erst als sie eine Frau besuchte, die weiter unten in einem niedrigeren Haus wohnte, erkannte sie, wie schön der Ausblick ins Tal war. Von der Wohnung der anderen Frau aus konnte man ungehindert den Abhang hinunterblicken, von ihrer eigenen Wohnung aus war das nicht so einfach, deshalb hatte sich ihr der schöne Ausblick noch nicht erschlossen. Sie mußte um die Ecke gucken, um das Schöne zu sehen, doch wenn sie es dann sah, war es noch mehr als das, was man aus dem Fenster der weiter unten gelegenen Wohnung sehen konnte.

Das kann ein Vergleich sein von Constris und Sarolyns Beziehungen. Sarolyn hat eine offensichtlich geordnete, verläßliche Beziehung, in der allerdings eines nicht zu finden ist: die große, einzigartige Leidenschaft. Constri und Derek sind durch eine ebensolche Leidenschaft verbunden, aber die Beziehung ist nicht verläßlich. Es kommt auf die Sichtweise an, die einem einen Ausblick erschließen kann, der weit hinausgeht über das Alltägliche.
Derek hat in seinem Zimmer bei Ray Erinnerungen an Constri und Geschenke von Constri aufgebaut, andere Sachen nicht. Als Constri ihn besuchte und es auf den Abend zuging, meinte Derek, er habe nun keine Zeit mehr, er müsse noch "Virginia vögeln".
"Dann werde ich mal nach Hause fahren", meinte Constri, "damit du in Ruhe Virginia vögeln kannst."
Darauf hatte Derek wohl nur gewartet. Er begleitete Constri nach Hause und übernachtete bei ihr.
Am Dienstag war ich abends bei Henk zum Grillen. Ich hatte ihm vorher das Versprechen abgenommen, daß er jeden sonstigen Besuch an der Tür abwimmelte. Es kam keiner, und wir saßen gemütlich auf dem Balkon.
Clara hat gehört, daß Rafa bei Daphne auf der Arbeit angerufen hat. Daphne hat zu Hause kein Telefon. Seit Jahren hatte sie zu Rafa keinen Kontakt mehr. Rafa nannte keinen bestimmten Grund für den Anruf. Vor fünf Jahren hat Daphne für Rafa eine, wie sie sagt, "Haßliebe" entwickelt. Ich finde es beachtlich, daß es Rafa gelungen ist, die Telefonnummer von Daphnes Arbeitsplatz aufzubewahren.
In dem Telefonat soll es um belangslose, alltägliche Themen gegangen sein. Über Berenice soll Rafa nicht gesprochen haben. Er soll erzählt haben, er habe Angst vor seinem Auftritt bei einem großen Open Air Festival Mitte August in HI., weil dort "so viele Leute" seien.

In einem Traum heiratete Rafa mit traditionellem Kitsch. Ob es sich bei der Braut um Berenice handelte oder nicht, konnte ich nicht eindeutig erkennen.
"Das kann dauern, bis die Scheidung durch ist", dachte ich. "Noch ein paar Jahre vergehen, und wieder geschieht nichts."

Am 10.08. klingelte nachts um viertel vor zwei einmal das Telefon. Dann war Stille. Weil Rafa kürzlich nach langer Zeit wieder bei Daphne angerufen hat, war mir das verdächtig - zumal Rafa in der Nacht zum Dienstag regelmäßig ein Saufgelage mit Anwar abhält.
Als Mauro mir die Haare schnitt, unterhielt ich mich mit dessen Kollegin Fay über die "Neue Sachlichkeit". Fay erzählte, sie könne Berenice nicht ausstehen. Als Fay sich an der Theke über die hohen Preise in der "Neuen Sachlichkeit" beschwerte, soll Berenice das mit einem ausdruckslosen Blick zur Kenntnis genommen haben und insgesamt sehr unfreundlich gewirkt haben.
"Die paßt nicht in den Job", meinte Fay. "Wenn man bedient, sollte man eigentlich charmant sein."
Tarek war auf dem großen Festival in HI., mit Handy, um seine Freunde auf dem Gelände immer wiederfinden zu können. Er hat Kappa gesehen, der Flyer verteilte; Rafa hat er jedoch nirgends gesehen. Das wunderte ihn, weil er Rafa und Kappa als unzertrennliches Gespann in Erinnerung hat. Tarek nimmt an, daß Rafa nur zu seinem Auftritt gekommen und dann gleich wieder weggefahren ist. In der Tageszeitung von HI. ist Rafa übrigens nicht sehr gut weggekommen:
"... (drinnen) spielte zwar mit 'W.E' ein kaum mäßig interessantes Gespann Plastik-Synthie-Sounds zu wummerndem Computer-Gestampfe, aber es war wenigstens trocken. Und so kam es, daß die weitgehend unbekannten 'W.E' selbst eine halbe Stunde später, als auf der Hauptbühne der Headliner des Abends rief, etwas Unerwartetes erlebten: ein volles Haus."
Talis meinte später, er sei lieber in den Regen hinausgegangen, als sich "das" anzuhören. Auf dem Festival-Sampler soll sich eines von Rafas neuen Stücken befinden, "Verlieb dich in mich".
Tarek und ich haben uns darüber unterhalten,daß Rafa sehr bemüht ist, immer "cool" zu wirken und daß er sich deshalb arrogant und abweisend verhält und mit Spiegelbrille herumläuft. Tarek meinte, eben weil Rafa sich so viel Mühe gibt, cool zu wirken, wirkt er nicht cool, sondern eher peinlich und lächerlich. Solche Leute wie die Musiker von Covenant oder Terminal Choice, die aus ihrem Auftritt einen Spaß machen, die herumlaufen, wie es ihnen eben einfällt und die ihre Musik nicht überfrachten, nimmt man selbstverständlich ernst. Man hinterfragt gar nicht, ob sie selbstsicher wirken.
Für alle, die nicht beim Festival waren, fand bei mir eine Grillparty statt. Henk rief kurz vorher an und fragte, ob er denn wirklich kommen solle? Er habe doch Angst vor den vielen Leuten.
Das sagt einer, der sich aus einer Eckkneipe fünfzig gestrandete Existenzen ins Haus holt und bewirtet. Und wenn ich fünfzehn Gäste habe, die alle mit beiden Beinen im Leben stehen und die mein Vertrauen genießen, macht ihm das Angst. Anscheinend fühlt sich Henk im Umgang mit "sozialen Sumpfbewohnern" einfach sicherer, eben nicht unterlegen. Er fand aber dann doch trotz seiner Schüchternheit schnell Anschluß. Clara war von Henks frechem Lachen sehr angetan. Sie hörte begeistert zu, als er von dem Chaos erzählte, in dem er vor seinem Umzug nach H. gelebt hat. Seine frühere Mitbewohnerin Marsha war von Beruf Gigolo und Dealerin.
"Wir hatten damals für zweitausend Mark Kokain in der Kuckucksuhr", erinnerte er sich. "Und dann haben wir soviel davon weggezogen, daß wir den Rest mit Vitaminpulver gestreckt haben. Da waren die Kunden vielleicht sauer!"
Constri hatte von Henk den Eindruck, daß er viel Kindliches und Unsicheres an sich hat und daß er ein einmaliges Geschöpf ist, das man mit nichts und niemandem vergleichen kann.
Henk findet, ich sollte mich um Rafa nicht mehr kümmern. Das findet auch Kurt. Gemeinsam mit Cecile versuchte Kurt, mir ins "Gewissen" zu reden. Cecile hielt sich dabei allerdings sehr zurück; ich hatte das Gefühl, sie hat mehr Verständnis für meine Ansichten als Kurt, schafft es aber nicht, ihm das zu vermitteln. Kurt regte sich sehr über Rafa auf und meinte, der sei doch wirklich nichts wert. Ich solle mir jemanden suchen, der mich auch verdient habe.
"Es gibt schon Leute, die mich wertschätzen können", meinte ich, "aber was soll ich mit dem zuverlässigsten Mann der Welt, wenn ich für ihn nichts ermpfinde?"

In einem Traum sollte ich hingerichtet werden. Meine Todfeindin war dafür verantwortlich, die Verkörperung von Haß und Neid, eine erfundene Figur namens Gertrun Rutt, die als Sinnbild für alle steht, die auf mich eifersüchtig sind. Gertrun ist eine Figur aus dem Roman "Wirklichkeit", ein hübsches Mädchen mit kupferfarbenen Haaren, das getrieben wird von der Sucht, zu zerstören. Sie kann es nicht ertragen, wenn etwas heil ist. Sie empfindet Lust dabei, Menschen zu vernichten und Beziehungen zu vernichten. Sie meint, etwas Begehrtes besitzen zu können, indem sie es zerstört.
Am Ende des Traumes saß ich mit Gertrun und Constri in einer Reihe in einem Hörsaal, ähnlich wie der, den wir damals in der Schule hatten. Ich entschloß mich, zu fliehen, obwohl die Wahrscheinlichkeit sehr gering war, daß ich es schaffen würde. Ich wußte, daß ich nichts zu verlieren hatte und wollte es wenigstens versuchen. Ich kletterte über Gertrun hinweg und sagte zu Constri:
"Ich will fliehen."
Constri und Gertrun blieben teilnahmslos in der Stuhlreihe sitzen. Keine von ihnen sagte etwas.
"Constri, ich will fliehen", sagte ich noch einmal, in der Hoffnung, daß sie aufstehen und mitkommen würde.
Sie rührte sich aber nicht. Da machte ich mich allein auf den Weg und wachte auf.

Schon lange habe ich nicht mehr geträumt, zum Tode verurteilt zu sein. Ich habe das vor allem in einer Zeit geträumt, in der ich mich von vertrauten Menschen im Stich gelassen fühlte. Diesen Traum bringe ich insofern mit den Ereignissen um Rafa in Verbindung, als darin eifersüchtige Mädchen eine Rolle spielen. Außerdem geht es in meiner Beziehung zu Rafa wirklich um Leben oder Tod. Für mich hat es durchaus mit Tod zu tun, wenn man nicht die Möglichkeit hat, in seinen eigenen Kindern weiterzuleben, weil es diese Kinder eben nicht gibt. Mein Tod ist dann das Ende für immer, und über dieses Ende wird in absehbarer Zeit entschieden. Ich habe die Aufgabe, auf mich allein gestellt um mein Überleben zu kämpfen. Ich muß alles selbst in die Hand nehmen. Von außen erfahre ich lebhafte Anteilnahme, aber kaum wirkliche, zielgerichtete Unterstützung. Es heißt vor allem, daß Rafa nicht der Richtige für mich sei, das habe die Zeit längst gezeigt, und das einzig Sinnvolle sei es, mich anderweitig umzusehen. Für mich ist hingegen das einzig Sinnvolle, einen Weg zu finden, der mich doch noch zu Rafa führt. Und ich glaube, das ist etwas, wobei mir auch niemand helfen kann. Ich bin allein mit dem Tod, der mich tagein, tagaus begleitet. Ich gebe nicht auf, weil es nicht meine Art ist, aufzugeben. Ich will mein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Daß ich Henk nach fast sieben Jahren wiedergefunden habe, ist für mich ein Zeichen, daß man auch das nicht verlorengeben muß, was lange unerreichbar bleibt.
Derek und Ray verstehen sich gut in ihrer neugegründeten Männer-WG und wollen sogar arbeiten gehen. Carl hat sich mit Miro zusammengetan und ist gemeinsam mit ihm in einer Zeitarbeitsfirma untergekommen. Das hat Derek und Ray Mut gemacht.
Derek ist sehr häufig bei Constri, eigentlich lebt er schon wieder zur Hälfte bei ihr. Wenn er sie besuchen will, sagt er manchmal:
"Der Hund hat Sehnsucht nach dir."
Kürzlich hat er dem Hund seinen Schlüpfer angezogen und gemeint:
"Nein, ich nehme dich nicht mit 'raus, so, wie du aussiehst!"
Eines Abends rief er bei Constri an und erzählte stolz:
"Ich hab's geschafft, ich kann jetzt auf meinem Brenner auch Computer-CD's brennen, hahahaa!"
Er zeigt ein kindliches Vertrauen, kindliche Anhänglichkeit.

Constri hat kürzlich geträumt, daß Derek im Flur auf dem Boden saß, Constri stand in der Tür, ich stand hinter Constri und auch ein Stück hinter Derek. Da kam eine aufdringliche Vertreterin, die Constri etwas verkaufen wollte, das sie gar nicht brauchen konnte.

