Netvel: "Im Netz" - 49. Kapitel































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Am Donnerstag war ich abends wieder im "Keller" zum Rippchenessen. Ich saß an einem Tisch mit Highscore, Mavis, Maddox, Laurea, Lucerna, Ork und später auch Marie-Jo. Mit Mavis unterhielt ich mich über das Ende der Antike und den Beginn des Mittelalters. Wir versuchten, unser Wissen über diese Epoche hervorzukramen. Mavis wußte noch viel darüber, denn es war ihr Abitur-Thema gewesen.
Zur Zeit absolviert Mavis ein Praktikum als Familienhelferin. Sie kann sich vorstellen, so etwas langfristig beruflich zu machen.
Maddox berichtete, daß seine tagesklinische Behandlung im "Zuckerschlößchen" beendet ist und daß er als arbeitsfähig entlassen wurde. Als besonderen Schock mußte er bei seiner Entlassung feststellen, daß sein Auto gestohlen wurde. Inzwischen hat er wieder eines.
Am Freitagabend war ich im "Restricted Area", wo Hal und Cyra auflegten. Cyra stand gut gelaunt hinterm DJ-Pult. Sie war noch nicht an der Reihe und plauderte mit allen, die zu ihr hinaufkamen. Hal hatte die Kopfhörer aufgesetzt und werkelte am Pult. Er spielte ein hymnisches, getragenes Stück von sich selbst, das ich noch nicht kannte und das mir sehr gefiel. Als er die Kopfhörer abgesetzt hatte, wollte ich ihn nach dem Titel fragen. Hal erblickte mich, strahlte, riß mich an sich, drückte mich und wollte kaum damit aufhören.
"Wie geht's dir?" fragte ich.
"Gut!" rief er.
Ich erzählte, daß ich am Abend zwei Stunden geschlafen hatte und deshalb erst jetzt, gegen Mitternacht, hier war. Hal erzählte, er habe in der vergangenen Nacht nur zwei Stunden geschlafen und unzählige Stunden an neuer Musik für sein Projekt VNV Nation gearbeitet.
Ich erkundigte mich nach dem Titel des hymnischen Stücks, das gerade lief. Hal nannte den Titel: "Prodigious". Ich bat ihn, das Wort "Prodigious" zu buchstabieren, weil ich es nicht richtig verstand. Hal nahm einige Anläufe und schlug dann vor, ich könnte es auf seiner Website nachlesen. Dieses Stück findet sich allerdings nirgendwo; vielleicht ist es nie veröffentlicht worden.
Das nächste Stück, das Hal spielte, stammte auch von VNV Nation: "Suffer".
"Du bist in der glücklichen Situation, den ganzen Tag kreativ sein zu können", meinte ich.
"Ich bin ein Kind!" rief Hal fröhlich. "Ich spiele wie ein Kind. Und ich bezahle meine Steuern."
"In dir lebt das Kind im Erwachsenen."
"Wir sind alle Kinder", sagte Hal, zu mir und Cyra gewandt.
"Wir sind Kinder, die Steuern zahlen", sagte ich.
Auf dem Laptop von Hal war unter den Titellisten fürs DJ-Set auf einem geschwungenen Banner zu lesen:
"Dies irae veniendum est."
Ich fragte ihn, ob das auf deutsch heißt:
"Der Tag des Zorns ist gekommen."
Hal berichtigte:
"Der Tag des Zorns kommt heran."
Man könnte auch übersetzen:
"Der Tag des Zorns ist im Kommen."
- oder genauer, aber ungebräuchlich:
"Der Tag des Zorns ist kommend."
Hal meinte, er freue sich, daß ich mit den lateinischen Worten etwas anfangen kann. Es komme häufig vor, daß er gefragt werde, was für eine Sprache das denn sei. Es komme auch nicht selten vor, daß seine Fans die symbolhaften Darstellungen auf seinen CD-Covern ganz und gar nicht als symbolhaft erkennen. Sie hätten nur banale Deutungen anzubieten.
"So ist das mit anspruchsvoller Kunst", meinte ich. "Man hat Glück, wenn sie auch für die breite Masse kompatibel ist. Es kann auch sein, daß es eine Nischenkunst bleibt, die nur von wenigen verstanden wird. Es ist eine Gratwanderung, wenn man es schafft, anspruchsvolle Kunst zu machen, mit der jeder etwas anfangen kann."
Hal nickte lebhaft.
Außer seinen eigenen Stücken und artverwandtem Future Pop spielte Hal auch straffere Elektronik bis hin zu Power Electro wie "Robuste Maschine" von Reaper, das ich aus dem "Roundhouse" kenne. Für mich gab es heute viel Musik zum Tanzen.
Zoë war auch im "Restricted Area", tat aber so, als würde sie mich nicht kennen. Dina-Laura trug ein hübsches Korsett und war in schlechter Verfassung, weshalb sie früh heimfuhr. Vielleicht hatte das mit ihrem Ex-Partner Arian zu tun, der heute auch hier war. Cielle erzählte, ihr gehe es gut. Sie war viel auf der Tanzfläche. Dolf war mit Eden und Duncan da. Hinterm DJ-Pult unterhielt sich Dolf mit Cyra. Vielleicht besprach er mit ihr den nächsten W.E-Auftritt im "Restricted Area".
Hal machte eine Durchsage, die begann mit einem lauten, länger anhaltenden Lachen. Dann teilte er mit:
"Dies ist das erste Mal, daß ich so eine Durchsage machen muß! Es geht um falsch geparkte Autos!"
Hal sagte die Nummern der Autos so feierlich an, wie Oscar-Gewinner angesagt werden. Die letzte Nummer endete auf "343", und Hal kommentierte:
"Weil '242' schon vergeben war."
Dann setzte er hinzu:
"So get your f...ing cars off."
Die Ziffernfolge "242" ist - wie könnte es wohl anders sein - vor allem bei Fans der EBM-Band Front 242 beliebt.
Hal erzählte, was er demnächst alles veröffentlicht. Allein drei Tonträger sollen in diesem Frühjahr herauskommen, darunter Neuauflagen älterer Stücke und bisher unveröffentlichte Stücke.
"Ohne Kreativität bin ich tot!" rief er.
Dem konnte ich mich anschließen. Ich meinte, Kreativität sei lebenserhaltend, darüber hinaus bekämen kreative Erzeugnisse ein Eigenleben. Das Geschaffene wirke von sich aus. Hal bestätigte, in der Kreativität finde man einen besonderen Energiefluß. Er vermutete, das habe sogar etwas mit Quantenphysik zu tun.
"So, ich gehe jetzt rauchen, weil ich mich umbringen will", sagte er dann und ging nach unten.
Hal blieb eine Weile draußen und redete mit allerlei Leuten, auch Yannick und Arvin waren dabei. Hal sagte schließlich:
"The party is over."
Das traf allerdings nur für ihn zu, denn Cyra machte noch lange weiter. Weil die Tanzfläche so voll war, tanzte ich neben dem DJ-Pult, wo noch Platz war.
Gegen zwei Uhr nachts brach ich auf, weil ich noch zum "Roundhouse" wollte. Im Eingangsbereich des "Restricted Area" rief mich jemand - ein aufwendig gestylter Gothic - und stellte sich vor als ehemaliger Patient von mir, Sassan. Er freue sich, mir mal hier in diesem Kontext zu begegnen.
"Ja, ich bin hier in freier Wildbahn", erklärte ich. "Dies ist meine natürliche Umgebung."
Sassan erinnerte sich an die Spitznamen, die ich in Kingston bekommen habe. Einen kannte ich noch nicht: "Mary Poppins".
Sassan erzählte, in Kingston habe er die Diagnose "Borderline" erhalten, das sehe er bei sich aber nicht. Ich meinte, die Wave-Elektro-Gothic-Szene habe einen stabilisierenden Effekt und verhindere bei vielen Menschen seelische Störungen, auch deshalb, weil man sich dort nicht verstecken müsse.
Sassan erzählte, daß er mittlerweile im Leben Fuß gefaßt hat, auch beruflich.
Kurz vor halb vier Uhr morgens kam ich ins "Roundhouse". Die Party fand im großen Saal statt, eine "Freitag, der 13."-Horror-Party. Auf einer Leinwand am Rand der Tanzfläche lief die gleichnamige Filmreihe, mit Untertiteln. Marvel spielte unter anderem "Concrete Rage" von P.A.L, "Headhunter 2000 (Suspicious Mix)" von Front 242, "Tentack one" von Imminent Starvation und als Highlight "- 28 °C and falling" von Iszoloscope. Marvels Freundin - Georgine heißt sie - war mittlerweile etwas seltener hinterm DJ-Pult und häufiger auf der Tanzfläche. So hatte sie wenigstens etwas Vernünftiges zu tun.
Joujou war heute auch im "Roundhouse", mit ihrem Begleiter Jaro. Wir beschlossen, uns wieder einmal zu verabreden.
Max war ebenfalls da und erzählte, bald würde ich von ihm eine CD bekommen.
Isis mailte Hochzeitsfotos. Mitte März hat sie standesamtlich geheiratet, daheim gefeiert und viele Gäste gehabt. Isis hat ihr kurzgeschnittenes Haar blondiert, passend zum Brautkleid, ein elfenbeinfarbenes ärmelloses Kleid, schmal geschnitten, mit glitzender Applikation. Isis trug Perlenschmuck. Ihr Brautstrauß bestand aus rosa Rosen. Ihr Bräutigam Aeneas trug einen graublauen Anzug.
Das Paar lebt in der Nähe von AC. Sie wollen im Juni eine große Party feiern, in einer Location. Der Sohn, den Isis aus erster Ehe hat, ist beim Kindesvater in der Nähe von H. geblieben. Isis meinte, das sei das Beste für den Jungen, er müsse dann nicht sein Umfeld wechseln und verstehe sich außerdem gut mit seinem Vater.
Als ich wieder bei Henk im Friseursalon war, berichtete er, ihm gehe es nicht gut, er nehme jetzt Cipramil. Seiner Mutter gehe es gut, seiner Katze Bibi auch.
Henks Eltern haben sich Anfang der siebziger Jahre getrennt. Henks Vater heiratete wieder. Mit seiner jetzigen Frau ist er seit Jahrzehnten glücklich. Er wird allerdings zunehmend gebrechlich. Henk hat Kontakt zu seinem Vater, zu seiner Mutter hat er jedoch das engere Verhältnis.
Henk und ich erinnerten uns an die achtziger Jahre. 1986 wollte meine Mutter mich loswerden, weil ihr Partner Wilf mich nicht leiden konnte. Henk nahm mich bei sich auf. Er lebte damals in einer chaotischen WG in BS., die sich über zwei Behausungen erstreckte: die Anderthalb-Zimmer-Wohnung von Henk und seiner alkoholkranken Mitbewohnerin Netty und das Zimmer von Deon, das sich wenige Straßen entfernt befand. Deon zog Allerheiligen 1986 zu Henk, ohne sein Zimmer aufzugeben. Die Einrichtung blieb dort, Deon nahm nur das Nötigste mit. Ich zog am selben Tag bei Henk ein und hatte auch nur das Nötigste dabei. Ich ließ mir den Schlüssel zu Deons Zimmer nachmachen und zog dorthin, als es mir in der Anderthalb-Zimmer-Wohnung von Henk und Netty zu chaotisch wurde, zumal laufend Gäste da waren. Ein ruhiges Wochenende wurde jäh unterbrochen, als an einem Samstagabend Deon und Netty frohgemut in Deons Zimmer kamen und ankündigten, sie wollten abwechselnd das Schlafmittel Bromazepam und schwarzen Tee zu sich nehmen und gucken, was passierte. Ich suchte das Weite, fuhr mit dem Spätzug nach H. und übernachtete in Emmys Wohnung, dank des Schlüssels, den Constri mir organisiert hatte. Emmy, meine Großmutter, war damals für mehrere Monate bei meiner Tante Britta zu Besuch. Ich hatte in der Hochschule einen Wochenendkurs und wollte dafür halbwegs ausgeschlafen sein. Erst am Montag kehrte ich nach BS. zurück.
Das Leben in der WG lief antizyklisch: Geschlafen wurde tagsüber, abends ging es zum Imbiß, und Haschisch wurde organisiert. Nur Henk ging Morgen für Morgen zur Arbeit, und ich kümmerte mich um mein Studium. Deon versuchte eine Ausbildung zum Friseur, doch er hielt mangels innerer Stabilität nicht durch. Übrigens war ich die Einzige in dem Haufen, die keinerlei Suchtmittel konsumierte. Als ich spaziergehen wollte, hatte niemand Lust, mitzukommen. Alle lagen auf den Matratzen. Also ging ich allein durch die novembernebligen Parkanlagen mit den kahlen Bäumen. Beim abendlichen Einkaufen holten wir uns Adventskalender. In Deons Zimmer betrachtete ich das kitschig-bunte Weihnachtsidyll auf meinem Kalender, während ich das Album "Treasure" von den Cocteau Twins und das Album "Sons and Fascination" von den Simple Minds hörte. Diese melancholische Shoegaze-Musik spiegelte meine Stimmung wider und bildete einen Kontrast zu dem Kalender-Idyll.
Weil ich ab Dezember 1986 in Emmys Wohnung logierte und Constri zu mir zog, konnten wir miteinander so Weihnachten feiern, wir wir es gewohnt waren: bürgerlich, mit Tannenbaum, ohne Chaos.
Henk zog im Sommer 1987 nach B. Kurz danach war ich noch einmal in BS. und fand in einem Innenhof Habseligkeiten von Henk - Kleidung und eine Tasche -, die ich mitnahm und aufhob. Ich war wegen eines Konzerts von Wall of Voodoo in BS. Zufällig traf ich dort Deon, und der erzählte mir, daß in dem Hinterhof diese Sachen lagen. Henk hatte nicht mitbekommen, daß seine Wohnung geräumt wurde. Den Brief, in dem die Räumung angekündigt wurde, hatte seine Mitbewohnerin Netty unterschlagen. Bei Deon übernachtete ich, und wir besprachen eine Kassette mit lauter Unsinn. Deon hörte sich diesen Unsinn immer wieder an, bis die Kassette eines Tages kaputtging.
Die Geschichte von Henk und mir - eine platonische Liebe, Gay meets Hetero - reicht bis 1985 zurück, als wir einander in einem Friseursalon, den es heute nicht mehr gibt, als Seelenverwandte erkannten. Dafür reichten wenige Minuten aus. Unsere Vertrautheit ist bruchlos, selbst wenn wir uns jahrelang nicht sehen.
An Berenice mailte ich:

Yori, mit der Rafa dich 1998 betrogen hat (und ihr gegenüber behauptet hat, solo zu sein), hat erzählt, daß sie Rafa ein Dreivierteljahr nach dieser Geschichte nochmal auf einer Party getroffen hat, und da hat er auch gleich wieder gebaggert, sie wolle ihn aber nicht mehr. Was Yori endgültig abgeschreckt hat, war, daß Rafa tatsächlich behauptet hat, er habe in dem vergangenen Dreivierteljahr mit keiner Frau etwas gehabt. Yori war nicht so naiv, Rafa diese Lüge abzukaufen. Man bedenke, die Wahrheit war, daß er seit anderthalb Jahren mit dir zusammen war. Das wußte Yori nicht, sie dachte sich aber, daß er kein Unschuldslamm ist. Die Dreistigkeit, mit der Rafa lügt, finde ich immer wieder beindruckend, ich kann mir nicht helfen.
Rafa will tatsächlich immer nur blutjunge Mädchen. Als er Tyra angegraben hat Ende 2002, und sie sagte ihm, sie sei 19, meinte er, oh, das sei ihm eigentlich schon fast zu alt. Er wolle nur ganz junge Mädchen, damit er die "formen" könne. Wir wissen natürlich, daß es ihm vor allem darum ging, daß die Mädchen ihm völlig unterlegen waren und er uneingeschränkt über sie verfügen konnte.

Berenice schrieb dazu:

Gott, ich weiß nicht, ob ich lachen oder heulen soll.

Sie berichtete, daß Tyra aus ihrer Band ausgestiegen ist. Das sei zwar plausibel, aber doch traurig.
Ich schrieb:

Schade, daß Tyra bei euch ausgestiegen ist. Was hat sie denn dazu bewogen?
Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los, daß Tyra zu Rafa ein höriges Verhältnis hat und sich ihm gegenüber immer wieder verpflichtet fühlt. Meiner Meinung nach ist Tyra sich selbst gegenüber nicht rückhaltlos ehrlich. Wenn sie es wäre, könnte sie womöglich Abhängigkeiten - auch Beziehungs-Abhängigkeiten - nicht aufrechterhalten.