"Das sind deine Zweifel", deutete ich die Vertreterin, als Constri mir den Traum erzählte. "Zweifel sind genauso aufdringlich, und man kann sie genauso wenig gebrauchen."
Daß ich hinter Constri stand und auch ein Stück weit hinter Derek, hat Constri sogleich sinnbildlich gewertet.
Obwohl meine Stelle befristet und meine Zukunft ungewiß ist, habe ich angefangen, mein Arztzimmer zu verschönern. Einmal begonnen, kann mir nichts mehr schön genug sein, und ich versteige mich in einen ungesunden Perfektionismus.
Eines Morgens stand eine Schüssel Grießsuppe auf meinem Schreibtisch, eingerahmt von zwei Joghurts, und auf einen Zettel war geschrieben:
"Erst essen - dann arbeiten!"
Die Pflegekräfte versorgen mich häufig mit Vanille- oder Grießsuppe und kochen für mich Tee oder stellen mir einen Kaffeebecher hin, wenn ich den Papierberg im Stationszimmer wegarbeite. Das tun in der Regel die aufgeweckteren, intelligenteren und lebhafteren Pflegekräfte, die mitdenken und auch "das Sagen" haben. Die langsameren, weniger aufgeweckten Pflegekräfte halten sich eher im Hintergrund. Wenn man sie etwas fragt, wissen sie es meistens nicht, ohne daß das böser Wille ist.
Jedes Haus hat seine Geschichten, vor allem Irrenhäuser; so auch dieses. Und die meisten Geschichten wissen die Pflegekräfte zu erzählen. Es gab da mal einen Langzeitpatienten, der biß, schlug und trat, so daß er die meiste Zeit in einem Stuhl angegurtet wurde. Weil er aber mitsamt dem Stuhl über die Station lief, wurde der Stuhl schließlich einbetoniert. Und als die Station in ein anderes Gebäude umzog, mußte der Stuhl herausgebrochen und an dem neuen Standort einbetoniert werden.
Ein Langzeitpatient mit großen Bewegungsdrang, der ebenfalls biß, schlug und trat, bekam im Stationsinnenhof einen geräumigen Zwinger, in dem er bei jedem Wetter laufen konnte, soviel er wollte. Abends wurde er dann hereingeholt. Manchmal war er auch so friedlich, daß eine der Krankenschwestern mit ihm auf dem Patientenfest tanzen gehen konnte.
Eine Langzeitpatientin lief nachts splitternackt und pampersschwingend über die Station und rief:
"Pfleger, f... mich!"
In der Vollfixierung soll sie mit dem Bett durchs Zimmer gesprungen sein.
Eine Achtundneunzigjährige prügelte sich einmal mit einer Hundertdreijährigen. Gesiegt hat die Hundertdreijährige.
Einmal war eine verwirrte alte Dame von der Station verschwunden. Schließlich rief die Küche an. Die Dame war wohlbehalten aus dem Essenwagen geklettert, als dieser in der Küche geöffnet wurde.
Eine Krankenversicherung soll einmal an den Stationsarzt geschrieben haben, sie übernehme die Krankenhauskosten für eine Patientin nicht weiter, da es sich nicht mehr um einen Behandlungsfall, sondern um einen Pflegefall handele.
"Wir wünschen gute Besserung", stand unter dem Brief.
Die Patientin litt an einem Hirntumor und starb drei Tage danach. Netterweise hat die Versicherung die Kosten für diese drei Tage dann doch noch übernommen.
Auf der geschlossenen Station für verwirrte ältere Herrschaften kann auch ich selbst allerhand erleben.
Eines Morgens fand ich eine Achtzigjährige im Bett in ihrem Bauchgurt sitzen. Sie zerrupfte geschäftig ihre Pampers. Um das Bett herum sah es schon aus, als hätte es geschneit. Sie meinte dazu:
"Aah daa daa ... aah daa daa ..."
In das morgendliche Stationschaos hinein rief ein Pfleger fröhlich:
"Bin ich froh, daß ich kein Arzt bin! Niemals will ich Arzt sein! Ich bleibe Wärter!"
Eine Siebzigjährige zog sich nach und nach die gesamte Garderobe aus und bewegte sich in Zeitlupe über den Stationsflur. Auf die Frage, warum sie denn gar nichts anhabe, meinte sie:
"Da kann man besser laufen."
Dieselbe Siebzigjährige fragte mit lauter, überkippender Stimme, als ein Pfleger mit einem Kugelschreiber in ihr Zimmer kam:
"Was ist das denn? Ist das ein Orgasmusbeschleuniger?"
Ein an Alzheimer-Demenz Erkrankter ging den Flur entlang und sagte:
"Also, wir sind hier ja im Kino. Und ich muß jetzt wissen, wie man die Polizei anrufen kann."
"Kein schlechter Vergleich", meinte ein Pfleger. "Hier kommt man sich wirklich manchmal vor wie im Film."
Nachts gelang es einer Dame, eine Zellstoffunterlage so zu zerteilen, daß sich daraus ein Hemd ergab. Die Zellstoffseite kam nach vorn, die Plastikseite nach hinten. Die Nachtschwester meinte später:
"Ich war zu müde zum Lachen."
Als der Personaltisch schön gedeckt war, näherte sich eine verwirrte ältere Dame und brachte sich einen Stuhl mit. Eine Schwester nahm ihr den Stuhl weg und stellte ihn an die Seite. Die Dame setzte sich auf den Stuhl der Schwester. Als man ihr sagte, das sei nur fürs Personal, beschwerte sie sich:
"Das ist gemein!"
Sie kam mit einem Teller und meinte, jetzt müsse sie noch eine Tasse suchen. Zwei weitere Patienten kamen auch an den Tisch, so daß die Pfleger einer nach dem anderen aufstanden, um die Patienten einige Meter wegzuführen, bis sie das nächste Mal kamen. Sie hätten sich die Brötchen genommen, wenn man nicht die Hand darübergehalten hätte.
Eine andere Patientin nahm auch gerne das Essen vom Personaltisch, und wenn man ihr sagte, daß sie das nicht haben dürfe, sagte sie wütend:
"Wer entscheidet hier eigentlich, wer überleben darf?"
Mit der Hand dieser Patientin befriedigte sich ein an chronischer Schizophrenie Erkrankter, der dabei allerdings entdeckt wurde. Die Patientin schien den Vorfall nicht registriert zu haben. Sie war ohnehin recht anhänglich, das heißt, sie hängte sich mit beiden Händen an vorübergehende Leute an und folgte ihnen auf Schritt und Tritt, mit durchaus heiterer, freundlicher Miene.
Ein alter Herr hatte eine Zeitlang die Krätze, und als ihm Blut abgenommen werden sollte, sagte ein Pfleger:
"Auf die Krätze, fertig, los!"
Die besorgte Tochter einer Patientin erzählte mir, bei ihrer Mutter habe sie in der letzten Zeit Papiertaschentücher im Toaster gefunden und Bindfäden in der Geldkassette. Auf die Frage, was die Bindfäden dort sollten, meinte die Mutter:
"Die will ich doch noch bügeln."
Sie nahm auch Fotos von der Wand und versuchte, diese zu füttern. Dann legte sie die Portraits aufs Sofa und deckte sie so zu, daß noch die Köpfe herausschauten. Als dann die Fotos wieder weggelegt wurden, wollte die Patientin die Sofadecke auswechseln, "weil da doch diese Leute gelegen haben."
Ein Senior brachte seine Frau in die Psychiatrie, die an Verwirrtheitszuständen litt. Daheim fand er in ihrem Schrank zwanzig Schachteln des suchterzeugenden Schlafmittels Lexotanil, von dem sie augenscheinlich abhängig war. Im Vereinsheim sollen die älteren Damen sich im Vorraum der Toiletten treffen und mit Tranquilizern handeln, die sie durch verschreibungswillige Ärzte erhalten haben. Das dürfte ein recht einträgliches Geschäft sein. "Sucht im Alter" klingt schon wie das Thema einer Studie oder Doktorarbeit.
Betreffend suchterzeugender Maßnahmen bei Soldaten konnte der Senior berichten, daß er in der Ostsee im U-Boot-Krieg war und daß damals jeder Soldat eine Tagesration von einem halben Liter Wodka erhielt. Übrigens erklärte mir der Veteran auch, wie man aus einem U-Boot aussteigt: nach vorne nicht, sonst wird man überfahren; zur Seite nicht, sonst wird man erschlagen. Richtig ist es, nach hinten auszusteigen, und zwar mit einem Hechtsprung, damit man nicht in die Schiffsschraube gerät. So habe er das nämlich geschafft.
Als ich auf der Station in Snd. anrief, wo ich Anfang des Jahres gearbeitet habe, erzählte mir die Schwester am Apparat von dem jungen Kollegen Alexander-Wolfgang, der meinen Platz als Stationsarzt eingenommen hatte. Von ihm wußte ich bislang nicht viel mehr, als daß er im Schnellimbiß zwei Mahlzeiten auf einmal bestellte und diese auch aufaß, ungeachtet ihrer Größe. Alexander-Wolfgang scheint die Arbeit in der Psychiatrie aus einem romantisch-philosophischen Blickwinkel zu betrachten, was dem alltäglichen Ablauf doch etwas hinderlich zu sein scheint.
"Vor allem, wenn man bedenkt, was wir dafür hergeben mußten", seufzte die Schwester.
Clarice kennt Alexander-Wolfgang, auch "Alwo" genannt, von ihrer Vampir-Rollenspielgruppe. Alwo soll dort durch seine etwas kruden Ansichten gelegentlich den Ablauf etwas behindert haben. Er soll sich zugleich für unfehlbar und unwiderstehlich halten, was etwas seltsam anmutet, wenn man bedenkt, daß sich sein hervorragender Appetit durchaus auf seine Silhouette ausgewirkt hat.
Ende August waren wir in HH. bei "Stahlwerk". Auch wenn Dedis und Mal, Sofie und Rega hin und wieder getrennt sind, entsteht der Eindruck, daß es nach wie vor viel Verbindendes zwischen den Pärchen gibt. Ich weiß nie genau, ob und inwiefern sie getrennt sind, gehe aber davon aus, daß sie nach wie vor füreinander wichtig sind. Rega scheint mit dem Mädchen, dem er sich nach Sofie zugewandt hat, keinen guten Griff getan zu haben; sie soll auf Sadomaso stehen, und daher konnte man sich nicht einigen. Das Mädchen kam in einem Miedergürtel aus Latex, unter dem es nichts trug, wie es mir erzählte, denn das hätte sich abgezeichnet. Das Mädchen hatte einen Reserverock dabei, für den Fall, daß das Latex einriß.
Bei "Stahlwerk" liefen so viele Stücke für uns, daß wir uns nichts zu wünschen brauchten. Rega und seine Co-DJ's spielten auch drei Stücke von einem Sampler namens "e", den Rufus herausgebracht hat: das ungezogene "Anus Power" von Derek, "Puls Processor" von Triebwerk und "Feierabend in Kiew" von KiEw. Auf dem Cover des Samplers befindet sich ein grüngetöntes Foto von dem Kabelgewirr über Bahngeleisen, und man sieht ein Leuchtschild, das auf den Gleisabschnitt "E" hinweist.

In einem Traum war ich bei Kappa und Edaín zu Besuch. Solange Kappa im Zimmer war, blieb das Gespräch an der Oberfläche, alles war gut und schön, alles stimmte. Als Kappa sich vorübergehend entfernte, kam Edaín immer mehr ins Erzählen, und ich hatte den Eindruck, daß sie schon lange nicht mehr so viel über sich selbst gesprochen hatte. Sie klagte sehr über ihr Image als "Blondine".
"Für mich bist du ein Mensch", sagte ich zu ihr. "Du bist zwar auch noch blond, aber das ist für mich nicht deine Haupteigenschaft. Für mich sind alle immer zuerst Menschen, erst danach noch etwas anderes."
Wir sprachen darüber, daß man ein Image, wenn es einmal besteht, kaum wieder loswird, daß man es aber mit viel Selbstbewußtsein und Willensstärke doch schaffen kann.
Als ich aus dem Fenster blickte, kam etwas wie ein Gewitter, und eine Kanalbrücke brach zusammen und fiel mit lautem Krachen ins Wasser. Edaín bekam das nicht mit, und ich wollte sie auch nicht beim Erzählen stören. Kurz darauf brach eine zweite Kanalbrücke zusammen und fiel ins Wasser, auch die Autos fielen ins Wasser, ein LKW fiel senkrecht hinein. Ich mußte an den Fahrer denken und erzählte Edaín, was ich gesehen hatte. Sie schaute nun ebenfalls hinaus.
"Wie war eigentlich eure Hochzeitsreise?" erkundigte ich mich.
"Ach, die war furchtbar", meinte Edaín beiläufig. "Kappa ... die achtziger Jahre, immer die achtziger Jahre, immer nur die achtziger Jahre ... und alles mußte man gut finden."

Anfang September haben wir im "Zone" in Claras Geburtstag hineingefeiert, mit Torte, Kerzenauspusten und Erinnerungsfotos. Les war krank und ließ sich durch den begabten Kairo vertreten, der sofort nach unserem Erscheinen mit Industrial, Elektro und Future Pop begann. Freilich spielte er auch "Laß' uns ein Computer sein" von Rafa.

In einem Traum plante ich Nachwuchs mit einem Herrn, der recht gut aussah und dabei auch höflich und anständig wirkte. Gefühle hatte ich für ihn aber nicht. Ich dachte an Rafa und führte mir vor Augen, daß das geplante Kind kein Kind der Liebe sein konnte, sondern nur ein Produkt der Berechnung. Ein Kind der Liebe wäre nur ein Kind von Rafa und mir. Die Planung verlief denn auch im Sande, indem der Traum einfach aufhörte, ehe der Fremde und ich dazu kamen, unser Vorhaben auszuführen.

Dieser Traum sagt mir in aller Deutlichkeit, daß es ein Fehler wäre, mit einem anderen Mann als Rafa ein Kind zu haben, nur um ein Kind zu haben. Ein Mann kann so anständig, gutaussehend und fürsorglich sein, wie er will, das bedeutet mir nichts, wenn ich ihn nicht liebe. Wenn ich es also nicht schaffe, mit Rafa Kinder zu haben, ist für mich die beste Lösung, gar keine Kinder zu haben.
Lana und Jules haben inzwischen eine größere und schönere Wohnung gefunden, romantischer Bauhaus. Die Wohnung befindet sich unweit von der meinigen.
Derek spielt nach wie vor ein Doppelspiel und erzählt Märchen. Wenn er wieder einmal gelogen hat, spricht Constri ihn meistens kurz und beiläufig darauf an, und Derek wirkt dann recht betreten. Ich möchte Constri vermitteln, daß sie von Derek nur dann grenzenlose Vertrauenswürdigkeit erwarten kann, wenn sie damit aufhört, jedesmal an Trennung zu denken, wenn Derek Unsinn macht und sich danebenbenimmt. Solange sie sich nicht eindeutig für ihn entscheidet, kann sie kaum erwarten, daß er ihr Vertrauen schenkt.
Ich möchte in Constri das Bewußtsein dafür wecken, wie sehr sie vom Schicksal begünstigt ist, weil sie den Mann, den sie liebt, in die Arme nehmen kann und ihn häufig sieht und mit ihm reden kann. Ich kann Rafa seit Jahren nicht mehr umarmen und sehe ihn kaum. Reden kann ich mit ihm schon gar nicht. Ich bin immer getrennt von ihm. Und Kinder werde ich mit ihm wahrscheinlich auch nie haben.

In einem Traum ging es um meine Hochzeit. Ich stellte die Frage, ob man für eine Hochzeit ein Bukett braucht, wenn gar keine Gäste da sind. Denn dann ist auch niemand da, der das Bukett fangen könnte. Anscheinend hatte Rafa doch noch vor, mich zu heiraten, und das mußte schnell und ohne Aufhebens über die Bühne gehen, damit Rafa nicht in letzter Minute den Mut verlor.

Mitte September erzählte mir Les im "Zone", eine Woche zuvor sei Berenice im "Zone" gewesen, ohne Rafa.

In einem Traum war ich gemeinsam mit einem Bekannten wegen irgendwelcher Bagatellen zum Tode verurteilt, und wir sollten beide erschossen werden. Auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte wachte ich auf.

Am Samstag erzählte mir Deva im "Lost Sounds" von ihrem Nebenjob, Telefonsex.
"Das ist doch schon etwas zwielichtig, so ein Job", meinte ich.
"Nicht unbedingt", entgegnete Deva. "Die Männer, die dort anrufen, wollen in den allermeisten Fällen nur, daß ich ihnen zuhöre, wenn sie ihre alltäglichen Sorgen erzählen."
Sie wurde damit zu einer Art Telefonseelsorge. Es soll allerdings auch richtige Perverse unter den Kunden geben.
"Das Übelste, was ich jemals erlebt habe, war ein Fernfahrer", berichtete Deva. "Ich dachte erst, wieder so einer, der sich langweilt am Steuer. Und er fragt:
'Weißt du, was ich gerade mache?'
Ich sagte:
'Na, wichsen.'
Er:
'Nein.'
Und weißt du, was der gemacht hat? Der hat volle 'Dixie'-Klos weggefahren. Und hat die vollgeschissenen Klos ausgelutscht und die Tampons und ..."
"Ih, das erinnert mich an das Klo in L., wo die Sch... so hoch sich stapelte, daß der Deckel nicht mehr schloß."
"Genau, da war der voll begeistert von, als ich ihm die Geschichte erzählt habe."
Chantal war mit ihrer WG-Genossin Nicolette im "Lost Sounds", auch Bertine war dabei. Chantal erzählte, daß Nicolette und sie bald nach B. ziehen werden. Dort habe sie schon immer hingewollt.
Auf dem großen Festival in HI. hat Chantal Seraf wiedergetroffen. Bertine hat dafür gesorgt, daß zwischen den beiden ein Gespräch zustandekam. Seraf versicherte Chantal, daß er immer an sie gedacht habe während seiner anderen Beziehungen und daß die Beziehung mit ihr doch von allen die schönste gewesen sei. Er soll Chantal "mit den Augen aufgegessen" haben und angekündigt haben, er werde sie in B. schon finden. Er wisse, in welche Läden man an welchen Tagen in B. gehen könne. Chantal erzählte mir, sie sei sich darüber im Klaren, daß sie für Seraf immer noch ebensoviel empfinde wie damals und daß es sie störe, denn er erwidere es doch nicht.
"Der ist immer in dich verliebt", war ich sicher.
Chantal trug etwas Aufregendes aus weißem Lack, verziert mit üppigen weißen Federboas. Sie meinte, sie wäre gern so, wie sie sich zurechtmache. Sie finde sich selbst zu unsicher.
Saverio kickte mir zur Begrüßung sachte von hinten an die Beine und wollte dann, daß ich sein Sektglas hielt, damit er nachschauen konnte, ob er etwas verschüttet hatte. Ich fand ihn hinreißend zurechtgemacht. Er trug einen langen schmalen Rock aus irgendeiner Militärplane, an der Seite aufregend geschnürt, und dazu ein kurzes Jäckchen im Tarnmuster und eine unschuldige Bubi-Frisur mit einem artigen Pony, unter dem die gar nicht so artigen Tieraugen hervorsahen. Ich packte ihn am Rock und zeigte ihn Chantal:
"Guck' mal, sieht er nicht geil aus mit diesem Rock?"
"Ich sagte schon immer, daß Röcke bei Männern einfach geil aussehen", meinte Chantal.
Saverio begann sogleich, über musikalische Projekte und die Schlechtigkeit der Welt zu referieren. Er möchte demnächst als Handyberater in einem Call-Center arbeiten. Mit Edna lebt er nach wie vor zusammen, auch nach seinem Umzug.
Während wir uns unterhielten, lief "Wir wollen keine Menschen sein" von Rafa. Saverio meinte, er kenne Rafa schon seit etwa zehn Jahren. Rafa sei ziemlich dumm und oberflächlich.
"Das könnte man denken", entgegnete ich, "aber ich habe ihn eben auch schon anders kennengelernt."
"Rafa umgibt sich immer mit Leuten, die so beschränkt sind, daß er sie völlig in der Hand hat", meinte Saverio. "Sein Umfeld ist vollkommen berechenbar. Sein System wird daher nie zusammenbrechen."
"Da hast du recht, sein äußeres System bricht nicht zusammen, eben deshalb. Es ist nur die Frage, ob vielleicht sein inneres System irgendwann zusammenbricht, weil ihm eben immer etwas fehlt und er das vielleicht irgendwann merkt."
Nach dem Tanz im "Lost Sounds" ging Constri mit Ray in die Wohnung, die Ray jetzt mit Derek bewohnt. Dort wartete Derek im Bett auf Constri. Er hatte sich nicht getraut, mit ins "Lost Sounds" zu kommen, weil dort auch Talis und Janice hingingen. Allerdings dachte sich Derek hierfür auch wieder eine Ausrede aus:
"Die Musik ist mir zu hart."
Das muß gerade Derek sagen.

Kürzlich habe ich geträumt, ich würde Rafa begegnen, und vor ihm stand eine Freundin, dieses Mal die Sängerin Tessa. Rafa machte Anstalten, mit mir zu reden, ich bremste ihn aber mit Gesten, weil er eine Freundin dabeihatte.



Ende September feierte Gerson in Beryls Wohnung seinen Geburtstag. In der Küche bildete sich ein Damenkränzchen, während die Herren auf dem Balkon, wo die Bierkisten standen, ihre geheimen Gespräche führten.
Derek kam auch, obwohl er angekündigt hatte, nicht hinzuwollen. Er wurde von Ray begleitet, den er liebevoll "Raymunzel" nennt. "Raymunzel, Raymunzel, lasse dein Haar herunter" ist allerdings obsolet, da Rays Haare nur millimeterlang sind.
Zoë kam mit einem Begleiter, von dem sie berichtete, ihn seit Jahren zu kennen und nichts mit ihm zu haben, "rein freundschaftlich, nur früher war da mal was". Was zur Zeit mit ihren anderen Begleitern ist, einem Bademeister und einem LKW-Fahrer, wissen wir nicht so ganz, und dann war da auch noch jemand aus UL.
Elaine spielte "Raubkatze" und kratzte Zoë am Rücken, was diese jedoch gelassen hinnahm, zumal Elaine ja nichts dafür konnte, weil sie eine Raubkatze war und ihrem natürlichen Instinkt folgte. Tharya hingegen, die angehende Sonderschullehrerin, bescheinigte der kleinen Elaine sogleich, daß sie später sicher ein Fall für die Sonderschule sein werde, da sie offenbar verhaltensgestört sei. Leider war ich zu diesem Zeitpunkt in der "Neuen Sachlichkeit" und konnte nicht die verunsicherte Merle in Schutz nehmen. Constri erklärte Tharya jedoch, daß ihr Urteil auf sie etwas voreilig wirkte.
In der "Neuen Sachlichkeit" war ich erst gegen zehn nach eins. Mir begegneten Berit, Emily, Robin und Hagan. Rafa stand bei Kappa hinterm Pult, und ich fand, er sah fürchterlich aus. Rafa trug einen einfallslosen Stufenschnitt, hatte sich seit fast einer Woche nicht rasiert und krönte diesen Aufzug mit einer ausgesucht häßlichen Hornbrille, von der man sich fragen muß, ob da vielleicht nur Fensterglas drin war und ob nicht der einzige Zweck dieses monströsen Kassengestells darin bestand, Rafa möglichst unansehnlich zu machen. Das Hahnentritt-Sakko fand ich hingegen noch halbwegs ansprechend. Das Gesamtbild vermittelte mir den Eindruck, daß Rafa am liebsten dreißig Jahre älter wäre.
Ich selbst war ungefähr gegensätzlich zurechtgemacht. Ich hatte das fließende silbergraue durchsichtige Kleid mit dem weit schwingenden Röckchen an, das mir Svenson kürzlich genäht hat. Dazu trug ich eine Kette und ein Armband in Perlmuttfarben, passend zu den echten Perlmuttknöpfen am Kleid. Unter dem Kleid trug ich graues Dessous, grau vom Hemd bis zu den Strapsen. Die Haare waren mit verschlungenen grauen Ziergummis zu Zöpfchen gebunden, und die Schnürsenkel waren aus grauem Satin.
Den Preis für das sensationellste Outfit verdiente allerdings ein langhaariger Jüngling, der mir am Eingang entgegenkam. Er trug ein T-Shirt in einem ganz bestimmten, wohlbekannten Blau, und dementsprechend trug das T-Shirt vorn den passenden, wohlbekannten weißen Schriftzug mit den Herzchen: "Dixi".
Wer jemals zu Pfingsten in L. gezeltet hat oder sich davon hat erzählen lassen, durfte die Assoziationen genießen, die sich beim Lesen dieses Schriftzugs einstellten; es empfahl sich, vorher schon gegessen zu haben. Wildor, der "Magier", den ich vor einiger Zeit im "Inferno" getroffen habe, wußte die Geschichte von einem, der sich in L. unbeliebt gemacht hatte und den man deshalb folgendermaßen bestrafte:
Als er sich gerade in einem der sagenumwobenen "Dixi"-Klos aufhielt ("wo du das Pißbecken vorm Gesicht hast, wenn du dich hinsetzst"), kamen welche von hinten und warfen das ganze Klohäuschen um, mit dem gesamten Inhalt, und zwar so, daß die Tür unten lag. Es soll eine Weile gedauert haben, ehe er sich befreien konnte, und wie er dann ausgesehen hat, bleibt der Phantasie überlassen.
Als ich gerade damit beschäftigt war, die Leute in der "Neuen Sachlichkeit" zu begrüßen und mir den neuesten Klatsch anzuhören, kam Rafa vor die Bühne und unterhielt sich mit ein paar Jungs. Kappa spielte "Joy" von VNV Nation, "Totmacher" von :wumpscut: und "Zum Lobe des Herrn" von Drakul, die sehr tanzbar für mich sind.
"Rafa!" rief Kappa dann durchs Mikrophon.
Rafa ging hinauf und blieb dort auch. Gelegentlich kam Berenice hoch zu ihm. Ob geknutscht wurde, ist unklar; ich wollte nicht zu auffällig hinsehen, da ich damit rechnen mußte, daß Berenice mich beobachtete. Jedenfalls blieb Berenice stets für einige Minuten oben und unterhielt sich mit Rafa, wobei sie recht heiter wirkte.
Was Rafa auflegte, gefiel mir besser, als ich erwartet hatte. Es liefen auch besondere oder lange vermißte Stücke, darunter "Love is a kind of mystery" von den Invisible Limits, "Are friends electric" von Gary Numan, "Being boiled" von Human League und ein ungewöhnlicher Remix von "Totes Fleisch" von Terminal Choice. Mit ein paar in schwarzes Leder verpackten Jungs konnte ich zu dem EBM-lastigen "Destillat" von Das Ich und VNV Nation tanzen; die Jungs waren etwas gröber gestrickt und hatten schwere Schuhe an, aber sie machten mir Platz.
Sarolyn kam später auch noch in die "Neue Sachlichkeit" und erkannte in Aces gegenwärtiger Freundin Lysanne das Mädchen wieder, das kürzlich mit einem gefälschten Rezept in die Apotheke kam, wo Sarolyn arbeitet. Es handelte sich um ein Rezept aus einer Praxis, die es nicht mehr gibt, und verschrieben waren zwei Packungen des suchterzeugenden Schlafmittels Rohypnol, das in Dealerkreisen etwa fünf Mark pro Tablette einbringt. Als Sarolyn das feststellte, bat sie Lysanne, ein wenig zu warten, und die Polizei wurde geholt. Die nahm Lysanne erst einmal mit.
Edaín war nicht in der "Neuen Sachlichkeit", und Kappa betrank sich mit Ace und Cyrus; die drei Herren marschierten torkelnd zu "Heartland" von den Sisters of Mercy untergehakt durch den Saal.
Als die "Neue Sachlichkeit" leerer wurde, löste Kappa Rafa ab, und Rafa unterhielt sich wieder vor der Bühne mit einigen Jungs. Man konnte davon ausgehen, daß Berenice ihn sorgsam bewachte. Ich stand bei Berit an einem Tischchen. Rafa guckte, und ich guckte, über etwa sechs Meter Entfernung hinweg. Rafa zeigte ein Lächeln und formte mit seinen Lippen ein deutliches "Hallo", ohne sich jedoch näher an mich heranzuwagen. Er ging zwischendurch weiter hinten an den Tresen, wo sich Berenice zu ihm gesellte. Dann ging er wieder hoch ans Pult und fuhr fort mit dem Gucken.
"He, der guckt dauernd zu uns 'rüber", bemerkte Berit.
"Ist auch mein Eindruck", bestätigte ich.
Berit gab vorerst ihre Versuche auf, mir Rafa auszureden.
"Es hätte auch keinen Sinn", meinte ich. "Wie du unschwer erkennen kannst, ist er der einzige Mann, der Emotionen in mir auslöst."
In der "Neuen Sachlichkeit" lagen Flyer für eine Veranstaltung in MI., wo Ace auflegen wollte. Außerdem wurde Rafa als Liveact angekündigt, und zwar mit der Beschreibung "Headliner des diesjährigen Open Air Festivals in HI. mit 15.000 Besuchern!!!".
Headliner war Rafa lediglich für das Nebenprogramm im Innenraum, wo weniger bekannte Bands vorgestellt wurden. Außerdem sollen nicht 15.000, sondern 14.000 Besucher dagewesen sein. Wie dem auch sei, man kann dem Flyer entnehmen, wie Rafa es mit der Wahrheit hält.
Dieses Mal verließ ich die "Neue Sachlichkeit" erst nach dem letzten Lied. Constri hatte mir durch Sarolyn ausrichten lassen, daß ich vor vier Uhr kommen sollte, wenn ich noch einmal zurückwollte zur Party. Ich schaffte es fünf nach vier, und in Beryls Küche war tatsächlich noch eine kleine Kaffeerunde versammelt.
VNV Nation traten in den kommenden Tagen im "Zone" auf. Die Karte hatte ich von Les geschenkt bekommen, als Ergebnis einer Gewinnaktion. VNV Nation konnten das Publikum ebenso in Stimmung bringen, wie ich es gehört hatte von Leuten, die sie schon live gesehen haben. Sie spielten alle ihre Hits und auch einige Zugaben. Als letztes Stück kam das ruhige, stimmungsvolle "Forsaken".
"Sie machen so schöne Musik", dachte ich, "und Rafa macht immer diese grellen, oberflächlichen, abgeguckten, verklemmten Sachen."
Svenson hat mir erzählt, daß Saara es immer eilig hat und nie zu Hause sein will, es sein denn, sie schläft. Sie ist fast nur auf der Arbeit. Sie läßt zu Hause alles liegen, will sich um nichts kümmern.
"An deiner Stelle würde ich nach den Hintergründen suchen", meinte ich. "Ihr Verhalten hat sehr wahrscheinlich etwas mit ihrer Familie zu tun. Sie überträgt irgendeine Beziehungsform aus ihrer Familie auf eure Beziehung. So hast du zum Beispiel die Rolle ihrer Mutter - du bist zu Hause - arbeitest zu Hause -, sorgst für alles, den Haushalt, die Einkäufe. Ich würde an deiner Stelle mal mit ihr gemeinsam nach parallelen Beziehungsmustern aus ihrer Familie suchen."
"Wenn ich sie auf solche Themen anspreche, blockt sie sofort ab", meinte Svenson. "Reden kann ich mit ihr gar nicht, sie erzählt mir nur das, was sie ihren Freundinnen auch erzählt, lauter unwichtiges Zeug."
"Sie umgibt sich absichtlich mit Belanglosigkeiten", deutete ich. "Sie flüchtet sich darein."
"Nichts Kreatives will sie machen, nicht ins Theater oder in die Oper gehen, nichts lesen."
"Ihr ganzes Verhalten wirkt wie eine Flucht", deutete ich. "Sie will sich nie umschauen, nie nachdenken, nie sich auf sich selbst besinnen - beim Lesen kommt man nämlich ins Nachdenken, beim kreativen Arbeiten setzt man sich mit sich selbst auseinander, und eben das will Saara vermeiden. Anscheinend handelt es sich um eine Flucht vor der Auseinandersetzung mit sich selbst."
"Sie kann mit sich selbst nichts anfangen, kann nicht mit sich allein sein", erzählte Svenson.
"Sie wäre dann auf sich zurückgeworfen", meinte ich, "nur durch Dauerkonsum von Belanglosigkeiten kann sie sich von sich selbst ablenken, und eben das scheint sie anzustreben."
Bislang habe ich nie versucht, an Saaras Verhalten etwas zu verändern, außer daß ich Bedenken äußerte, weil sie sich so sehr unter Arbeitsstreß zu setzen scheint, daß sie häufig krank wird. Als Teenager setzte sie sich im Leistungssport unter ähnlichen Druck und war auch viel krank, so daß sie den Leistungssport schließlich aufgab. Ich habe den Eindruck, je weniger man an Saara zu verändern versucht, desto zugänglicher ist sie und desto mehr Vertrauen hat sie. Svenson wirkt auf mich ziemlich ungeduldig und pessimistisch, und ich denke, im Hinblick auf Beziehungen sind vor allem Geduld und Optimismus angebracht.
Anfang Oktober fuhren Constri und ich nach Ht. zu Ted, der uns viel von Marvin erzählte, seiner großen Liebe. Im Laufe der letzten zehn Jahre sei er zunehmend davon überzeugt, daß es die große Liebe wirklich gibt. Marvin sei immer merkwürdig, wenn er ihm begegne, nehme sich aber trotzdem mit ihm zusammen ein Hotelzimmer mit Ehebett. Ted hat Marvin mitgeteilt, was er für ihn empfindet, nachdem Marvin ihn darauf hingewiesen hatte, daß eine gemeinsame Bekannte so etwas angedeutet habe. Marvin hatte es wahrscheinlich schon lange vorher geahnt, äußerte sich aber kaum dazu und schien es erst verarbeiten zu müssen.
Im "Fall" sollte eigentlich Industrial laufen, aber weil am früheren Abend mit Hagalaz Runedance eine Neofolk-Band aufgetreten war, stellten die DJ's ihr Programm um. Wenigstens kamen die Hymne der Diskothek "Fall", "Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da" von Seen links - Schlösser rechts, außerdem das mystische, viel zu selten gespielte "King Volcano" von Bauhaus und das ebenfalls viel zu selten gespielte "Ring of fire" von Wall of Voodoo.
Ivo Fechtner war mit Alienne im "Fall". Alienne trug eine Art schwarzen Kampfanzug; das kann eine SS-Uniform gewesen sein.
Constri und ich übernachteten in Teds grauglitzernder Designer-Wohnung im Doppelbett, er selbst schlief bei der Nachbarin im Gästezimmer. Am Nachmittag brachten wir unsere Filmausrüstung in Teds Fabrikhalle, das Stahlschneidewerk. Dort gibt es Oberlicht, große Maschinen, viel aufgerollten oder gestapelten Stahl und Haken, die unter der Decke hin- und hergefahren werden können, um Stahlpakete zu transportieren. Die Halle besteht aus drei Abteilungen und hat sowohl großräumige als auch langgezogene und verwinkelte Abschnitte. Es laufen Schienen hindurch, allerdings wird der Gabelstapler eingesetzt. Es ist eine ältere Halle, so, wie man sich eine Fabrikhalle vorstellt. Es gibt ein etwa vier Meter hohes Regal voller dunkler, staubgeschwärzter oder angerosteter Gerätschaften. Es gibt auch ein kleines, aus Stahlplatten gebautes Zimmerchen mit kleinen Regälchen, in denen Schrauben liegen und anderes Werkzeug. An einer Ecke in der Halle hängt eine Uhr, die vielleicht vor mehreren Jahrzehnten mal als Küchenuhr gedient hat; man kann sich schwer vorstellen, daß diese Uhr noch geht, aber sie geht richtig. Der Hallenboden besteht aus griffigem Beton, ist also zum Tanzen durchaus geeignet. Ich legte das erste Album von Sona Eact ein, das Rhythmus-Experiment "Hard Industrial Loop Check". Ich hatte mich so zurechtgemacht wie am vergangenen Samstag in der "Neuen Sachlichkeit", mit demselben durchsichtigen Kleid. Diese Sachen sind für eben diese Performance konzipiert. Ted half bei den Vorbereitungen tatkräftig mit und hatte dann den Einfall, daß er und ich Arbeitshandschuhe anziehen könnten; dann könnten wir auch die Geräte in der Halle anfassen, vor allem die Ketten und Haken, die ölverschmiert sind. Constri wollte alles mitfilmen, was uns einfiel. Ich wollte auf jeden Fall auf die geriffelten Halter steigen, die für die Stahlpakete gedacht sind, und mich bis hoch unter die Decke ziehen lassen. Ted nahm sich die Fernbedienung und ließ mich hoch, dann schwebte ich unter der Decke gangabwärts, über dem Schienenstrang. Ted ließ dann die Halter ein Stahlpaket greifen und stieg mit mir auf dieses Stahlpaket, und wir fuhren unter der Decke durch die Halle. Ted holte auch noch den Gabelstapler herbei, und ich stellte mich auf die Kufen und ließ mich nach oben fahren. Dann hängte Ted noch eine Stahlkiste an den größten Haken in der höchsten Halle. Er wickelte mich in eine breite Bahn Packpapier ein, schleppte mich zu der Kiste, wickelte mich aus und ließ mich auf Knopfdruck tanzen. Ich stieg dann in die Kiste und konnte mich auch an diesem Haken durch die Halle ziehen lassen. Bei diesem ganzen Unsinn waren die Rollen so verteilt, daß Ted die Geräte bediente und ich tanzte, sofern ich nicht gerade an einem Haken hing. Einmal tanzte ich auch auf einem Stapel aus Stahlplatten, aber das war sehr rutschig und nicht ungefährlich.
Constri war begeistert, und wir alle sind uns einig, daß wir noch mehr Drehs in dieser Halle mit dieser Ausstattung machen wollen. Constri konnte feststellen, daß nicht alle Vorhaben, die von mir ausgehen, mit einer Erwartungshaltung verbunden sind. Sie war ursprünglich dagegen, mit mir diese Performance zu drehen, und es kostete einen zähen Aufwand, ihr klarzumachen, welche Möglichkeiten sich aus diesem Drehort ergeben können und aus der Performance selbst. Jedesmal weigert sie sich zunächst, mit mir zu arbeiten, wenn aber der Wind günstig steht, fängt sie Feuer und entwickelt ein Konzept.
Mit der Performance beginnt sich ein langgehegter Traum für mich zu verwirklichen - endlich ein Dreh in einer Fabrikhalle, eine Industrieanlage, in der man seiner Kreativität freien Lauf lassen kann, ein Tanzfilm in einem Kleid, das ich mir früher nur vage vorstellen konnte, und sogar eine Art Pas de deux mit einem schmucken, sehr natürlichen und fröhlichen Herrn, der mit technischen Geräten so umgehen kann wie ich mit meinem Körper.
Wie ich mich kenne, suche ich noch mehr und immer mehr von solchen Gegenden, in denen ich Filme drehen will. Ich suche nach einer gewaltigen, vielfach verstrebten Glaswand, hinter der sich ein endloser Abhang auftut, kahles, steiniges Land, der Inbegriff für schrankenlose Freiheit.
Und ich will mit Rafa ein Pas de deux tanzen. Ich will die Verbindungen entdecken zwischen seiner Welt und meiner. Wir beide neigen zu kindlicher Albernheit, Verspieltheit und ungewöhnlichen Einfällen. So weit weg ist das, was ich mache, vielleicht gar nicht von dem, was Rafa machen würde, wenn er es sich gestatten würde.
Im "Radiostern" begegneten mir Hennike und ihr Freund Gilles. Hennike erzählte, sie lebe mit Gilles weitgehend in einer Isolation zu zweit. Sie wage sich ungern unter Menschen und gehe auch nur noch selten aus. In der Familie sei alles zerrüttet. Sie fühle sich an den Rand gedrängt. Hermine gelte als Vorzeige-Tochter, und sie selbst sei das Schwarze Schaf.
Hennike hat vor Kurzem Alienne kennengelernt und fand sie "giftig" und recht aggressiv.
Cyra erzählte, daß sie bei VW Werkzeuge repariert. Das paßt zu ihrer Vorliebe für industrielle Klänge.
Bertine erzählte, daß sie sich wieder mit ihrem ehemaligen Verlobten C.A.D. trifft, der sie vor Jahren wegen einer Zwanzigjährigen verlassen hat. C.A.D. und Bertine sehen sich regelmäßig in M., wo er wohnt.
Zuerst wollte Bertine überhaupt nichts mehr mit C.A.D. zu tun haben. Seine Liaison mit der Zwanzigjährigen soll aber nach wenigen Monaten beendet gewesen sein. Mit der Zeit wurde ihm wohl bewußt, was ihm die Beziehung mit Bertine wirklich bedeutet hat. Er sprang schließlich über seinen Schatten und fragte sie, ob sie wenigstens bereit wäre, sich ohne ein bestimmtes Ziel mit ihm zu treffen. Inzwischen haben sich die beiden darauf geeinigt, ungezwungen an die Sache heranzugehen.
Constri und Derek haben am 16. Oktober ihr "Sechsjähriges" gefeiert. Zunächst hatte Derek diesen Tag verplant mit allerlei Terminen. Constri war enttäuscht und fand schließlich den Mut, ihm zu sagen, daß ihr das nicht recht war, weil sie den Tag eigentlich nur mit ihm verbringen wollte. Derek zeigte sich erstaunt und fragte immer wieder ungläubig nach, ob sie sich wirklich nur für ihn den Tag freigehalten habe. Er war sehr gerührt und sagte alle anderen Verabredungen ab. Constri und Derek gingen stilvoll essen und verbrachten den Tag sehr romantisch.
Was zwischen Derek und Virginia noch läuft, ist unklar; jedenfalls geht er Talis und Janice stets aus dem Weg, wenn Constri in der Nähe ist.
Am Mittwoch trug Les im "Zone" einen langen schmalen schwarzen Wickelrock. Das fand ich hinreißend bei ihm, und ich machte ihm Komplimente. Les hat abgenommen und wirkt auf mich wesentlich attraktiver als noch vor zwei Jahren.
Ray erzählte, daß er sich einen schwarzen Kilt besorgen will. Kanadische Kilts seien schwarz.