Tyra antwortete mir nicht mehr auf E-Mails und meldete sich auch ansonsten nicht mehr. Ich vermute, daß auch dieses Verhalten im Zusammenhang mit Tyras abhängiger Beziehung zu Rafa steht, der ihren Kontakt zu mir mißbilligt. Immerhin soll Rafa mich schon vor Jahren zum "Staatsfeind Nummer eins" erklärt haben.
Übrigens hat meine Schulfreundin Mariposa sich auch nicht mehr gemeldet, sie antwortet weder auf E-Mails noch auf SMS.
In der Samstagnacht war ich in BI. im "Alien", wo Leif K. aka Mono no aware ein DJ-Set darbot, bestehend aus vielen Stücken von Mono no aware. Ich erschien, kurz nachdem das Set losging, gegen zwanzig vor drei. Ich hatte abends geschlafen, wesentlich länger als geplant, so daß ich mich schon fragte, ob es sich noch lohnen würde, zum "Alien" zu fahren. Und nun war ich gerade zur rechten Zeit da. Ich traf Heloise und Barnet, Joujou und Jaro. Wir tanzten meditativ vor uns hin. Nach dem Set liefen noch mehr schräge und tanzbare Stücke, darunter "Robuste Maschine" von Reaper und "Dreck aus dem Westen" von People's Republic of Europe. Leif K. erzählte, daß er mit People's Republic of Europe demnächst in den Niederlanden auftreten wird.
In der Freitagnacht war ich im "Roundhouse". Max hatte mir eine CD mit neuen Titeln mitgebracht. Das ersehnte "Go to Hell" war nicht dabei; er sagte dazu, das sei kein neues Stück. Er wolle es mir mailen, ich müßte ihm aber meine Meinung zu allen Titeln der CD per E-Mail schicken.
Georgine war nun meistens auf der Tanzfläche; sie schien Gefallen daran gefunden zu haben.
Am Samstagnachmittag waren meine wiedergefundene Schulfreundin Sibyl und ich in der neuen Shopping Mall in der Nähe des Hauptbahnhofs. Wir setzten uns in ein Café und tranken Heißgetränke aus Jumbo-Bechern. Sibyl erzählte von ihrem geschiedenen Mann Cristobal. Sie hänge immer noch an ihm, doch ihr sei klar, daß es keine gemeinsame Zukunft geben könne. Cristobal reiche allzu gerne Verantwortung an andere weiter. Außerdem sei er ihr nicht treu gewesen.
Das erste gemeinsame Kind sei früh verstorben, das zweite Kind habe durch das dritte eine Gesellschaft erhalten, als die Ehe schon im Zerbrechen war. Sibyl meinte, sie sei froh, daß sie ihre beiden Töchter habe und daß die beiden einander hätten. Ihre Jüngste, Ashlyn, ist Manga- und Cosplay-Fan, so wie auch Elaine. Ashlyn hat für mich ein sehr hübsches Manga-Mädchen gezeichnet, ein Portrait.
Sibyl erzählte, daß sie am kommenden Wochenende wieder nach Nigeria fliegt, mit ihren Töchtern und erstmals auch mit ihrer Mutter. Sibyl ist erstaunt und erfreut, daß ihre Mutter sich auf eine Reise in das fremde Land und auf die fremde Kultur einläßt. Sibyl reist in Abständen von mehreren Jahren nach Nigeria.
Sibyl hat Cristobal über Bekannte kennengelernt. In Clubs und Discotheken mag sie nicht gehen, das war noch nie ihr Fall. Sie feiert lieber auf privaten Parties.
Sibyl und Cristobal haben in Deutschland standesamtlich geheiratet und kirchlich in Nigeria. Cristobal ist Katholik. Sibyl ist konvertiert; sie meinte, sie könne mit der katholischen Religion mehr anfangen als mit der evangelischen, weil die katholische strukturierter sei. Das komme auch den Kindern entgegen. Ashlyn sei von sich aus auf die Idee gekommen, Meßdienerin zu werden, und sie mache das sehr gerne.
Nach dem Ende ihrer Ehe hatte Sibyl einige kürzere Liaisons, immer mit Nigerianern. Cristobal hat wieder eine Lebensgefährtin und mit ihr zwei Kinder. Sie wohnen in derselben Stadt wie seine Eltern, Enugu. Sibyl versteht sich besonders gut mit Cristobals Mutter und einer Schwägerin.
Sibyl wußte nach dem Abitur noch nicht, wohin sie sich beruflich orientieren wollte. Schließlich entschied sie sich für eine Ausbildung zur Krankenschwester. Sie mag ihren Beruf, die Freude daran wird jedoch durch den allgegenwärtigen Personalmangel gedämpft.
Cristobal hat bis zum Physikum Medizin studiert, dann jedoch nicht durchgehalten. Gegenwärtig lebt er von Mieteinkünften aus einem Mehrfamilienhaus, und seine Mutter gibt ihm von ihren Pachteinkünften etwas ab. Die Familie ist dem Dorf verbunden, aus dem sie stammt, ist aber schon vor längerer Zeit in die Stadt gezogen.
In Enugu bewegt man sich mit Bus und Taxi oder mit dem eigenen Wagen. Geschwindigkeitskontrollen gibt es in Nigeria nicht, es gibt auch keine Verkehrsregeln. Sibyl fährt nur in Nigeria Auto, in Deutschland macht es ihr keinen Spaß.
Lebhaft bunte, traditionelle Kleider werden in Nigeria viel getragen. Sibyl und ihre Töchter passen sich dort gern an. Hierzulande wird die aktuelle Mode bevorzugt. Sibyl kann allerdings nicht so, wie sie gerne würde. Sie hat Größe 52. Ich empfahl ihr den Second Hand Shop in SHG.
Sibyl hat in ihrer Schulzeit gar nicht erst versucht, in irgendwelchen Cliquen aufgenommen zu werden:
"Ich wußte, ich war zu dick und damit indiskutabel."
Ihre Eltern machten ihr haufenweise Vorschriften, auch was die Kleidung betraf, so daß sie sich eingesperrt fühlte und früh zu Hause auszog.
Mit Sibyl ging ich in die Spielwarenabteilung eines Kaufhauses, um für mein Patenkind Ida eine Barbie-Puppe zu kaufen. Ida wünscht sich eine, ihre Mutter Lisa mag diese Puppen jedoch nicht. Ich suchte eine "Steffi Love"-Puppe aus. Die hat Barbie-Maße, ich finde jedoch deren Gesicht hübscher als die der Barbies, die zur Zeit angeboten werden.
Abends war ich bei Revil, der seinen Geburtstag feierte. Revils Lebensgefährtin Lania war da, außerdem Melvin, Onno, Endera und andere Bekannte, jedoch nicht Taidi und dessen Freundin. Es war zu erfahren, der Auslöser für die Konflikte in den vergangenen anderthalb Jahren - die beim herbstlichen Entenessen offenkundig wurden - sei letztlich auf Trisha zurückgegangen, mit der Melvin etwas gehabt hatte und die daher keinen Kontakt mehr zu Melvin wollte, ihn also auch nicht beim Entenessen sehen wollte. So kam es, daß Taidi sich mit so gut wie niemanden mehr zum Entenessen verabredete und sich mit seiner Freundin Siglene isolierte. Er, der andere ausschließen wollte, hatte sich am Ende selbst ausgeschlossen.
Zoë läßt sich immer seltener auf Parties sehen. Böse Zungen vermuten, daß sie sich prostituiert. Zoë soll außerdem Nacktfotos von muskulösen Männern gemacht haben, die sich auf Grabsteinen räkeln.
Vor einiger Zeit soll Zoë ein Date von Jen sabotiert haben, dem ehemaligen Lebensgefährten von Zoës ehemals bester Freundin Cindia. Mit Jen und Cindia ging es vor mehreren Jahren auseinander, nachdem Zoë sich für eine Nacht von Jen hatte bezahlen lassen - so wird es zumindest erzählt.
Neulich soll Zoë um dieselbe Zeit an der Uhr am CITICEN erschienen sein, um die Jen dort ein Date hatte. Zoë soll ihre Anwesenheit damit begründet haben, daß sie mal zuschauen wollte, wie es sei, wenn zwei Leute sich kennenlernten. Als die Neueroberung von Jen erschien, soll Zoë sie gewarnt haben: der Jen, das sei ein ganz Schlimmer.
Ende März fuhren Constri, Denise und ich nach FR. Wir kamen spätabends dort an. Constri und Denise übernachteten bei unserer Tante Britta und deren Mann Wilko in FR., und ich übernachtete bei meiner Cousine Vivien und ihrer Familie in Dnz., einer Ortschaft nördlich von FR. Am Montag fuhren Constri und ich nach dem Frühstück mit Shara zur Burgruine von EM. und machten Dreharbeiten. Denise blieb bei Vivien und durfte ihr dabei helfen, die fünf Monate alte Deta zu versorgen, den kleinen Sonnenschein der Familie. Constri hatte viele seltsame Requisiten mitgenommen. Bei Shara bastelte sie aus einem Stock, einem weißen, netzähnlichen Schleier und auseinandergezogener Stahlwolle eine Mischung aus Zauberstab, Fahne und Angel. An den Stab kam vorne eine Zierspitze, und er wurde mit silbergrauem Gafferband umwickelt und sah ziemlich bizarr aus. Constri arbeitete mit Handschuhen. Shara tat das auch, nachdem er sich an der Stahlwolle geschnitten hatte und mit einem Pflaster verarztet worden war. Shara servierte uns türkischen Tee mit Kardamom.
An der Burgruine zog ich eine schier endlos weite und lange schwarze Lack-Kutte mit überdimensionierter Kapuze über. Ich sollte wie eine Außerirdische wirken. Shara half, die wehenden Stoff- und Stahlwollebahnen zu ordnen. Ich nahm den Stab in die Hand und spielte Angeln. Mit etwas hochgebundener Kapuze ging ich über mittelalterliche Mauern.
Aus dem Internet wußte ich, daß das Wetter nur heute zum Drehen taugte. Tatsächlich war es trocken, und dazu wehte ein recht starker Wind, so daß die Schleier und Bahnen ordentlich wehten und schöne Muster erzeugten. Constri war vor allem von den Nahaufnahmen der wehenden Bahnen begeistert. Ob sie allerdings etwas aus den Aufnahmen macht, ist fraglich. Ihre kreative Energie erlahmt immer mehr.
Nachmittags spielten die sechsjährige Denise und Viviens vierjähriger Sohn Jay miteinander. Sie verstehen sich sehr gut. Jay nimmt immer ein Modellauto mit ins Bad, zum Essen und in den Kindergarten. Dieses Auto darf er sich vorher aussuchen. Manchmal nimmt er auch einen Modellauto-Katalog mit in den Kindergarten.
Abends fuhr ich mit Shara zu einem Gasthof in EM., wo wir leckere Schnitzel aßen. Shara erzählte von seiner Lebensgefährtin Marli. Inzwischen ist sie von GI. zu Shara nach EM. gezogen und arbeitet in OG. als Sozialarbeiterin in einem Jugenddorf. Sie macht ihre Arbeit gern und mit Idealismus. Shara ist mit seiner Doktorarbeit beschäftigt. Als Musiker ist er zur Zeit kaum tätig, hat aber den kurzen Auftritt seiner Band vor einigen Wochen sehr genossen.
Shara meinte, Constri habe es insofern wesentlich leichter im Leben als er, als sie Unterstützung durch ihre Angehörigen erfahre. Er hat keinen Kontakt mehr zu Angehörigen. Sein Vater und seine Ziehmutter sind lange tot. Über mich sagte Shara, ich sei gewiß sozialer als er. Ihm falle es eher schwer, ein soziales Netz zu installieren.
Shara und ich unterhielten uns über unsere Schulzeit und Jugend. Shara erzählte, sein aggressiver, herrischer Vater habe ihm das Leben zur Hölle gemacht. Im Alter von elf Jahren sei er durch seinen Vater vorübergehend in eine türkische Irrenanstalt "verbannt" worden. Warum die Kinder- und Jugendpsychiater dabei mitspielten, ist unbekannt.
Ich erzählte, daß das Gruselkabinett meiner Kindheit und Jugend vor allem in der Schule stattfand. Tag für Tag ging ich dorthin und wurde Tag für Tag von Feindseligkeit empfangen. Es dauerte Jahre, ehe ich auf die Idee kam, die Schule zu wechseln. Schulverweigerung kam für mich niemals infrage, weil ich auf jeden Fall Abitur machen wollte.
Gegen zehn Uhr abends kam ich zurück nach Dnz. Mit Vivien, ihrem Mann Alban und ihrem Bruder Corell saß ich im Wohnzimmer. Es gab Soave. Corell erzählte, daß er seine Lebensgefährtin Talia nur alle paar Wochen sieht und daß sie noch keinen gemeinsamen Wohnort gefunden haben. Das hat vor allem berufliche Gründe. Agraringenieurin Talia ist in Madrid beruflich gut versorgt und hätte in Deutschland bei Weitem nicht dieselben Möglichkeiten. Tonmeister Corell hat noch seine Arbeit bei einem Musikverlag in FR., doch die wurde mittlerweile umstrukturiert und ist für ihn nicht mehr so attraktiv und erfüllend wie anfangs.
Alban meinte, er gehe auch mehr aus Pflichtgefühl zur Arbeit. Die Bezahlung sei ausreichend gut, der Job mäßig sicher, das sei schon etwas wert.
Vivien kümmert sich vorwiegend um die kleinen Kinder und hat bisher nicht die Möglichkeit, in Vollzeit als Richterin zu arbeiten.
Beide Paare haben ihre Vorliebe für klassische Musik gemeinsam. Beide Paare haben sich durch Chöre gefunden. Auch die Eltern von Vivien und Corell, Britta und Wilko, haben sich durch einen Chor kennengelernt.
Am Dienstagmorgen frühstückten Alban, Vivien, Jay und ich miteinander. Deta schaute von der Babywippe aus zu. Jay trug einen Pullover, den Vivien entworfen und gestrickt hatte. Kunstvoll war auf der Vorderseite ein Baukran gestrickt, und der linke Ärmel trug eine Backsteinmauer als Muster. Auf dem Rücken fuhr ein Betonmischer-Lkw. Ich fotografierte begeistert den Pullover, mit Kind darin.
Mittags und nachmittags waren Constri, Denise, Vivien, Deta und ich bei Britta und Wilko. Constri machte viele Filmaufnahmen, vor allem von den Kindern.
Britta hat eine verkümmerte Christrose auf dem Balkon so herangezogen, daß sie viele schöne Blüten trägt. Britta hat sie im Sonnenlicht fotografiert. Sie zeigte uns einen Fotokalender, auf dem ein Bild zu sehen ist von einem Teich im Nebel, von Birken umstanden. In dem graublauen Licht erscheint die Landschaft unwirklich-märchenhaft. Britta hat das Foto gemacht, es sieht beinahe aus wie ein Gemälde.
Abends fuhren Constri, Denise und ich nach S. Beim Frühstück erzählte mein Onkel Irmin, dass seine hochbetagte Nachbarin verstorben ist, vor etwa acht Wochen. Sie wurde fast hundert Jahre alt. Nun steht ihr Haus kurz vor dem Abriß.
Irmin und seine Frau Jana haben Janas Mutter bei sich aufgenommen, die lebt nun in Lisas ehemaligem Jugendzimmer.
Constri, Denise und ich holten mittags Lisas jüngere Kinder Amaryllis und Lilia vom Kindergarten ab. Wir fuhren mit ihnen zu ihrer neuen Wohnung. Sie sind in ein Mehrfamilienhaus gezogen, bei dem es sich um ein ehemaliges Fabrikgebäude handelt. Bis vor Kurzem hatte ich nicht gewußt, daß es in dem bäuerlich geprägten Stadtteil Rh. eine Fabrik gegeben hat. Es war eine Nudelfabrik, die Ende der siebziger Jahre aufgegeben wurde. Nach einigen Jahren Leerstand wurde das Gebäude in ein Familien-Wohnprojekt umgewandelt. Die ursprüngliche Funktion des Gebäudes erklärt dessen waghalsige Architektur, die ungewöhnlich ist für ein Wohnhaus: steile Treppen, verwinkelte Flure, unübliche Fenstermaße - zwischen winzig kleinen Gucklöchern und vollverglasten Wänden -, Arkaden-Balkonwege und weitläufige Penthouse-Dachterrassen. In diesem labyrinthhaften Gebäude haben Lisa und ihre Familie nach ihrem Auszug aus Friederikes baufälligem Haus ein neues Heim gefunden - in luftiger Höhe, im dritten Stock, mit Panoramablick, zwei Balkons und großzügiger Wohnküche; sogar einen Kaminofen gibt es da. Lisas älteste Tochter Ida hat in der neuen Wohnung endlich ein eigenes Zimmer.
Ida war schon zu Hause, als wir ankamen. Constri und ich bereiteten das Mittagessen zu, so daß alles auf dem Tisch stand, als Lisa heimkam. Lisa macht eine Weiterbildung zur Waldorf-Pädagogin. Waldorf-Pädagogik sehe ich sehr kritisch wegen des unentrinnbaren Steiner-Personenkults. Jedweden Dogmatismus lehne ich ab, da er die Menschen am selbständigen Denken und Beurteilen hindert. Ida wird denn auch in der Waldorf-Schule mit dogmatisch-esoterischen Inhalten gefüttert, wobei das, was als Allgemeinbildung gilt, naturgemäß zu kurz kommt. Ida gleicht das Fehlende durch ihre Leselust in gewisser Weise wieder aus.
Lisa akzeptierte die Barbie-Puppe, die ich Ida mitbrachte, nachdem ich betont hatte, es sei eigentlich keine richtige Barbie, sondern eine Steffi Love. Ida frisierte die Puppe, zog ihr die Kleider aus und wieder an und integrierte sie in ihre Spielzeugwelt.
Lisa hat die Sorge, daß Ida die Barbie-Figur zu ihrem Vorbild nehmen könnte, doch ich gehe eher davon aus, daß Ida die Puppe mit dem erwachsenen Aussehen als Identifikationsfigur braucht. Ich wollte auch nie so dürr sein wie Barbie, doch war es mir schon in Kindertagen wichtig, Puppen zu haben, die wie Erwachsene aussahen. Mit kindlich aussehenden Puppen konnte ich mich nicht identifizieren, mit erwachsen aussehenden Puppen hingehen schon.
Ida hatte mir geschrieben, daß sie sich in ihrem Zimmer gerne einschließen würde, doch das wolle Lisa nicht. Ida fragte mich, "wie man Schwestern los wird". Ich empfahl ihr ein unmißverständliches "Raus!". Ida erzählte, sie wolle ein Schild vor die Tür hängen, das anzeige, ob man ihr Zimmer betreten dürfe oder nicht. Sie hatte schon eine Vorstellung, wie man es so gestalten konnte, daß auch ein kleines Kind wie ihre jüngste Schwester Lilia, das noch nicht lesen kann, die Bedeutung des Schildes versteht.
Lisa mochte Ida nicht zugestehen, daß sie sich einschloß, weil sie Streit mit Chandra vermeiden wollte, ihrem Partner und dem Vater ihrer Kinder. Chandra ist ohne Privatsphäre aufgewachsen und will nicht, daß es seinen Kindern besser ergeht als ihm früher. Heutzutage nimmt Chandra sich freilich das Recht heraus, sich jederzeit abzusetzen und sich in die Einliegerwohnung im Hause einer benachbarten Familie zurückzuziehen, die er als Büro angemietet hat. Diese Mietsache belastet das Familienbudget und führt dazu, daß Chandra sich an der hohen Miete für die neue Wohnung nur mit dreihundert Euro beteiligt.
Ich erzählte Lisa, daß Ida schon zufrieden wäre mit einem Schild, das unerwünschte Besucher fernhält - immer vorausgesetzt, daß dieses Schild respektiert wird. Ich erinnerte Lisa daran, daß sie sich als junges Mädchen mit Vorliebe eingeschlossen hat und daß ihre Eltern ihr das auch zugestanden haben:
"Bedenke - daß Ida sich zurückziehen will, hat sie von dir geerbt."
Lisa nahm das zu Kenntnis. Sie hat aus ihrer Jugendzeit vieles vergessen.
Abends war ich mit Ida auf dem Fernsehturm. Ich suchte für Ida im Schrank einen Minirock aus rosarotem Feincord hervor, damit sie etwas Schickeres anzog als den grünen Karnevals-Lumpen, den sie so gerne trägt. Ich kämmte Ida die langen Haare ordentlich nach hinten und bändigte sie mit einen Haarreif. Die zehnjährige Ida ist ein bildschönes Mädchen, doch Lisa scheint es nicht zu passen, wenn Ida das bewußt ist. Lisa scheint mit dem Selbstbewußtsein anderer Menschen nicht zurechtzukommen, vielleicht weil es ihr selber daran fehlt.
Ida und ich waren nur für wenige Minuten auf der Aussichtsplattform des Fernsehturmes. Es ging ein so starker Wind, daß wir rasch ins Bistro flüchteten. Dort kehrten wir ein und hatten es sehr gemütlich. Der Turm schwankte vor sich hin. Ida erzählte Kinder-Witze:
"Klein Fritzchen verspricht Klein Erna:
'Wenn du mir fünf Euro gibst, verrate ich dir das Password, daß du an dem Computer von Papa spielen kannst.'
Klein Erna gibt Klein Fritzchen fünf Euro. Nun soll er ihr das Password verraten und sagt:
'*****'"
... und:
"'Feuere den Ofen an.'
'Ofen vor, noch ein Tor!'
'Nein, du sollst den Ofen anmachen.'
'Ofen, hast du heute schon was vor?'"
Am Donnerstagmorgen fand ich Ida in der Beletage von Irmins Haus, im großen Balkonzimmer mit Glaserker. Ida las die Harz-Sagen, die ich als Geschenk für die Familie mitgebracht hatte. Chandra hatte zu Idas Mißbefindlichkeiten, die sie davon abhielten, zur Schule zu gehen, seine eigene Theorie:
"Sie leidet an Tantitis ... Patentantitis."
Ida wolle so viel Zeit wie möglich mit dem Besuch aus H. verbringen, da sei die Schule hinderlich.
In Lisas Wohnung bereiteten Constri und ich wieder das Mittagessen zu, so daß gedeckt war, als Lisa heimkam. Lisa war froh, nicht kochen zu müssen. Sie fühlt sich sehr gestreßt und weiß nicht, wie sie dazu kommen soll, sich auszuruhen.
Am Nachmittag schauten wir Ida beim Kunstrad-Fahren in der Turnhalle zu. Viele Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren lieben diesen Sport, der allerdings ziemlich gefährlich ist. Die Lehrerin erzählte, daß es regelmäßig zu Verletzungen bis hin zu Knochenbrüchen kommt. Davon lassen sich die Kinder aber nicht abschrecken.
Abends hüteten Constri und ich alle Kinder, während Lisa bei einer Waldorf-Lehrerkonferenz war. Denise und Amaryllis dekorierten das Badezimmer mit langen Filzkordeln, die sich quer durchs Bad zogen, so daß man kaum noch hineinkonnte. Damit die dreijährige Lilia nicht zu kurz kam, machten wir Denise und Amaryllis zur Auflage, daß sie die Kleine in ihr Spiel miteinbezogen. So konnte Ida sich am Eßtisch in Ruhe mit ihren Hausaufgaben befassen. Sie wollte am morgigen Tag wieder zur Schule gehen.
Ida hat ein Poesie-Album, in dem sich schon einige Freunde und Verwandte eingetragen haben. Ich machte das nun auch.
Gemeinsam mit Denise studierte Ida ein Varieté ein. Die beiden führten es vor, als Lisa wieder da war.
Zur Schlafenszeit warf Ida einige Male ihre Zimmertür ins Schloß. Lisa fand das unerhört. Ich vermutete, daß Ida ein Problem wälzte. Lisa kam auch darauf, was es sein konnte:
"Ida hat in der letzten Zeit zu wenig von ihrer Mama gehabt."
Als Ida wieder einmal zum Vorschein kam, winkte Lisa sie her und legte den Arm um sie, was Ida dankbar annahm.
Mit allen Kindern wurde das "Waldschattenspiel" gespielt. Dieses Spiel erfordert die Anwesenheit von Erwachsenen, weil dabei eine brennende Kerze zum Einsatz kommt. Auf einem dunklen Spielbrett werden aus Holz gesägte, tief dunkelgrüne Nadelbäume aufgestellt, die jeweils aus zwei Teilen zusammengesteckt wurden. Im dunklen Zimmer gibt eine Kerze auf dem Spielbrett das einzige Licht. Die Kerze wechselt immer wieder ihre Position. Kleine bunte Zwergfiguren müssen nun von den Spielern so bewegt werden, daß das Licht der Kerze sie nie trifft. Gewonnen haben die Spieler, wenn sie alle Zwerge im Schatten derselben Tanne versammelt haben.
Am Freitag gab es zu Lisas Geburtstag ein Mittagessen in Irmins Haus. Lisas Mutter Jana schenkte Lisa ein Album mit Fotos aus Lisas Familien- und Lebensgeschichte. Ein Hochzeitsfoto von Jana und Irmin war dabei, Fotos von Lisas Taufe und von ihrer Konfirmation. Als Konfirmandin wirkte Lisa deutlich weniger brav als ihre Mitkonfirmanden. Sie trug einen langen schwarzen Samtmantel, ihren damaligen Lieblingsmantel.
Am Nachmittag gab es Geburtstagskaffee in Lisas Wohnung. Auch Friederike war dabei und eine ältere Bekannte der Familie, Frau Serssner, eine Art adoptierte Oma.
Friederike ist eine Cousine der Mutter meines Vaters. Sie hat ihren Mann im Krieg verloren und ihren Sohn gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Margarethe aufgezogen. Margarethe starb mit fast hundert Jahren. Friederike wird nächstes Jahr auch schon neunzig. Sie hat, ebenso wie Margarethe, das ganze Leben in ihrem Vaterhaus verbracht, ein zweistöckiges Gebäude in einem Bachtal in Rh. Das Gebäude ist baufällig. Friederikes Sohn hat auf dem recht großen Grundstück in den siebziger Jahren ein eigenes Haus für seine Familie gebaut. Nach Friederikes Tod wird er das alte Haus abreißen lassen. Für Lisa und ihre Familie, die lange im Obergeschoß dieses Hauses gewohnt haben, war der Umzug in die jetzige Wohnung auch aus gesundheitlichen Gründen notwendig, denn Amaryllis leidet an Asthma, und in dem Haus ist es ziemlich staubig.
Friederike bedauert, daß Lisa mit ihrer Familie weggezogen ist. Sie wünscht sich, dass oben bei ihr im Haus wieder jemand einzieht. Sie vermißt ihre Schwester Margarethe noch immer sehr.
Jana zeigte das Fotoalbum für Lisa, in dem sich auch ein Hochzeitsfoto der Eltern meines Vaters befindet. Karoline, die Mutter meines Vaters, hat fünf Kinder. Ihr Mann blieb im Krieg. Kurz vor der Hochzeit mußte Karoline ihre Schwester beerdigen, die nicht einmal dreißig Jahre alt wurde. An welcher Krankheit sie starb, ist nicht vollständig geklärt. Karoline heiratete mit weißem Schleier, aber im schwarzen Kleid, weil sie in Trauer war.
Jana fragte Friederike nach den Namen einzelner Personen auf alten Familienfotos. Friederike kannte noch viele von ihnen - als Angehörige einer Generation, die sich allmählich verabschiedet.
In der Freitagnacht war ich im "Doomsday", wo Torvil auflegte. Brandon war ohne das Mädchen dort, mit dem ich ihn die letzten Male gesehen hatte. Er unterhielt sich sehr angeregt mit Kioran, denn die beiden verbindet eine ähnlich unglückliche Liebesgeschichte. Kioran hat Eden, die ihn nicht erhörte, neulich im Arbeitsamt getroffen. Er hat demonstrativ durch sie hindurchgeblickt, als sie ihn grüßte. Er meinte, Eden habe viel versprochen, aber sich auf nichts festgelegt.
Ob es sich bei Brandons unglücklicher Liebe um das Mädchen handelt, das in den letzten Wochen an ihm klammerte, fragte ich nicht nach, um nicht indiskret zu sein.
Brandon hat sein Studium mit der Note 1,3 abgeschlossen und möchte seine Doktorarbeit am liebsten in Edinburgh oder Dublin schreiben. Die Finanzierung ist noch ungewiß.
Brandon und ich unterhielten uns über Eltern, die mit Vorhaltungen um sich werfen, so daß sich die Kinder rar machen, um sich zu schützen. In der Folge neigen solche Eltern dazu, ihre Kinder zu erpressen, um das gewünschte devote Verhalten zu erreichen. Brandon kennt das von seiner Mutter, ich kenne das von meinem Vater, der überwiegend durch Vorwürfe Kontakt zu seinen Kindern aufnimmt.
Brandon hat sich auf meiner Website umgesehen. Die Kurzgeschichte, die ihm am besten gefällt, ist "Tiefsendung". Er fühlt sich von der Atmosphäre angesprochen, "irgendwo zwischen Neugier und Sehnsucht". Er hat als Kind selber "Tiefsendung" geguckt. Ihm ist die Technik vertraut, mit der man experimentelle Filme anschauen kann, indem man die Fäuste auf die geschlossenen Augen legt.
Brandon meinte, ich sei in den Kurzgeschichten immer sehr präsent, als kleine Industrial-Fee zwischen gewaltigen düsteren Maschinen.
Ab und zu schaue ich nach, was sich in Rafas W.E-Forum tut. Derzeit ist dort zu lesen:

Hallo!
Demnächst gibt es hier das neue W.E-Forum!

Seit zwei Jahren geht es nicht mehr über Ankündigungen hinaus.
Sarena hat übrigens auf ihrem Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse das einzige Foto entfernt, auf dem sie mit einem Mann zu sehen ist.
Am Donnerstag besuchte ich nachmittags Kurt und Cecile mit ihren Töchtern. Sie wohnen in einem kleinen Dorf mitten in einem Höhenzug, von Wald umgeben. Heute lernte ich das jüngste Familienmitglied kennen, die kleine Solveig, die im vergangenen Jahr zur Welt gekommen ist. Die älteste Tochter - Dagni - ist vier Jahre alt, die zweitälteste - Yvni - ist zwei Jahre alt. Ich werde den Verdacht nicht los, daß Kurt sich insgeheim einen Sohn wünscht. Er hätte gerne noch ein viertes Kind. Vielleicht hofft er, daß dieses nun endlich ein "Thronfolger" wird.
Cecile arbeitet in einer Sonderschule in Bad N., sie hat eine Drittel-Stelle. Kurt ist in Elternzeit und hat ein Opfer gebracht, das viele Eltern gegenwärtig bringen: Er ist mit seinen beiden Großen in den Film "Prinzessin Lilifee" gegangen, der akkurat auf die Wünsche von Mädchen im Kindergartenalter zugeschnitten ist. Der zuckersüße Film ähnelt einer klebrigen rosafarbenen Masse. Kurt ist Diabetiker, und ich fragte ihn, ob er für den Film eine Extradosis Insulin gebraucht hat, um einer Überzuckerung zu entgehen. Kurt erzählte, er habe gerade noch so durchgehalten.
Dagni schenkte mir zwei Kieselsteine und ein Efeublatt als Glücksbringer. Ich dekorierte alles unter dem Autoradio.
Abends war ich im "Keller" zum Rippchenessen. Ich erzählte Highscore, daß einer meiner Patienten behauptet hat, Privatpersonen dürften vollautomatische Waffen besitzen. Highscore verneinte das. Solche Waffen seien ausschließlich für den militärischen Gebrauch zugelassen. Immerhin hat der Patient berichtet, seine Waffen mittlerweile abgegeben zu haben.
Mavis ist immer noch begeistert von ihrem Praktikum im sozialpädagogischen Bereich. Sie findet dort mehr und mehr ihre Berufung.
Lison traf ich nach langer Zeit wieder. Sie studiert in HH. Medizin und ist deshalb nur noch selten in SHG. Lison empfahl mir ein experimentelles Industrial-Konzert von Larvae, das am kommenden Abend in einem Kulturzentrum in der Nordstadt von H. stattfinden sollte. Dort befand sich früher eine Schokoladenfabrik. Das verlassene Fabrikgelände war jahrelang von Punks besetzt, bis die Stadt dort Wohnungen einrichtete und das Kulturzentrum.
Larvae ist ein US-Amerikaner, der auch schon beim "Maschinenraum"-Festival aufgetreten ist. Der Tag seines Auftritts in H. war Karfreitag. An diesem "stillen Feiertag" darf es keine Tanzveranstaltungen und Konzerte geben, doch Larvae durfte auftreten, weil die Show als Videoabend konzipiert war. Larvae zeigte Filmchen von seiner Deutschland-Tour, vermischt mit Nachrichten-Ausschnitten, in denen immer wieder er selbst mit seinem Ghettoblaster auftauchte - neben Politikern, gekrönten Häuptern, auch dem Papst. Überall hatte er sich hineinkopiert. Unterlegt war das Ganze mit atonaler elektronischer Musik, teilweise auch rhythmisch.
Das Kulturzentrum ist wie ein historisches Kino eingerichtet, mit den typischen Klappsesseln. Ich traf Kitty und Vico, und wir setzten uns nebeneinander. Kitty betrachtete mißbilligend die Fünfziger-Jahre-Wohnzimmermöbel, die als Vintage-Dekoration in eine Ecke gestellt worden waren. Sie beklagte, diese Möbel störten sie, da sie sie an Rafa erinnerten, der ein Fünfziger-Jahre-Fan ist. Ich merkte an, die Verkultung des Fünfziger-Jahre-Stils sei ein allgemeiner Trend in den achtziger Jahren gewesen, das Jahrzehnt, in dem das Kulturzentrum seinen Ursprung hat. Rafa habe diesen Vintage-Trend lediglich übernommen, ihn keineswegs erfunden.
"Trotzdem", sagte Kitty, "ich muß immer an Rafa denken, wenn ich diese Möbel sehe, und das stört mich."
"Das ist wohl mit recht unangenehmen Erinnerungen für dich verknüpft", vermutete ich.
Oh ja, das bestätigte Kitty. Besonders habe ihr an Rafa mißfallen, daß für ihn nichts und niemand auf dieser Welt etwas wert sei, abgesehen von ihm selber.
"Rafa ist sich selbst auch nichts wert", meinte ich. "Er tut zwar immer so, aber das ist Fassade. In Wahrheit entwertet er die Welt um sich herum nur, damit er sich selbst wertvoller vorkommt."
Kitty erzählte, während ihres Kostümdesign-Studiums sei ihre Tätigkeit bei W.E hilfreich gewesen, da sie etwas Geld damit verdient habe. Ein Job sei es gewesen, weiter nichts.
"Ich bin froh, daß ich diesem Monstrum nie wieder in meinem Leben begegnen muß", seufzte sie.
Als ich erzählte, daß ich nicht nur Industrial mag, sondern auch Bands wie die Killers, wunderte sie sich:
"Du magst die Killers?"
Sie mag diese Band ganz besonders.