Als ich am Samstag in die "Neue Sachlichkeit" kam, tauchte Rafa nach einiger Zeit am DJ-Pult auf, ohne Brille, aber auch nicht unbedingt geschickter zurechtgemacht als beim letzten Mal. Alles wirkte nachlässig übergestreift, ohne das Bedürfnis, gut auszusehen. Rafa hatte seine Lieblingsweste mit dem roten Rücken über irgendein schwarzes Hemd gezogen und trug dazu eine schwarze Röhrenjeans und die gewohnten spitzen Schuhe mit den drei Schnallen; im Grunde paßte nichts zueinander, und auch der herausgewachsene Stufenschnitt erschien mir wie nichts Halbes und nichts Ganzes.
Ich hatte das Tutu aus tiefrotem Taft mit schwarzen Spitzen an, alles war entweder tiefrot oder aus schwarzer Spitze. Alles paßte zueinander, nichts war dem Zufall überlassen. Die Taille hatte ich mit einer Schärpe straff geschnürt. Toro und eine seiner Bekannten, die zwanzigjährige Janet, waren ebenfalls sorgsam aufgeputzt, und wir bewunderten uns gegenseitig. Janet besucht erst seit einem halben Jahr die Szene-Lokale.
"Ich war früher 'bunt'", erzählte sie, "aber bei den 'Bunten' habe ich mich nicht mehr wohlgefühlt, weil man da nicht so herumlaufen kann, wie man will. Wenn man da in Schwarz geht, kommen gleich Sprüche."
Berenice lief zu Rafa hinauf und umarmte ihn von hinten, als wollte sie vermitteln, daß er nach wie vor ihr gehörte. Sie trug ihre Haare hochgesteckt und hatte eine rote Samtjacke an. Diese ungewöhnliche Eitelkeit konnte unter Umständen etwas mit dem Geburtstag von Kappa zu tun haben, den er in der "Neuen Sachlichkeit" feierte.
In den folgenden Stunden sah ich Rafa nicht mehr mit Berenice zusammen. Berit wies mich darauf hin, daß Rafa in kurzen Abständen zu mir herüberschaute, während ich mich mit ihr unterhielt.
Über Yasmin wußte Berit zu berichten, daß jetzt David Bowie angesagt war.
"Eigentlich finde ich Dawid Bowie auch gut", erzählte Berit, "und ich kannte den schon, lange bevor Yasmin den kannte. Aber wenn dir jemand Tag und Nacht von dem vorerzählt, dann kannst du irgendwann den Namen 'Bowie' nicht mehr hören."
"Ist Yasmin denn immer noch auf Rafa und Sazar scharf?"
"Von denen hat sie in der letzten Zeit gar nicht mehr geredet. Ich höre von ihr immer nur noch 'Bowie, Bowie, Bowie'. Richtig schlimm wurde es, als sie dem dann mal begegnet ist. Da waren so Leute, die den wohl angeblich 'kannten', was man auch immer darunter verstehen soll. Und die haben Yasmin wohl gesagt, wo sie dem begegnen kann, und dann ist sie dem begegnet. 'Der war so nett', hat sie dann erzählt. Und ich so zu ihr, natürlich ist der nett, der lebt ja schließlich von seinen Fans, und der weiß eben, daß man dann zu denen auch nett sein sollte. Aber nein, Yasmin wußte ganz genau, der war nur wegen ihr so nett."
Da hat sich Yasmins Leidenschaft für Rafa und Sazar ja schon ziemlich abgekühlt. Ich frage mich, was sie getan hätte, wenn damals Rafa und Sazar alle beide vor ihr gestanden hätten und sie gefragt hätten, wen sie denn nun eigentlich haben will.
Seltsamerweise scheint Yasmin es nicht als Hindernis zu empfinden, daß Bowie verheiratet ist. Sie scheint sich im Grunde mit der Verehrung begnügen zu wollen.
Toro trug einen langen schwarzen Rock, und auch ein Bekannter von ihm, der dabeistand, trug einen Rock, silbern, mit zwei Schnallen an der Hüfte, und dazu hatte er ein knappes silbernes Hemdchen mit wattiertem Ausschnitt an.
"Röcke sind so geil für Männer", sagte ich schwärmerisch zu Toro. "Du bist jetzt ebenso sexy angezogen, wie Rafa unsexy angezogen ist. Das Seltsame ist nur, daß ich Rafa trotzdem so sexy finde wie keinen anderen hier, egal wie häßlich er angezogen ist."
"Vergiß' Rafa, ich kenne den Typen, bleib' mir weg mit dem, da kriege ich so einen Hals, wenn ich an den denke."
"Der hat selber dafür gesorgt, daß die Leute ihn nicht leiden können."
"Warum denn das?"
"Er kann sich selber nicht leiden, und wenn ihn jemand leiden kann, paßt das nicht in sein Weltbild. Mich hat er deshalb aus seinem Leben entfernt, weil er mir so viel bedeutet."
"Vergiß' den Typen, Mann."
Toro meinte, der beste Abschluß für diesen Abend wäre doch ein Dreier mit Janet und mir.
"Weißt du, wie ich dich nenne?" bemerkte ich. "'Schaufelbagger' oder 'Rammbock'."
"Gleich 'Rammbock'", berichtigte Toro. "Ich komme immer gleich zur Sache, ich brauche nicht zu baggern. Was ist also, was ist mit dem Dreier?"
Er machte Miene, mich zu küssen und schaute mit großen Hundeaugen.
"Du bist doch ein Schaufelbagger", meinte ich. "Erzähl' mir nicht, daß du nicht baggerst."
"Oh, bin ich riemig heute!" seufzte Toro. "Ich gehe jetzt aufs Klo."
Gelegentlich kam etwas zum Tanzen für mich, darunter "Love is a kind of mystery" von den Invisible Limits und "Firestarter (Empirion Mix)" von Prodigy.
Einmal tanzte Rafa auch, zu "Decay" von Twice a Man.
Als es in der "Neuen Sachlichkeit" leerer wurde, begann Rafa oben auf der Galerie eine Polonaise und kam mit sieben Leuten hinter sich die Treppe herunter. Dolf war auch dabei, der nach langer Zeit wieder in der "Neuen Sachlichkeit" war, dieses Mal ohne seine Freundin. Rafa machte eine große Runde durch den Saal und ließ immer mehr Leute sich hinten anhängen. Vor sich ließ er Robin gehen, der inzwischen mit Sanina zusammen ist. Als Rafa fast einmal ganz herumgelaufen war, kam er auf den Tisch zu, wo Janet, Toro und ich uns aufhielten, und rief, zu Robin gewandt:
"Hetty! Los, Hetty muß auch mitmachen!"
Robin stellte mich vor sich, und ich hatte dabei die Gelegenheit, Rafa an der Schulter zu kraulen und am Ärmel zu zupfen.
Ich ging zwar vorn, bestimmte aber nicht die Richtung. Hinter mir wurde geplant, die Bühne zu besteigen. Als wir in die dunkle Ecke kamen, wo es zur Bühne hinaufgeht, stellte sich der Mischer quer und verlangte, daß wir umkehrten. Es gab ein wenig Gedränge, und ich beschäftigte mich damit, Rafa die Flanke zu streicheln und ihm den Arm um die Taille zu legen. Er wehrte sich nicht, blieb nur einfach stehen, wo er war, als wäre nichts.
Als die Polonaise sich in umgekehrter Richtung aufbaute, entfernte sich Rafa. Edaín rief mich und wollte unbedingt, daß ich weiter mitmachte. Wir stiegen von vorn auf die Bühne, und ich half Edaín hinauf. Wir kamen nun aus den anderen Richtung an dem Mischer vorbei und gingen dann die Treppe hoch zur Galerie. Dort oben saßen viele Leute auf Sesseln, auch Xentrix und Gabrielle, die ihre langen blonden Haare dunkel gefärbt hat. Sie will ihr Image verändern.
Auf der Galerie gab Kappa einen aus. Ein großes Buffet war aufgebaut und eine Bar, wo es kostenlos Getränke gab.
Als ich wieder nach unten ging, stand Rafa neben Toros Tisch, mir gerade im Weg. Ich ging dicht an ihm vorbei und kraulte ihn am Arm, ohne ihn anzuschauen. Dann unterhielt ich mich weiter mit Toro und Janet, und Rafa verschwand.
Gegen halb fünf ging die Musik aus. Ich stand mit einem Bekannten von Berit vor der Theke, Ferry. Berit war auf der Galerie und kam und kam nicht wieder herunter. Ich schlug Ferry vor, daß wir auch hinaufgehen könnten.
"Ist das nicht nur für Promis?"fragte er.
"Wir sind alle Promis", hielt ich dem entgegen. "Entweder sind alle Promis, oder keiner ist ein Promi."
Oben hatte sich ein Stuhlkreis gebildet. Weil die Musik nicht mehr lief, wurden Kinderlieder gesungen. Rafa stand mit einigen Jungs am Buffet und füllte sich den Teller. Am Geländer setzte er sich dann und aß. Berenice war nicht zu sehen.
An der Theke auf der Galerie wurde Sekt ausgeschenkt, außerdem alles mögliche andere, auch Kaffee zum Selbstbedienen, Cola und ein Getränk names Erdbeer-Limes, das aus Wodka, Erdbeersaft und Limettensaft besteht und sehr in den Kopf steigt. Ich konnte das trinken, weil ich nicht mit dem Auto da war. Außerdem durfte jeder zulangen, der vorbeikam, es kostete nichts. Berit war inzwischen sinnlos betrunken. Sie fragte Genna, ob sie sich noch an Saara erinnere.
"Saara ...?" wurde Genna nachdenklich. "Der Name sagt mir irgendwas, aber ich habe das Gesicht nicht mehr vor mir."
"Die hatte lange blonde Haare damals."
"Nein, ich kann mich nicht mehr erinnern."
Vielleicht hat Genna tatsächlich vergessen, daß Saara früher ihre Rivalin gewesen ist. Genna war in Begleitung eines Herrn, der wirkte robust und sportlich; auch sie selbst war sportlich gekleidet, in Jeans, und sie trug das Haar kurz. Der Junge war vielleicht ihr Freund.
Kappa war auch schon ziemlich betrunken und erzählte mir zum ersten Mal, daß Edaín sich seit einem Jahr darüber aufregt, daß ich damals eine zynische Bemerkung über die Hochzeit in der Backsteinkirche gemacht habe. Ich hatte Edaín gefragt, wie Kappa diese große Kirche denn vollkriegen wollte, da er doch fast keine Freunde habe. Edaín hatte "gar keine Freunde" verstanden und empfand das als Beleidigung für Kappa. Anstatt mir das jedoch zu sagen, sagte sie es Kappa, der es mir auch nicht sagte. Edaín baute inzwischen ihren Unmut weiter aus.
Kappa meinte, man dürfe über ihn ruhig lästern, das sei er gewohnt; allerdings dürfe Edaín nichts davon erfahren, man müsse sie unbedingt dagegen abschirmen. Sie beziehe alles auf sich, da sie es als ihre vorrangige Aufgabe ansehe, Kappa gegen alles und alle zu verteidigen. Im Grunde erlebt Edaín sich dann nicht als eigenständige Person, sondern als Bestandteil von Kappa. Ich vermute, daß sie eine "Wir zwei gegen den Rest der Welt"-Haltung entwickelt hat mit einer Idealisierung ihrer Beziehung zu Kappa.
"Kappa darf mich ärgern und ich ihn", teilte ich Edaín mit. "Das haben wir abgemacht."
Sie wandte ein, man dürfe Kappa eben nicht mit allem ärgern.
"Dann sag' mir doch einfach, wenn du etwas nicht gut findest", empfahl ich ihr. "Sonst habe ich ja nicht die Möglichkeit, dazu irgendwelche Erklärungen abzugeben."
Es war nicht einfach, ihr vor Augen zu führen, daß manche Menschen auch über Leute herziehen, gegen die sie ansonsten nichts haben, die sie sogar gut leiden können. Das auseinanderzuhalten fiel ihr anscheinend sehr schwer. Es entstand der Eindruck, daß sie ihre mitmenschliche Umwelt als recht feindselig erlebt und den Menschen nicht allzu viel Gutes zutraut.
Edaín und ich unterhielten uns über Autos. Ich erzählte, daß ich gerne große, schnelle und leise Wagen fahre und nur mit Automatikgetriebe. Edaín erzählte, daß ihre Eltern immer BMW gefahren sind und daß sie deshalb recht verwöhnt ist. Zur Zeit fährt sie einen sparsamen Wagen, weil sie trotz ihres Umzugs nach H. ihre Stelle in Bad H. behalten hat und pendelt. In der Spielhalle von Bad H. sollen ihre Kollegen allesamt Rufnamen haben, und sie bekam den Namen "Angel".
Während ich mich mit Edaín unterhielt, stellte Rafa sich so dicht neben mich, daß ich ihm für zwei Augenblicke die Flanke kraulen und ihn an der Weste zupfen konnte. Ich machte das so beiläufig, als wenn ich mir den Rock zurechtrücken wollte. Ich unterbrach mich im Gespräch nicht und zeigte auch keine mimische Regung. Edaín guckte erstaunt, sagte aber nichts dazu.
Etwas später kam Rafa noch einmal dicht an mich heran und blieb da stehen, mit dem Rücken zu mir. Unsere Körper berührten sich fast. Da kam von hinten der Arm seiner Freundin, und sie zog Rafa weg. Hinter mir hörte ich sie zu ihm sagen:
"Paß' auf, meine schönen Haare."
Das sollte wohl heißen:
"Ist er heute nicht wieder stürmisch? Er ist eben wild auf mich. Auf mich."
Rafa und Berenice küßten sich auch, aber ich verzichtete darauf, mir das Schauspiel anzusehen. Ich trank lieber noch eine Tasse Kaffee.
Unten holten Rafa und Berenice ihre Sachen zusammen, zogen sich an und gingen fort.
Zu Allerheiligen machten wir wieder unseren abendlichen Friedhofsspaziergang. Wir sahen dieses Mal nicht nur rote und weiße Ewigkeitslichtchen, sondern auch ein blaues. Auf die Gräber schien der Mond. Es war nicht so kalt wie sonst um diese Jahreszeit. In dem griechischen Restaurant, das wir fast jedes Mal besuchen, wartete schon der Rest des Trupps auf uns. Elaine baute mit Bauklötzen Häuschen und Türme. Sie erfand einen makabren Namen für Rotkäppchen: "Blutköpfchen."
Anfang November habe ich Folgendes geträumt:

An einer schicken Bar, die ich noch nicht kannte, herrschte reger Betrieb. Berenice bediente. Sie trug offenes Haar. Sie beugte sich zu mir herüber und fragte mich, ob ich vielleicht einen Kaffee haben wollte.
"Ja, gerne", antwortete ich unverfänglich.
Sie stellte mir und auch Constri eine Tasse Kaffee hin, schon mit Milch. Der Kaffee schmeckte mir, und ich trank ihn in Ruhe aus. Berenice schien auf irgendetwas zu warten, zu lauern. Ich nahm an, daß sie hoffte, ich würde ihr irgendetwas erzählen, das mit Rafa zu tun hatte. Ich sagte aber nichts.

In den kommenden Tagen rief ich meinen Kollegen Dero an, um mich nach seinem Befinden zu erkundigen. Er hatte sich in der letzten Woche krankgemeldet, um sich ungestört mit Liebeskummer beschäftigen zu können. Er hat ein Kind von einer Frau, mit der er jahrelang zusammen war, Nanette. Er befürchtet, daß er das Kind aus den Augen verliert, wenn er sich mit Nanette endgültig verstreitet. Er hat von sich den Eindruck, Nanette hinterherzulaufen, und gleichzeitig glaubt er, an ihren Wutausbrüchen selber schuld zu sein. Auffällig ist für mich, daß er andauernd von Vorwürfen redet, gegen sich und gegen Nanette, ohne auf eine wirkliche Veränderung hinzuarbeiten.
Dero und ich haben uns in der Kantine schon ausgedehnt unterhalten und uns auch gegen einige lästernde Kolleginnen abgegrenzt. Es geht wieder einmal um Neid. Die Damen haben vielleicht das Gefühl, im Leben zu kurz gekommen zu sein und lassen ihren Unmut jetzt an anderen aus.
Dero freute sich sehr über meinen Anruf und kam noch zum Abendessen vorbei. Er brachte lauter Kleinigkeiten mit, eine Broccoli-Pizza, Getränke, eine Tafel Schokolade, eine Kerze ("das soll für die Hoffnung stehen, dafür, daß man nicht aufgeben soll"), ein Würfelchen ("das soll für Glück stehen") und selbstklebende Leuchtsterne ("wenn du die siehst, sollst du immer denken, du bist nicht allein"). Am nächsten Tag wollte Dero wieder arbeiten; er sollte meine Station allein weiterführen, so wie auch ich sie zuletzt hatte alleine führen müssen. Das ist bei mehr als zwanzig Patienten und viel Schreibarbeit, wozu auch ärztliche Stellungnahmen in Betreuungsverfahren zählen, kaum möglich.
Constri veranstaltete ein Damenkränzchen. Die jüngste Dame war Elaine. Sie trug Glitzer-Nagellack, spielte mit allen Kuschelwesen, die sie fand, Theater und ließ auch die Lebewesen daran teilnehmen. Sie malte den Kleinen Vampir, den sie außer Sailor Moon besonders gerne im Fernsehen sieht, und malte auch sich selbst daneben. Beide Figuren waren angezogen, der Vampir hatte auch einen Umhang. Elaine schrieb außerdem einige Buchstaben und Zahlen, die sie richtig benannte. Clara hatte mir bis dahin nicht geglaubt, daß Elaine den anderen Vierjährigen in nichts nachsteht. Sie hatte Tharya geglaubt, die davon überzeugt ist, daß Elaine auf eine Sonderschule gehört ... und das, ohne Elaine näher zu kennen.
Bei Studenten gibt es häufig das Phänomen, daß sie glauben, in ihrem Umfeld etwas zu entdecken, über das sie gerade im Studium etwas lernen. Meistens liegen sie falsch damit. Clara und Tharya glauben während ihres Studiums der Sonderpädagogik bei allerlei Kindern eine Sonderschulpflichtigkeit zu entdecken, was aber meistens nicht zutrifft.
Clara hat Ray ein Schäferstündchen angeboten, wenn er sich Arbeit sucht. Am nächsten Tag schon hatte er Arbeit, bei einer Zeitarbeitsfirma.
Elaine hat außer Constri und mir noch drei weitere Paten, das sind Merles Schwester Eliana, Merles Mutter und ein Bekannter von Merle, Dominik. Dominik war schon in zweiter Ehe verheiratet, als er sich für Merle zu interessieren begann. Er gab ihr pornografische Comics und behauptete, das lese seine Frau immer, und Merle solle nun ihre Meinung dazu kundtun. Mit dieser Vorgehensweise hatte er jedoch bei Merle nicht den gewünschten Erfolg.
Dominik hat stets "die Luftballons so weit aufgeblasen, bis sie geplatzt sind". Er wollte immer "die ganz große Veranstaltung organisieren", was regelmäßig schiefging, weil er partout nicht damit beginnen wollte, das Veranstalten im kleinen, noch nicht wirtschaftlich riskanten Rahmen zu erlernen. Er kannte die Spielregeln nicht und glaubte anscheinend, auch ohne sie auszukommen. Er überschätzte sich immer wieder selbst.
Im vergangenen Jahr erkrankte Dominik an Leukämie. Dieses Jahr zu Ostern war er noch überzeugt, die Krankheit zu überleben. Im Herbst war er tot.
Merle, Elaine und ich gingen zur Beerdigung. Viele Freunde und Angehörige von Dominik waren gekommen, auch seine Kinder aus erster Ehe. Merle hielt Elaine an der Hand. Sie hatte Elaine erklärt, daß man Onkel Dominik besuchen wolle und sie gefragt, was für eine Blume sie Dominik schenken wollte.
"Eine Rose", antwortete Elaine.
Also bekam Elaine eine Rose und legte sie in das Urnengrab.
"Letztes Jahr am Totensonntag haben wir meinen Vater hier besucht", erzählte Merle auf dem Weg zum Leichenschmaus. "Es war kalt, und da habe ich ihm einen Jägermeister mitgebracht, weil er den immer so gerne getrunken hat und weil er etwas zum Wärmen haben sollte. Was soll er jetzt mit Blumen, die machen doch gar nicht warm, und davon hat er doch gar nichts, wenn sie auf dem Grab liegen. Aber den Jägermeister kann man aufs Grab gießen, davon bekommt er etwas. Aber bevor ich ich ihm den Jägermeister geben konnte, sagt meine Mutter:
'Los, gib' mir doch auch nochmal einen Schluck, Vater kriegt es ja nicht mehr mit.'
Und dann hat meine Mutter etwas getrunken und meine Schwester und ich, und was übrigblieb, war dann für Vater."
Dominiks Witwe Ina erzählte, nach dem Tod ihres Mannes habe zum ersten Mal ihr Weihnachtskaktus geblüht; vielleicht sei das eine Nachricht von ihm.
Kinder hat sie nicht; Dominik habe für die Heirat zur Bedingung gemacht, daß seine zweite Ehe kinderlos bleibe, da er sich nicht mit noch mehr Kindern belasten wolle. Ina hat auch nicht versucht, ihren Kinderwunsch durchzusetzen. Stattdessen hält sie drei Katzen, die von ihr vermenschlicht werden.
Toro ist seit Kurzem Inhaber einer Underground-Modeboutique, "Wings of Darkness". In dieser Boutique traf ich beim nachmittäglichen Bummeln außer Toro auch Janet und Wolven. Es gab für alle Kaffee mit Milch, außerdem Cola und Pommes frites. Janet hatte eine Thermoskanne mit Tee dabei. Wolven packte lauter kunstvoll verzierte Glasfläschen aus.
"Hier, das mußt du für Rafa mitnehmen", zeigte er mir eines der Fläschchen. "Ein Liebestrank!"
Es enthielt einen handgemischten Likör.
"Der tankt richtig auf", wußte Toro. "Batterie mich!"
Toro konnte sich noch gut daran erinnern, daß Rafa vor fünfeinhalb Jahren in der "Halle" mit offenem Hosenstall auf der Bühne stand.
"Wir haben alle gebrüllt: 'Rafa, mach' die Hose auf!'" erzählte Toro. "Aber er hat's nicht gerafft."
Toro enthüllte sein neues Tattoo, ein halb offenstehendes, kunstvoll verschnörkeltes Friedhofstor auf dem rechten Oberarm. Den linken Oberarm soll demnächst ein Ornament zieren, auf dem Toros Familienmitglieder abgebildet sind, mit einem freien Platz für ein eigenes Kind. Nur eine Ehefrau oder Partnerin soll nicht in das Ornament tätowiert werden.
"Die wechseln zu schnell", meinte Toro. "Aber Eltern, Geschwister und eigene Kinder hat man für immer."
Später war ich noch bei Saara in dem Telefonladen, wo sie samstags arbeitet; auch dort gab es Kaffee, aus einer bunten Maschine, die für die Kundschaft installiert wurde. Saara zeigte mir lauter hübsche Geburtstagsgeschenke für Svenson, mit dem sie sich dauernd streitet.
"Deck' ihm den Tisch so romantisch wie möglich", riet ich.
Am 12.11. klingelte abends zwischen acht und neun Uhr ein halbes Mal das Telefon, dann war Stille.
Mitte November waren Ray und ich in HH. Im "Megamarkt" traten Synapscape und Imminent Starvation auf. Vorher besuchten wir noch Darien. Darien glaubte, er müsse jeden Tag in der Woche arbeiten und dürfe eigentlich gar nicht ins Konzert. Er gehe nur hin, weil Heyro Sehnsucht nach ihm habe.
"Wer hindert dich denn, ins Konzert mitzugehen?" wollte ich wissen. "Wer kontrolliert dich? Arbeiten deine Kollegen auch abends und am Wochenende?"
"Nein."
"Und wer zwingt dich, dann auch noch zu arbeiten?"
"Keiner."
"Und warum machst du das dann?"
"Ich denke halt, ich muß das Projekt fertigmachen. Die rufen dann am Montag an."
"Und was fragen die?"
"Die sagen, wie ist der Stand? Sonst nichts."
"Dann kannst du ihnen genug erzählen, daß sie zufrieden sind."
"Es geht hier um mein Leben."
"Und was bedroht dein Leben?"
"Weiß ich nicht."
"Was ist die Gefahr für dich?"
"Das ist wohl auch der Druck, unter den man sich selbst setzt", gestand Darien ein. "Zuverlässigkeit ist mein Prinzip."
"Du arbeitest für zwei. Sag' jetzt nicht, du würdest nicht genug arbeiten."
"Doch, schon."
"Und wenn du Angst um deine Existenz hast - Tüchtige finden immer Arbeit. Das habe ich in den letzten zwölf Monaten gelernt. Du bist sehr tüchtig; es geht aber auch darum, den anderen zu vermitteln, was man alles leistet. Sie nutzen doch deinen Fleiß aus; sie haben sich daran gewöhnt und schieben dir alle Arbeit zu: 'Der Darien macht das schon.' Es geht darum, ihnen beizubringen, wie wertvoll deine Arbeit ist und daß du eben nicht für alles zur Verfügung stehst. Es gibt auf der Welt unendlich viel Arbeit, und das wirst du nicht alles machen können. Du mußt also auch Arbeit abgeben können."
Darien meinte, diese Argumentation sei doch recht überzeugend. Er habe Streß und nie Ruhe, klagte er. Zusehends taute er auf. Beim Abendbrot ließ er sich die Geschichten von Ivo Fechtner und vom Sockenschuß erzählen. Im Auto hörten wir das schräge "Schwanztanz" vom Lolitakollektiv, in dem ein Mann in seiner "goldenen Schlagerstimme" schmachtet und durch die Samplertechnik gnadenlos zerhackt wird. Die Bruchstücke seines Gesangs werden immer auf dieselbe Art versampelt, in unerbittlicher Wiederholung. Ray mußte "Schwanztanz" bei Derek schon -zigmal hören und seufzte:
"Ach - das Stück!"
Im "Megamarkt" traf ich Bertradis alias Bert, den ich aus BI. kenne. Wir sind uns dort vor zwei Jahren auf einem Festival begegnet, wo P.A.L und auch Synapscape gespielt haben. Bert ging damals noch als Mann, mit kahlgeschorenem Kopf. Jetzt folgt er seiner Transsexualität. Er nennt sich Bertradis und verwandelt sich immer mehr in ein Mädchen. Sein schmaler Körperbau kommt dem entgegen. Bert ging im Partnerlook mit seiner Freundin Isolde, die ihm treu geblieben ist. Beide trugen schwarz ummalte Augen, schwarze Pagenköpfe, zierliche schwarze Oberteile mit keltischen Ornamenten und lange graue Taftröcke mit verdrillten Einlegefalten, die den Stoff unten aufbauschten.
Bert macht das musikalische Projekt "Triebwerk ", das auch auf dem Sampler "e" vertreten ist.
Bert arbeitet bei einer Firma für Außenwerbung. Er bringt Reklame an öffentlichen Verkehrsmitteln an. Er erklärte mir, daß man das zum Teil mit Schablonen macht.
Am 19.11. klingelte abends zwischen acht und neun Uhr ein halbes Mal das Telefon, dann war Stille.
Constri hat auf einem Klassentreffen viele ihrer ehemaligen Klassenkameraden von einer ganz anderen, ungewohnten Seite kennengelernt. Roger Strelau etwa, früher "der doofe Strelau" genannt, erschien jetzt als flotter, kreativer Karrieremann mit weißem Piratenhemd, einem langen Zopf und viel Charme und Lebenserfahrung. Constri besuchte ihn noch einmal einige Tage später, um Fotos abzuholen. Er ging mit ihr essen, und die beiden unterhielten sich angeregt über zwischenmenschliche Beziehungen. Roger konnte dazu erzählen:
"Wenn man versucht, einen Partner zu halten, indem man ihm alles recht macht, hat der Umworbene keinen Partner mehr, weil ihm niemand mehr etwas entgegenhält, er ist ganz allein. Und das kann dann dazu führen, daß er erst recht fremdgeht."
Zu diesem Thema konnte Sanina viel beisteuern, die ich im "Lost Sounds" traf, als dort wieder Sasch und Abraxas auflegten. Sie berichtete, daß sie sich selbst eher unbedeutend findet und zuerst gar nicht fassen konnte, daß Robin sich wirklich für sie interessierte. Sie hatte sich im "Maximum Volume" sofort in ihn verliebt. Robin hatte auch recht schnell an der schlanken, hübschen Sanina mit ihren Netzstrümpfen und ihren vollen, zu rotgetönten Locken gedrehten Haaren Gefallen gefunden. Sie war verunsichert und fragte sich, wie sie es anstellen konnte, daß die Beziehung hielt. Sie wollte Robin nicht daran hindern, ab und zu ohne sie auszugehen, obwohl sie Angst hatte, daß er sich anderswo umschauen könnte. Er hatte längere Zeit in einer Beziehung gelebt, in der seine Freundin und er sich sehr aneinander geklammert hatten, und Sanina wollte ihm eine weitere Erfahrung dieser Art ersparen. Sie belog Robin allerdings, indem sie behauptete, es mache ihr nichts aus, ihn alleine weggehen zu lassen. Inzwischen meint sie, daß es günstiger wäre, mit Robin über ihre Gefühle zu reden und ihm zu vermitteln, daß er sich keine Vorwürfe machen sollte, da sie bewußt ihre Angst vor dem Verlassenwerden überwinde, damit die Beziehung eine Chance habe und nicht auf ein "Gefängnis zu zweit" hinauslaufe.