Am Ostersonntag fuhr ich nach COE., wo eine Gothic-Modemesse stattfand. Ich kam gerade rechtzeitig zu Berenices Konzert. Es war eine nachmittägliche Rahmenveranstaltung der Messe. Berenice und Baryn traten gemeinsam mit einem Mädchen auf, das Violine spielte. Das Stück "Kalte Liebe", das mir besonders gefällt, wurde heute auch wieder gespielt, außerdem ein neues, "Rubber Doll", das sich dagegen richtet, daß Frauen vielfach auf eine Rolle als Objekt reduziert werden oder sich darauf reduzieren lassen.
Am Merchandize-Stand kaufte ich Berenices Album. Im Booklet gibt es viele Bandfotos, auf denen auch Tyra zu sehen ist. Berenice erzählte, Tyra wolle nicht mehr mitmachen, weil sie glaube, die Band komme auch ohne sie aus. Ansonsten verstehe man sich nach wie vor gut, auch wenn Tyra - nach wie vor - schwer erreichbar sei.
Während im Saal eine Modenschau stattfand, gingen Berenice und ich nach draußen und unterhielten uns. Wir redeten über "Rubber Doll" und Frauen, die nur eine Rolle als Objekt spielen. In diesem Zusammenhang kamen wir auch auf Rafa zu sprechen. Berenice sagte nachdenklich:
"Mit Rafa hat man doch echt nichts verpaßt. Manchmal, wenn ich ihn betrachtet habe, wie er neben mir saß, in löchrigen Shorts und einem alten T-Shirt, da dachte ich, echt, da gibt es doch Besseres ... Lust hatte ich auf ihn sowieso in dem ganzen letzten Jahr unserer Beziehung nicht mehr ... ich meine, Sex mit Rafa war eh nie das ... das war wirklich nicht ..."
"Weil er sich nie gibt", deutete ich. "Sex hat bei dem nichts mit Leidenschaft zu tun."
"Ich hatte nie das Gefühl, daß Rafa sich wirklich für mich interessiert", erzählte Berenice. "Dabei hat er immer so geredet:
'Berenice, ich will dich heiraten und mit dir Kinder haben. Ich will mit dir auf der Terrasse sitzen und mit dir alt werden. Los, Berenice, krieg' endlich Falten!'"
"Wenn man bedenkt, daß Rafa in genau demselben Zeitraum immer wieder zu Tyra gesagt hat, sie ist seine große Liebe, er will sie heiraten ... wenn man bedenkt, mit welcher Unverfrorenheit und Dreistigkeit dieser Mann lügt ..."
"Anfang 1997 sind wir zusammengekommen", erinnerte sich Berenice. "Damals, in der Zeit, hat Rafa mich mal angerufen und wollte unbedingt mit mir ins 'Zone'. Ich lag mit einer Gehirnerschütterung und mehreren Verletzungen im Bett und fühlt mich überhaupt nicht danach."
"Eine Gehirnerschütterung?"
"Ja, der Freund, den ich davor hatte, hatte mich zusammengeschlagen. Rafa hat auf mich eingeredet ... daß er unbedingt mit mir ins 'Zone' wollte, daß er auch fahren würde ... da habe ich ihm erzählt, was los war. Und da hat er gesagt:
'Ich würde nie eine Frau schlagen.'
Wenn ich daran denke ... wie der gelogen hat ..."
"Der lügt mit unglaublicher Dreistigkeit."
"Eigentlich habe ich schon zu Beginn unserer Beziehung gewußt, daß er Frauen schlägt", erinnerte sich Berenice. "An der Badezimmertür gibt es Schlagspuren. Rafa hat die mir gezeigt und erklärt, daß Luisa mal vor ihm ins Bad geflüchtet ist und sich eingeschlossen hat, und er hat mit einem Gegenstand an die Tür gehauen, daß die Macke 'reinkam. Ich habe es also gewußt, und wenn das für mich ein Trennungsgrund gewesen wäre, hätte ich mich getrennt. Ich denke, wenn ein Mann eine Frau schlägt, gehören da immer zwei zu. Ich denke, ich wollte das nicht anders. Ich habe es herausgefordert. Denn egal, was Rafa getan hat - ob er mich auf den Kopf geschlagen hat, ob er mir Zähne ausgeschlagen hat, ob er mir eine Rippe gebrochen hat - ich habe dabei nie meinen Stolz verloren. Ich war immer noch ich selbst, und diese Erfahrung war mir wichtig, und ich habe sie immer wieder gesucht, auch bei meinen vorherigen Freunden. Also bin ich mindestens ebenso schuld wie Rafa."
"So wie du verhalten sich geschlagene Kinder", deutete ich. "Wenn ein Kind mißhandelt wird, hat es Vernichtungsängste. Und es ist froh, wenn es überlebt, wenn es noch vorhanden ist. Solche Erfahrungen können dazu führen, daß das Opfer sich im Erwachsenenalter immer wieder schlagen läßt, um sich zu vergewissern, daß es dadurch nicht verschwindet."
"So gesehen war Rafa für mich die beste Therapie", meinte Berenice. "Seit meiner Beziehung mit Rafa hat das aufgehört, ich brauche mich nicht mehr schlagen zu lassen. Deshalb sind die Jahre mit Rafa für mich auch keine verlorenen Jahre."
"Was ich Rafa anlaste, ist, daß er gezielt die Schwächen anderer Menschen ausnutzt", betonte ich. "Er hat erkannt, wo deine Schwächen liegen, und er hat sie eiskalt ausgenutzt. So macht er das mit allen. Er weiß genau, was er tut. Deshalb hat er in meinen Augen die Schuld an allem, was er getan hat, und zwar ganz allein. Außerdem geht es hier nicht nur um Peitschenhiebe wie im BDSM-Club. Es geht um ein anderes Kaliber. Es geht darum, daß er Tyra durch sein Verhalten in den Selbstmord getrieben hat und daß sie nur durch einen Zufall überlebt hat. Es geht darum, daß er dir Verletzungen zugefügt hat, die tödlich verlaufen konnten. Es geht darum, daß Menschen durch ihn zu Tode kommen können. Und das ist der Punkt, wo ich mir die Frage stellen muß, ob ich schweige oder rede. Inzwischen habe ich mich dafür entschieden, zu reden und die Mädchen nicht mehr blind in ihr Unglück laufen zu lassen."
Berenice hatte bisher geglaubt, Rafa sei noch mit Darienne liiert, weil Darienne weiterhin Mitglied bei W.E ist. Ich berichtete, daß Rafa inzwischen ein anderes Mädchen als Freundin verwendet, daß er aber mit Darienne auch noch privat unterwegs ist, so daß ich vermute, daß er mit Darienne ebenfalls noch ein Verhältnis hat.
Ich erzählte, daß ich Sarena vor einiger Zeit in einer Message in der Online-Szene-Kontaktbörse vor Rafa gewarnt habe und daß sie darauf nicht reagiert hat.
"Immerhin habe ich ihr die Wahrheit über Rafa mitgeteilt", meinte ich, "und egal, ob sie mir glaubt oder nicht - wichtig ist für mich, daß sie die Möglichkeit hat, zu entscheiden, wem sie glaubt. Außerdem ist es dann nicht mehr ganz so schockierend für sie, wenn sie der Wahrheit eines Tages ins Gesicht sehen muß."
Ich hatte ihr geschrieben, daß Rafa mehrere seiner Freundinnen mißhandelt hat, körperlich wie psychisch, und daß er seine Freundinnen betrügt, Sarena ebenso wie alle anderen.
Berenice sagte dazu, sie hätte gern eher gewußt, daß Rafa sie betrog, jedoch bezweifle sie, daß sie es damals geglaubt hätte. Sie hätte wohl nicht daran glauben wollen. Immerhin habe sie bereits zu Beginn des Jahres 1998 die Erfahrung gemacht, daß Rafa sie hinterging. Damals seien sie vorübergehend getrennt gewesen. Rafa sei ohne sie in HH. gewesen. Danach habe sie durch Bekannte erfahren, daß Rafa sie mit einem Mädchen namens "Sweet Stuff" betrogen hatte. Sie habe Rafa darauf angesprochen, und er habe es bestätigt:
"Ja, das war so."
Sie habe getobt und geweint. Sie habe es nicht fassen können. Schließlich hätten Rafa und sie für viele Stunden nebeneinander im Bett gelegen. Beide hätten geweint, und am Ende habe sie Rafas Bitte entsprochen, einen Neubeginn zu wagen.
Es ist müßig, zu erwähnen, daß sich an Rafas Untreue nichts änderte. Jedoch wußte er seine Liebschaften von da an besser zu verheimlichen als seine Eskapade mit "Sweet Stuff".
Berenice erzählte, sie habe Ivco vor einiger Zeit gefragt, warum er ihr während ihrer Beziehung mit Rafa nie erzählt habe, daß Rafa fremdging. Ivco habe erklärt, er habe Rafas früherer Freundin Luisa einmal mitgeteilt, daß Rafa sie betrogen habe, und als das herausgekommen sei, sei Rafa regelrecht ausgerastet. Um zu vermeiden, daß dies noch einmal vorkam, habe Ivco die Mädchen hinfort nicht mehr über Rafas Untreue in Kenntnis gesetzt.
Ich fügte hinzu, daß Ivco wenigstens zu Darienne einige warnende Worte gesprochen habe, als sie sich auf Rafa einließ. Er habe ihr erzählt, daß Rafa seinen Freundinnen nicht treu sei. Darienne habe entgegnet:
"Bei mir ist das anders."
"Wie kann man so naiv sein?" stöhnte Berenice.
Rafa bekam - soweit bekannt - nie ernsthafte Konsequenzen seines Handelns zu spüren. Berenice vermutete, Rafa gelte etwas, daher werde er verschont und könne ungehindert seine Freundinnen betrügen und mißhandeln. Vielleicht sei das auch für Ivco ein Grund gewesen, nichts gegen Rafas Machenschaften zu unternehmen.
Der Freund, den Berenice hatte, bevor ihre Beziehung mit Rafa begann - Lynx - sei ebenso gewalttätig gewesen wie alle ihre bisherigen Freunde - wobei der Begriff "Freund" in diesem Zusammenhang wie blanker Hohn klingt. Lynx habe darauf geachtet, daß es keine Zeugen gab, wenn er Berenice mißhandelte. Nur einmal habe er sie in der Öffentlichkeit geschlagen; das war kurz vor dem Ende ihrer Beziehung mit ihm. Die gemeinsamen Bekannten seien entsetzt gewesen, weil sie diese Brutalität von Lynx nicht erwartet hatten. Mehrere von ihnen hätten sich daraufhin von Lynx abgewandt.
"Bei Rafa passiert das nicht", meinte Berenice. "Das hat etwas damit zu tun, wer er ist."
In diesem Zusammenhang betrachtet sie auch Ivcos Schweigen zu Rafas Untreue.
Ich erzählte, dass Rafa für Ivco schon seit dem Teenageralter eine übergeordnete Rolle spielt. Ivco verehre Rafa vor allem, weil es Rafa so leicht falle, Mädchen zu verführen.
"Als wenn das etwas Erstrebenswertes wäre", setzte ich hinzu. "Eigentlich ist es doch ein Armutszeugnis. Wer immer nur ein Mädchen nach dem anderen hat, hat nie eine echte Beziehung, nie eine Familie. Ivco ist im Gegensatz zu Rafa in der Lage, eine Familie zu haben und diese Familie zu ernähren. Darüber könnte er sich doch freuen. Außerdem hätte Ivco Grund genug, Rafa in den Wind zu schießen. Rafa greift mit Vorliebe nach den Mädchen, für die Ivco sich interessiert. Rafa hat Tessa vermutlich nur deshalb als Freundin ausgewählt, weil Ivco auf sie stand. Für Ivco hätte das längst ein Grund sein können, mit Rafa zu brechen."
"Ja, wenn er Rückgrat hätte."
Mir fiel etwas zur Systematik von Rafas Straftaten ein:
"Wenn er auf dich eingeschlagen hat, hat er deinen Tod in Kauf genommen."
"Ja", bestätigte Berenice.
"Das ist ein Kapitalverbrecher, daran besteht für mich kein Zweifel", meinte ich. "Wenn ich aber überdenke, was ich von ihm weiß, was ich über ihn gehört und mit ihm erlebt habe, hat er ein bestimmtes Verbrechen bisher nicht begangen: sexuelle Nötigung."
"Das ist richtig."
Rafa soll Berenice gegenüber nie sexuell übergriffig geworden sein, auch von sexuellen Übergriffen gegen andere Personen hat Berenice nie gehört. Berenice vermutet, daß Rafa dazu nicht fähig ist:
"Er hat das mit mir so gemacht, und er macht das mit allen so, daß er die umarmt und so fest an sich drückt, daß die fast keine Luft mehr kriegen. Der will in den Armen gehalten werden. Das hat nichts mit Sexualität zu tun."
"Ich denke über die Hypothese nach, daß Rafa gerade dadurch, daß ihm in all seiner Bösartigkeit das Element der sexuellen Übergriffigkeit fehlt, für mich hilfreich sein kann. Vielleicht hat das irgendeinen Sinn. Nur bin ich noch nicht darauf gekommen. Ich werde weiter darüber nachdenken und weiter nach einer Alternative zu Rafa suchen, denn er verdient mich nun einmal nicht. Ich denke, viel kann ich nicht gegen das Böse in der Welt ausrichten, wenn ich die Mädchen vor Rafa warne oder schütze, aber everything counts in large amounts, und es soll doch jeder zuerst vor seiner eigenen Tür kehren und das Böse in seinem Nahumfeld bekämpfen, wo er Zugang hat und etwas unternehmen kann."
Ich erzählte, daß ich Kitty getroffen habe und daß sie an Berenice mailen will. Berenice erzählte, daß Kitty sich nie mit Rafa verstanden hat. Immerzu habe es Auseinandersetzungen zwischen ihnen gegeben, sie seien einfach nicht auf einen Nenner gekommen.
Für Kitty und Berenice sei die Tätigkeit bei W.E vor allem eine Geldquelle fürs Studium gewesen. Sie hätten sich beide nicht mit der Band identifiziert. Bei Berenice habe das auch daran gelegen, daß Rafa ihr verweigerte, ihre eigenen Ideen in der Band zu verwirklichen. Eingebildet hätten Kitty und sie sich jedenfalls nie etwas darauf, für W.E auf der Bühne zu stehen.
"Wenn ich euch so gesehen habe", erinnerte ich mich, "wie ihr in Petticoat-Kleidern und mit strenger Hochsteck-Frisur diese fürchterlichen Dreiecks-Gestelle gedreht habt, wo diese Lampen dran waren ..."
"Ach ja, die. Da kam Dolf eines Tages an und erzählte, es gebe was ganz Tolles, Neues ... und dann waren das diese Dreiecks-Dinger ..."
"Als ich euch gesehen habe, wie ihr auf der Bühne gestanden habt und die gedreht habt, habe ich gedacht:
'Die Würde des Menschen ist unantastbar.'
Echt, ich hätte mich nie dazu hergegeben."
"Für uns war es auch nur ein Job."
Berenice ist mit ihrer Doktorarbeit fertig, sie war aber noch nicht im Rigorosum. Sie möchte vielleicht eine Stelle in Luzern annehmen. Sie kann sich gut vorstellen, in der Schweiz zu arbeiten. Sie erzählte, als sie Baryn über diese Pläne in Kenntnis gesetzt habe, habe er gesagt, wenn sie nach Luzern ziehe, werde er mitkommen, denn das Tonstudio, das er betreibe, könne er ebenso gut in der Schweiz einrichten. Sie habe sich darüber sehr gefreut, und es sei das erste Mal, daß sie sich darüber gefreut habe, daß jemand langfristig ein Zusammenleben mit ihr plane und dabei einen Umzug in Kauf nehme.
"Als ich meine Ausbildung zur PTA abgeschlossen hatte und überlegt habe, zu studieren, hat Rafa gemeint, ich soll zu ihm in die obere Wohnung ziehen und als PTA arbeiten", erzählte Berenice. "Wenn ich mir vorstelle, ich hätte das gemacht ... dann würde ich jetzt da in SHG. herumhängen ... was mir da alles entgangen wäre!"
Berenice, Baryn, das neue Bandmitglied und ich aßen miteinander, dann verabschiedeten wir uns, und ich ging in den Hallen mit den Messeständen bummeln. Ich kaufte ein Korsett aus grauschillerndem Stoff mit feinem Rankenmuster. Es hat vorne einen Reißverschluß, der doppelreihig mit Swarowski-Kristallen besetzt ist. Dazu kaufte ich ein Tutu aus weißen und schwarzen Tüll-Lagen. Es ist mit Raffungen und Satinschleifen garniert. Außerdem kaufte ich ein Halsband aus Aluminium, an dem vorne die Zeiger einer Uhr befestigt sind, der Sekundenzeiger in Rot. Und ... und ... und ...
Heute zog ich mich nicht mehr um, ich behielt das schwarze Lackkleidchen mit der weißen Spitze an.
Abends kam ich ins "Ferrum". Im Eingangsbereich begegnete mir Rafa, etwas weiter weg, und ich weiß nicht, ob er mich schon bemerkte. In der Lounge setzte ich mich zu ein paar Leuten auf einen freien Platz, weil Blanca und ihr Freund Bero noch nicht da waren. Das Mädchen, das neben mir saß, seufzte:
"Und heute ist doch dieser ... DJ da, der von W.E ... oh, ich finde den so furchtbar ..."
"Damit bist du nicht allein", bemerkte ich. "Den können viele nicht leiden, und sie haben gute Gründe dafür."
Rafa kam in die Lounge mit Darienne und Dolf. Sie setzten sich an einen Tisch, der weiter weg stand von unserem. Sie holten sich Essen vom Buffet. Rafa ging dicht an meinem Stuhl vorbei und schaute mich durch seine dunklen Brillengläser mit schrägem Blick an, als wenn er etwas sagen oder fragen wollte, es sich aber nicht gestattete. Ich blickte Rafa ebenfalls an und murmelte:
"Hi."
Rafa trug eine ausbuchtende Reiterhose und eine Uniformjacke. Ich sah ihn nie ohne seine riesige Sonnenbrille. Er aß in der Lounge kurz etwas und redete in der Nähe seines Tisches mit ein paar Leuten.
Darienne trug eine ampelrot gefärbte Pagenkopf-Frisur, eine schwarzrandige Schmetterlingsbrille, eine hochgeschlossene Bluse und einen beigefarbenen Bleistiftrock.
Das Mädchen neben mir stöhnte wieder, weil sie Rafa nicht leiden kann. Der Junge gegenüber meinte, wenn sie ihn wirklich nicht leiden könne, müsse sie halt nicht immer zu ihm hinüberschauen.
"Da oben ist er ja auch auf dem Plakat", wandte sie ein. "Man kann ihm doch nicht entrinnen."
Rafa verschwand in seiner Area. Blanca und Bero erschienen und setzten sich zu mir an den Tisch, als meine Tischnachbarn aufgestanden waren. Blanca trägt ihre Haare jetzt schulterkurz und lockig, was ihr, wie ich finde, sehr gut steht. Sie hatte ein schwarzes Hänger-Minikleidchen an. Sie wirkte jünger und mädchenhafter, sicher auch, weil sie abgenommen hat.
Blanca erzählte, daß ihr Ex-Freund Andres immer noch mit der aggressiven und launischen Lebensgefährtin zusammen ist, die ihn mit einem Messer ins Bein gestochen hat. Blanca weint Andres keine Träne mehr nach. Bero, ihr jetziger Lebensgefährte, erzählte von seiner Noch-Ehefrau. Er habe sie aus Liebe geheiratet, sie jedoch habe ihn erst umworben und dann immer mehr ausgenommen. Sie arbeite nicht, vermeide die Arbeit und gebe ihr Schulterleiden als Argument an.
Bero und seine Frau hätten sich eine romantische, traditionelle Hochzeit gewünscht. Um diese Feier bezahlen zu können, habe Bero einen Kredit aufgenommen, an dem er heute noch zahle, dabei liege die Hochzeit schon zwei Jahre zurück. Seine Frau zahle nichts, sie lebe nur auf seine Kosten.
In einem Regal entdeckte ich Werbe-Postkarten der Volksbank, die junge Leute überreden sollte, für ihre Hochzeitsfeier einen Kredit aufzunehmen.
Denever war heute wieder im "Ferrum" und erzählte, daß er wie jedes Jahr mit seinem Sohn Ostern feiert.
Rafa stand in seiner Area am DJ-Pult, und ich sah ihn während der Nacht nicht mehr von der Bühne herunterkommen. Darienne setzte sich zwischendurch auf ihren früheren Stammplatz, einen Barhocker neben dem DJ-Pult. Häufig war sie auch auf der Tanzfläche. Rafa und Darienne hatten nicht viel Kontakt, ich hatte jedoch den Eindruck, daß er es versteht, ihr immer wieder Hoffnungen zu machen.
Heute gab es keine C64-Spiele zu sehen. Auf Rafa war eine Kamera gerichtet, die sein Bild auf die Leinwand projizierte.
Rafa spielte unter anderem "Hypnotic Tango" von My Mine, "It's a Sin" von den Pet Shop Boys, "Passion" von den Flirts, "Alle gegen alle" und "Verschwende deine Jugend" von DAF, "49 second romance" von P1E, "Being boiled" von Human League und eine Rarität der Achtziger: "Sahara" von Xmal Deutschland.
In der großen Area spielte Les die Power-Elektro-Perlen "Eisenkiller" von Xotox, "Sex mit einer Leiche (Soman Remix)" von Industriegebiet, "New Test" von Geistform und "Stukas im Visier" von Feindflug. Zeitweise war die Tanzfläche so voll, daß das Tanzen nur noch auf der Bühne möglich war, wo es Tische und Stühle, aber auch eine Freifläche gab.
Es war drei Uhr nachts, als Blanca, Bero und ich das "Ferrum" verließen, aus Müdigkeit.



Am Montagnachmittag war ich mit Constri, meiner Mutter, Denise und deren Freundin Taryn mit Mutter und kleiner Schwester im Opernhaus, wo wir eine verkürzte und kommentierte Kinder-Version des Balletts "Cinderella" anschauten. Die Szenen und die Gesamtdauer waren so bemessen, daß die Aufmerksamkeit der Kinder nicht überfordert wurde. Am Schluß gab es eine interaktive Performance. Alle Kinder, die Lust hatten und sich trauten, durften auf die Bühne kommen und gemeinsam mit einigen Tänzern unter der Regie des Ballettdirektors eine Szene aus "Cinderella" in abgewandelter Form nachstellen. Die Szene spielte im königlichen Ballsaal und handelte davon, daß der Prinz von vielen jungen Damen angehimmelt wurde. Eindruckvoll wuselten Scharen kleiner Mädchen in pastellfarbenen Kleidchen im diamantenen Scheinwerferlicht um den Tänzer herum, der den Prinzen verkörperte. Denise und Taryn trauten sich nicht auf die Bühne.
Nach der Vorstellung aßen wir Eis in der Frühlingssonne. Merle kam dazu, die in einem Museum als Garderobiere arbeitet.
Abends wurden bei Merle und Elaine Ostergeschenke gesucht. Elaine zeigte Fotos von Cosplay-Websites. Sie ist begeistert von den abenteuerlichen Verkleidungen der Cosplayer und dem perfektionistischen Styling der Visual-Kei-Fans.
Am Donnerstagabend waren Constri, Denise, Magnus und ich im "Interface". Magnus hatte die Industrie-Messe besucht und brachte uns Plastikteilchen mit, als Erinnerungsstücke.
Das letzte Aprilwochenende verlief turbulent, was an meiner eigenen Fehlplanung lag. Für mich war es eine bizarre, aber auch interessante Erfahrung. Es begann damit, daß ich am Freitag nach der Arbeit zu einem Luxushotel in HH. fuhr, wo eine Fortbildung stattfinden sollte, alles wurde bezahlt von einer Pharma-Firma. Nicht etwa, daß wir in dem Hotel erst einmal einchecken und uns erfrischen konnten, nein - alle Teilnehmer wurden in einen Konferenzsaal gepfercht, wo ein sich in Zeitlupe dahinwälzendes Programm abgespult wurde, das aus sinnfreiem Geschwätz und seichtester Jazz-Musik bestand. Fortbildungsinhalte fehlten gänzlich. Nach gefühlten sechs Stunden (eigentlich waren es zwei) durften wir ans Buffet, wo in Öl schwimmende Snacks gereicht wurden. Nach etwas Gesundem suchte ich vergebens. Als wir endlich in die Zimmer durften, folgte die nächste Überraschung: Die Zimmer hatten keine Bäder. Schlaf-, Schreib- und Badezimmerinventar waren zwanglos miteinander vermischt. Die Dusche befand sich mitten im Zimmer, das Waschbecken neben dem Bett - es hätte nur noch gefehlt, daß die Toilette am Schreibtisch stand. Wenigstens hatten alle Teilnehmer der Fortbildung eigene Zimmer bekommen. Bei Doppelbelegung wären diese Gebilde völlig unbewohnbar gewesen. Daß es sich trotz dieser mangelhaften Ausstattung um ein Luxushotel handelte, war daran zu erkennen, daß sich auf dem Doppelbett - ja, ein Doppelbett, obwohl die Zimmer wegen der fehlenden Badezimmerwände und -türen gar nicht doppelt belegt werden konnten - Unmengen an Kissen auftürmten. Mir taten die Hotelangestellten leid, die Tag für Tag diese Überfülle an Kissen beziehen mußten.
Hier wollte ich mich ohnehin nicht lange aufhalten. Ich schlief von neun Uhr abends bis Mitternacht und machte mich um ein Uhr früh auf den Weg nach BI. In weniger als zwei Stunden schaffte ich die zweihundertfünfzig Kilometer bis zum "Roundhouse". Dort war ich in meinem Element und lebte wieder auf. Ich war zwei Stunden lang fast ununterbrochen auf der Tanzfläche.
Im "Roundhouse" traf ich Magnus und Max, außerdem Ninon, die berichtete, daß sie bei Joujou ausgezogen ist. Ninon hat nun eine Wohnung in GT. für sich allein. Mit ihrem Freund will sie noch nicht zusammenziehen. Ninon klagte, sie fühle sich von Joujou zum Besten gehalten und wolle keinen Kontakt mehr zu ihr haben. Sylphide war ebenfalls nicht gut auf Joujou zu sprechen, vermochte das aber nicht recht zu begründen.
Magnus kannte das "Roundhouse" noch nicht und schaute sich in dem aufwendig renovierten Gebäude um. Er setzte sich schließlich auf ein Podest an der Backsteinmauer unter einem der hohen Fenster. Auf diesem Podest liegen neuerdings rotweiß karierte Kuschelkissen, die gut angenommen werden.
Gegen halb acht Uhr morgens fuhr ich wieder in die Tiefgarage des Luxushotels in HH. Auch für die Rückfahrt hatte ich weniger als zwei Stunden gebraucht. Ich frühstückte, was mir eben in die Hände kam, packte meine Sachen zusammen und fuhr dorthin, wo nun endlich die richtige Fortbildung stattfand. Das Gebäude lag erstaunlich weit außerhalb, so daß sich die Frage stellte, warum nicht gleich dort ein Hotel für die Teilnehmer gebucht worden war.
"Hätte ich vorher gewußt, daß der gestrige Abend nichts als Zeitverschwendung war und das Hotel mangelhaft, wäre ich erst heute nach HH. gefahren", dachte ich.
Nun wußte ich immerhin, in welchem Hotel man in HH. niemals übernachten sollte. Und ich war vorgewarnt, was Ausstattungsmängel von Hotels anging.
Die Fortbildung, indes, hielt tatsächlich, was sie versprach: wichtige Themen, informativ, lehrreich. Unter anderem ging es um die Fahreignung bei psychischen Erkrankungen. Meine Sitznachbarin war überzeugt, daß jemand, der nur noch ab und zu Stimmen hört und ab und zu wahnhafte Ängste hat, fahrtüchtig ist. Die Voraussetzung für die Fahreignung ist aber, daß unter fachärztlicher Behandlung mindestens ein halbes Jahr lang keinerlei psychotische Symptome aufgefallen sind.
Die Fortbildung dauerte bis zum Nachmittag. Abends hatte ich den nächsten Termin, einen Junggesellinnenabschied in H. Saara erwartet ihr erstes Kind, es soll im Herbst zur Welt kommen. Anfang Mai wird geheiratet, standesamtlich, im kleinen Rahmen. Die kirchliche Trauung mit großer Feier soll es nächstes Jahr geben.
Saara feierte ihren Junggesellinnenabschied in einem Restaurant am Hauptbahnhof. Der Teil des Bahnhofsgebäudes, in dem sich das Restaurant befindet, hieß vor hundert Jahren "Fürstenzimmer". Im Obergeschoß des Restaurants hatte Saara einen Tisch bestellt. Alle Tische standen auf Podesten und waren nur etwa zwei Handbreit hoch. Die Gäste kauerten auf Polstern, die auf den Podesten rings um die Tische aufgereiht waren. Tische und Polster waren bedeckt mit hellen Nesseltüchern. Das Essen war exotisch, ich fand es lecker. Und ich war froh, daß ich noch beweglich genug bin, um auf einem Polster zu kauern und dabei zu essen.
Mit dem fröhlichen Abendessen war für mich der Tag noch nicht zu Ende. Ich machte mich gegen zehn Uhr auf den Weg nach HB., schlief unterwegs auf einer Raststätte und kam gegen halb zwei Uhr früh bei Folter an. Dort feierte Giulietta ihren Geburtstag nach. Auch Constri und Denise waren da. Ich wollte auf dem Bett, das auch als Sofa dient, ein wenig schlummern, doch Folter weckte mich immer wieder auf:
"He, nicht einschlafen!"
Am Donnerstag habe ich Folgendes geträumt:

In einem Saal mit vielen weiß bezogenen Betten - eine Art Vervielfachung des Hotelzimmers, in dem ich am Fortbildungswochenende in HH. geschlafen habe - hatte ich ein Bett am Fenster, so wie in dem Hotel. Neben dem Bett stand Rafa, ich stand vor ihm.
"Es ist so schön, daß wir endlich wieder einmal miteinander allein sind", sagte ich.
Es gelang mir, Rafa mit mir ins Bett zu ziehen, angekleidet, wie er war, und die Decke über uns auszubreiten. Ich hielt Rafa in den Armen und wunderte mich, daß er sich darauf einließ.

Am Maifeiertag machten Constri, Denise, mein Vater und ich einen Spaziergang zu den Tiergräbern auf der Waldlichtung. Für meinen Kater Bisat und Constris Hund Flex brachten wir Vergißmeinnicht-Sträuße mit.
Nachts war ich im "Roundhouse". In der kleinsten Halle fand - parallel zu Marvels Party - eine Industrial-Elektro-Veranstaltung namens "Head-Crash" statt, mit harten und härtesten Rhythmen. Dort tanzte ich, bis Marvel in den frühen Morgenstunden mit seinem härteren Programm begann.



Am Samstag war ich im "Mute". Im Foyer traf ich Cyris. Sie erzählte, daß sie mit dem Abschluß ihres Studiums beschäftigt ist und täglich zwölf Stunden daran arbeitet; heute jedoch wollte sie sich eine Pause gönnen.
Es war kurz nach elf Uhr nachts, und im "Mute" war kaum jemand. Für Kappas Parties ist das nichts Ungewöhnliches, sie nehmen meistens erst gegen halb eins richtig Fahrt auf. Wenn es am früheren Abend Konzerte gibt, erscheinen die Fans der jeweiligen Bands eher. Für Rafas Film "Operation Zeitsturm" schien sich allerdings kaum jemand zu interessieren. Der Film war eben gelaufen, als ich erschien. Ich hätte ihn mir durchaus noch einmal angeschaut, aber dafür hätte er zu späterer Stunde gezeigt werden müssen.
Im Vorbeigehen sah ich Rafa mit Sarena an einer Theke, Rafa in dem Hemd mit den vielen Totenschädeln, Sarena im Kleinen Schwarzen, mit Steckfrisur, rotseidenem Halstuch und Stöckelschuhen.
Ich trug das Korsett und das Tutu von der Gothic-Modemesse. In der Zöpfchen-Frisur trug ich schwarze und weiße Bänder und Organza-Streifen.
Auf der Bühne begrüßte ich Kappa und Gavin, die am DJ-Pult standen. Kappa spielte meinen Wunsch "Unit" von Logic System, so daß ich gleich ein Stück zum Tanzen hatte.
Darienne war ebenfalls im "Mute", mit ampelroter Pagenkopf-Frisur, schwarzrandiger Schmetterlings-Brille und beigekariertem Godet-Kleid. Sie saß in der Raucher-Lounge. Neben ihr saß Sten. Ich begrüßte Sten und ignorierte Darienne. Sten erkundigte sich, ob ich Yori wiedergetroffen hatte. Ich erzählte, daß ich mich gut mit Yori verstehe, daß sie mir aber nur alle paar Jahre begegnet, denn sie geht selten aus. Sten berichtete, er habe Yori angerufen, sie habe ihn aber wohl nicht erkannt und abgewimmelt. Ich meinte, das sei sicher ein Mißverständnis gewesen, er solle es einfach nochmal versuchen. Sten erzählte, er hätte Yori gerne in einem Vampir-Film besetzt, denn sie habe einen Mund, der die Männer nervös mache. Nun sei der Film aber schon ohne sie fertig geworden. Beim nächsten Film werde er an Yori denken.
Sten stellte mir einen netten, ruhigen Alkoholiker namens Justas vor, einen langjährigen Bekannten aus SHG. Am nächsten Morgen wollten Sten und Justas mit Rafa filmen gehen. Sten meinte, Rafa werde ihn wieder über Hindernisse scheuchen. Er gab sich geheimnisvoll. Ich vermutete, man werde in Ruinen filmen. Sten bestätigte das, wenn auch nur andeutungsweise.
Dolf war mit Eden im großen Saal unterwegs. Kioran glaubte, Eden wolle ihn provozieren. Sie komme wohl nicht damit zurecht, daß er durch sie hindurchsehe. Er könne sie noch immer nicht vergessen.
Rafa schien sich die meiste Zeit im Backstage aufzuhalten. Ich sah ihn fast nie. Langsam füllte sich das "Mute". Als ich im Saal damit beschäftigt war, Leute zu begrüßen und mich mit ihnen zu unterhalten, zog Rafa mit seinem Trupp vom Backstage her durchs Gedränge. Er war der Letzte in der Reihe, und er ging dicht an mir vorbei - langsam genug, daß ich ihn quer über den Rücken kraulen konnte, und schnell genug, daß er sich nicht in Verfänglichkeiten begab.
Rafa trug seine blaue Sonnenbrille, und ich sah ihn heute nie ohne sie.
Im "Mute" traf ich auch Yannick und dessen Kumpel Onyx. Ich bewunderte den schwarzen Mantel, den Onyx anhatte - schmal und lang, besetzt mit einem komplizierten Schnallen- und Bänderwerk. Onyx hat ihn bei "Somewear" gekauft, das ist ein Laden für Unterground-Mode, den es seit den achtziger Jahren gibt. Ich beklagte, in den Herrenabteilungen der "normalen" Modehäuser und Kaufhäuser herrsche gähnende Langeweile - dementsprechend langweilig seien viele Männer auch gekleidet. Es sei schwer, außerhalb der Underground-Läden phantasievolle Herrengarderobe zu finden. Onyx meinte, in den gängigen Herrenabteilungen seien das rosafarbene Hemd, die schrille Krawattennadel und das Simpsons-Krawattendesign die einzigen Extravaganzen; freilich gefalle ihm auch das nicht. Als Mann habe man es nicht leicht, wenn man sich ausgefallen und kreativ kleiden wolle.
Terry erzählte, ihr Chef habe angedeutet, daß sie eine höhere Position in dem Lager bekommen soll, wo sie arbeitet. Dies würde dazu führen, daß sie einem ehemaligen Vorgesetzten vorgesetzt würde, mit dem sie sich nicht besonders gut versteht. Ihr ist nicht wohl bei dem Gedanken, eine Vorgesetzten-Rolle zu spielen, weil ihre Kollegen dann ein distanzierteres Verhältnis zu ihr bekommen könnten. Andererseits fühlt sie sich durch die Beförderung bestätigt in ihren Fähigkeiten und ihrem Fleiß.
Als ich mich links vor der Bühne mit Cyris unterhielt, machte sie mich darauf aufmerksam, daß Rafa neben dem DJ-Pult auf der Bühne etwas herrichtete. Rafa und Dolf trugen ihre Konzert-Kleidung - weiße Hemden und schwarze Anzüge - oder etwas, das so aussehen sollte. Darienne hatte sich nicht umgezogen. Kappa sagte durchs Mikrophon, Rafa habe eine Überraschung vorbereitet, nämlich ein Konzert:
"Hier sind W.E!"
Rafa, Dolf und Darienne boten "Schweben, Fliegen und Fallen" dar - Rafa als Sänger, Dolf und Darienne als Statisten. Rechts vor der Bühne tanzte Sarena mit einem andächtigen Grinsen, in Gesellschaft anderer W.E-Fans. Sarena hatte ihr Grinsen wieder, ihr Dauer-Lächeln.
Nach dem Stück "Schweben, Fliegen und Fallen" erklärte Rafa, man sei heute zwar nur zu dritt, doch das bedeute nicht, daß wieder jemand anders dabei sei, sondern lediglich, daß Lucy mit ihrer Doktorarbeit beschäftigt und daher nicht abkömmlich sei.
Rafa bat, nicht so viel Beifall zu geben; dann fühle er sich hier, in H., recht zu Hause.
Rafa weiß wohl, daß er in H. nicht besonders beliebt ist, doch woran das liegt, scheint er auszublenden. Er gibt allenfalls Floskeln wie "Der Prophet gilt nichts im eigenen Land" von sich, wenn er darauf angesprochen wird.
Als ich Cyris erzählte, daß Rafa auf der W.E-Website ein neues Forum ankündigt, das demnächst online gehen soll, meinte Cyris, darauf müsse man nichts geben; es habe ebenso viel Wahrheitsgehalt wie Dariennes Behauptung, Plastik sei neu. Wenn Rafa "demnächst" sage, meine er "irgendwann" oder auch "nie".
Darienne durfte heute im "Mute" auch ein Stück singen - "ihr" Stück ("Ich bin aus Plastik"). Als "VW-Käfer" begann, ging ich hinauf zum Bad. Ich war froh, daß ich während des anschließenden Stücks - ein wüster Rock'n'Roll-Verschnitt - noch nicht zurück war.
Im Foyer traf ich Kitty mit verdrehten Augen.
"Ich dachte, er wäre um diese Zeit längst weg", sagte ich.
"Das dachten wir auch", sagte Kitty - und flüchtete mit ihren Begleitern nach nebenan ins "Doomsday", wo die Gäste des "Mute" heute freien Eintritt hatten.
Vor der Bühne lagen inzwischen Luftschlangen; anscheinend hatten Rafa, Dolf und Darienne sie ins Publikum geworfen. Das nächste Stück war "Starfighter F-104G", und jetzt waren die Papierflieger an der Reihe. Während ich mich mit einigen Leuten unterhielt, traf mich von hinten einer dieser Flieger. Ich bedauerte, daß ich nicht heraussfinden konnte, wer nach mir geworfen hatte und ob es Zufall war. Ich tat den Flieger zu meinen Sachen und setzte die Gespräche mit meinen Bekannten fort.
Saverio - Carls ehemaliger Schwarm - berichtete, daß er noch immer in einer WG mit Clarices Ex-Freund Damian lebt, in der Nähe des "Mute". Saverio hat nie geheiratet und ist kinderlos geblieben. Saverio meinte, Damian sei ein angenehmer Mitbewohner - er sei fast nie zu Hause und ermögliche es Saverio dank seiner Mietbeteiligung, in einer Wohnung zu leben, die er sich sonst nicht leisten könnte.
Saverio wird voraussichtlich in den nächsten Wochen einen Job als Callcenter-Agent beginnen. Er habe das früher schon gemacht; er sei geübt darin, und er finde diese Arbeit nicht schlecht. Damian macht Bühnentechnik.
In der Raucher-Lounge unterhielt ich mich mit Ferry und einem seiner Freunde, der Intoleranz predigt und Vorurteile pflegt. Ich konnte feststellen, daß es möglich ist, auch bei solchen Leuten - in diesem Fall handelte es sich um einen Nazi - eine differenziertere Sichtweise zu erreichen, wenn man deren Blick auf einzelne Personen lenkt, so daß sie davon abkommen, die Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe in einen Topf zu werfen und sie pauschal - also entpersonifiziert - zu betrachten.
In der Raucher-Lounge traf ich auch Torvil und zwei Mädchen im Partner-Look mit kurzen blondierten Haaren. Rafa stand in der Nähe, aber nicht in Hörweite. Ich erzählte, daß Rafa heute mit zwei Freundinnen da sei; er habe immer mehrere. Die Mädchen kicherten. Ich setzte hinzu, Rafa betrüge und schlage seine Freundinnen, wie es ihm eben einfalle. Torvil meinte, es sei doch in Ordnung, Frauen zu schlagen. Wir reagierten auf sein provokantes Grinsen mit einem milden Lächeln.
"So schlimm ist das ja auch nicht, jemandem eine Rippe zu zertreten", feixte ich. "Man kann zwar daran sterben, muß es aber nicht."
"... muß es aber nicht", pflichtete Torvil bei.
Ich setzte hinzu, daß Rafa einer ehemaligen Freundin tatsächlich eine Rippe zertreten hat, sogar zweimal dieselbe, und daß er ihr mehrere Zähne ausgeschlagen hat:
"Er ist hochaggressiv und brutal."
Rafa lief hin und her, zwischen Raucher-Lounge und Backstage. Mal stand er bei Darienne, mal hatte er Sarena bei sich, mal stand er mit einigen Herren an der Theke. Ich saß mit Onyx, Siro, Yannick und einem Mädchen an einem Tisch auf einem flachen Podest und schaute zu. Schließlich verschwand Rafa im Backstage und kam nicht mehr zum Vorschein. Ich ging auf die Tanzfläche.
In einer Szenezeitschrift gibt es ein Interview mit Darienne in ihrer Eigenschaft als Mitglied von W.E. Sie schien sich durch das Interview ungeheuer geschmeichelt und hofiert zu fühlen. Auf die Frage, mit welcher Gestalt aus der griechischen Mythologie sie sich identifiziere, antwortete sie:
"Keiope, die Schönstimmige."
Man könnte "Darienne, die Stimmlose" daraus machen, weil Rafa ein Arsenal von Effekten auffahren muß, damit von ihr überhaupt etwas zu hören ist. Dariennes zur Schau gestellte Selbstbeweihräucherung macht sie zur idealen Zielscheibe für Lästereien. Anstatt sich zu fragen, ob ihr Verhalten peinlich wirkt, geht sie davon aus, die anderen seien nur neidisch auf sie.
Berenice mailte:

Was hältst Du von folgender Idee: Wir lassen einen Roman über Rafa schreiben. Ich kenne einen Autor, den würde ich fragen. Es müsste natürlich alles geheim bleiben!!! GANZ wichtig. Material wären Erfahrungsberichte von einigen Mädels, und Dich könnte ich mir als konstante Person/Erzählerin vorstellen. Keine Schlammschlacht - einfach das Potenzial der unglaublichen Geschichten kommerziell verarbeiten und dabei reich und berühmt werden *lach* Tyra ist dabei, ich auch.
Was hältst Du davon?

Ich mailte:

Die Idee mit dem Buch über Rafa finde ich sehr angebracht. Es wäre dann ja wohl eines, in dem Rafa tatsächlich namentlich erwähnt wird, nicht wie der Roman "Im Netz", der eine streng literarische Form hat und in dem die Namen verändert wurden. Jedenfalls gibt es immer wieder Bücher über Musiker und andere Leute aus dem öffentlichen Leben, auch solche, in denen über die betreffenden Personen nicht nur Schmeichelhaftes geschrieben wird. Sagen kann ich noch dazu, es ist sinnvoll, im Vorfeld Recherchen über Rechtslage, künstlerisch-journalistische Freiheit (ja, wir haben sie in Deutschland) und einen Verlag zu machen, der ein solches Buch herausbringen würde. Klar, ich wäre dabei. Und natürlich muß nicht erwähnt werden, daß der Roman "Im Netz" genau das ist, was das Buch werden soll, nämlich ein Erfahrungsbericht über Rafa ... es soll weiterhin als Roman gelten, ein unabhängiges Werk.
Wichtig zu wissen ist für euch, daß es eine enorme Arbeit macht, solche Texte zu schreiben. Es ist sehr zeitaufwendig. Darauf müßt ihr euch einstellen. Und daran scheitern viele Vorhaben, auch das von Kappa und Ace, literarisch tätig zu werden.
Tyra hat sich noch nicht gemeldet, vielleicht tut sie es die nächsten Tage. Würd mich sehr darüber freuen.
Und noch mehr Gedanken zu der Idee, einen Roman über Rafa zu schreiben:
Klaus Mann hat das ja in "Mephisto" mit Gustav Gründgens auch schon bewältigt, er hat dessen Namen verändert, und man weiß doch, von wem die Rede ist. (Ungefähr so ist das bei "Im Netz" ja auch, nur ist halt in "Im Netz" rein gar nichts erfunden. In dem Roman "Wirklichkeit" ist das schon mehr so wie bei "Mephisto", mehr metaphorisch.) Wenn man über jemanden schreibt, kann man ihn ja nicht aus seinem Umfeld herausgelöst betrachten, sondern muß die Menschen, die in seinem Leben eine Rolle spielen, mit benennen. Und wenn man die - bei Rafa sind das ziemlich viele - schützen will, kommt man an einer Änderung der Namen nicht vorbei. Man könnte auch Rafas eigenen Namen so lassen, wie er ist, und nur die der anderen Menschen verändern. Jedenfalls könnte das Buch nicht so ein Promi-Reißer werden wie "Ich, Tina", weil Tina Turner ein Weltstar ist und Rafa nicht. Im Zentrum müßten schon die Geschichten stehen, die Handlung und der Inhalt also, nicht die Tatsache, daß Rafa im Licht einer wie auch immer gearteten, mehr oder weniger kleinen Öffentlichkeit steht.
Es geht also auch um die Frage, welche Form das Buch genau bekommt, welche Länge die einzelnen Texte, wie man es gliedert etc. Und dann geht es um die Frage, ob Tyra und du die entsprechenden Texte nicht ohnehin selber schreiben solltet, einfach, weil sie dann viel authentischer wirken. Und weil ihr beide mit Sprache umgehen könnt, müßtet ihr euch über Mängel im sprachlichen Bereich keine Sorgen machen.
Bin gespannt, wie ihr es konzipiert.

Berenice mailte:

Ja, so ist es auch gedacht gewesen: die Geschichten sind das Wichtige!
Ich hätte gedacht, dass verschiedene Leute Textbeiträge liefern - und eben ein Autor dies alles zu einem Roman verwebt ...
Nein, also, ich wollte Rafa in dem Buch nicht namentlich erwähnen lassen. Wie gesagt, es soll keine Schlammschlacht werden. Ich muss immer noch den Autor anschreiben ...

Ich mailte:

Ja, ein Buchprojekt über Rafa mit veränderten Namen, das kann ich mir gut vorstellen. Nun ist die Frage, welche Rolle der Autor dabei genau spielt, z.B. ob er die Rolle eines Herausgebers innehat. Denn ich finde es nicht verkehrt, wenn ihr, du und Tyra, eure Texte selber schreibt, wegen der Authentizität. Wenn der Autor die Rolle des Herausgebers hat, kann er z.B. Zwischenanmerkungen bringen oder Zusammenfassungen, das wäre auch literarisch interessant. Vermutlich ist es so, daß sowohl du als auch Tyra jeweils eure eigenen Pseudonyme für die auftretenden Personen aussucht. Es geht dann ja vor allem um das, was der Casanova treibt, nicht wie er heißt. Es ist auch vorstellbar, daß ihr beide dasselbe Pseudonym verwendet. Wenn Texte von mir in dem Buch verwendet werden sollen, wäre es am besten, wenn ich weiß, wieviele Seiten das ungefähr sein sollen. Die Pseudonyme in diesen Texten stehen im Wesentlichen fest. Es wäre dann eine Art Zusammenschnitt oder Auszug aus "Im Netz". Vorstellen kann ich mir auch, daß einzelne ShortStories reinkommen, die dann erkennbar sein sollen als erfundene Geschichten, die sich lediglich mit dem Thema befassen, wie etwa "Egoshooter" oder "Der Tulpenstrauß" ... und weitere.
Bin gespannt, wie es mit den ganzen Projekten weitergeht ...

An Azura mailte ich über Constris und meine bevorstehende Film- und Foto-Reise nach Kärnten:

Außer Constri und mir würden die meisten Menschen so ein Marathon-Film- und Foto-Programm wohl furchtbar finden, wir hingegen rennen mit der Kamera vorm Auge herum und sind selig. Constri will auf einer Hängebrücke mit Mamas alter Bratsche experimentieren; da muß sie nur aufpassen, daß der Bogen nicht runterfällt in die Wasserfälle. Wenn Constri Bratsche spielt, muß man sich auf was gefaßt machen; mit Musik hat das nicht unbedingt etwas zu tun und soll es auch nicht.

Azura mailte:

Auf solche Ideen könnt auch nur ihr kommen. Wandern und in den Bergen ist mein Freund auch jedes Wochenende, aber ohne Streichinstrumente :-)
Dafür dokumentiere ich den Werdegang meiner Meisenbrut im Kasten auf dem Balkon, wo ich derzeit sechs lebende Junge zähle und sie jeden Tag ausfliegen müßten. Ich habe die letzten Tage immer wieder Fotos von den Kleinen gemacht, um ihre Entwicklung festzuhalten. Letztes Jahr haben es vier von sieben Jungen geschafft, leider sind drei in den letzen Tagen auf der Strecke geblieben, weil es so heiß war, und im Jahr davor haben die Eltern das Nest mit elf (!) Jungen verlassen und aufgegeben, da es zu kalt und vermutlich zu wenig Futterinsekten vorhanden waren, sie haben dann ein neues Nest gebaut und die Jungen recht früh verhungern lassen, und ich mußte die traurigen Reste entsorgen. :-( Das wird mir auch diesmal nicht erspart bleiben, fürchte ich, da ich ursprünglich neun Eier gezählt hatte ...