Sanina meinte, Edaín mache all die Fehler, die sie selbst auch früher gemacht habe und nun vermeiden wolle. Sanina hat die Neigung, Männer zu verehren, die in ihren Augen bedeutsam, attraktiv oder außergewöhnlich sind. Infolgedessen verehrte sie auch Kappa und Rafa. Sie meint, sie habe sich nun vorgenommen, mit dem Verehren aufzuhören. Sie wolle sich nicht mehr unter andere Menschen stellen, sondern mehr Selbstwertgefühl aufbauen.
Bevor Kappa mit Edaín zusammenkam, hatte Sanina mit Kappa eine längerdauernde "Beinahe-Liaison". Sanina hatte schließlich die Hoffnung schon fast aufgegeben, daß Kappa sich ihr eines Tages ganz zuwenden könnte. Als dann Edaín in Kappas Leben trat und er sich nahezu von einem Augenblick zum anderen für sie entschied, betrachte Sanina Edaín als feindliche Rivalin, wollte sie aber dennoch näher kennenlernen. Feindseligkeit gebe es inzwischen nicht mehr. Sanina erlebt Edaín als schüchtern und unsicher. Edaín fühle sich bei Kappa geborgen und verhalte sich ihm gegenüber sehr fürsorglich, gleichzeitig aber auch bewachend. Sanina hat den Eindruck, daß in der Beziehung von Edaín und Kappa Verlustängste eine wichtige Rolle spielen.
"Sie streiten sich oft", berichtete Sanina, "und dann weinen sie beide und fragen sich, wie konnten wir nur so häßlich zueinander sein, wir lieben uns doch. Aber sie würden nie auf die Idee kommen, zu einer Partnerschaftsberatung zu gehen, denn sie glauben immer noch daran, daß alles in Ordnung ist."
Mich erinnerte das an Beziehungen, in denen auf eine heile Fassade viel Wert gelegt wird und in denen es infolgedessen viele Tabus und viel "Unaussprechliches" gibt.
"Als Edaín mal nicht mit in der 'Neuen Sachlichkeit' war", erzählte Sanina, "hat Kappa sehr an mir geklettet, und ich habe ihn gefragt, was wäre, wenn ich jetzt alleine wäre? Und da hat er gemeint:
'Wenn ich könnte, wie ich wollte, aber ich darf ja nicht.'"
Sanina war vor einer Woche in der "Neuen Sachlichkeit". Kappa soll so umnebelt gewesen sein, daß Rafa die meiste Zeit am DJ-Pult stand und ihn vertrat. Über Ereignisse zwischen Rafa und Berenice konnte Sanina nichts berichten. Sie erzählte jedoch, daß sie inzwischen zu Berenice ein recht gutes Verhältnis habe und daß diese ihr auch einen Thekenjob in der "Neuen Sachlichkeit" besorgt habe.
"Für Berenice sind alle Frauen Feinde", erzählte Sanina. "Inzwischen ist sie aber zu mir nett. Und ich habe gesehen, innerlich ist Berenice auch unsicher, ähnlich wie Edaín."
"Berenice hat wenig Selbstwertgefühl", deutete ich. "Das ist genau die Sorte Frauen, die Rafa sich immer sucht."
"Von sich aus redet sie über das alles nicht, und ich dränge sie auch nicht dazu."
Ich erzählte Sanina den Traum, in dem mir Berenice Kaffee einschenkte.
"Sie schien etwas von mir erfahren zu wollen", meinte ich, "sie schien eine Antwort zu erhoffen auf irgendetwas, aber weil sie die dazugehörige Frage nicht gestellt hat, hat sie nichts herausbekommen."
"Wie das bei den beiden genau ist, weiß ich nicht, zumal ich Rafa nicht weiter kenne."
"Ich kenne Rafa sehr gut."
"Wie lange schon?"
"Seit 1993 persönlich, davor nur vom Sehen. Und solche Gespräche, wie er mit mir geführt hat, hat er wohl bisher auch nur mit mir geführt. Ich habe von Anfang an nur nach Sachen gefragt, nach denen er nicht gefragt werden wollte. Ich habe all das wissen wollen, was er nicht vorgezeigt hat. Ich habe die Seiten an ihm unterstützt und bestätigt, die er an sich ablehnt."
"Du willst nur den Kern."
"Nur den Kern, das Innere. Die Fassade, das Drumherum interessiert mich nicht. Ich halte den Kern in den Händen, und er hält seine Fassade aufrecht."
"Meinst du, Berenice kommt da irgendwann dran?"
"Ausgeschlossen. Das schafft sie niemals. Sie kann ihn gar nicht verstehen. Sie kann ihn nur beobachten, aber verstehen kann sie ihn niemals."
"Die Beziehung zwischen den beiden hat auch viel mit Besitz zu tun."
"Sie nutzen sich gegenseitig aus. Er benutzt sie für sein Ego und sie ihn für ihr Ego."
"Sie demütigen sich gegenseitig."
"Rafa kann sich selbst nicht ausstehen, und Berenice hat von sich selbst auch keine hohe Meinung. Einer erniedrigt den anderen, um sich selbst besser zu fühlen. Mit mir kann Rafa so etwas nicht aufbauen. Bei mir hat alles, was er tut, Konsequenzen. Ich lasse ihm einfach nichts durchgehen. Immer muß er die Folgen spüren. Er kann nicht mit mir spielen. Nicht einmal Streit kann er mit mir anfangen, nicht einmal das klappt. Und er erreicht auch nicht, daß ich ihn hasse. Es klappt einfach nichts von dem, was er mit den anderen Mädchen abzieht."
"Reizt ihn das, oder gibt es ihm irgendwie ein ganz gutes Gefühl?"
"Es gibt ihm irgendwie ein ganz gutes Gefühl."
"Und das will er natürlich wieder nicht zugeben."
"Genau!"
Ich erzählte, daß ich vermute, daß Rafa denjenigen Teil seiner Persönlichkeit auf mich auslagert und mit mir wegstößt, den er an sich selbst ablehnt:
"Er läßt alles bei mir, was er an sich selbst nicht will."
Abraxas und Sasch spielten wieder sehr viel rhythmische Elektronik, darunter "Effects vs. sustainability" von Winterkälte. Dieses Stück hat einen rituellen Rhythmus in enormer Geschwindigkeit, über den spitze, klirrende Höhen gesetzt werden wie Exponenten. Ein solcher Rhythmus scheint mich selbst in ein elektronisches Wesen zu verwandeln.
"Du lebst die Musik", sagte Luc zu mir. "Bis zum Tod."
Seit Mitte November arbeite ich in der größten Psychiatrie weit und breit. Die mehr als hundert Jahre alte, früher als "Heil- und Pflegeanstalt" bezeichnete Klinik wird heute "Kingston" genannt, manchmal aber auch "Hochburg des Wahnsinns im Schatten des Domes". Weil der Psychiatrie in HI. das Geld ausging, wurden mehrere Verträge nicht verlängert, auch meiner nicht, obwohl der Chefarzt sie verlängern wollte. In Kingston gab es noch Geld, und ich konnte im Anschluß an meinen Vertrag in HI. gleich dort weiterarbeiten. Dieser neue Vertrag läuft über drei Jahre, länger, als ich je einen hatte.
Auf der Station, wo ich eingesetzt bin, ist Oberschwester Anny die "Stationsmutti". Im Flur gibt es auf einer Kommode eine Herbstdekoration mit Kürbissen, Getreide und Laub.
"Dieser Kürbis ist verschimmelt", erzählte ich Anny und zeigte auf einen Kürbis, der das Zeitliche gesegnet hatte. "Er ist hygienisch bedenklich, weil er die Luft vergiftet."
"Dann kommt er ins Arztzimmer!" entschied sie.
Als Kollege Den und ich ihr am nächsten Tag zu sehr auf die Nerven gingen, meinte sie:
"Muß ich mal im Mülleimer nachgucken, ob der Kürbis noch drinliegt!"
Ende November bewunderte Toro in der "Neuen Sachlichkeit" mein eisgraues durchsichtiges Kleid und die dazu passenden Strapse. Er tastete die Konturen ab und verlieh seinen irdischen Gelüsten Ausdruck. Etwas später ging Toro nach draußen und nahm sein Trüppchen mit. Ich kam auch hinaus und wollte mich unterhalten, fand es aber zu kalt.
"Das ist genau richtig", meinte Toro, "ich muß mich dringend abkühlen, das hier ist meine letzte Rettung."
Er fügte hinzu, ich sei durchaus ein optisches Ereignis, es gebe aber noch eine Steigerung, nämlich Lysanne, die Freundin von Ace.
"Die hat zu mir gesagt, du stehst doch auf dies und das", erzählte Toro, "und - radisch - reißt die ihr Kleid auseinander ... und da mußte ich schleunigst 'rausgehen."
Janet war auch wieder da, ebenso Sanina. Mit Sanina konnte ich mich dieses Mal nicht unterhalten, denn sie bediente, gemeinsam mit Berenice. Auch mit Berit war kaum etwas anzufangen, denn sie hatte mit ihren Freundinnen schon am früheren Abend, bevor sie in die "Neue Sachlichkeit" gekommen waren, eine Flasche Erdbeer-Limes geleert und dazu Cannabis geraucht.
Als Edaín ausnahmsweise auf der Tanzfläche war und das Tanzen augenscheinlich genoß, faßte Kappa sie von hinten an den Schultern und zog sie weg. Ohne sich zu wehren, folgte sie ihm zum Ausgang.
Frühmorgens war ich noch bei Ray und Derek, wo ich auch schon gewesen war, bevor ich zur "Neuen Sachlichkeit" fuhr. Ray feierte seinen dreißigsten Geburtstag. In den Morgenstunden waren die meisten Gäste schon fort; ich traf nur noch Constri, Derek und Zoë an, außerdem hörte man aus Rays Schlafzimmer Glucksen und Kichern. Das waren die Folgen der Liebesnacht, die Clara Ray gewährt hatte, weil er wieder arbeiten ging. Etwas verschämt kam Clara hinter Ray in Dereks Zimmer herüber, wo Derek uns Bratwürste servierte.
"Wir sind nämlich wieder zusammen", gestand Clara mit verlegenem Grinsen.
Dabei hatte sie wochenlang behauptet, von Ray nichts mehr zu wollen, und sie suchte auch schon per Annonce nach einem "intelligenten, gebildeten" Freund.
Constri lag bereits auf Dereks Matratze. Im Vorbeigehen rückte Derek mit einer fürsorglichen Geste um Constri herum die Decke zurecht. Später meinte Constri dazu:
"Das hat er doch nur gemacht, weil er nicht will, daß die Decke auf dem Boden schleift."
Giulietta hat Ärger mit ihrem neuen Freund. Er kann sich nicht entscheiden, wie er Silvester feiern will und blockiert damit ihre eigenen Planungen. Inzwischen war Giulietta wieder bei Folter zu Besuch, was für beide sehr erfreulich verlief, zumal sie sich nicht unter den Druck setzten, nach einem gescheiterten "Beziehungsversuch" gleich wieder zusammen sein zu müssen. Giulietta hatte sich sonst immer sehr über Folters Alkohol- und Nikotinkonsum aufgeregt. Sie kannte das schon aus leidvoller Erfahrung von ihrem früheren Freund Cyprian.
"Zigarette danach?" erzählte sie aus ihrem Liebesleben mit Cyprian. "Nein - Zigarette zwischendurch - und Bier währenddessen!"
Cyprians Alkoholkrankheit hatte letztlich zur Trennung geführt.
Sarolyn erinnerte sich, wie sie vor etwa sieben Jahren bei Rafa zu Besuch war, der Annäherungsversuche unternahm. Die beiden hielten sich in Rafas Schlafzimmer auf. Als er zweimal an die Holztür klopfte, die zur Küche führte, öffnete sich die Tür einen Spalt weit, eine Hand reichte eine Sektflasche herein, Rafa nahm die Sektflasche, dann wurde die Tür wieder geschlossen.
"Was ist das denn?" fragte Sarolyn verwirrt.
"Das ist gekühlter Sekt", erklärte Rafa.
Er hatte offenbar mit seiner Mutter ein Klopfzeichen vereinbart.
Ich fühlte mich in meiner Haltung bestätigt, eine Beziehung mit Rafa nur bei mir in meiner Wohnung führen zu wollen - nicht zuletzt, um Situationen wie diese zu vermeiden.
Anfang Dezember hatten wir bei mir ein "Adventskränzchen". Wir unterhielten uns über die modischen Perversionen jenseits von Tattoos und Piercings. "Branding" soll seit längerer Zeit in obskuren Kreisen angesagt sein, und sogar das "Amputating" soll es tatsächlich geben. Bislang sollen sich die Leute vor allem ihrer Fingerspitzen entledigen. Man könnte den Faden weiterspinnen und das "Stumpf-Piercing" erfinden, das "Stumpf-Tattoo", das "Prothesen-Piercing", "Prothesen-Tattoo" und dasselbe dann auch für den Rollstuhl - außerdem Zierrollstühle im Lack-Leder-Latex-Design. Ebenso könnten "Störtebeker-Wettläufe" in werden, bei denen sich die Mannschaften in zwei Reihen einander gegenüberstellen, und am Anfang dieser Reihen stehen zwei "Läufer", denen die Köpfe abgeschlagen werden. Die Läufer müssen nun ohne Kopf an ihren jeweiligen Mannschaften vorbeilaufen, und je nachdem, an wie vielen Leuten sie noch vorbeigekommen sind, gibt es Punkte. Darüber können dann Wetten abgeschlossen werden.
Am kommenden Abend war ich bei Dero zu Besuch, um ihm Diktate von Arztbriefen zu bringen, die ich noch hatte fertigstellen müssen. Er will sie mit nach HI. nehmen und dort im Sekretariat abgeben. Dero öffnete mir die Tür mit einem Frotteetuch in der Hand, seinem "Heultuch", wie er es nannte. Er berichtete, daß es schon wieder Krach gab mit Nanette. In der Wohnung herrschte eine heillose Unordnung. Auf dem Fußboden im Flur und im Wohnzimmer lagen überall Ausgaben vom Deutschen und vom Niedersächsischen Ärzteblatt verteilt.
"Normalerweise laß' ich hier keinen mehr 'rein", sagte Dero verschämt. "Zur Zeit habe ich überhaupt keine Selbstachtung und fühle mich schuldig am Scheitern meiner Beziehung."
"Tu' was für dich", riet ich. "Du solltest dich nicht im Stich lassen. So eine Unordnung solltest du dir nicht zumuten."