Quinn kam zu Besuch und brachte den bestellten Zimtlikör mit, außerdem eine neue "Bunte Tüte": mehrere Probier-Fläschchen mit Likören. Er erzählte, wie er zu Beginn seines Likör-Hobbygeschäfts seine Kalkulationen entworfen hat und schließlich erreicht hat, daß er kostendeckend arbeitet, wobei aber der Spaß und der Idealismus die treibenden Kräfte sind. Die Likör-Kunst fördert soziale Kontakte auch beim gemeinsamen Genießen auf Likör-Parties.
Im Friseursalon berichtete Henk, daß er das Antidepressivum gewechselt hat, mit Doxepin komme er besser zurecht. Er nimmt auch einen Betablocker, wegen seines Bluthochdrucks. Ich betonte, daß er regelmäßig seinen Blutdruck kontrollieren sollte und das Rauchen aufgeben sollte. Henk lehnt es jedoch entschieden ab, das Rauchen aufzugeben.
Am Muttertag waren Constri, Denise und ich bei meiner Mutter zum Spargelessen. Constri erzählte, daß Denise sich schon gut mit Hilfe der Schriftsprache verständigen kann. Neulich fiel Denise im Bad ein Quecksilber-Fieberthermometer herunter und ging kaputt. Sie sagte zu Constri:
"Mama, nicht ins Bad kommen!"
Dann schrieb sie auf einen Zettel "FIBATOMETA SCHOLDIGON" und malte darunter das zerbrochene Fieberthermometer. Diesen Zettel gab sie Constri. Der lautmalerisch geschriebene Text bedeutete sinngemäß:
"Das Fieberthermometer ist kaputt, Entschuldigung."
Mitte Mai fuhren Constri und ich nach Österreich. Unterwegs trafen wir uns in M. mit Len, der dort zur Zeit arbeitet und wohnt. Len ist ein langjähriger Freund von Cennet und ebenso wie dieser als Freelancer im IT-Bereich tätig. Len wird bald nach KA. ziehen, wo sein nächstes Projekt wartet. Wir kehrten wenige Häuser von seiner Wohnung entfernt in einem italienischen Restaurant ein. Len erzählte, daß das Projekt, mit dem er sich in M. beschäftigt hat, mittlerweile abgeschlossen ist und daß die Firma ihm nun eine andere Aufgabe in KA. angeboten hat. Er wisse nicht, wie lange er dort wohnen werde. Er führe ein Nomadenleben. Freiberufliche Informatiker könnten nie lange im Voraus planen. Sein neuer Vertrag habe eine Laufzeit von drei Monaten, das sei nicht ungewöhnlich; es gebe sogar Verträge, die nur über zwei Wochen gingen. Er werde in KA. in einem Hotel wohnen. Die Kosten dafür rechne er nicht dem Nettoeinkommen zu, solche Kosten würden vorher abgehen und seien gesichert. Übrig habe er im Monat in der Regel ungefähr 1500 Euro. Leider dauere die Fahrt in seine Heimat am Bodensee von KA. aus wesentlich länger als von M. Auch aus anderen Gründen falle ihm der Abschied von M. schwer. Er werde die Stadt vermissen und die Menschen, die er dort kenne. Von HH. komme er schneller in die Heimat als von KA. aus, weil er ab HH. das Flugzeug nutzen könne. Er habe von HH. fortgehen müssen, weil die Firma, für die er dort gearbeitet habe, nicht seriös sei. Die freiberuflichen Mitarbeiter hätten keine eindeutigen Anweisungen und Aufträge erhalten, seien unter Druck gesetzt und nicht selten um ihr Honorar geprellt worden. Den fest angestellten Mitarbeitern gehe es kaum besser. Unglücklicherweise habe er einem seiner Freunde diese Firma empfohlen. Der habe sich fest anstellen lassen und schaffe es nicht, "nein" zu sagen und sich woanders zu bewerben. Allgemein falle es dem Freund schwer, "nein" zu sagen.
Wir erzählten Len von unseren Reisezielen in Österreich. Len startete den Browser seines Smartphones, und ich zeigte ihm auf meiner Website die Fotos vom Reißeck, dem Maltatal und dem Baumkronenweg, die ich im vergangenen Herbst gemacht habe. Wir erzählten Len auch von der Bratsche, die wir im Gepäck hatten. Meine Mutter hat sie uns eher widerwillig mitgegeben, weil sie sich gut erinnert, wie wir das Instrument in unserer Teenagerzeit maltraitiert haben. Als die Bratsche nur noch eine Saite hatte, haben wir auf dieser Saite das Nachtwächterlied gebratscht ("Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen ..."). Wir nahmen die Katzenmusik mit einem Kassettenrecorder auf. Während einer dieser Aufnahmen spannte Constri die Saite immer mehr, um herauszufinden, welche Töne sie ihr noch entlocken könnte. Dabei riß die Saite, und Constri seufzte:
"Die letzte Saite."
Sie knotete die Saite wieder zusammen und bratschte auf der geknoteten Saite weiter.
Inzwischen ist die Bratsche repariert worden, und meine Mutter hofft, daß sie heile bleibt.
Wir übernachteten in Salzburg und fuhren danach zum Baumkronenweg. Unterwegs rasteten wir am Mondsee. Constri ist fasziniert von dem Namen dieses Sees und hat eine ihrer Festplatten so genannt. In der Raststätte kaufte ich ein Stück Linzer Torte, das wir im Sonnenschein auf dem Parkplatz vor dem Baumkronenweg verspeisten. Es war ein Märchen aus Gewürzen. Wir haben Linzer Torte oft gebacken, das ist aber mehr als fünfundzwanzig Jahre her. So war ich überrascht, wie lecker sie doch ist. Wir besorgten für meine Mutter eine Linzer Torte als Mitbringsel.
Auf dem Baumkronenweg gibt es einen neuen Turm, höher als alle anderen Bauwerke dieser Anlage. Er ist aus Holz, eine Zimmermanns-Arbeit wie der gesamte Weg, und hat eine Höhe von fünfunddreißig Metern. Die Treppe läuft als Wendeltreppe außen herum bis zu der mit Holzschindeln überdachten Aussichtsplattform. In der Mitte der Plattform gibt es eine enge Wendeltreppe, die zur Turmspitze hinaufführt, eine viel kleinere Plattform mit einem viel kleineren Dächlein, auch mit Holzschindeln gedeckt. Während wir uns umschauten, filmten und Fotos machten, arbeiteten die Handwerker am Turm. Unten installierten sie Kabel, oben brachten sie Strahler an. Sie erzählten, daß in den unteren Etagen des Turms ein Cafébetrieb entstehen wird.
Hinter dem Turm beginnt der Abschnitt des Baumkronenwegs, wo man das Gleichgewicht üben kann. Man geht über schwankende Stahlteller und schwankende Balken und hält sich an Ketten fest, gesichert durch ein Fangnetz. Constri filmte mich, wie ich über diese Strecken ging, und konzentrierte sich vor allem auf die Ketten, die in der Sonne blinkten.
Am Ende des Baumkronenwegs kehrten wir in der Waldgaststätte ein, wo man inmitten von flachen Holzgebäuden im Freien unter hölzernen Sonnendächlein sitzen kann, an groben Holztischen mit Bänken. Wir bestellten Leberknödelsuppe, das war unser Abendessen. Die hölzernen Geräte auf dem Spielplatz, der sich um die Gaststätte herum befindet, und die hölzernen Hotelsuiten auf Stelzen sind ein Paradies für Kinder. Es gibt viele Aktiv-Spielanlagen, wo es um Lernen von der Natur und um Kreativität geht. Constri will im Sommer mit meiner Mutter und Denise unsere Verwandten in der Nähe von PA. besuchen, und ich empfahl ihr, mit Denise einen Ausflug zum Baumkronenweg zu machen.
Als wir in dem Gasthof ankamen, wo wir in Kärnten übernachteten, empfing uns der Wirt mit einem hochprozentigen Getränk. Das konnten wir beide genießen, weil ich nicht mehr fahren mußte. Als der Wirt uns noch etwas ausgeben wollte, erklärte ich ihm, was ein Pharisäer ist, und er machte uns einen. Der Wirt erzählte von Reißeck. Er betreibt die Gaststätte auf dem Reißeckplateau, wo es bis vor einigen Jahren auch einen Hotelbetrieb gegeben hat. Diesen Betrieb habe man jedoch eingestellt, weil teure Renovierungsarbeiten angestanden hätten, das wäre ein zu großer Aufwand gewesen. Weil es in diesem Winter viel Schnee gegeben habe, würden die Reißeck-Bahn und das Bergrestaurant erst am kommenden Samstag öffnen. Der inoffizielle Betrieb laufe aber schon, er sei einige Male oben gewesen, um die Berggaststätte für die Saison vorzubereiten.
Der Gasthof unten im Dorf ist über zweihundert Jahre alt und erinnert an ein Museum. Unser Zimmer war geräumig und hatte mehrere hohe Fenster mit schweren Vorhängen. Möbliert war das Zimmer im historischen Stil. Als ich begann, die Vorhänge zuzuziehen, fielen mir gleich beim ersten Fenster die Gardinenstangen entgegen. An den übrigen Fenstern blieben die Stangen an der Wand, ich konnte die Vorhänge schließen. Als ich morgens aufwachte, stellte ich mir vor, ich würde in die Hände klatschen, und daraufhin würden alle anderen Gardinenstangen auch von der Wand fallen. Der Wirt erzählte beim Frühstück:
"Das ist ein modernes Haus, das hat schon eine Zukunft hinter sich."
Er brachte die heruntergefallenen Stangen wieder an.
Unser Ziel am Donnerstag waren die Gössfälle im Maltatal. Wir stiegen mit Filmausrüstung und Bratsche die Felsentreppe rechts von den Wasserfällen bergauf. Oben auf der schwankenden Hängebrücke bratschte Constri über der Felsenschlucht die von ihr so geliebte Katzenmusik. Constri trug als Filmkostüm ein langes Seidenkleid, das ich mir habe nähen lassen. Der Stoff - eine matt glänzende Rohseide - hat ein feines schwarzweißes Fischgrätmuster. Das ärmellose Kleid ist mit breiten Biesen verziert, der Rock ist leicht ausgestellt, das Kleid ist von oben bis unten durchgeknöpft. Die Knöpfe sind aus Glas und silbern bedampft. Der breite Gürtel wird mit drei übereinanderliegenden Schleifen geschlossen. Unter dem Kleid trug Constri einen engen schwarzen Rollkragenpullover, dazu schwarze Samthandschuhe und um den Kopf ein hellgraues Tuch aus Kaschmir und Seide. Insgesamt filmten wir fünf Stunden lang. Constri bratschte auch im Wald, am Rand der Schlucht, und hängte die Bratsche samt Bogen in die Zweige der Nadelbäume.








Am Wasserkraftwerk, dem oberen Ende der Gössfälle, machten wir in der Spätnachmittagssonne die letzten Aufnahmen und marschierten wieder talwärts.
In Gmünd kehrten wir im Burgrestaurant ein. Es befindet sich in der mittelalterlichen Burg, die zum Teil eine Ruine und zum Teil bewirtschaftet ist. Sie gehört zu dem Projekt "Künstlerstadt Gmünd" und ist voller avantgardistischer Kunstwerke. Vor den schmalen Burgfenstern stehen Skulpturen aus Bestecken und kleine Drahtfigürchen, einige der Möbel sind eher Objekt als Möbelstück, und auf einem der Designer-Stühle sitzt eine stählerne Gestalt in Lebensgröße, als dauernder Tischgenosse. An den Mauern hängen Gemälde und private Erinnerungen in Form von Gegenständen oder Fotos. Auch ein Foto von den Wirtsleuten gibt es zu sehen.
Wir genossen lokale Spezialitäten zum Abendbrot: hausgemachte Spätzle mit Champignons, dazu Quittenpunsch. Das Essen war verspielt mit einem Gänseblümchen dekoriert. Auf den Tischen standen Vasen mit Wiesenblumen.
In einem Traum erlebte ich Folgendes:

In einem Seminarraum in der Hochschule - fensterlos, aus Beton, puritanisch eingerichtet - saß ich neben Obama an einem Tisch, und wir unterhielten uns über dies und das, über die Funktionsweise von Smartphones und dergleichen. Wir redeten auf Deutsch miteinander. Um Politik ging es nicht.

In einem anderen Traum war ich immer noch in der Hochschule und begegnete noch mehr Männern in meinem Alter, darunter einem langjährigen Bekannten, mit dem ich durch die Flure ging und in ein Büro, um etwas zu kopieren. Dabei legte ich meinen Mantel und eine silberne Jacke mit Schnörkeln auf eine Praxisliege und nahm sie vorerst nicht mit, denn Anwar kam herein und klagte sehr, es gehe ihm so schlecht, und ob ich ihm helfen könnte. Ich unterhielt mich längere Zeit mit ihm.

Tagsüber machten wir noch mehr Aufnahmen an den Gössfällen, wieder mit der Bratsche. Ich zog Constri vor einen Zaun, weil nicht viel gefehlt hätte, und sie wäre rückwärts abgestürzt. Sie war so versunken in ihr Bratschenspiel, daß sie die Gefahr des ungesicherten Ufers nicht wahrnahm.
Nach dem Dreh besuchten wir den Fallbach-Fall, allerdings ohne Kamera, denn dafür hätten wir eine wasserdichte Kamera gebraucht. Man wurde schon naß, wenn man sich auf hundert Meter dem Wasserfall näherte. Er stürzt zweihundert Meter ins Tal und ist der größte Wasserfall Kärntens. Es gibt einen Erlebnis-Wasser-Spielplatz, auf dem die Kinder mit einem Kahn über einen Teich fahren können, indem sie ihn an einem Seil vorwärtsziehen, wie eine historische Fähre. Dabei erleben kleine Kinder, wie sie mehrere Erwachsene aus eigener Kraft auf dem Kahn über den Teich bewegen können. Für Denise wäre der Spielplatz auch ein Paradies.
Wir aßen wieder im Burgrestaurant in Gmünd zu Abend. Dieses Mal gab es Fridattensuppe - Flädlesuppe - also Suppe mit Pfannkuchenstreifen - und gemischten Salat, zu trinken gab es Granatapfelschorle. Auffallend sind die Parallelen zwischen der österreichischen und der schwäbischen Küche: hier wie dort gibt es hausgemachte Spätzle, Suppe mit Pfannkuchenstreifen und Linzer Torte.
Nach dem Essen gingen wir über den nahegelegenen Friedhof, der im Licht der Ewigkeitslämpchen dalag. Um den Friedhof herum leuchteten die Natriumdampflampen von der Straße und vom Parkplatz. Am Kirchturm leuchtete das Ziffernblatt der Uhr. Vom Hang unterhalb der Burg hörte man das Zirpen der Grillen und das Klingen der Glocken, die die Schafe tragen, die auf den Hangwiesen als Rasenmäher arbeiten.
Am Samstag fuhren wir mit dem ersten regulären Zug hinauf zum Reißeck-Plateau. Der Nebel löste sich auf und gab den Blick frei auf die schneebedeckten Steilhänge. Im Tal war längst der Frühling eingekehrt, hier oben jedoch herrschte noch der Winter. Wenn die Sonne hervorkam, war es frühlingshaft warm, der Schnee lag aber stellenweise meterhoch. Constri positionierte die Kamera auf einer schneefreien Terrasse, dann lief sie im Filmkostüm mit der Bratsche durch knietiefen Schnee zu einem kleinen Holzhäuschen hinauf, einer pittoresken Hütte mit hohem Giebel. Auf der Treppe vor dem Türchen veranstaltete Constri ein Bratschenkonzert, dann ging sie bratschend um die Hütte herum, zeitweise im Nebel versinkend. Die wenigen Touristen, die auch schon den Weg hierher gefunden hatten, bekamen dadurch eine interessante Abwechslung.
Wir konnten nur in einem Radius von etwa zweihundert Metern herumwandern und bewegten uns mit Mühe zwischen den wenigen Felsentafeln, auf denen der Schnee schon weggetaut war. Die Staumauer, an der ich im vergangenen Jahr die meisten Fotos gemacht habe, war sichtbar, aber wegen des Schnees nicht erreichbar. Immerhin kamen wir über eine Felsentreppe bis hinauf zu der Holzterrasse einer privaten Berghütte, auf der ich Constri wieder beim Bratschen filmte, auch aus der Nähe, vor der Tür, wobei sie mit der Bratsche einige Male an ein Geländer oder ein Zauntor stieß, als unfreiwillig komischer Nebeneffekt einer komödiantischen Vorführung. Die Felsentreppe mit ihrem schmalen Eisengeländer lag malerisch im Schnee.








Mit nassen Stiefeln und ansonsten gut erhalten kamen wir wieder zum Berggasthof, wo sich auch die Bahnstation befindet. Der Lokführer konnte sich an mich noch vom letzten Jahr erinnern und erkundigte sich, was wir für ein Projekt machten. Gemeinsam mit einem Zugbegleiter gesellte er sich oben in der Gaststätte auf einen Kaffee zu uns. Constri erklärte den beiden, was es mit dem Filmprojekt auf sich hat, und nannte ihnen die URL ihrer Homepage. Sie konnten erzählen von noch mehr eindrucksvollen Filmkulissen in Kärnten, darunter der Hemmaberg mit Ruinen von Sakralbauten.
Constri hatte heute Fridattensuppe und Salat, ich hatte Kaisenschmarrn. Unten an der Talstation konnten wir trockene Schuhe anziehen. Wir machten uns gegen halb sechs Uhr nachmittags auf den Heimweg. Unterwegs schliefen wir auf zwei Raststätten. Während unserer letzten Rast wachten wir in der Morgensonne vor einem zur Schau gestellten Autowrack auf, das den Fahrern als Mahnung dienen soll. Der Baum, um den das Auto sich herumwickelte, wurde als Stammfragment in das Objekt eingebunden, um zu verdeutlichen, wie der Unfall sich abgespielt hat. Auf einem Schild ist zu lesen:
"Geiz tötet."
Auf einem Reifen steht geschrieben:
"Völlig abgefahren, typischer Nässeunfall."
Die Fahrgastzelle ist auf der Beifahrerseite kaum noch vorhanden, auf der Rückbank ist sie beifahrerseitig erheblich eingedellt.
Am Sonntagnachmittag waren Constri, Denise und ich bei Gesa zum nachgeholten Geburtstagskaffee. Gesa erzählte von Marno, mit dem sie seit dem letzten Winter zusammen ist. Sie hat ihn über eine Anzeige kennengelernt. Erst ging es nur ums gemeinsame Ausgehen und gemeinsame kulturelle Aktivitäten. Dann hat er sich in sie verliebt und sie sich in ihn. Er ist zweiundvierzig Jahre alt und hat gerade eine Ehe hinter sich. Arbeit hat er zur Zeit nicht, ebenso wenig wie Gesa. Er wohnt in der Nähe von Bad N. Der Musikgeschmack der beiden ist ähnlich. Sie wollen dieses Jahr gemeinsam zum Pfingstfestival nach L. fahren.
Gesa hat neulich wieder einen Beitrag gestaltet für das freie hannoversche Fernsehen. Die Reportage handelt von Roboterprojekten für Mädchen. Es sind einfache Geräte, die aber in begrenztem Maße lernfähig sind. Um die Lernfähigkeit von Maschinen geht es in diesem und anderen neueren Roboterprojekten.

In einem Traum sah ich Rafa in einer Discothek. Wir hatten keinen näheren Kontakt. Rafa befaßte sich abwechselnd mit Darienne und einem anderen Mädchen, auch sehr jung, mit dunklen Haaren. Mal knutschte er mit Darienne, dann ging er zu dem anderen Mädchen und knutschte mit ihr. Die Mädchen schien das Hin und Her nicht zu stören, zumindest zeigten sie es nicht. Sarena war nicht anwesend.

Ein anderer Traum handelte von Malda. Sie wohnte in einem fünfstöckigen Haus in der Nähe meiner Wohnstraße. Ich hatte einen von Maldas Wohnungsschlüsseln und wollte ihr den zurückgeben. Sie war jedoch nicht zu Hause. Ich sah Malda mehrere hundert Meter entfernt beim neuen Supermarkt die Straße hinuntergehen, mir abgewandt. Neben ihr ging meine Kollegin Aurika.
"Ach, die kennen sich?" wunderte ich mich.
Am einer vielbefahrenen Kreuzung hatte Malda die kleine Wiese vor einer Tankstelle gemietet und dort auf einem Podest ihr Schlafzimmer eingerichtet. Unter freiem Himmel stand ein schickes Doppelbett mit Zierkissen und Zier- und Kuscheldecken, dahinter eine Ablage und rechts und links niedrige Schränke.
"Daß sie sich hier wohlfühlt?" staunte ich.
Ich ging wieder zu Maldas Wohnung, um nachzuschauen, ob sie mittlerweile zu Hause war. Dabei fiel mir ein, daß Malda bereits seit sieben Jahren tot ist. Sie hat sich in B. von einem Hochhaus gestürzt.

Meine Kollegin Aurika ist immer sehr nett und sehr schick gekleidet. Doch sie hält ein Geheimnis zurück, und ich komme nicht darauf, was sie verschweigt.
Am Telefon erzählte Ida von einem "behämmerten" Mann. Er bewirtschaftet einen Kleingarten in Rh. Wenn Ida und ihre Freundin in den Obstbäumen auf dem Grundstück des "behämmerten" Mannes herumkletterten, verjagte er sie, sooft er sie erwischte. Daraufhin spielten ihm die Mädchen einen Streich. Sie wußten, daß er am Samstag immer aufs Grundstück kommt, allerdings noch nicht frühmorgens. Sie hängten also frühmorgens ihre Jacken am Rand des Grundstücks auf, und in dem Laubhaufen, der vor dem Zaun liegt, versteckten sie Stöcker, die sie in den Boden rammten. Dann warteten sie auf dem Balkon von Idas Freundin auf das, was geschehen würde. Der "behämmerte" Mann erschien, entdeckte die Kinderjacken am Zaun und lief darauf zu. Dabei stolperte er über die Stöcker; er fiel jedoch weich ins Laub. Er war fein angezogen, weil er Gäste hatte, und seine Garderobe war nach dem Sturz etwas verändert.
Ida erzählte, der "behämmerte" Mann lasse sich wählen, sie hätten ihn auf Wahlwerbung wiedererkannt. Er setze sich in der Wahlwerbung für Jugendprojekte ein.
"Na, das paßt ja dazu, daß er euch anschreit, wenn ihr auf seinem Grundstück klettert", meinte ich.
"Ach - stimmt eigentlich", bemerkte Ida.
Mit Constri, der vierzehnjährigen Elaine und deren gleichaltriger Freundin Jacy machte ich einen Sonntagsspaziergang im Stadtpark, als Cosplay-Fotosafari. Es war strahlend sonnig und warm. Jacy trug ein Gothic-Lolita-Kleid in Schwarzweiß. Elaine hatte sich als Manga-Kriegerin verkleidet. Constri fotografierte die Mädchen zwischen blühenden Rhododendren, in einem japanischen Teegarten und auf einem flachen Wehr, über das man auf Trittsteinen gehen kann, wenn man ein sicheres Gleichgewicht hat. In einem Freiluft-Café hatten Constri und ich Erdbeertorte und Milchkaffee. Die Mädchen bestellten Cola.
Elaine erzählte, daß sie auf der Suche nach ihrem Vater ist. Sie will ihn endlich kennenlernen. Ihr Vater hat ihre Mutter verlassen, kurz nachdem er erfuhr, daß Elaine unterwegs war.
Ende Mai war Sibyl bei mir zum Abendbrot. Sie erzählte von ihren Reisen nach Enugu in Nigeria. Enugu hat ungefähr eine Million Einwohner. Eine Zeitlang habe man dort viele weißgekleidete Menschen sehen können, das seien Mitglieder einer Sekte gewesen, die reaktionäres Gedankengut predigten, darunter Vielweiberei und fehlende Verhütung. Dies schloß einen fehlenden Schutz vor AIDS mit ein. Inzwischen sehe man die Mitglieder dieser Sekte kaum noch; der Verdacht liege nahe, daß die Sektenmitglieder durch AIDS nach und nach ausgelöscht worden seien.
Sibyl erzählte von ihrer kirchlichen Trauung in Nigeria. Sie habe in Weiß geheiratet. Die Kirche sei hellblau verputzt. Drinnen habe der Pfarrer das Weihwasser mit einer Blumenspritze in der Menge der Gläubigen verteilt, da er sonst nicht durchgekommen sei mit dem Segnen. Auf der Hochzeit seien vierhundert Gäste gewesen, alles Verwandte ihres Mannes. Sibyls Verwandte hätten nicht zu ihrer Hochzeit nach Nigeria reisen wollen. Ihre Eltern seien mit ihrer Wahl nicht einverstanden gewesen. Dieses Jahr sei ihre Mutter erstmals mitgekommen nach Nigeria und habe vieles daran auszusetzen gehabt. In Nigeria sei Ungeziefer überall, man werde dessen nicht Herr, wie man sich auch anstrenge. Duschen müsse man mit einem Wassereimer. Kleidung bekomme man für wenig Geld geschneidert. Sibyl trug ein hübsches dunkelgrünes Etuikleid mit elfenbeinfarbenen Batik-Ornamenten, das hat sie sich dort auch schneidern lassen. Sie zeigte mir Fotos von einer Familienfeier, auf der sie eine Bluse mit Ornamenten und Spitzen in verschiedenen Brauntönen trägt, die sieht aus wie ein teures Designer-Stück, wurde aber auch in Nigeria geschneidert. Sibyls Töchter und deren Cousinen haben alle die gleichen violetten Kleider bekommen, in denen sie auf Fotos zu sehen sind. Traditionell kleiden sich die Frauen in Nigeria in Wickelröcke, doch heutzutage kann oder will nicht mehr jede die komplizierte Wickeltechnik anwenden, so daß sich mehr und mehr die fertig geschneiderten Röcke durchsetzen. Puffärmel sind in Nigeria ein Dauerbrenner, vermutlich ein Relikt aus der Kolonialzeit, die auch baulich noch allgegenwärtig ist. Batikstoffe haben in Nigeria eine lange Tradition, und diese Färbetechnik hat von Afrika aus die Mode weltweit beeinflußt. In Nigeria trägt Sibyl gerne ein Tuch um den Kopf, was dort üblich ist; zu Hause macht sie das aber nicht.
Sibyl und Cristobal sind seit Jahren geschieden. Nach nigerianischer Tradition gilt Cristobal jedoch immer noch als ihr Ehemann. Seine jetzige Partnerin Sada wird bisher nicht als seine Ehefrau anerkannt, weil es noch kein Brautgeschenk gab. Sada hat bereits zwei Kinder mit Cristobal, die Halbgeschwister von Sibyls Töchtern Raquelle und Ashlyn.
Cristobals Familie empfängt Sibyl immer voller Freude, wenn sie zu Besuch kommt:
"Sibyl! Sibyl! Sibyl!"
Der Ventilator wurde in ihr Gästezimmer gestellt, was Cristobal gar nicht recht war, er mußte sich aber fügen.
In der Kantine des Krankenhauses in Lk. haben wir Kollegen bei aller Hektik doch Zeit, uns zu unterhalten. Mein Kollege Junis erzählte, daß er schon jemandem begegnet ist, der Tollwut hatte. Der Erkrankte war zuvor in Nordafrika gewesen und dort von einem streunenden Hund gebissen worden. An die Tollwut-Gefahr dachte er nicht. Auch eine Krankenschwester, die die Wunde versorgte, kam nicht darauf. Zurück in Deutschland, bekam der Gebissene nach einigen Wochen seltsame Mißempfindungen in den Händen, deshalb ging er zum Arzt. Der veranlaßte eine sofortige Nachimpfung und schickte ihn in eine Spezialklinik. Dort verstarb er nach wenigen Tagen.
Bisher kann man die Menschen, die die Tollwut überlebt haben, an einer Hand abzählen.
Henk berichtete im Friseursalon, seine Geburtstagsfeier Mitte Mai sei sehr lustig gewesen. Er habe acht Transvestiten zu Gast gehabt, die er auf einer Maifeier im Kulturzentrum "Rohbau" kennengelernt hatte. Ich meinte, die Geburtstagsparty hätte mir bestimmt gefallen, doch sei ich zu dieser Zeit in Österreich gewesen.
Henk nannte mehrere Zutaten einer unbeschreiblich leckeren Zitronensauce, die er mir vor einiger Zeit mit gebratenen Riesengarnelen serviert hat: grüne Chilipaste, Garnelenfond, Kokosmilch, Sahne und Zitronenschale. An weitere Zutaten erinnert er sich nicht, und das Rezept hat er verloren.
Ende Mai war ich in WF. im Krankenhaus, um meine Kollegin Mina zu besuchen. Sie wurde operiert, weil der Verdacht auf eine Lebermetastase bestand. Der Verdacht bestätigte sich am Ende nicht, allerdings wollte der Operateur auf Nummer sicher gehen und entfernte die Hälfte der Leber, wo der verdächtige Befund entdeckt worden war. Der Befund stellte sich als gutartig heraus. Mina konnte sich darüber kaum freuen. Sie machte sich Sorgen wegen der verlorengegangenen halben Leber. Wenn in der übriggebliebenen Hälfte tatsächlich eine Metastase auftaucht, läßt sich die nämlich nicht mehr so ohne Weiteres entfernen.
Mina erzählte, sie habe seit Jahren Gefühlsstörungen in den Händen. Weil die sich verstärkten und Mina befürchtete, Hirnmetastasen zu haben, ließ sie ein Kernspintomogramm anfertigen. Das Ergebnis war eigentlich eine Himmelfahrtsdiagnose, brachte Mina aber tatsächlich zum Lachen, weil sie harmlos ist im Vergleich zu Hirnmetastasen: Mina leidet an Multipler Sklerose. Hirnmetastasen waren nicht zu sehen.
Mina erzählte, einige Tage nach ihren Operationen müsse sie immer viel weinen, daran habe sie sich schon gewöhnt. Der Arzt habe gemeint, sie sei depressiv und müsse zum Psychiater. Nun, da ich hier sei, erübrige sich das.
Mina hat Arnon geheiratet, standesamtlich, ohne besondere Feier. Ihr ging es darum, Arnon abzusichern. Bei der Hochzeit trug sie einen pinkfarbenen Blazer.
Am Freitag vor Pfingsten fuhren Constri und ich zum großen Festival nach L. Spätabends holten wir unsere Festival-Bändchen und bummelten noch ein wenig über das Gelände. An einem Imbißstand aßen wir eine sächsische Spezialität, das Handbrot; so etwas Leckeres habe ich selten gegessen. Es war frisches, warmes dunkles Brot, gefüllt mit Käse und Schinken.
Gesa und Marno begrüßten uns. Sie waren schon seit dem Nachmittag in L. und wollten nun schlafen gehen. Das taten wir ebenfalls und schafften es am Samstagnachmittag zu dem Konzert von Section 25. Die Band hatte mehrere Klassiker im Programm, was mich sehr freute. Der Mann am Merchandize-Stand hatte das Album "Love and Hate", das ich haben wollte, nicht dabei, wollte es mir aber schicken - was er auch tat. Besonders gefallen mir "Sweet Forgiveness" und "Bad News Week". Und der Clubhit "Looking from a Hilltop (Megamix)" ist ein immerwährendes Lieblingsstück von mir.
Am Samstagabend schaute Constri sich den Stummfilm "Metropolis" an, der von Live-Klavierspiel begleitet wurde. Ich wäre gerne in einen Vortrag über Serienmörder gegangen, jedoch war der überfüllt. Stattdessen ging ich in der Messehalle bummeln. Für Elaine fand ich ein mit Schleifchen verziertes schwarzes Spitzenkleidchen mit Spitzen-Halsband, Spitzenmanschetten und Haarreif mit Schleife, alles in Schwarz. Elaine wäre gern selbst auf dem Festival gewesen, hatte aber nicht das Geld. Für mich kaufte ich eine tailliert geschnittene graue Nadelstreifen-Jacke mit Stehkragen und Karabiner-Verschlüssen.
Vico erzählte am Merchandize-Stand des Winterkälte-Labels "Hands", daß er für einen W.E-Auftritt in Wien die Technik gemacht hat. Es sei kompliziert gewesen, Rafas Film "Operation Zeitsturm" vorzuführen, wegen technischer Probleme. Man sei auch deshalb unter Druck gewesen, weil sich das Fernsehen angesagt habe, "und das ist ja nochmal eine ganz andere Hausnummer". Kitty kam ebenfalls zum Stand, geschmückt mit vielerlei Haar-Zierat und einem kurzen Reifrock-Gestell um die Taille, einem Mini-Reifrock-Gitter sozusagen. Sie wollte ohne Regenschirm zu einem Open-Air-Konzert und hatte Glück, denn es kam nicht zu einem Wolkenbruch.
Im Foyer des Hallenkomplexes aß ich am Obststand zu Abend: Crêpe und Milchreis mit Zimt und Zucker, dazu frisch gepreßten Saft aus Tropenfrüchten. Vom Kaffeestand holte ich Latte Macchiato.
Einige Festivalgäste spielten im Foyer Seilspringen. Sie hatten zwei Hundeleinen aneinandergehakt, so daß das Seil ausreichte für Seilspringen zu dritt: Zwei Leute hielten das Seil, ein Mädchen sprang, recht sicher. Beim ersten Fehler wurde gewechselt, und der Nächste mußte springen. Mehrere Umstehende versuchten es ebenfalls.
Neben dem Obststand konnte man durch ein offenes Tor in den Konzertsaal der großen Halle blicken. Betreten durfte man diesen Saal nur, wenn man um die Halle herumging und lange auf Einlaß wartete. Das wollte ich nicht, also schaute ich mir die Konzerte von Feindflug und VNV Nation vom Obststand aus an.
Azura kam nach dem Auftritt des Headliners VNV Nation herausgetaumelt und erzählte, da drinnen sei es furchtbar stickig. Ich war froh, nicht drinnen gewesen zu sein. Constri war inzwischen auch im Foyer, außerdem eine Freundin von Azura, und einer von Constris Bekannten vom "Maschinenraum"-Festival gesellte sich zu uns. Miteinander setzten wir uns oben auf der Galerie des Festival-Cafés an einen Biertisch, ruhten uns aus und unterhielten uns. Auf dem Tisch fand ich mehrere aus Flyern gefaltete "Himmel und Hölle"-Spiele, außerdem gab es einige selbstgefaltete Aschenbecher von heimlichen Rauchern, die aber nicht mehr am Tisch saßen. Azura fächelte mit einem Flyer, und ich holte meinen Fächer hervor und fächelte mit. Azuras Freundin erzählte von ihrer "Interims-Depression", die verschwunden sei, seit sie VNV Nation gesehen habe:
"Die Musik ist so positiv, die baut mich so auf, da verschwinden auch die Depressionen."
Azura erzählte von ihrer platonischen Liebe zu Sidon. Sie sei mit ihrem Lebensgefährten Antoine glücklich. Mit Sidon könne sie keine Beziehung führen, dennoch sei Sidon für sie einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Auch ihm bedeute sie sehr viel, er wolle nie auf ihre Freundschaft verzichten. Einige Partnerinnen habe er sogar verlassen, weil sie seine Freundschaft mit Azura nicht billigten. Wenn man miteinander allein sei, komme es durchaus zu Tête à Têtes, auch zu Knutschereien, aber nie mehr als das. Sie könne mit Sidon nicht zusammen sein, da sei sie sicher, und sie fühle sich Antoine eng verbunden und sei gut bei ihm aufgehoben. Sidon habe zur Zeit eine Partnerin und sei auch auf dem Festival. Alle übernachteten in derselben Ferienwohnung: Sidon, seine Partnerin, Antoine und Azura.
Um halb zwei Uhr früh begann das Nachtkonzert von Current 93, in der nun endlich etwas geleerten großen Konzerthalle. Current 93 spielten akustisch, mit Bandbesetzung, ergänzt durch klassische Musikinstrumente: Flügel, Cello und Violine. Endlich sah ich sie live; ich kenne deren Musik seit den achtziger Jahren. Es handelt sich um ein experimentelles Industrial-Projekt. Vor allem die frühen Alben sind atonal, mit Noise-Elementen.
Am Sonntagmittag waren Constri und ich mit Hendrik in der Altstadt von L. in dem indischen Restaurant, wo wir auch letztes Jahr zu Mittag gegessen haben. Hendrik erzählte, daß seine Partnerin Evana zu ihm gezogen ist. Das Haus ist fertig renoviert, es gibt Platz genug für zwei, auch ein Kinderzimmer läßt sich einrichten. Hendrik kommt trotz der Wirtschaftskrise mit seiner Firma zurecht, jedoch ist er über eine behördliche Fußangel gestolpert und muß sich herauskaufen. Er hatte nicht gewußt, daß jede GmbH sich in einem Verzeichnis registrieren muß, das in irgendeinem Amt liegt und das fast keiner kennt. Nun will die Behörde 2500 Euro von ihm, weil er sich zu spät hat registrieren lassen. Man könnte durchaus von "Abzocke fürs Staatssäckel" sprechen.
Nachmittags gingen Constri, Hendrik und ich zum Pfingstgottesdienst "Gothic Christ". Dieses Jahr wurden an die Gottesdienst-Besucher schwarze Kerzen verteilt, umwickelt mit feinem Draht, in dem ein lila Federchen und der Bibelspruch des Jahres steckten:
"Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. 2. Kor. 3,17"
Der Gottesdienst hatte die Freiheit der Gedanken und des Handelns zum Thema und war gestaltet wie ein Theaterstück mit Musikeinlagen. Das Stück handelte von einem Mann, der als politischer Häftling in der Todeszelle saß und eine Korrespondenz mit einem engen Freund führte. Am Ende des Stücks wurde der Häftling abgeführt und erschossen. Die Gottesdienstbesucher wirkten sehr bewegt von dieser Geschichte eines Menschen, der sich für die Freiheit geopfert hatte.
Ein besonders märchenhaftes Kostüm trug ein Paar, das im Schachbrettmuster gekleidet war. Die Dame hatte Schachfiguren in ihren Frisur-Aufbau eingearbeitet.
Wie in den letzten Jahren war im hinteren Bereich der Kirche eine Kulisse aufgebaut, wo man sich gegenseitig fotografieren konnte. Dieses Mal gab es schwarze Engelsflügel, die man sich anziehen konnte. Wir machten viele Bilder. Vor der Kirche gab es Tee, Honigwaffeln und andere Kleinigkeiten.
Im "Blendwerk" versammelten sich abends die Industrial-Fans. Colvin erzählte, seine Freundin Aradis habe nicht mitkommen wollen ins "Blendwerk"; sie habe gemeint, hier seien zu viele Glühwürmchen und Uniformträger. Colvin meinte, mit den Uniformträgern habe sie bestimmt unrecht.
"Und die Glühwürmchen finde ich gerade gut", meinte ich. "Das ist doch was fürs Auge."
Als "Glühwürmchen" bezeichnete Aradis die lustig bunten Cybergoths mit ihren Kunsthaaren und Leuchtstäbchen.
Angesichts des gestrigen Vortrags über Serienmörder, den viele nicht mehr hatten sehen können, weil er überfüllt war, kamen wir auf das Thema "perfekter Mord". Einer von Colvins Bekannten erzählte, daß er bei einer Chemiefirma arbeitet und mit ziemlich gefährlichen Stoffen zu tun hat. Er ärgere sich über den Leichtsinn mancher Kollegen im Umgang mit diesen Substanzen. Immer wieder mache er sich Gedanken darüber, wie man Chemie einsetzen könne, um einen perfekten Mord durchzuführen. Mit hundert Flaschen Rohrreiniger könne man einen Menschen auflösen, und die Knochen könne man mahlen und im Ausguß wegspülen. Ich hielt dagegen, daß es gerade bei großen Giftmengen unvorhersehbare Effekte geben könne und daß nicht auszuschließen sei, daß der Mörder bei solchen Vorhaben selbst ums Leben komme. Außerdem hinterlasse auch ein solcher Mord Spuren. Wer einen perfekten Mord begehen wolle, der könne einfach einen pflegebedürftigen Angehörigen in häusliche Versorgung übernehmen und ihm seine Medikamente nicht geben, dann handele es sich um einen perfekten Mord, denn vermutlich komme niemand auf die Idee, daß er den Angehörigen loswerden wollte.
"Ich bin sicher, daß jedes Jahr viele Morde auf diese Art begangen werden", meinte ich, "weil es so einfach ist und so gut wie nie jemand dem Täter auf die Schliche kommt. Vielen Angehörigen ist die Pflege lästig, und sie wollen kein Geld für ein Heim ausgeben. Nach außen behaupten sie, den pflegebedürftigen Menschen nicht 'abschieben' zu wollen, in Wirklichkeit aber wollen sie ihn nach Hause holen, um Geld zu sparen."
Ich erzählte die Geschichte einer demenzkranken Patientin, die wegen ihrer Demenz nicht mehr genügend essen und trinken konnte, so daß sie eine PEG benötigte, eine Magensonde, die von außen angelegt wird, so daß die Patienten ungehindert essen und trinken können, soweit es ihnen möglich ist. Die Angehörigen fragten immer wieder, ob man nicht auf die PEG verzichten und die Patientin verhungern und verdursten lassen könnte. Sie schienen die Patientenverfügung absichtlich mißverstehen zu wollen, in der ausdrücklich stand, daß nur dann auf lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet werden solle, wenn der Tod unmittelbar und unabwendbar bevorstehe. Die Patientin hatte jedoch keine Erkrankung, die absehbar zum Tode führte. Das Problem der Angehörigen bestand darin, daß die Kosten für ein Heim aufgebracht werden mußten, weil die Patientin nicht in häuslicher Pflege versorgt werden konnte. Letztlich wurde die PEG angelegt, und die Patientin erholte sich.
Im "Blendwerk" traf ich auch Yara, die ihr Studium abgeschlossen hat und nun für die Presse arbeitet. Passend zum neuen Job und zum neuen Lebensabschnitt hatte sie ihr Äußeres verändert. Sie trug nicht mehr schwarz gefärbte Haare und künstliche Wimpern, sondern hellbraune Haare und dezentes Makeup. Daher erkannte ich sie zuerst nicht.
Im "Blendwerk" traf ich außerdem Fani. Er hat noch immer Kontakt zu Viridiana; sie wohnt in der Nachbarschaft seiner Eltern. Sie muß dem Vater ihrer Kinder wegen des Unterhalts hinterherlaufen. Ihre Kinder sollen ziemlich verzogen sein, da Viridiana sich ihnen gegenüber nicht durchsetzen könne. Die elfjährige Tochter habe in einem Supermarkt etwas nicht bekommen, das sie haben wollte, und daraufhin habe sie einen Wutausbruch gehabt, wie er sonst nur bei Kindern im Trotzalter vorkommt, also bei Zwei- bis Dreijährigen.
Headliner im "Blendwerk" waren Winterkälte; vorher traten unter anderem Geistform und Shnarph! auf. Im "Blendwerk" war es sehr voll, doch in einer Ecke konnte man ein bißchen tanzen. Im Gedränge traf ich Dirk I., Rafael M. E. von Geistform und Udo W. von Winterkälte.
Am Montagnachmittag nahmen Constri und ich an einer Friedhofsführung auf dem Südfriedhof teil. Der Friedhofsführer wußte viel und kurzweilig zu erzählen von dessen "Bewohnern". Viele von ihnen hat er selbst gekannt, einige waren Verwandte von ihm. Da gab es die Liebesgeschichte eines kinderlosen Ehepaares, das in einer Pyramide bestattet werden wollte. Als die Frau starb, bat sie auf einem Zettel den Krankenhausarzt, nach ihrem Mann zu sehen. Und tatsächlich - als man nach ihm sah, hatte er einen Selbstmordversuch unternommen. Er wurde dieses Mal und noch ein weiteres Mal gerettet, doch beim dritten Mal warnte einer seiner Freunde niemanden mehr, als der Witwer nicht ans Telefon ging - obwohl er eine Ahnung hatte. So starb der Witwer 2006, nachdem seine Frau 2005 gestorben war, und beide ruhen in einer Pyramide aus Stahlbeton. Das restliche Vermögen wurde für einen gemeinnützigen Zweck gestiftet.
Es gab auch die Geschichte eines Mannes, der sich ein Mausoleum nach italienischem Vorbild bauen ließ. Doch nachdem er dort begraben worden war, schenkte die Witwe das Mausoleum der Stadt L., ließ den Mann in ein einfaches Grab umbetten und verfügte, daß nur der jeweils älteste männliche Nachkomme den Schlüssel zum Mausoleum haben sollte. Das war nun der Friedhofsführer. Er erzählte, die Steine für das Mausoleum seien aus Italien geholt worden, doch als der erste Weltkrieg ausbrach, konnte der Rest nicht mehr geliefert werden, und das Mausoleum wurde mit einheimischem Material fertiggebaut - und man sieht heute, daß das viel schneller verwittert als das italienische.
Die Grabtafeln, auf denen Figuren zu sehen sind, die den Toten und seine Familie darstellen, sind immer so angelegt, daß der Verstorbene ganz rechts im Bild ist und daß alle engen Angehörigen links von ihm zu sehen sind. Die Figuren sind in ihrem Aussehen der Realität nachempfunden, also nicht stilisiert.
Auf einigen Gräbern stehen "Auferstehungsfiguren", das sind die Verstorbenen, aber als junge Menschen und ohne Kleider, so wie man sie sich als Auferstandene vorstellte. Unter ihnen ist die Skulptur einer jungen Frau, die in diesem Alter bereits starb. Die Skulptur soll einige Berühmtheit erlangt haben, auch weil der Künstler, der sie geschaffen hat, ansonsten nur gemalt und gezeichnet hat; sie ist seine einzige Bildhauer-Arbeit.
Heutige Grabstellen sind in der Mehrheit anonyme Urnengräber. Die Friedhofskultur von damals stirbt aus, der Friedhof ähnelt schon jetzt mehr einem Park als einem Friedhof.
Nach der Führung machten Constri und ich einen Spaziergang zu malerischen Kulissen auf dem Friedhof, die ich während der Führung ausgemacht hatte, und wir fotografierten uns gegenseitig in der Abendsonne.
Auf der Bastei bummelten wir über den Mittelaltermarkt. Wir tranken Rosenblüten-Federweißer und Rhabarber-Federweißer. Ich fand eine hübsche Gürteltasche aus schwarzem Leder und ein Portemonnaie aus schwarzem Leder, endlich so klein, wie ich schon immer eines gesucht habe.
Unten in der Bastei tranken wir Milchkaffee. Währenddessen brach ein sintflutartiger Regen los. Wir betrachteten die Schlange vor dem Eingang zum Veranstaltungsgewölbe, wo mehrere Elektro-Bands spielten - darunter eine unserer Lieblingsbands, Sonar. Wir verzichteten darauf, uns in die Schlange einzureihen, weil wir weder vergeblich anstehen noch uns in das Gedränge vor der Bühne quetschen wollten. Die Bastei ist kein Ort, wo man Bands wie Sonar auftreten lassen kann, ohne daß die meisten Fans unverrichteter Dinge wieder gehen müssen. Das Gemäuer bietet einfach nicht genügend Platz für größere Acts.
Nach dem Kaffeetrinken tanzten Constri und ich ein wenig in einer Area mit DJ-Programm und machten uns dann auf den Weg zu der Treppe nach oben. Wir aßen Grillwürstchen, unter einem Schirm stehend, bis der Regen etwas nachließ. Dann ging es nach Hause. Wir waren zu müde, um noch zu der Abschiedsparty in der Bastei zu bleiben.
Kurz nach Pfingsten mailte Azura:

Ich hab Dir doch schon auf dem Festival knapp geschildert, daß etwas vorgefallen ist, meinen ehemals angeblich engsten Freund betreffend.
Ich sitze nun seit gestern abend zu Hause und hatte einen Tobsuchtsanfall und bin völlig fertig, weil sich der besagte Sidon einen Schnitzer von unglaublicher Unverschämtheit geleistet hat, den er nicht wieder gutmachen kann, egal, ob er auf Geisteskrankheit oder sonstwas basiert. Und ich schäme mich für meine Gefühle in den letzten sechs Jahren und mache mir Vorwürfe, wie ich mich allen Einwürfen meiner Freunde und aller Mißbilligung meines Partners entgegen überhaupt auf ihn einlassen konnte, wo ich doch immer latent ahnte, daß irgendwas nicht normal ist bei ihm, er mich teilweise auch völlig abwertend behandelte, was ein Freund niemals tun sollte, was ich aber immer verdrängt hatte.
Vorgefallen ist eigentlich nur, daß besagter Freund Sidon zufällig am Pfingstsonntag zugegen war, als wir in unserer Unterkunft im Getränkemarkt die halb öffentlichen (und eigentlich vom Personal und den Gästen der Einliegerwohnung, also uns) auf dem Hof befindlichen Toiletten gegen einen fremden Proll verteidigt haben, der es nicht einsah, daß man eben mal für ein paar Minuten die gesamte Waschküsche (den Toilettenraum) sperren mußte, weil meine Freundin nackt drinstand und die offen im Raum befindliche Dusche nutzen wollte, ohne daß ständig fremde Männer zum Klogehen reinkommen.
Es war so ein etwas älterer, häßlicher, angemalter, dummer Glatzkopf, dem die Blödheit aus dem Gesicht sprach und der sich nicht abwimmeln ließ und uns munter beleidigte. Ich bin dazwischengegangen, weil ich Angst hatte, er tut meinem - auch bisweilen recht wenig diplomatischen, dabei aber schmächtigen und sicher unterlegenen - Freund Antoine was an, aber dann hatte ich das Monstrum da an der Backe und habe mich mit ihm angelegt bis zum hysterischen Wutanfall und fast zur körperlichen Auseinandersetzung, weil er einfach nicht verschwinden wollte.
Meine ungeheure Aggression und die Tatsache, daß ich für Antoine (und jede/n andere/n meiner Freunde) in Wut und im Ernst mein Leben riskieren würde, hat Sidon anscheinend nicht gepackt und mich ganz blöd angeredet und einfach dort stehen lassen, obwohl er mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatte. Er wollte auch nicht weiter drauf eingehen, "weil ich es eh nicht verstehen würde" und hat mir postwendend in den nächsten Minuten diese Email geschrieben, die ich dann gestern abend hier vorfand:

Ha ha!

Wie kommst Du darauf, daß es mir schlecht geht? Ich habe mehrere Punkte zu sagen, und es brennt mir so unter den Nägeln, daß ich mich jetzt sofort zum Wohnmobil begeben habe, damit ich Dir schreiben kann.

1.
Nur mal rein ganz praktisch: Wenn Ihr Euch mit jemandem anlegt, würde ich es, wenn es denn unbedingt notwendig ist, bei jemandem versuchen, dem ich das Wasser reichen kann. Der Typ hätte Dich in die Linke genommen und Antoine in die Rechte und dann in die Hände geklatscht. Und dann wärt Ihr beide Matsch gewesen.

2.
Einem aufmerksamen und kritischen Beobachter könnte sich durchaus die Frage stellen: Willst Du Antoine loswerden? Dir ist evtl. gar nicht klar, daß Du ihn in höchste Gefahr gebracht hast! Wenn Du auf den Goth losgegangen wärst, was Du ja eigentlich schon getan hast, nur ohne (berechtigte) Gegenreaktion, hätte Antoine einschreiten müssen, da hättest Du ihm ja keine andere Wahl gelassen. Und dann? Krankenhaus? Oder was Schlimmeres? Einen sehr symphatischen Freund hast Du da, wirklich! Der sich dann noch brüstet, daß er ihn mit Leichtigkeit kampfunfähig gemacht hätte. Und der noch Beleidigungen hinterherruft.

3.
Der Punkt ist: Ihr beide fühlt Euch völlig im Recht. Der böse Goth hat Euch böse angemacht, und Ihr habt ihn in die Flucht geschlagen. Wie eine Horde Spatzen, die eine Elster beschimpfen, die zu nahe kommt. Die Wahrheit ist: Du hast ihn saublöd angeredet. Ohne Anstand, ohne Höflichkeit. Seine Reaktion war unwirsch, aber berechtigt. Na ja, dann hat ja Antoine eh schon angefangen, ihn zu beleidigen. Übrigens hätte ich Antoine mehr Hirn zugetraut. Offensichtlich hat er Komplexe aufgrund seiner Kleinheit und muß sich aufplustern?

4.
Nun möchte ich zu Deiner Eruption kommen. Ich wußte ja schon lange, daß Du aggressiv und hysterisch bist. Aber so hirnlos, hintergrundlos und unangebracht, hätte ich auch nicht vermutet. Dabei wart Ihr beide so lächerlich und hilflos gleichzeitig. Daß Du keine coole Person bist, ist ja in Ordnung. In die Eier treten? Ist übrigens nicht so einfach, bei jemandem, der einen relativ festen und engen Rock anhat.
In meiner Welt ist Aggression nicht notwendig. Es hätte niemals zu einem Konflikt kommen müssen, wenn Ihr einfach nett geblieben wärt. Ihr seid nunmal in einer völligen Bruchbude hier, es stinkt, es ist asslig, es ist wie auf einer nicht geputzten öffentlichen Toilette. Kann man schon mal verwechseln. Ich würde in sowas nicht auf die Toilette gehen, weil es mir zu übel ist, schon von außen. Du bist wohl auch sonst so. Ich weiß ja, daß Du regelmäßig in Deinen vielen Internetforen eine auf die Mütze bekommst und daß Du Dich mit Vergnügen und großer Leidenschaft unbeliebt machst, wo es nur geht. Ich gebe Dir ein Geheimrezept: Wenn man nett ist und den Ball flach hält, wird man auch entsprechend behandelt.

5.
und letztens. Nun zu mir. Ich hab Dir genügend über mich erzählt. Ich kann mit so einer brutalen und lächerlichen Aggression nicht umgehen, und ich möchte auch keinen Umgang pflegen mit Leuten, die so sind. Möglicherweise siehst Du ein, was da heute passiert ist. Dann ist in ein paar Wochen vielleicht wieder alles in Ordnung, und ich kann Dir wieder begegnen. Aber wenn Du das nicht tust und denkst, Ihr wurdet schlecht behandelt und habt Euch nur gewehrt, dann betrachte bitte unsere Freundschaft als erledigt. Das soll keine Erpressung sein. Ich beanspruche nur für mich, mir meine Kontakte aussuchen zu dürfen, und ich möchte Kontakt haben zu friedlichen und lieben Menschen. Aber wenn das heute Dein wirklich wahres Gesicht war und nicht nur, weil Du total müde und fertig bist, dann wünsche ich Dir einen schönen Tod.
Und bis dahin ein schönes Leben.