Am Samstag war ich mit Sarolyn in der "Neuen Sachlichkeit". Kappa spielte "Klangwerk" von Klangwerk und "Joy" von VNV Nation. Ich trug mein Plastikkleid, dessen Nähte im Schwarzlicht leuchteten, und unter dem Plastik leuchtete das weiße Dessous. Ich hatte Drahtschmuck dazu, in einem kühlen, industriellen Design.
Erst gegen ein Uhr kam Rafa in die "Neue Sachlichkeit". Er trug eine einfache schwarze Wattejacke, nicht wie früher einen schicken schwarzen Mantel mit Silberknöpfen. Gleich am Eingang - unweit von mir - lehnte er sich über die Theke und befaßte sich ausgiebig mit Berenice. Anschließend geriet er vorübergehend aus meinem Blickfeld und wurde alsbald von Kappa durchs Mikrophon hergerufen. Kappa übergab das Pult an Rafa mit den Worten:
"So, und jetzt möchte ich euch Rafa vorstellen, von W.E, und der singt jetzt etwas für euch."
"Sehr witzig", bemerkte Rafa durchs Mikrophon.
Rafa war im Laufe der folgenden Stunden damit beschäftigt, zu rauchen, sich den toupierten Pony aus dem Gesicht zu schleudern, die Stücke mitzusingen - wenn auch nicht durchs Mikrophon - und sich zu gebärden, als wenn er selbst der jeweilige Musiker wäre. Er machte häufiger Ansagen; anscheinend überkam ihn wieder das Bedürfnis, sich auf diese Weise bemerkbar zu machen.
Berenice machte sich ebenfalls bemerkbar, indem sie zu Rafa hinaufging. Etwas später kündigte er an:
"So, und jetzt folgt ein Stück für ... meine Freundin."
Sarolyn hatte den Eindruck, daß "meine Freundin" doch etwas zögerlich zwischen den Zähnen hervorkam - als erfülle er eine unangenehme Pflicht.
Rafa spielte für Berenice das Achtziger-Jahre-Disco-Stück "Send me an angel" von Real Life, und dazu tanzte sie auch, mit zwei Jungen. Sie hatte ein schlichtes schwarzes Minikleid an und hohe schwarze Stiefel, die in der Kniekehle endeten und nicht, wie sonst üblich, unterhalb oder oberhalb des Knies.
"Das ist schlecht beim Tanzen", meinte Sarolyn, "und toll sieht es auch nicht gerade aus."
Nach dem Stück bekam Rafa neben dem DJ-Pult Küßchen von Berenice.
Als Sarolyn zu den Toiletten ging, kam Berenice ihr nach. Ich erinnerte mich daran, daß Berenice mir schon zweimal nachgekommen war und der Saara auch schon einmal.
"So, meine Damen und Herren, Sie werden sich sicher noch an die 'Halle' erinnern", siezte Rafa sein Publikum. "Wir sind jetzt wieder in der 'Halle', Kappa steht oben, Berenice bedient unten. Willkommen in der 'Halle'!"
Sprach's und spielte "San Diego" von The Eternal Afflict, das bereits vor sieben Jahren in der "Halle" wieder und wieder gespielt worden war, bis ich es nicht mehr hören konnte.
Wenn ich fror, weil schon länger nichts für mich zum Tanzen gelaufen war, und mein Jäckchen überzog, kam dann doch noch ein Stück, das mir gefiel, etwa "08.15 to nowhere" von Vicious Pink, "Totes Fleisch" von Terminal Choice oder "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps.
Rafa gab das DJ-Pult erst nach vier Uhr an Kappa ab. Berenice holte Rafa und ließ ihn hinter sich zur Bar gehen. Als Kappa "Accident in paradise" von den Informatics spielte, stürmte Rafa auf die Tanzfläche, in die Ecke, wo ich sonst auch immer bin. Beim Tanzen kam ich Rafa durchaus nahe. Ich hielt mich nicht gegenüber von ihm, wir schauten uns nicht geradewegs an, konnten uns aber sehen. Rafa wich nicht aus, und es gelang mir zweimal, ihn am Ärmel seiner Wattejacke zu fassen, ohne aus meiner Richtung auszubrechen oder in der Bewegung innezuhalten. Rafa ging nach dem Stück gleich wieder zur Bar. Ich tanzte weiter, denn Kappa spielte noch "Big man restless" von Kissing the Pink.
Als wir die "Neue Sachlichkeit" verließen, wollte ich noch einmal nach Rafa schauen und stellte fest, daß Berenice mich mit Blicken verfolgte.
Mitte Dezember besuchte mich Dero.
"Ich habe übrigens aufgeräumt", erzählte er stolz.
Er brachte wieder Geschenke mit, eine Body-Mass-Index-Meß-Scheibe, eine Flasche Mineralwasser und zwei Mandarinen.
Bei der nächsten Veranstaltung im "Lost Sounds" baten mich ein Mädchen namens Avelina und zwei Leute vom Eingangsbereich, nach draußen zu kommen und den Zustand eines Mädchens zu beurteilen. Das Mädchen hieß Maureen. Es saß schluchzend auf einer Bank und war im Gespräch in keiner Weise erreichbar. Es wirkte auf mich nicht erheblich vergiftet, eher handelte es sich um einen Ausnahmezustand, der seine Ursache in einer allgemeinen Instabilität des Gefühlslebens haben konnte. Ich vermutete, daß solche Auslenkungen bei diesem Mädchen öfter vorkamen und daß schon verhältnismäßig geringe Irritationen dazu führen konnten. Das wurde von Avelina bestätigt. Zustände dieser Art sind mir bekannt von Mädchen mit emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung.
"Es geht vor allem um die Selbstmordgefahr", sagte ich zu Avelina. "Man kann sich mit Maureen jetzt nicht darüber unterhalten. Es wäre am besten, wenn jemand sie nach Hause bringt und auf sie aufpaßt, so lange, bis sie eingeschlafen ist."
Das geschah dann auch.
Les hat am Telefon von Bert erzählt, "unserer Bertradis":
"Ich wollte mal was von Bert - ich habe aber gemerkt, etwas stimmt mit dem nicht. Ich bin bisexuell, aber ich kann nicht mit Transen."
Bert soll planen, sich operativ umformen zu lassen.
"Er könnte seine Isolde verlieren", meinte ich, "außerdem kann er dann keine Kinder mehr zeugen."
Einige Tage später erfuhr ich von Les, Rafa sei kurz vor Weihnachen im "Zone" gewesen, mit Dolf und ohne Berenice.



Am ersten Weihnachtstag nahm ich Dero mit in die "Neue Sachlichkeit". Er beschäftigte sich nach wie vor fast ausschließlich mit Vorwürfen gegen sich und gegen Nanette. An der Theke hatte er kurz nach unserem Erscheinen in der "Neuen Sachlichkeit" eine Auseinandersetzung mit Berenice, weil er sein Bier nicht wiederfinden konnte.
"Eine Zicke", urteilte er über sie. "Erst sch...end freundlich und dann nur zickig."
Ich sagte ihm, daß Berenice Rafas derzeitige Auserwählte ist.
"Hast du schlechte Karten", meinte er. "Oberflächlich."
"Ist sie hübscher als ich?"
"Kann man so nicht sagen. Sie macht mehr her als du, oberflächlich."
Er bezeichnete Berenice als "flach", als "Schmalspur-Frau".
"Von so etwas will ich mich nicht blenden lassen", meinte er. "Du bist grazil, das sind hier nur wenige. Du bist dünnhäutig, feingliedrig und empfindsam."
Berenice trug ein schlichtes schwarzes Trägerkleid mit Kastenausschnitt und ließ die Haare offen hängen. Ich war erheblich aufwendiger zurechtgemacht, mit einem engen, sehr feinen, sehr durchsichtigen brombeerfarbenen Rollkragenpullover, unter dem ich einen tiefrot schimmernden Trägerbody mit Rankenmuster anhatte. Dazu trug ich ein sehr kurzes Spitzen-Tutu und schwarze Strapse. Die Taille war mit einer feinen elastischen Schärpe geschnürt. Ich hatte dünne schwarze Onyxkettchen um, auch ein Onyxkreuz, und trug schwarze Spitzenhandschuhe. Die Haare hatte ich mit brombeerfarbenen Samtklemmchen und einem tiefroten durchsichtigen Stoffgummi verziert.
"Häßlich wie immer", sagte Berit über Berenice.
Rafa kam sehr spät in die "Neue Sachlichkeit", erst gegen zwei Uhr. Lillien wies mich darauf hin, daß er da war. Vor der Rückwand der Bühne unterhielt er sich mit Berenice. Sie schaute zu mir her. Rafa trug Ohrringe, hatte seine Haare nachgeschnitten und war schlicht gekleidet, wieder mit Wattejacke. Er blieb auf der Bühne, als Berenice schon wieder unten war und an der Theke bediente. Er legte aber nicht auf.
"Ich will dich" von :wumpscut: lief, und ich tanzte dazu. Rafa ging anschließend nach unten, ohne mir nahe zu kommen. Er unterhielt sich vor der Treppe zur Galerie noch eine Weile mit Berenice. Dann lief "Solitary" von VNV Nation, ich ging auf die Tanzfläche, danach war Rafa verschwunden und blieb verschwunden. Nur etwa zwanzig Minuten lang war er in der "Neuen Sachlichkeit" gewesen. Es könnte sein, daß Dolf ihn mitgenommen hat.
Dero suchte Ace, allerdings vergebens. Dero ist mit Ace zur Schule gegangen. Die beiden haben gemeinsam musiziert. Dero erzählte, damals habe Ace ihn durchaus angehimmelt. Eines Tages habe er sich jedoch mit Ace gestritten, weil Ace in einer CDU-Band spielte, "Charmant normal".
Dero wollte auch Rafa sehen, der war aber schon nicht mehr da, als ich ihn Dero zeigen wollte. Dero, der schon einiges getrunken hatte, legte von hinten die Arme um mich und meinte, er würde Rafa gern eifersüchtig machen, und nebenbei finde er mich ohnehin recht anziehend.
"Verknallt", urteilte Lillien. "Er wollte lauter Sachen über dich wissen, wie du so bist, was du machst."
"So ist das mit den Männern", seufzte ich. "Wenn man welche findet, mit denen man sich einfach nur gut versteht, verlieben die sich gleich, und dann hat man erstmal damit zu tun, sie auszubremsen."

Am Morgen habe ich geträumt, Berenice würde aller Welt berichten, daß sie mit Rafa Kinder haben will.

Zu Silvester hatten wir überlegt, von jedem fünf Mark zu verlangen, der das Wort "Millennium" aussprach. Das "Jahr 2000" war eigentlich out, bevor es angefangen hatte, und der Jahrtausendwechsel - der immerhin erst zum Jahr 2001 stattfindet - ist schon lange Schnee von gestern.
Constri traf erst gegen halb zwölf bei mir ein und brachte Drees, Folter, Miro und Carl mit. Drees trug einen von Constris rosafarbenen Kleiderbügeln an seiner Jacke und erklärte, dieser Kleiderbügel müsse stets gut sichtbar getragen werden. Als er seine Jacke auszog, hängte er sich den Kleiderbügel ans Hemd und lief weiter damit herum.
Constri und Rikka verzierten alles, was sich bewegte, mit Luftschlangen, ausgenommen Bisat, der sich in ein dunkles Eckchen zurückzog.
Sarolyn und Roman steuerten insgesamt vier Flaschen Champagner bei. Wir hatten ein umfangreiches Buffet, sogar mit Tortellini-Suppe.
Zur Mitternacht wurde unser Regionalsender immer unerträglicher, es kam nur noch "Millennium"-Gedonnere aus der Konserve, durchmischt von Versatzstücken aus Uralt-Hits. Als man sich dann auch noch in der Uhrzeit vertat, schaltete ich um und stieß auf eine tickende Uhr mit dem staubtrockenen Kommentar:
"Noch zwanzig Sekunden ... fünfzehn ..."
Den Sender ließ ich an. Da wußte ich wenigstens, woran ich war.
Drees hatte eine Reisetasche voller Knallkörper mitgebracht. Wir brauchten eine Stunde, um sie zu verfeuern. Die Straße sah danach aus, als hätte ein Wirbelsturm gewütet.
Erdnußkopf erzählte mir, daß er mein Strafrechtsgutachten vom letzten Herbst auf dem Schreibtisch hatte, das ich im Rahmen meiner Arbeit in HI. erstellt habe. Erdnußkopf arbeitet in einer Schreibstube der Bundeswehr. In dem Gutachten ging es um einen Wehrpflichtigen, der zwei Selbstmordversuche unternommen hatte und wegen Fahnenflucht angeklagt war. Erdnußkopf las in der Akte dieses Wehrpflichtigen, daß mein Gutachten den gewünschten Erfolg gehabt hatte; das Verfahren gegen den Wehrpflichtigen war eingestellt worden. Er mußte nicht mehr zur Bundeswehr.
Champagner, Wodka "Black Sun", Tequila, Bailey's und was es sonst noch gab sorgten dafür, daß schon gegen drei Uhr nicht mehr viel mit uns anzufangen war. Es wurde Kaffee gekocht und das Gästebuch weitergeschrieben. Drees schien es so richtig gut zu gehen.
"Ach, wie schön, daß auf diesen Parties immer wieder das traditionelle Nußwerfen stattfindet", bemerkte er.
Damit hatte Drees sein Urteil gesprochen. Constri und ich hatten zwar noch nie etwas von einem "traditionellen Nußwerfen" gehört, aber den Aluminiumteller mit den Nüssen fanden wir, denn er stand vor uns auf dem Tisch. Ein ganzer Nuß-Hagel prasselte auf Drees ein, der sich zurücklehnte und sich freute:
"Ach, ist das schön, so voll Genuß genußt zu werden!"
Da ging es erst recht los mit der Befeuerung, und weil Folter und Carl hinter Drees saßen und auch etwas abbekamen, warfen sie zurück, erst mit Lakritzen und dann, als genügend Nüsse bei ihnen angekommen waren, auch mit diesen.
"Locker aus dem Handgelenk werfen", leitete Drees uns an.
Wir hatten erst genug, als der Teller leer war.
Die Haselnüsse, Walnüsse, Mandeln und Paranüsse hatten ihre Schale noch, es ging aber nichts zu Bruch, und ich konnte am nächsten Tag alle wieder einsammeln und nach dem Reinigen in die Aluminiumschale zurücklegen.
Im Gästebuch steht noch die "Nußpolka" vom vorletzten Silvester:

Der Engel erklingt in meinem Ohr
Ich hör' Dich lieblich lächeln
Die Blume erblüht
und im Herbst geht sie ein
Die Blüte ersprießt sich lieblich lächelnd
Im Winde des Sonnenuntergangs
Die nächtliche Sonne ergoß sich
mit meinem blutroten Gewammse!

Constri hat das aufgeschrieben und nennt Folter als Autor. Sie setzte darunter:

In diesem Sinne ein nußreiches Jahr 1998! Inzwischen ist nur noch der harte Kern hier (es ist halb sieben).

Bertine hat erzählt, daß Kappa und Edaín sich zu den Feiertagen in einer Tageszeitung haben abbilden lassen, in einem Idyll mit Weihnachtsschmuck und blauer Lacktischdecke. Edaín erzählt in dem Artikel, daß sie plant, demnächst in H. zu arbeiten.

Am Neujahrsmorgen habe ich geträumt, Rafa und Berenice würden ihre Hochzeit bekanntgeben.