Was sagst Du dazu? Wie beurteilst Du mit Deiner psychologischen Erfahrung diesen Ausraster von einer Person, die immer behauptet hat, ich sei ihr Seelengefährte und die schon mal auf Knien ankam und Angst hatte, mich zu verlieren?
Wie heißt die Krankheit, die er hat? Ich muß wohl davon ausgehen, daß ich die ganzen sechs Jahre nur vera...t wurde und Gefühle und Aufwand an ihn verschwendet habe, mir die Mißbilligung meiner Freunde zugezogen und mich vor mir total lächerlich gemacht habe. Ich stehe nun hier vor dem Trümmern meines Lebens, und es ist so unglaublich, ich kann es als normaler Mensch nicht begreifen, daß Sidon sich so ein Ding geleistet hat, und nun auch noch von MIR verlangt, ich solle mich entschuldigen. Dabei ging ihn die ganze Sache auch gar nichts an, er saß nur dabei. Das wäre jetzt das zweite Mal, daß er mir so brutal in den Rücken fällt und mich dermaßen verletzt, und er hat eine Freundschaft und weiteren Kontakt nicht verdient.
Dabei würde ich doch nur noch gerne verstehen können, was in ihm vorgeht, welche Art geistigen "Schaden" er eigentlich hat. Und nein, er nimmt keine Drogen, soweit ich weiß.
Kannst Du mir dazu irgendwas sagen, was das ist?
Traurige Grüße
Azura

Ich schrieb:

Offenbar ging es bei dem Eklat um viele ineinander verschachtelte Konflikte. Bei so etwas spielen meistens viele verschiedene Dinge hinein, und es ist durchaus schwer, das alles zu entwirren und differenziert zu betrachten. Die Emotionen schaukeln sich meistens dann hoch (bei jedem Menschen), wenn irgendein wunder Punkt getroffen wurde, wie z.B. Sidons Eifersucht auf Antoine, der dich ja hat, während Sidon dich nicht hat, und daraus resultiert vermutlich, daß Sidon Antoine wegen seines eher schmächtigen Wuchses beleidigt. Ich denke, Sidon ist in dich ganz ordentlich verknallt und kann nicht damit rüberkommen, nicht dazu stehen, ein Problem, das er mit seinen Gefühlen hat. Er gibt lieber den übererwachsenen Vermittler, um zu verbergen, daß er eigentlich genauso aufgeregt ist wie du. Ich denke, das Ganze ist ein Eifersuchtsdrama, eine Dreiecksgeschichte. Und es ist bei solchen Angelegenheiten, die jeden der Beteiligten sehr treffen und berühren, immer schwer, herauszufinden, wer denn nun eigentlich zu wem gehört und warum. Der ungehobelte Typ am Klo war da eher nur ein Katalysator.

Azura schrieb:

Das ist das, was ich auch denke. Sidon hat sich bisher in seiner Wattebausch-Traumwelt verschanzt und nun erkannt, daß ich auch nur ein normaler Mensch bin. Aber ich bin ja offensichtlich zu "trivial" in dieser Ansicht, wenn ich nur an Eifersucht und andere niedere Motive denke ... Sidon spielt sich auf als Pazifist, in dessen Weltanschauung ich nicht passe, da ich ebenso aggressiv und brutal wäre wie die Kriegstreiber und Leute, die Völkermorde anzetteln. Das kann er nicht ab, oder zumindest stellt er es so dar, daß ich mich bei dem Angreifer entschuldigen und einen Konflikt hätte vermeiden sollen. Ich hab eine Reihe von unsinnigem Hin- und Hermailen hinter mir, bin total entnervt und verzweifelt, denn Sidon hat mir nun meine Mailadresse blockiert und schiebt mir den Schwarzen Peter zu, damit ich die "Böse" bin, die sich bessern soll und geläutert werden muß und sich dann wieder demütig bei ihm melden soll.
Sidon wirft mir all das vor, was ICH IHM vorwerfen könnte, daß er sich in mir geirrt habe all die Jahre, daß ich ihn angegriffen und beleidigt habe, daß er mich liebte, ich aber durch meine kalte und herzlose Art seine Gefühle mit Füßen getreten habe etc. Was soll das? So benimmt sich kein Freund. Und ich verstehe ihn einfach nicht. Kein normaler Mensch kann das.
Ich bin inzwischen so fertig mit ihm, daß ich sage, ich habe keinen Nerv mehr auf eine Freundschaft mit ihm, doch merkst Du was? Dann ist es nämlich MEINE Entscheidung und meine Schuld, wenn ich den Kontakt abbreche.
Jetzt ist es am besten, wenn ich die Sache erst mal auf sich beruhen lasse, aber Sidon wartet darauf, daß ich irgendwann den ersten Schritt tue und "meine Einstellung geändert habe".
Ich find's halt so krass, daß Sidon sein Empfinden mir gegenüber so dermaßen abhängig davon macht, ob ich mich mit einem wildfremden Typen gestritten habe. Das hatte doch mit uns beiden nichts zu tun, aber meine Art, so aggressiv zu sein, hat ihn angeblich so abgestoßen, weil er wohl ein anderes Bild von mir hatte. Ich finde das einfach nur noch krank. Ich liebe doch meinen Partner Antoine auch noch, obwohl er früher unter Alkoholeinfluß auch mal randaliert und dabei aus Wut versehentlich fremdes Eigentum zerstört hat. Da hatte ich auch voller Angst gedacht, einen anderen Menschen vor mir zu haben, aber lieben tu ich ihn trotzdem.
Und eigentlich sitze ICH da und denke mir, wie konnte ich mich nur jahrelang so in einem Menschen täuschen ...
Aber vielleicht geht es ihm ebenso?

Anfang Juni tanzte ich zu Torvils Industrial-Set im "Doomsday". Gegen Morgen unterhielt ich mich längere Zeit mit Beatrices früherem Lebensgefährten Andras. Er meinte, solange er mit sich selbst nicht klarkomme, wolle er keinen Kontakt zu seinem Sohn haben, weil er den Jungen nicht irritieren wolle. Das Kind stammt aus einer flüchtigen Beziehung mit Aimée. Andras wohnt noch immer in einem abgelegenen Dorf. Er habe dort viel Ruhe, und mit den Burschen aus dem Dorf habe er sich auch schon arrangiert; die würden ihn mittlerweile als Dorfbewohner akzeptieren. Andras erzählte, daß er viel raucht, viel Alkohol trinkt und viel Speed zu sich nimmt. Er war mit seinem Auto da und wollte damit auch wieder nach Hause fahren. Kurz vor dem Aufbruch wollte er, der in der Nacht schon einiges konsumiert hatte, es "noch einmal wissen" und ließ sich an der Bar eine Eigenkreation zusammenmixen: Wodka, Absinth und Waldmeister.
"Hu, das zieht voll weg", staunte Andras.
Im ersten Morgenlicht ging ich mit Andras durch das üppige Grün am nahegelegenen Flußufer zum Parkplatz. Andras war noch in der Lage, geradeaus zu gehen. Er plante, sich ein wenig in seinem Auto auszuruhen und dann noch etwas Speed zu nehmen für die Heimfahrt.
"Ich brauche dir keine Predigt zu halten", meinte ich dazu, "du weißt selber, daß du deinen Führerschein los bist, wenn dich jemand erwischt. Und wenn du in deinem Zustand Auto fahren willst, kann ich dich eh nicht daran hindern."
Am Samstag feierte Constri ihren Geburtstag. Es gab Bowle mit Zitrusfrüchten und andere Leckereien, auch eine marzipanbedeckte Torte, die Clarice kreiert hatte. Als Giulietta gefragt wurde, wie es denn mit ihrem neuen Schwarm laufe, antwortete sie beiläufig:
"Ach, der Doppelmörder."
Das gab ein großes Gelächter. Giulietta hat einen Hang zu unkonventionellen Liebschaften, meist solchen, bei denen die Tragik oder das Scheitern bereits vorprogrammiert sind. Ihren Doppelmörder hat sie kennengelernt, als sie im Rahmen ihres Studiums in der Justizvollzugsanstalt in CE. recherchierte.
Heloise und Barnet erzählten von dem Hotel, wo sie jedes Jahr während des Pfingstfestivals in L. übernachten. Dieses Hotel war in DDR-Zeiten eine staatliche Ferienanlage. Die Zimmer sind klein und waren damals mit sehr wenig Komfort ausgestattet, Typ "Sportheim mit kalten Gemeinschaftduschen". Es gibt ein altes Gästebuch, in dem Heloise und Barnet gerne blättern. Unter anderem stehen Sachen darin wie:
"Es grüßt das Gurkenkombinat. Heute haben wir wieder unser Plansoll erfüllt."
Felicity hat inzwischen ein Auto - ein hellblaues. Sie hat sich ihrem ersten Freund wieder angenähert, die beiden sehen sich öfter.
Onno brachte etwas ganz Besonderes mit: Eiswein. Ich hatte noch nie welchen getrunken und fand ihn sehr lecker. Das fanden die übrigen Gäste auch; die Flasche war bald leer.
Onno beklagte, daß es in der Wave-Elektro-Gothic-Szene nicht nur Gothics gibt, sondern auch Cybergothics. Er meinte, wer Leuchtstäbchen, Kunsthaar-Arrangements, Science-Fiction-Stylings und unkonventionelle Farben trägt, habe in der Szene nichts zu suchen. Er hasse diese Leute.
"Dann mußt du mich auch hassen", gab ich zu bedenken. "Ich bin auch ein Cybergoth."
Da rückte Onno von seiner Meinung ein wenig ab.
Merle fragte mich über den legendären Hacker 23 aus, Karl Koch. Ich konnte ihr einiges über ihn erzählen, etwa daß ich einen seiner damaligen Hacker-Kumpel kenne - Cennet - und daß ich einige ihrer Hacker-Protokolle angeschaut habe, in denen sie sich "Haggy" und "Mole" nannten. Merle meinte, Karl Koch habe gut ausgesehen, er gefalle ihr.
"Ou Mama, du verliebst dich immer nur in Tote", stöhnte Elaine. "Das ist doch echt krank. Hacker 23 ... Brian Connolly ... und dieser andere, der gibt auch bald den Löffel ab ..."
"Sie steht aber auch auf Jamie Oliver", gab ich zu bedenken.
"Einer, der in England wohnt", hielt Elaine dagegen, "keiner aus H. oder Niedersachsen."
Als letzter Gast erschien Jas gegen halb drei Uhr morgens. Er hatte in HB. ein Fußballspiel angeschaut und war betrunken. Als ich ihn bewirtete, lallte er:
"Also, wenn ich jemals heirate, kommst du in die engste Wahl."
"Das weiß ich doch, Jas", erwiderte ich.
Er war noch hell genug im Kopf, um sich gegen halb fünf ein Taxi zu rufen.
Shara mailte:

Ich werde Anfang Oktober in der Türkei einkaserniert. Ich bin eingezogen und werde eine einmonatige "Intensivausbildung" erhalten. Ich hoffe, daß ich den Bürgerkrieg dort als Uniformierter unter Waffe nicht als Zielscheibe für Terroristen erlebe. Sehr stressig das Ganze ... und sehr verändernd.

Mitte Juni schickte Ace an alle Adressen, die sich im E-Mail-Account seiner Frau Zara befanden, eine Nachricht. Sie lautete:

Zara ist tot!
Liebe Freunde!
Meine Name ist Ace, und ich war der Ehemann von Zara.
Gestern abend ist Zara nach langer schwerer Krankheit von uns gegangen.
Ich danke allen, die sie und mich auf diesem schweren Weg in Anteilnahme und Liebe begleitet haben.
Ich schreibe Euch diese letzte Mail von ihrem Account, um Euch zu informieren.
All ihre Mails werden ab jetzt auf mich umgeleitet.

Ace nannte seine Kontaktdaten und die URL der Kondolenzseite auf seiner Internetpräsenz. Er fügte hinzu:

Auf dieser Seite werde ich in Kürze auch das Datum und den Ort der Bestattung bekannt geben.
In tiefer, schmerzhafter Trauer
Ace

Auf der Kondolenzseite hatten sich schon viele Leute eingetragen. Sie schrieben sehr bewegt, sehr emotional, und schilderten ihre Erinnerungen an Zara. Weil Ace in der Radio-, Musik- und Veranstaltungswelt zu Hause ist, kamen auch viele Beileidsbekundungen aus dieser Branche. Unter anderem kondolierte der Sänger von Alphaville.
Rafa hatte geschrieben:

Liebster Ace,
Deine Nachricht hat uns alle sehr betroffen.
Auch im Namen des gesamten Senders spreche ich Dir unser tiefstes Beileid aus.
Es ist immer sehr schwer, Worte des Trostes zu finden, und die Erlösung des Einen ist meist der Schmerz des Anderen.
Wir stehen in Wort, Tat und Gefühl voll und ganz hinter Dir!
In tiefer Mittrauer
Rafa Dawyne (Honey) / W.E

Als "Sender" bezeichnet Rafa seine Band W.E, weil er sie als eine Art Radiosender betrachtet.
Kappa und Edaín hatten geschrieben:

Herzliches Beileid, lieber Freund!
Zara war viel zu jung und hätte noch lange hier bleiben sollen, daran hatten wir geglaubt. Sie war ein toller Mensch, und davon gibt es so wenige. Euch zusammen zu sehen, war sehr beruhigend und schön. Darum fällt es so schwer, ihren Tod zu fassen.
Wir sind natürlich für Dich da!
Deine Freunde Kappa & Edaín + Familie

Ich schrieb nun auch einen Eintrag:

Hallo Ace,
auch von mir herzliches Beileid, ich bin sehr traurig über Zaras viel zu frühen Tod. Es ist ja sehr, sehr schnell gegangen. Anfang des Jahres haben wir noch gemailt. Im April hat Cyrus erzählt, sie ist zu Hause. Wenn ich daran denke, daß ihr, Zara und du, erst 2003 euer ganz großes Glück gefunden habt ... es heißt ja, man soll sich freuen über das, was man hatte, nicht trauern über das, was man verliert, aber das sagt sich zu leicht daher. Trauer kann man weder messen noch berechnen. Dir (und Leonie) wünsche ich jedenfalls, daß du Zara wenigstens im Traum wiedertriffst, wenn du ihr schon in der Wirklichkeit nicht mehr begegnen kannst.
LG
Hetty

An Brandon mailte ich:

Zara, die Ehefrau des Radiomoderators Ace, ist an Krebs verstorben, viel zu jung, noch keine fünfzig. Zara war immer nett, ich mochte sie gern. Sie litt an einer Suchterkrankung, sie trank viel Alkohol und rauchte viele Zigaretten. Ace war zum ersten Mal mit ihr zusammen, als sie beide Anfang zwanzig waren, und er ließ sie sitzen, als sie ein Kind bekamen. Als das Kind erwachsen war - Tochter Leonie - kehrte Ace zurück und heiratete Zara. Sie waren seit 2003 glücklich miteinander. 2008 dann die Schock-Diagnose: Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Ich habe den Verdacht, daß die vielen Zigaretten und der viele Alkohol zu dieser Tragödie beigetragen haben könnten, auch wenn sich sowas letztlich nicht beweisen läßt. Ace ist gebeugt von der Trauer, und ich glaube, er wird nie ganz über Zaras Tod hinwegkommen.

Brandon schrieb:

Meine liebe Hetty,
ich entnehme Deinen Zeilen, dass Dich Zaras Tod betroffen macht und dass Du mit Ace mitfühlst. Das - sowie der Verlauf der Geschichte - stimmt mich ziemlich traurig, ruft es doch auch Erinnerungen an jene hervor, die schon länger nicht mehr bei uns sind; sei es in der Szene oder auch in anderen Zusammenhängen. Du hattest bei einem unserer letzten Treffen schon angedeutet, dass Zara nicht mehr lange hätte ...

Ich schrieb:

Es ist kaum vorstellbar, daß von einem Tag zum anderen jemand einfach verschwindet, und man kann sich nicht mehr mit ihm unterhalten, ihn nichts mehr fragen etc. Dabei passiert es andauernd, gehört zum Leben. Meine Mutter erlebt das gerade sehr häufig, gleich mehrere von ihren Bekannten kriegen Krebs und sterben, sie hat das Gefühl, das geht immer so weiter und so weiter, echt finster.
Meine Kollegin Mina blickt dem Tod ins Auge und wundert sich über jeden Tag, an dem sie noch da ist:
"Ich lebe nur für das Hier und Jetzt."
Mit Zara hätte ich mich gerne noch ein Weilchen unterhalten, sie wurde gewissermaßen vom Tod einfach mal so eben abgeholt.

An Azura mailte ich:

Sidon denkt wohl, er habe sich in dir getäuscht. Dabei glaube ich eher, er hatte die ganze Zeit ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit an sich und auch von sich und seinen Gefühlen. Ich denke, er ist ein gut Stück narzißtisch und kann es sich nicht zugestehen, an ganz gewöhnlicher, banaler Eifersucht zu leiden. Es ist einfacher für ihn, anderen vorzuwerfen, was er selber tut, dann braucht er sich selbst nichts vorzuwerfen und kann die Vorwürfe nach außen verlagern. Es ist aber auch zu ärgerlich für ihn, daß er dich Antoine überlassen muß, für den du dich ja nun mal entschieden hast. Sidon kann diesen Ärger nicht zulassen; das würde ja bedeuten, daß er zugesteht, eine Niederlage erlitten zu haben und Antoine gegenüber klein beigeben zu müssen. Sidon ist kränkbar, wie alle narzißtisch strukturierten Menschen. Kränkbare Menschen sind schlechte Verlierer. (Rafa z.B. ist erheblich kränkbar und schwer narzißtisch gestört. Er soll mal beim Kniffeln verloren haben und daraufhin furchtbar ausgerastet sein.) Sidon scheint ziemliche Aggressionen zu haben, mit denen er schlecht umgehen kann. Er verbietet sich, in dich verknallt zu sein, er verdrängt seine Gefühle für dich, und nun macht er dich schlecht, in der Hoffnung, dann nicht mehr in dich verknallt zu sein. (Rafa lästert lauthals über mich, vielleicht in der Hoffnung, daß seine Gefühle für mich dadurch verschwinden.) Sidon will vielleicht deshalb nicht in dich verknallt sein, weil er dann Verletzungen und Kränkungen ertragen und zugeben muß. Liebe ist eben kein Vergnügungspark. Liebe setzt Frustrationstoleranz voraus. Nicht jeder hat die Stärke, zu lieben oder Liebe zuzulassen.
Ja, was Sidon betrifft, in der Tat, ich würde einfach abwarten, bis er wieder ankommt. Ich denke, seine Vorwürfe kannst du getrost an dir abprallen lassen. Ich denke, er ärgert sich einfach über sich selber und versucht, das auf dich zu wälzen.

Azura schrieb:

Ja, ich sehe schon, ich stimme weitgehend mit Dir überein, was ich mir so für ein Bild von Sidon mache und gemacht habe über die Jahre. Er kann so unbedarft und naiv wie ein kleines Kind sein, aber auch manchmal so widersinnig in sich selbst. Beispielsweise sagt er, alle Menschen wären vor ihm gleich, und er würde nicht über sie urteilen (auch ich dürfe das nicht). Andererseits spricht er manchmal verbittert und schlecht über (Ex-)Freundinnen und Freunde, und ich hoffe dann immer, er redet nicht auch so über mich bei anderen. ("Nein, bei DIR ist das ja was völlig anderes!" sagt er dann.) Oder er urteilt ja auch über mich, indem er mich verdammt für mein angeblich falsches Verhalten.
Dann sagt er, er kenne keine Eifersucht, weil man niemanden besitzt und versuchte lange, mir diese auszureden (das ist ja an sich nichts Schlechtes, da ich krankhaft eifersüchtig war, auch in meiner Beziehung), andererseits merke ich schon, daß er hinsichtlich mir manchmal ein gewisses Besitzdenken an den Tag legt, auch wenn er das abstreiten würde. Er selbst macht sich auch keine Gedanken, ob er anderen durch sein Verhalten weh tut, aber er selbst ist furchtbar schnell beleidigt, schlecht gelaunt oder fühlt sich persönlich betroffen, oft schon durch Kleinigkeiten. Wäre er ein Mädchen, würde ich sagen, er ist eine Zicke. Und er tut oft so, als wäre er cool und ihn kümmere nichts, aber dann hat er wieder Momente ungeheurer Schwäche und Hilflosigkeit, wo ich mir denke, Mensch, ein erwachsener, selbständiger Mann müßte doch damit fertigwerden.
Und ich habe all das all die Jahre akzeptiert und mich sozusagen angepaßt in meinem Handeln und Interagieren mit ihm, weil ich seit der Beziehung zu meinem schizophrenen Ex nicht mehr krampfhaft versuche, einen Freund zu ändern oder zu helfen, wenn meine Hilfe nicht erwünscht ist.
Aber der aktuelle Stand ist, daß Sidon nach erstmaliger Funkstille, in der er mich "erst mal" nicht sehen wollte, kleinlaut angerufen hat, mich gefragt hat, ob ich abends auch ins "Pale Blue Dot" komme, und dann "na ja, was soll ich sagen ... ich tu Dich halt lieben ..." :-) Ich hab in mich reingeschmunzelt, weil ich einerseits so fest damit gerechnet hatte, daß er nicht ohne mich kann, andererseits kann man sich bei ihm nie sicher sein. Ich hab ihn dann zurückgerufen und noch ein bißchen zappeln lassen, weil ich ja erst das Depeche-Mode-Open-Air auf dem Programm hatte, aber ich war schon gewillt, danach noch ins "Pale Blue Dot" zu kommen, und ich hab ihm in seinen Worten zurückgesagt: "Na ja, was soll ich sagen, ich tu Dich halt auch lieben." Und ich hab ihm gesagt, daß ich froh bin, daß ER sich gemeldet hat, denn eigentlich hätte er das (den "Schwarzen Peter" also) mir überlassen. Und so hat er in seinen Augen bestimmt wieder "Stärke gezeigt", weil er eingelenkt hat.
Seine Logik funktioniert auch folgendermaßen: Als mir eine Ex von ihm mal "Waffenstillstand" angeboten hat, weil sie mit mir irgendwie nicht konnte, ich dann aber freundlich zu ihr sagte, ich hätte gar nie Zoff mit ihr gehabt, war das in seinen Augen eine falsche Antwort gewesen, denn so hätte ich ihr angeblich nicht die Gelegenheit gegeben, Frieden zu schließen, ich hätte also richtigerweise irgendeine Schuld auf mich laden sollen und ihr verzeihen sollen, sagte er. Warum der Blödsinn, wenn ich mit der Frau im Reinen bin und nur SIE mich immer scheel angeschaut hat? Ich kann keinen Konflikt vergeben, wenn von meiner Seite keiner bestand. Das sieht er aber nicht so. Sidon übertreibt dieses "wenn Dich einer schlägt, halt auch die andere Wange hin" gewaltig, und da gerät er bei mir, die sich von anderen nie wieder demütigen und unterwerfen lassen will, gerade an die Falsche. Seiner Ansicht nach sollte ich wohl immer den Kürzeren ziehen, weil es von Stärke zeugt, wenn man einem Konflikt aus dem Weg geht und lieber kneift, als sich einer Herausforderung zu stellen ...
Ja, und so habe ich mich gestern nach einem langen Tag und einem schönen Konzert noch ins "Pale Blue Dot" bequemt, wo auch noch Depeche-Mode-Aftershowparty war. Sidon war eigentlich wie immer zu mir, ich nehme an, er war schon froh, daß ich ihm wieder freundlich begegnete, aber er meinte, wir würden uns mal treffen müssen, um das Ganze nochmal vernünftig zu bereden. Vergessen könne er sowas nicht. Von mir aus. Ich wäre auch bereit, ihm das einfach alles zu vergeben (wo wir wieder bei seiner Logik sind, bloß da sieht er ja die Schuld bei MIR), aber es ist auch gut, wenn wir ohne Beleidigungen, Mißverständnisse, Telefon und Internet dazwischen miteinander reden. Aber er ist ohnehin erst mal auf Dienstreise, und danach wird er sich wohl melden. Ich bin zumindest sehr froh, daß ich ihm ja anscheinend doch noch etwas bedeute und er nicht leichtfertig wegwirft, was er an mir hatte. Aber ich werde meine Emotionen etwas im Zaum halten, und die Freundschaft muß erst wieder langsam zusammenwachsen.
Heute hatten wir ein "schwarzes" Picknick mit Freunden, das machen wir ab und zu, da treffen sich auch einige so stilvoll historisch gewandet wie auf dem Pfingstfestival in einem Park zum Picknicken, aber wir machen auch viel Blödsinn da und spielen Frisbee oder Federball, und ich z.B. habe ja auch kein Reifrock-Outfit, sondern komme einfach in kurzer Hose und eher "Emo"-Style oder einem schwarzen Sommerkleid.

Am Mittwoch war ich mit Highscore und Magdalena im "Ausspann". Magdalena erzählte von ihrem neuen Freund. Sie ist froh, im letzten Jahr dem verheirateten Mann, mit dem sie ein Verhältnis hatte, den Laufpaß gegeben zu haben. Er habe sie doch nur hingehalten und sich nicht für sie entschieden. Mit ihrem jetzigen Freund sei sie endlich glücklich. Er ist zweiunddreißig Jahre alt - zehn Jahre älter als sie -, wohnt in KI. und arbeitet innerhalb der Woche in Dänemark, wo er dann auch übernachtet. Sie haben sich in HL. kennengelernt, wo Magdalena sich beruflich aufhielt. Er sei sehr lieb und fürsorglich. Er habe eine siebenjährige Beziehung mit einer krankhaft eifersüchtigen, klammerigen Frau hinter sich. Was die Konflikte an ihrem Arbeitsplatz betrifft, so hat Magdalena sich damit arrangiert, in Form einer Schildkröten-Taktik: den eigenen Ärger nicht zeigen, Streß vermeiden, Vorteile mitnehmen und nach der Ausbildung den Arbeitsplatz wechseln.
Magdalena steht ein Prozeß gegen ihren leiblichen Vater bevor, was sie seelisch sehr belastet. Es geht um Unterhalts-Forderungen. Sie wolle ihren Vater nicht verklagen, doch sei er säumig, und es lasse sich nicht vermeiden.
Highscore erzählte von seinem jungen Vorgesetzten, der wenig Ahnung habe und dabei ziemlich herrisch sei. Der Vorgesetzte sei durch seine Tätigkeit weit weggezogen von zu Hause und habe in den Monaten, die er an dem Firmenstandort eingesetzt sei, beachtlich an Gewicht zugenommen.
"Der ist wahrscheinlich depressiv", vermutete ich. "Der scheint unglücklich zu sein. Vielleicht solltet ihr mal mit ihm reden."
"Das geht nicht", winkte Highscore ab.
Ich hoffe, daß mein Verdacht Highscore dazu bringt, mit seinen Kollegen zu besprechen, wie man gezielter auf den Vorgesetzten eingehen könnte, sich dabei besser positionieren und ihn besser schonen könnte. Highscore weiß, wie er mit den Kollegen reden muß, so daß sie es verstehen und umsetzen können.
Highscore erzählte, daß er am nächsten Abend mit Dexter und einem Kumpel namens Zaster-Sepp Poker spielen will. Dexter und Bibian sind seit einigen Wochen getrennt. Dexter ist bei Bibian ausgezogen und bei Zaster-Sepp untergekrochen. Bibian soll Jim Beam aus Saftgläsern trinken. Erst mische sie Cola mit Jim Beam, dann trinke sie schluckweise und gieße Jim Beam nach.
Die Hintergründe der Trennung von Bibian und Dexter sollte ich erst Jahre später erfahren. Die Ereignisse, die zu Dexters Auszug führten, hatten etwas mit Pixies Welpen zu tun. Bibians Hündin Pixie, die früher Ceno gehörte, hat im März sieben Junge bekommen. Die meisten sind bereits vermittelt worden, zwei von ihnen behält Bibian jedoch.



Am Donnerstag war ich im "Keller" zum Rippchenessen. Als ich in den Gastraum kam, blickte Sten mir entgegen. Er ist seit Jahren Rafas Videokünstler. In den Neunzigern war Sten mit der Mutter des Sohnes von Andras liiert, Aimée. Nach dem Ende dieser Beziehung wandte Aimée sich Andras zu. Aimée hatte Sten verlassen, nachdem dieser gegen sie tätlich geworden war. Im Gegensatz zu Rafas Freundinnen zeigte Aimée den gewalttätigen Partner an, und Sten mußte eine Geldstrafe bezahlen.
Als Sten mich erblickte, staunte er:
"Du hier, im 'Keller'?"
"Ja, ich hier im 'Keller'", nickte ich und knuddelte ihn zur Begrüßung.
Ihm gegenüber saß Rafa in seinem Hemd mit den vielen Totenschädeln darauf und futterte Rippchen. Links neben Rafa sah ich ein Mädchen sitzen und verzichtete darauf, festzustellen, welches von den vielen das nun wieder war.
"Du bist doch Arzt?" fragte Sten.
"Ja", bestätigte ich.
Sten erzählte, er habe Rheuma.
"Das hatte ich auch schon zweimal", erzählte ich, "aber nur für ein paar Tage."
"Ich habe es chronisch ... Morbus Bechterew."
"Das ist eine Erkrankung der Wirbelsäule", erklärte ich. "Die schreitet allmählich voran."
Sten meinte, alle Erkrankungen hätten eine psychische Ursache.
"Nein, nicht alle Krankheiten haben eine psychische Ursache", entgegnete ich.
Es sei möglich, daß sich die Ursachen mischen, doch die Psyche spiele nicht in jedem Fall eine Rolle.
Sten bestand aber darauf, daß letztlich alle Krankheiten auf die Psyche zurückgingen.
Nach kurzem Geplauder mit Sten setzte ich mich an den Tisch gegenüber und begrüßte die Leute, die dort saßen - Maddox, Ceno, Marie-Jo und Adian. Adian ist jung, blond und in der Landwirtschaft aufgewachsen. Er lebt auf einem Gehöft in der Nähe von SHG.
Ein Thema am Tisch waren Reisen. Maddox erzählte von einer Reise nach Kanada, wo er eine geführte Wanderung gemacht habe und einen teilweise gefrorenen Wasserfall hinaufgeklettert sei. Das sei ein unvergeßliches Erlebnis gewesen ... wie das Eis geglitzert habe ... und wie das Wasser an dem Eis vorbeigerauscht sei.
Marie-Jo erzählte, daß Roxy weggezogen ist. Roxy hat einige Zeit im "Keller" bedient. Bei Bibian hatte sie Kost und Logis. Als Lohn bekam sie außerdem jede Woche eine Stange Zigaretten und fünfzig Euro.
Marie-Jo erzählte von ihrer alkoholabhängigen Schwester Sila und deren tragischem Tod. Besonders belaste sie die Erinnerung, wie sie die verstorbene Sila in deren Wohnung gefunden habe. Sila habe anderthalb Tage dort gelegen.
Marie-Jo erzählte von ihrer Freundin Philine, die ebenfalls früh gestorben ist. Philine war stark übergewichtig und - wie Sila - alkoholabhängig. Ihrer Tochter gegenüber verhielt sie sich übervorsichtig und überfürsorglich, wodurch das Kind in seiner Entwicklung gebremst wurde. Nach dem Tod der Mutter schaffte es die Tochter, sich weiterzuentwickeln und die Rolle des ewigen Versagers zu verlassen; sie hat inzwischen ihren Realschulabschluß geschafft. Marie-Jo erinnerte sich, wie Philine gestorben ist - vor dem Fernseher, während sie kurz im Fernsehzimmer allein war. Philine wurde gefunden mit nach vorn gesunkenem Oberkörper, blau verfärbt. Auch dieses Schreckensbild hat sich in Marie-Jos Gedächtnis eingebrannt.
Neben Sten setzte sich Veva. Als Rafa aufgegessen hatte, ging er mit seinen Tischgenossen zum Rauchen. Dann kam Rafa allein zurück in den Gastraum und setzte sich auf die Bank zwischen seinem Tisch und dem Nebentisch, von wo aus er eine gute Sicht auf mich hatte und zugleich mit den Leuten am Nebentisch plaudern konnte. Rafa redete aber nicht sehr viel, er saß meistens nur da und schaute und schaute. Schließlich ging er hinaus und hielt sich eine Weile im Schankraum auf. Veva und das Mädchen, das neben Rafa gesessen hatte, kamen noch einmal in den Gastraum und riefen denen, die noch dort waren, ein "Tschüß" zu, danach waren Rafa und seine Begleiter verschwunden - es war noch nicht zehn Uhr -, der "Keller" wurde leerer, doch an dem Tisch, wo ich war, saßen noch alle. Mavis kam ebenfalls dazu. Sie erzählte von den schwer erziehbaren Kindern, die sie im Rahmen ihres Praktikums betreut. Im Herbst möchte sie ein Studium der Sozialen Arbeit beginnen.
Ceno erzählte, daß sein Sohn inzwischen acht Jahre alt ist und daß er ihn unregelmäßig sieht. LKW-Fahrer Ceno ist nach seiner seelischen Erkrankung noch nicht wieder berufstätig. Das Tischgespräch kam auf LKW-Fahrer und ihre Lenkzeiten. Einmal soll ein LKW-Fahrer in eine Kontrolle gekommen sein, und als seine Lenkzeit kontrolliert wurde, stellte sich heraus, daß er 52 Stunden durchgehend gefahren war, von Rumänien nach Deutschland. Während der Kontrolle schlief der LKW-Fahrer ein, man fand ihn am Steuer sitzend, über das Lenkrad gesunken und in tiefem Schlaf.
Am Nachbartisch saßen Zivis. Maddox gab bürokratische Stilblüten der Bundeswehr zum Besten:
"Beim Erreichen der Baumkrone sind die Kletterbewegungen einzustellen."
... und:
"Ab einer Wassertiefe von 80 cm ist mit Schwimmbewegungen zu beginnen."
Ich meinte, gewiß werde ein Soldat vor die Wand laufen, wenn man ihm nicht befiehlt, sich zu drehen.
"Klar", nickte Maddox. "Da bleibt man vor der Wand stehen und tritt kurz."
Ich erzählte eine Stilblüte aus dem Beamtendeutsch:
"Der Tod ist die schärfste Form der Dienstunfähigkeit."
Maddox kannte auch eine:
"Ich bitte darum, meine Ehefrau als außergewöhnliche Belastung von der Steuer absetzen zu dürfen."
Wir kamen auf die "BI.-Verschwörung" zu sprechen. Sie entstand 1993, als ein Student von E. nach KI. fuhr und es auf der A2 eine langstreckige Baustelle gab. Eine Ausfahrt nach BI. war durch die Baustelle bedingt gesperrt, deshalb war auf dem Hinweisschild das Wort "BI." mit orangefarbenem Kreuz durchgestrichen. Scherzhaft wurde dies von dem Studenten folgendermaßen interpretiert:
"BI. gibt es nicht."
Er arbeitete diese Erkenntnis zu einer Verschwörungstheorie aus, die die immer wieder durch die Medien geisternden, allzu gern geglaubten Verschwörungstheorien zum Vorbild hatte. Bis heute ist die "BI.-Verschwörung" ein Treppenwitz und Partygag. Im "Roundhouse" habe ich neulich ein lokales Anzeigenblättchen mitgenommen. Mir fiel ein Artikel ins Auge:
"Und BI. gibt es doch."
Man sah den Erfinder der "BI.-Verschwörung" in der Stadt, deren Existenz er leugnete. Er bekam Souvenirs geschenkt, um endlich an die Existenz dieser Stadt zu glauben. In einem Film, der über die "BI.-Verschwörung" gedreht wird, übernimmt er eine Nebenrolle.
Maddox hat im Internet einen Cartoon entdeckt: Zwei Eltern stehen vor einem Sofa, auf dem ein Kind sitzt. Die Eltern erklären dem Kind, daß sie alle flüchten müssen, aus Gründen des Zeugenschutzes, und daß sie an einen Ort ziehen müssen, der streng geheim und niemandem bekannt ist. Das Kind ahnt, wohin - BI.



Am Freitag - es war kurz vor Sommeranfang - fuhren Jas und ich zu Zaras Beerdigung. Wir holten einen Blumenstrauß, um ihn ins Grab zu werfen: weiße Rosen mit einem schwarzen Schleifchen drumherum. Jas hatte ein artiges schwarzes Sakko an, dazu schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, um sich nicht zu sehr zu verkleiden. So hatte Kappa ihm das empfohlen. Jas war unsicher gewesen, ob er zur Beerdigung gehen sollte, aber Ace hatte ihm im ICQ bestätigt, was er schon im Internet gepostet hatte - daß er sich auch in Zaras Sinn viele Besucher auf der Beerdigung wünschte. Ich hatte mich ebenfalls zurückhaltend gekleidet, ohne mich dabei zu verleugnen. Ich trug das graue Spitzentüchlein in der Zöpfchenfrisur und über einem langärmeligen Shirt ein tailliertes graues Jäckchen mit Puffärmeln und den langen schwarzen Feincord-Rock mit der Nadelstreifen-Rüsche. Neben Jas ging ich mit dem Blumenstrauß in der Hand zur Kapelle. Auf dem Vorplatz hatten sich schon viele Trauergäste versammelt, die "Pfauen" der Szene mit Sonnenbrillen, gesenkten Köpfen, Blumen in den Händen und umhüllt von betretenem Schweigen. Niemand fotografierte, dafür umarmte man sich, drückte sich, weinte und nickte sich zu. Ace wurde von uns allen umarmt, und das schien er sehr dankbar anzunehmen. Seine Augen waren vom Weinen rot umrandet, was er mit schwarzem Kajal etwas überdeckt hatte. Kappa und Edaín brachten einen großen Kranz. Edaín war sehr verweint. Die meisten Trauergäste wischten sich immer wieder Tränen aus den Augen. Xentrix war da, Tommi Stumpff und viele andere Freunde und Familienangehörige. Jas und ich standen vor dem Eingang zur Kapelle, als Rafa und Sten auftauchten. Rafa erschien auch mit Sonnenbrille, außerdem mit weißem Hemd und schwarzer Uniformjacke. Besonders in diesem Fall fand ich es angenehm, daß er nicht sein Bühnen-Sakko trug. Rafa ging herum und umarmte einige Leute; Jas jedoch, der bei mir stand, erhielt von Rafa nur einen flüchtigen Händedruck, als wenn Rafa um jeden Preis vermeiden wollte, mich zu begrüßen oder von mir begrüßt zu werden. Rafa strich um Jas und mich herum, hütete sich aber, mir einen Blick in die Augen zuzuwerfen.
Rafa stand neben mir, neben Rafa stand Ace. Rafa fragte Ace betont sachlich:
"Ich weiß das jetzt gar nicht ... wie ist denn heute der Ablauf?"
Ace erklärte, daß nach dem Gottesdienst die Beisetzung stattfand und daß danach die gesamte Trauergesellschaft im Dorfkrug eingeladen war. Der liege ganz in der Nähe und sei zu Fuß erreichbar.
Rafa erkundigte sich, weshalb Zara in Lde. beigesetzt wurde - ob das ihr Heimatort sei? Ace erzählte, Zara sei hier aufgewachsen, und ihr Vater liege auch schon hier.
Rafa gab sich Mühe, ruhig zu wirken. Seine ewige Unruhe war durch kleine Gesten erkennbar, wie das Zurückwerfen des Kinns und das Zucken mit einem Bein.
Am Eingang der Kapelle lag ein Kondolenzbuch aus, wo die Trauergäste sich eintrugen. Die Kapelle wurde voll. Einige Reihen vor Jas und mir setzte sich Sten in die gegenüberliegende Reihe und winkte Rafa zu sich, weil neben ihm noch ein Platz frei war, doch Rafa wollte lieber ganz hinten bleiben, vielleicht damit niemand seine Gemütsregungen bemerkte. Daß Sten sehr bewegt war, ließ sich unschwer erkennen; er wischte sich immer wieder die Augen aus.
Der Pastor erzählte von Zaras Lebensgeschichte. Sie wurde in B. geboren, verbrachte aber fast ihre gesamte Jugend in dem Dorf Lde., in der Nähe von PE. Sie war Erzieherin von Beruf. Während ihrer Ausbildung bekam sie ihre Tochter Leonie.
Was der Pastor nicht erwähnte, war, daß Ace Zara verließ, weil er das gemeinsame Kind nicht haben wollte. Zara entschied sich für das Kind und erzog es allein. Später soll sie geheiratet haben, die Ehe hielt jedoch nicht.
Der Pastor erzählte, wie Zara und Ace ihr spätes Glück fanden und 2005 heirateten. Zara sei zu Ace in ein kleines Dorf bei NI. gezogen. Die glückliche Zeit endete, als Zara vor etwas mehr als einem Jahr die Schreckensdiagnose bekam. Zara sei es gewesen, die ihren Angehörigen und Freunden Hoffnung vermittelt habe und sich und ihr Schicksal nie aufgegeben habe, bis zuletzt. In einem Krankenhaus in NI. sei sie am vergangenen Donnerstag gestorben.
Ace hielt eine Trauerrede. Er wollte auf seine und Zaras Liebesgeschichte nicht näher eingehen, da sie ohnehin jeder kenne. Er erzählte, was Zara ihm bedeutet hat und was sie in seinem Leben verändert hat. Sie sei 2003 nach Jahren ohne Kontakt erneut in sein Leben getreten, als es ihm sehr schlecht gegangen sei, seelisch und finanziell. Zara sei es gewesen, die ihm geholfen habe, wieder Mut zu fassen und sein Leben neu einzurichten. Sie sei immer bemüht gewesen um ihre Mitmenschen, was so weit gegangen sei, daß sie einigen gestrandeten Existenzen in der gemeinsamen Wohnung Unterschlupf gewährt habe, auch wenn man sich das eigentlich nicht habe leisten können. Zara sei kein Engel gewesen und habe ihn durchaus gelegenlich zur Weißglut gebracht, das habe aber nichts an der Vertrautheit und Geborgenheit in ihrer Beziehung verändert. Er sei beeindruckt gewesen von Zaras Fürsorglichkeit und ihrem Mitgefühl. So habe sie immer auch an das Wohlergehen seines Vaters Gerwin gedacht. Im letzten Sommer habe sie dafür gesorgt, daß sie mit Gerwin einmal wieder aufs Land fuhren:
"Opa will so gerne aufs Land fahren, laß' uns endlich aufs Land fahren."
Als Ace das erzählte, schluchzte Gerwin vorne in der Bank.
Die Musik im Gottesdienst war klassisch, mit Orgelspiel und Kirchenliedern. Unter anderem wurde das Lied von Dietrich Bonhoeffer gesungen, das mit den sehr bekannten Zeilen endet:

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Er ist mit uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiß an jedem neuen Tag.

Bonhoeffer hat diese vertrauensvollen Zeilen in einer aussichtslosen Lage verfaßt, als wollte er etwas beschwören, von dem äußerlich nichts mehr zu sehen war.
Ein langer Trauerzug folgte dem Sarg zum Friedhof. Es ging ein Stück die kleine, versteckt liegende Dorfstraße aufwärts. Am Grab sprach der Pastor noch einige Worte, auch "Asche zu Asche, Erde zu Erde, Staub zu Staub". Zum Schluß folgte das gemeinsam gebetete Vaterunser. Rafa, der mit Sten wenige Schritte vor Jas und mir stand, sprach allenfalls sehr leise, wenn überhaupt. Ich sah ihn öfters das Kinn ins Genick werfen.
Ein Trauergast nach dem anderen warf Erde in das Grab oder auch Blumen. Als Jas und ich an der Reihe waren, schaute ich hinunter auf den Sarg und mochte mir kaum vorstellen, daß Zara dort lag. Für Rafa wird diese Beerdigung Erinnerungen an die Beerdigung seines Vaters wachgerufen haben; damals konnten sein Bruder und er sich kaum vorstellen, daß der Vater im Sarg lag.
Im Gasthof war ein Saal für die Trauergemeinde hergerichtet. Kuchen und Schnittchen lagen bereit, die Wirtin ging mit der Kaffeekanne herum. Jas, Kappa und ich saßen nebeneinander, rechts neben mir saß der Pastor. Rafa und Sten setzten sich weit entfernt von uns. Es hielt sie nicht lange auf ihren Plätzen, auch Kappa hatte schon bald das Handy am Ohr und strebte fort. Sie alle versammelten sich letztlich draußen zum Rauchen, Jas ebenso. Der Pastor erzählte von Zara. Sie sei damals, vor über zwanzig Jahren, zu ihm gekommen und habe gesagt, sie suche Arbeit, und zwar bei ihm in der Gemeinde. So kam es, daß sie dort anfing. Sie hatte damals schon ihre Tochter Leonie. Der Pastor erzog seinen Sohn allein, nach der Scheidung. Deswegen bekam er mehrfach Probleme mit dem Kirchenvorstand. Dort wurde es nicht gern gesehen, daß er als Mann und als Pastor alleinerziehend war.
Der Pastor berichtete voller Stolz, sein Sohn habe sein Jurastudium mit der Note "sehr gut" abgeschlossen und sei dabei, zu promovieren.
Was Zara betraf, so merkte der Pastor leise an, eigentlich sei sie selber schuld an ihrem Leiden und Sterben; sie habe geraucht wie verrückt. Ich erkundigte mich, an welcher Art Krebs sie gelitten habe. Der Pastor gab Auskunft:
"Lunge."
"Das ist doch immer dasselbe mit den Rauchern", seufzte ich, "die hören nicht auf, da kann man reden, wie man will. Solange sie nicht aufhören wollen, kann man nicht das Geringste dagegen tun, daß sie sich zu Tode rauchen."
Der Pastor erzählte, er schaffe es selber nicht, mit dem Rauchen aufzuhören. Er sei ein alter Achtundsechziger, er gehöre zur Woodstock-Generation, und da herrsche die Ansicht, daß man ohne Zigarette im Mund nicht Gitarre spielen könne.
Leonie und Ace rauchten nach Zaras Tod weiter, sie rauchten und rauchten.
Leonie erzählte, noch am Tage vor Zaras Tod habe keiner daran gedacht, daß sie so bald sterben könnte. Dann aber, am nächsten Tag, war alles anders. Zara lag im Sterben und war kaum noch ansprechbar. Bis kurz vor ihrem Tod war Leonie bei ihr, dann hielt sie es nicht mehr aus, ihre Mutter leiden zu sehen. Sie meinte, Zara habe es wohl lieber gehabt, die Tochter nicht an ihrem Bett zu wissen, wenn sie starb, weil sie ihrer Tochter ersparen wollte, dieses mitzuerleben. Ace sei bei Zara geblieben bis zuletzt.
Zara sei ein Mensch gewesen, der sich immer voll Hingabe um andere gekümmert habe, der immer geben, immer schenken wollte. Zara und sie seien ein Herz und eine Seele gewesen und fast mehr wie Schwestern als wie Mutter und Tochter; das hätten auch andere so betrachtet.
Es ist vorstellbar, daß Zara eine Selbstwertstörung hatte und immer zuletzt an sich selbst dachte. Vielleicht kam es hierdurch zu ihrem Suchtverhalten: Die Zigaretten sollten etwas liefern, das sie sich sonst nicht zugestehen konnte.
Leonie erzählte, daß sie Innenarchitektur studiert habe und nun dabei sei, sich eine geeignete Stelle zu suchen. Heutzutage sei das nicht einfach, zumal es eine Aufgabe sein sollte, die zu ihr paßte.
Auf der Terrasse saß eine Gruppe von mehreren Herren an einem Gartentisch, zwei saßen in einem Strandkorb. Auch Sten und Rafa saßen an dem Tisch. Ich gesellte mich dazu, legte den Kopf auf die Arme, ließ die Sonne auf mich niederscheinen - es war warm, aber nicht heiß - und hörte zu, was erzählt wurde. Rafa unterhielt sich mit den Tischgenossen über historische Technik und Tontechnik. Mir fiel auf, daß einer der Herren ein Whitehouse-T-Shirt trug, und ich erzählte, daß ich Whitehouse seit vielen Jahren kenne und daß ich mehrere Alben von ihnen habe. Whitehouse ist kulthafter Brachial-Noise. Rafa mochte so etwas früher auch, hat sich aber längst davon entfernt.
Gegen halb drei Uhr nachmittags machte Rafa sich mit Sten auf den Heimweg. Rafa ging sehr langsam und sehr dicht an mir vorbei, die ich noch auf meinem Stuhl saß, und ich legte meine Hand kurz auf seine Manschette.
Die übriggebliebene Gesellschaft - zumindest die Raucher - versammelte sich um einen Stehtisch, unter dem Vordach der Terrasse. Tommi Stumpff erzählte von seinem fünfzigsten Geburtstag, den er in D. gefeiert hat. Wichtiges Highlight sei ein Konzert auf der Feier gewesen. Er habe ausgerechnet an diesem Tag an einer beidseitigen Nierenbeckenentzündung gelitten und über 39 Grad Fieber gehabt. Das Gitarrespielen und Schreien am Mikrophon sei wirklich anstrengend, und er habe kurz vor dem Zusammenbruch gestanden. Ich sagte ihm, daß es sehr gefährlich ist, mit Fieber zu arbeiten; das habe mal einer gemacht, der habe danach eine Herzmuskelentzündung bekommen, und das Herz habe nur noch ein Viertel der früheren Auswurfleistung. Daß das so gefährlich ist, wußte Tommi bisher nicht.
Ace erzählte, er habe sich in Krisenzeiten immer durch Schreiben geholfen, und er werde sich auch weiterhin damit helfen. Er habe auch über Zara schon geschrieben.
Kappa machte den Vorschlag, man könne sich ja demnächst mal bei Ace treffen, in einem anderen Rahmen als dem traurigen von heute. Ich meinte, eine gute Gelegenheit, sich zu treffen, seien auch die Parties im "Mute", und ich fände es schade, daß diese so selten geworden seien. Kappa erzählte, im Herbst sei wieder eine dieser Parties geplant. Ein Sommerfestival sei für 2010 geplant, die Location stehe aber noch nicht fest. Er wolle das Festival nicht mehr im "Read Only Memory" veranstalten, weil diese Location zu baufällig sei.
Als Kappa für die Parties im "Lost Sounds" warb, erinnerte ich ihn an das Verhalten von Türsteher Gabrio, das mein Grund ist, dort nicht mehr hinzugehen. Gabrio spielt sich in ähnlicher Weise auf wie der berüchtigte Lennart Brehler im "Nachtlicht" vor fünfzehn Jahren. Lennart machte sich einen Spaß daraus, Gäste zu schikanieren, indem er ihnen untersagte, harmlose Gegenstände wie Schminktäschchen mit ins "Nachtlicht" zu nehmen. Lennart ist wegen Körperverletzung vorbestraft und eine exakte Fehlbesetzung für einen Security-Job.
Ich bat Kappa, mir bescheidzusagen, wenn Gabrio nicht mehr im "Lost Sounds" arbeitet. Dann würde ich wieder hingehen. Kappa wollte Gabrios Ausfälligkeiten herunterspielen. Jas jedoch bestärkte meine Ansichten über Gabrio: Zahlreiche Gäste hätten sich bereits über Gabrio beschwert. Gabrio habe unlängst von sich gegeben, jetzt sei er kein "kleiner Gläser-Abräumer" mehr, jetzt habe er die Macht, Leute hinauszuwerfen, und die werde er nutzen. Einmal habe er einen Gast aus dem "Lost Sounds" geworfen, nur weil der ein wenig auf seinem Hocker eingenickt war.
Nachts war ich im "Roundhouse". Marvel erzählte, daß er auf das Ende seines Informationstechnik-Studiums zusteuert. Er würde gern beim TÜV arbeiten. Marvels Freundin Georgine studiert Soziologie und kann sich vorstellen, als Controllerin zu arbeiten. Marvel und Georgine waren seit einem Tag Nichtraucher. Marvel erzählte, den Entzug merke man durchaus. Doch sei ihm das Rauchen einfach zu teuer geworden, und schädlich sei es ja auch. Ich erzählte, daß Zara an Lungenkrebs gestorben ist, nachdem sie jahrzehntelang stark geraucht hat.
Ace schrieb auf der Kondolenz-Seite für Zara:

Danke!
Liebe Freunde!
Danke an alle, die Zara heute auf ihrem letzten Weg begleitet haben.
Ihr seid uns Kraft und Trost!
Ace, Leonie & unsere Familien

Ich schrieb:

Hallo Ace und Leonie,
es hat mich sehr gefreut, daß Zara eine so stimmungsvolle Trauerfeier bekommen hat mit so viel Anteilnahme und Wertschätzung. Ich glaube nach wie vor, sie ist noch da, irgendwo, und hat zugeschaut.
LG Hetty

Am Samstag war ich bei Henk im Friseursalon. Henk erzählte, ihm gehe es endlich wieder gut. Er vertrage das Antidepressivum, das er jetzt nimmt. Er habe auf der Arbeit so viel zu tun, daß er kaum zum Rauchen komme.
Isis gab heute ihre Hochzeitsparty, in einer Location in der Nähe ihres jetzigen Wohnorts, bei AC. Ich hatte vorgehabt, dort hinzufahren, doch als ich mir die Strecke auf der Karte ansah, wurde mir bewußt, daß mir das zuviel geworden wäre. Erst am Sonntagabend wäre ich wieder zu Hause gewesen, und am Montagmorgen sollte es nach Langeoog gehen.
"Nicht schon wieder so etwas", dachte ich, auch im Hinblick auf das chaotische letzte Aprilwochenende.
An Isis simste ich, daß ich es nicht zu der Party schaffte. Isis simste, die Party sei sehr lustig, auch noch zu später Stunde.

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