Im "Radiostern" unterhielt ich mich mit Cyra über die musikalische Avantgarde. In einem Londoner Club soll ein Stück von Synapscape gespielt worden sein.
"So fortschrittlich sind die?" war ich erstaunt. "Als ich 1989 in London war, lief da so gut wie gar nichts, das war tiefste Provinz."
Die musikalische Avantgarde im Bereich Industrial und Elektro ist vor allem in Zentraleuropa beheimatet; England und die USA stehen eher am Rand.
Kürzlich habe ich gehört von einer australischen Formation von Steptänzern, die auf Stahlgittern steppen und auf Wellblech, und das Ganze soll sich in einer Industrielandschaft abspielen.
Aus den Neunzigern gibt es eine Doku über Streetdance - Breakdance und Hip Hop -, in Frankreich inzwischen bereits akademisiert und bis zur Professionalität ausgereift. Die vorwiegend orientalischen Tänzer - und auch Tänzerinnen - zeigen mit akrobatischer Körperbeherrschung die Ergebnisse jahrelangen harten Trainings auf der Bühne und im Video - szenische Darstellungen, Tanztheater, Choreografien. Beeindruckend fand ich ein Video, das in einer leeren Metrostation gedreht wurde, futuristisch und ganz in Grautönen, und auf dieser imposanten, nach allen Seiten offenen Bühne tanzte ein Hip Hop-Tänzer in schlichtem Schwarzweiß eine "Fantasia". Die Musik reduziert sich bei einigen Darbietungen auf den Rhythmus afrikanischer Trommeln. Es werden immer wieder neue Varianten erdacht.
Im "Radiostern" stellte ein Fotograf seine Werke aus, in denen er mit Schnee, Grabsteinen, Licht und Schatten spielt. Grableuchten und ein erhängtes Skelett in Barbiepuppengröße sorgten für eine passende Atmosphäre. Einige Fotos erhielten während der Nacht Zettelchen mit der Aufschrift "Schade, verkauft!".
Iana erzählte mir, sie male zur Zeit viel und wolle auch Bilder verkaufen; sie habe schon einen passenden Laden ausfindig gemacht, wo so etwas gern angekauft werde. Sie gehe inzwischen wieder häufiger nachts aus; ihre Stimmung sei dadurch besser, und das komme wohl allen zugute, auch ihren Kind.
Sazar soll schon wieder eine andere Freundin haben, auch wieder eine im Teenageralter; sie soll erst siebzehn Jahre alt sein und ziemlich schüchtern. Vielleicht glaubt Sazar, auf sehr junge Mädchen noch am ehesten Eindruck machen zu können.
Shirley war mit ihrer Mutter im "Radiostern". Bei dem Konzert von Terminal Choice, das im letzten Frühjahr in HI. stattfand, habe ich die beiden auch getroffen. Shirleys Mutter hat sich damals mit dem Sänger von Terminal Choice fotografieren lassen. Sie trägt meistens ein Kleines Schwarzes zum Ausgehen, für das sie auch die Figur hat. Ihre Haare sind lang und blondiert. Die Lebensfreude leuchtet ihr aus den Augen, und ich finde, das jugendliche Outfit steht ihr, obwohl man ihr ansehen kann, daß sie nicht mehr dreißig ist.
Shirley hat zur Zeit keinen Freund. Sie machte einen selbstbewußten und fröhlichen Eindruck, wenngleich sie nicht vorhat, alleine zu bleiben. Sie konnte meine Vermutung bestätigen, daß viele Mädchen in einer zerrütteten Beziehung ausharren, damit nur keine andere den Mann bekommt. So scheint es auch bei Berenice zu sein, die an Rafa festhält, obwohl sie schon im Mai anklingen ließ, daß sie nicht mehr in ihn verliebt sei. Sie scheint die Vorstellung nicht ertragen zu können, daß jemand anders Arm in Arm mit Rafa herumläuft. Sie würde das als Niederlage empfinden.
Auch scheinen Menschen, die von jemandem geliebt werden, auf manche Dritte besonders anziehend zu wirken. Die Tatsache, daß sie für einen Menschen wertvoll sind, macht sie auch in den Augen der Außenstehenden besonders begehrenswert. Es gilt, dem Rivalen ein kostbares Gut abzujagen.
So scheint es mit Virginia zu gehen. Sie möchte wahrscheinlich die Liebe, die Derek für Constri empfindet, auf sich selbst umlenken.
Diamanten werden so sehr begehrt, wie sie als begehrenswert gelten. Der Wert in den Augen der anderen ist auch maßgeblich für den Wert aus eigener Sicht. Und umgekehrt - wenn man sich selbst etwas wert ist, kann das bei anderen Menschen den Eindruck hervorrufen, man verdiene besondere Anerkennung und Wertschätzung.
Virginia war ohne Derek im "Radiostern". Sie war mit Talis, Janice und Dane da.
Norman erzählte, Reesli habe Rufbereitschaft, müsse andauernd mit einem Handy herumlaufen und könne daher nicht ausgehen. Norman fragte mich, ob ich schon ein Stück Tanzfläche für mich reserviert hätte.
"Was redest du da für ein Zeug - du hast wohl zuviel mit Thorlev zu tun", meinte ein Junge, der vorbeikam.
Abraxas hatte mir eine selbstgebrannte CD mitgebracht, unter anderem mit Stücken von Manufacture, Winterkälte und ihm selbst alias "Raid!!". Abraxas schwärmte von der Atmosphäre bei "Maschinenraum", einem Industrial-Festival, das kürzlich in AC. Premiere hatte.
"Ich habe mich bei 'Maschinenraum' wirklich gut mit einem Typen unterhalten, und dann ging der auf einmal auf die Bühne und gehörte zu Winterkälte", erzählte er beeindruckt.
"Das kann dir in der Szene häufig passieren", meinte ich. "Inzwischen hat fast jeder die Möglichkeit, seine musikalischen Ideen zu verwirklichen, und die Leute machen es. Die Musik kommt von denen, die sie hören. Musiker und Publikum sind nicht auseinanderzuhalten. Als Esplendor Geometrico in L. aufgetreten sind, war deutlich zu sehen, daß die Darbietung ebenso auf der Bühne wie vor der Bühne stattfand, und keines wäre ohne das andere ausgekommen. Auf der Bühne liefen Computervideos, und die Leute standen an den Geräten. Vor der Bühne wurde endlos getanzt. Es ging nur noch um den Rhythmus, eine musikalische Meditation."
An der Theke gibt es jetzt auch Brezeln und belegte Brötchen, so daß ich im "Radiostern" frühstücken konnte, morgens um drei. Die Preise liegen im Niveau eines Jugendzentrums. Bei Tanzveranstaltungen ist ein solches Angebot eine Seltenheit.
Am Telefon erzählte mir Ted von einer Erfahrung, die zu dem paßt, was Constri mit Virginia erlebt.
Marvin hat eine Freundin, die sich in die Beziehung von Marvin und Ted hineindrängt und für böses Blut sorgt. Sie weiß von der Liebe zwischen den beiden, sie weiß, daß Marvin sogar seinen Namen auf Teds Klingelschild hat drucken lassen, und genau diese innige Nähe scheint es zu sein, die Marvin für sie so anziehend macht. Ted hat Marvin darauf angesprochen, der sich freilich ahnungslos gab und sich auf die Behauptung zurückzog, so innig sei seine Beziehung zu Ted doch gar nicht. Ted führte die jahrenlangen gemeinsamen Erfahrungen als Gegenargument an. Er hielt Marvin eine Gardinenpredigt, jedoch vermied er es, Marvin oder dessen Freundin zu beleidigen oder zu entwerten. Er teilte Marvin mit, daß er immer zu ihm halten werde, da er ihn liebe, daß Marvin jedoch auf die gewohnten Treffen und gemeinsamen Unternehmungen mit ihm verzichten müsse, so lange die Rivalin vorhanden sei. Marvin wirkte daraufhin recht betreten.
Am 14. Januar bekam Lana ihre Tochter Raya. Für das Baby gibt es ein buntes Kinderzimmer mit Lanas wertvollsten Stofftieren darin, sogar ein "Peter Rabbit" ist dabei. Lana hat, wie ich, auch im Erwachsenenalter ihre Schwäche für Spielzeug bewahrt. Sie möchte schnell viele Lieder lernen, um sie Raya vorzusingen. Ich lieh ihr ein Buch aus, das beinahe enzyklopädisch viele deutsche Lieder mit all ihren Strophen beinhaltet. Sie bekommt auch noch ein Liederbuch von mir geschenkt.
Als ich wieder in der "Neuen Sachlichkeit" war, bediente Sanina und erzählte von der Babypause einer Kollegin. Ich war erleichtert, als ich Berenice mit der gewohnten Figur herumlaufen sah. Inzwischen rechne ich jederzeit damit, daß sie versuchen wird, Rafa durch ein Kind an sich zu binden. Für sie ist es einfach, mit ihm Kinder zu haben; sie kann ihn jederzeit mit ins Bett nehmen.
Sarolyn und Victor erzählten von ihrer Verlobungsfeier im Familienkreis. Ans Heiraten denken sie jedoch "noch lange nicht".
Ein Junge sprach mich an, der mich seit Mitte der achtziger Jahre vom Sehen kennt. Er meinte, ich sei ein "Phänomen der Szene".
Ivco war mit Carole in der "Neuen Sachlichkeit". Ivco erinnerte sich daran, daß Constri ihn bei Rafas Auftritt in der "Neuen Sachlichkeit" damit geärgert hat, daß sie sagte:
"Wenn ich gewußt hätte, daß W.E auftreten, wäre ich bestimmt nicht hier!"
Dolf kam gelegentlich zu Ivco an den Tisch. Ich sehe Dolf inzwischen häufiger in der "Neuen Sachlichkeit" als Rafa.
Einmal kam Berenice auf Carole zu und nahm sie mit. Als Carole zurückkehrte, berichtete sie, Berenice habe sich an einem kaputten Glas verletzt, und Carole habe ihr den Splitter aus dem Finger gezogen, weil es sonst keiner tun wollte.
Später ging es um noch mehr Glas. Berit bat mich, mit in die Toilette zu kommen und zeigte mir die neuesten Schnittverletzungen, die sie sich selbst zugefügt hatte. Sie schämte sich sehr wegen ihres Rückfalls und glaubte, nun seien alle auf sie böse. Ich klebte ihr die Pflaster auf, die sie in der Hand hielt, und veranschaulichte ihr, daß ein Rückfall keine Schande sei, hingegen sei es jedoch ein Erfolg, daß sie sich fast zwei Jahre lang nicht selbst verletzt hatte.
"Man soll darüber reden, nicht darüber schweigen", riet ich.
Es gebe eine Selbsthilfegruppe für Borderline-Kranke und auch noch andere Hilfen für das Leben im Alltag. Es sei wichtig, eine Anlaufstelle zu haben.
"Die Borderline-Störung ist genauso chronisch wie die Sucht", erklärte ich, "und Rückfälle gehören einfach dazu."
"Ich habe keine Borderline-Störung. Haben die gesagt."
"Die können reden, was sie wollen. Das ist auf jeden Fall eine Borderline-Störung. Sie ist sehr häufig, aber bei jedem Menschen sieht sie anders aus, weil der Mensch nun einmal ein Individuum ist. Es kommt übrigens oft vor, daß die Störung mit einer Sucht Hand in Hand geht."
"Trinken tue ich nur beim Weggehen, ehrlich."
"Das glaube ich dir, das gibt es durchaus."
Berits engste Freundinnen trinken weitaus weniger als sie und begleiten sie stets, stützen sie und scheinen auch ein wenig auf sie aufzupassen.
Kappa hatte in unbekannter Menge unbekannte Stoffe zu sich genommen, und zu vorgerückter Stunde wurden seine sprachlichen Äußerungen immer weniger verständlich. Er verfiel am Mikrophon in sinnlose Wiederholungen, da er anscheinend rasch vergaß, was er alles schon einmal gesagt hatte. Über sein Handy rief er ein Mitglied von And One an und hielt dann den Lautsprecher des Handys ans Mikrophon, was er als "Live-Schaltung" bezeichnete. Leider war rein gar nichts zu hören.
Edaín sagte einmal durchs Mikrophon, es sei immer so ein schöner Liebesbeweis, wenn die Jungen sich etwas für ihre Freundinnen wünschen würden. In der Folge nannte sie mehrere Titel, die sich die Jungen für ihre Freundinnen gewünscht hätten, und spielte sie dann. Ich habe schon oft mitbekommen, wie die Mädchen neben ihren Herren an der Theke standen und baten:
"Wünsch' dir doch mal was, ich trau' mich nicht."
- oder auch:
"Los, wünsch' dir doch mal was, du kannst da mit deinen Schuhen besser 'raufklettern."



Ende Januar traf ich Ivco und Carole im "Lost Sounds" wieder. Dolf sah ich ebenfalls dort herumlaufen.
Sasch und Abraxas spielten gleich Industrial für Constri und mich. Wir tanzten zu "Conqueror" von Converter, "Klaus Barbie" von Genocide Organ und "Stukas im Visier" von Feindflug.
"Kann es sein, daß Rafa da ist?" fragte mich Constri anschließend.
Tatsächlich sah ich Rafa mit Berenice an einem Videospiel stehen, nicht weit von uns. Rafa trug eine schwarze Jacke mit Goldborten und einem Aufnäher mit seinem Logo. Insgesamt wirkte sein Äußeres eher nachlässig. Berenice hatte sich schick gemacht mit einem hochgeschlitzten Kleid aus schwarzer Ausbrennerware, lang, schmal und schulterfrei. Dazu trug sie schwarze Abendhandschuhe.
Berenice bewachte Rafa fast ununterbrochen und behielt auch mich im Auge. Ich konnte Rafa nur einmal kurz die Hand auf den Rücken legen; das war, als ich auf Ivco und Carole zuging, um sie zu begrüßen. Ansonsten konnte ich Rafa lediglich beobachten. Über die Tanzfläche hinweg schauten wir uns lange in die Augen.
Einmal tanzte Rafa, zu einem Synthi-Pop-Stück. Berenice tanzte ebenfalls. Ich sah Rafa an, Berenice sah mich an.
Später kam Rafa auch noch auf das Podest, wo wir unseren Tisch hatten und ich mich mit Hennike unterhielt. Dolf saß dort, und Rafa redete eine Weile mit ihm. Berenice blieb im Schlepptau. Durch einen Ficus Benjamini sah ich zu Rafa hinüber. Ich beobachte ihn nie offen, sondern immer mit einer gewissen Deckung, wenn Berenice neben ihm steht, damit ich Berenice nicht anschauen muß, wenn ich Rafa betrachte.
Rafa ging schließlich mit Berenice an mir vorbei und hatte den Arm um sie gelegt. Das wirkte wie:
"Jetzt zeigen wir's ihr mal, daß sie keine Chance hat."
Gegen zwei Uhr verließen Rafa und Berenice das "Lost Sounds".
Ivco und Carole sind inzwischen zusammengezogen. Carole arbeitet in H. bei einer Krankenkasse und bearbeitet die Kostenübernahmeanträge, die von uns Krankenhausärzten tagtäglich ausgefüllt werden. Carole ist erleichtert, weil Ivcos Pläne, für mehrere Jahre nach Brasilien zu ziehen, sich zerschlagen haben.
"Du hast von Anfang an gewußt, daß ich nach Brasilien will", hat Ivco früher immer zu Carole gesagt.
Und sie versuchte, die Gedanken an dieses Damokles-Schwert wegzuschieben.
Daß Ivco wenigstens ein mehrmonatiges Praktikum in Brasilien absolviert hat, freut Carole im Nachhinein:
"Sonst hätte er sich und mir ewig Vorwürfe gemacht, weil er geglaubt hätte, etwas Wichtiges verpaßt zu haben."
Wendelin erzählte, daß Ivco vor etwa einem Jahr eine Abschiedsparty gegeben hat, weil sein Praktikum in Brasilien bevorstand. Auf dieser Party waren auch Rafa, Berenice und Wendelin mit seiner damaligen Freundin Salome. So, wie Rafa einige Monate zuvor auf Ivcos Geburtstagsfeier Lara verführen wollte, versuchte er es jetzt bei Salome. Das hatte zur Folge, daß Berenice ein Glas Bier über Rafa auskippte und ihn anschrie:
"Du Schwein!"
Als Wendelin sie auf ihr Verhalten ansprach, erklärte sie kurz angebunden:
"Ich hatte meine Gründe."
Neuere Ereignisse konnte Wendelin nicht berichten. Er hatte sich zwar in der heutigen Nacht mit Rafa unterhalten, ihn aber vorwiegend selbst "zugetextet".
"Und als ich ein Autogramm von ihm wollte, war er auf einmal verschwunden."
Rafa sei wieder mit dieser "komischen Schnepfe" dagewesen, meinte Wendelin. Weshalb ich so einem Mann überhaupt noch "in Gedanken hinterherlaufen" würde, könne er nicht verstehen:
"Du bist so eine hübsche junge Frau, so eine liebe Person, du kannst doch jeden haben. Such' dir endlich einen, der dich liebt und der - vor allem - da ist."
"Es gibt viele Männer, die hübsch sind, die mich gern haben und die ich gern habe", meinte ich daraufhin, "und die es auch verdienen, daß man mit ihnen eine Beziehung hat. Was sie aber nicht verdienen, ist, daß ich sie belüge."
"Warum solltest du sie belügen?"
"Wenn ich mit einem anderen Mann als Rafa zusammenwäre, würde ich ihn belügen und ihm etwas vormachen, weil meine Gefühle nur Rafa gehören. Und ich will niemanden belügen."
Hennike erzählte, sie habe Rafa noch nie leiden können.
"Einmal kam er in einem Nachthemd ins 'Elizium' ..."
"Ich weiß", erinnerte ich mich, "das war 1995."
"... und da wußte er schon gar nicht mehr, mit wem er sich unterhalten sollte, denn mit ihm wollte kaum noch einer reden. Da hat er dann mich zugelabert ... schrecklich ..."
Als Rafa noch mit Luisa zusammengewesen sei, habe er sie im "Elizium" in der Damentoilette betrogen. Und auch Sanna habe viel mit ihm durchgemacht.
"Vor allem betrügt er sich selbst", meinte Hennike.
Im "Lost Sounds" kam gegen Morgen noch mehr Industrial, darunter das hinreißende "Threshold" von Eisengrau und das hinwegreißende "Effects vs. sustainability" von Winterkälte.
Ich muß daran denken, daß Rafa das für den vergangenen August angekündigte Album immer noch nicht veröffentlicht hat. Ich erwarte nichts wesentlich Neues, frage mich allerdings, ob ihm sein ewiggleicher Stil nicht irgendwann über wird. Ich frage mich auch, ob Rafa eines Tages in ein Schaffenstief gerät, weil sich in seinem Leben nichts Wesentliches mehr weiterentwickelt.

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