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Carl und Constri lieferten Neuigkeiten aus dem "Elizium". Ich war absichtlich nicht hingegangen, um Rafa nicht übermütig zu machen. Rafa war da - wie ich es mir gedacht hatte. Jemand überredete ihn erfolgreich dazu, ein Stück von Blackhouse aufzulegen, "Answers for you". Die harte, melodielose Industrialmusik muß seltsam hervorgestochen sein aus dem Gleichmaß des harmlosen Synthipop, der sonst zu hören war.
Die Sängerin hielt sich viel in Rafas Nähe auf, ging aber ohne ihn heim. Sie soll seinen merkwürdigen Tanzstil nachgeahmt haben. Einmal soll sie mit Rafa und Dolf an der Bar gewesen sein, und sie soll auch mit Rafa getanzt haben.
Von Keith - dem Zivildienstleistenden, der im letzten Winter in dem "Irrendorf" Kth. eine Party gegeben hat - erfuhr Carl, daß sich die Sängerin in Rafas Band "gekauft" hat. Sie hat teures Equipment finanziert, um singen zu dürfen ... und womöglich auch, um Rafas Freundin sein zu dürfen.
Rafa hat sich also "verkauft".
In einem Traum war ich auf einer Hochzeitsgesellschaft. Auch Rafa gehörte zu den Gästen. Nicht weit von mir saß er mit der Sängerin am Tisch. Er redete sanft und zärtlich mit ihr. Dann gingen die beiden fort, ohne wiederzukommen. Ich stieg neben Inya auf einen Kasten, auf dem standen zwei Fernrohre. Wir beobachteten durch sie den Hochzeitszug, der langsam auf uns zukam. Wir sprachen kein Wort miteinander. Ich taumelte, sooft ich durch das Fernrohr sah und fiel beinahe von dem Kasten. Ich mußte im Sitzen weitergucken.
Die Schuld, die Rafa auf sich geladen hat, kann nicht mehr ausgeglichen werden. Es geht um eine andere Form der Buße. Rafa müßte mir etwas geben, das mit nichts aufgewogen werden kann, ebensowenig, wie seine Schuld mit irgendetwas bezahlt werden kann.
Ich habe Telgart noch genauer nach dem Grund gefragt, aus dem er in seiner "schlimmen" Zeit so übel mit den Frauen gespielt hat. Diesen "Weg" hatte Telgart im Sommer als "steinig" bezeichnet, das heißt, als unangenehm. Ich wollte wissen, was an diesem bösen Spiel das Unangenehme ist - an dem Spiel, das auch Rafa spielt. Telgart erklärte mir, das Unangenehme sei, daß es begleitet würde von einem angeschlagenen Selbstwertgefühl. Es ginge nicht um die körperliche Befriedigung allein, sondern vor allem um Bestätigung, die das Spiel verschaffen solle (und nicht könne). Telgart hat aufgehört, das Spiel zu spielen. Er hat aufgehört, den Schlechten Menschen, den Schuft, den berüchtigten Verführer zu spielen. Kann auch Rafa damit aufhören?
Inzwischen hat Constri es schriftlich und mündlich: Derek ist seit fast einem Jahr heftig in sie verliebt. Ich erinnere mich, daß ich Derek vor einiger Zeit eine besonders hübsche Aufnahme von Constri geschenkt habe - ohne ihr Wissen. Man sieht sie darauf mit hochgesteckten Haaren vor einem futuristisch wirkenden Gebäude. Ihr Lächeln ist weich und nur angedeutet. Ich hoffte, daß Derek sich in das schöne Bild verlieben würde, wenn er es jeden Tag an seiner Wand sähe. Ich fand, daß in Constris Leben einmal wieder etwas Bewegung gehörte. Vielleicht habe ich unbewußt geahnt, daß Derek längst in Constri verliebt ist. Dabei hatte er es so sorgfältig verheimlicht.
Derek hat sich im vergangenen November in Constri verliebt, auf einem Konzert von Panic on the Titanic im "Read only Memory". Er sah sie auf dem Konzert und wußte gleich, daß sie es war, nach der er gesucht hatte. Er ließ seine Freunde nach Hause fahren und blieb bis zum frühen Morgen im "Read only Memory", in der Hoffnung, daß er sich trauen würde, Constri anzusprechen. Er traute sich aber nicht.
Carl und ich waren im Dezember mit ihm und mehren anderen Leuten bei einem Bekannten, der nach einer langen Nacht im "Elizium"noch ein wenig weiterfeiern wollte. Ich schlug Derek vor, uns zu besuchen. Einen Tag vor Heiligabend war er bei uns. Er rief seine Mutter an und fragte, ob er zu Weihnachten daheim erwünscht sei. Die Mutter lehnte es ab, ihn zu sehen, aufgrund eines Familienstreits. Nach dem Telefongespräch hatte Derek zu tun, sich die Tränen abzuwischen. Er schlief später auf meinem Bett ein, und als ich selbst zu Bett gehen wollte, brachten wir Derek in Carls Zimmer und ließen ihn auf einer Decke weiterschlafen.
Wir haben Derek häufig besucht und Musik bei ihm aufgenommen. In seinem Zimmer legte er sich auch manchmal auf den Teppich und schlief. Er erinnerte mich an ein kleines Kind, das auf seiner Kuscheldecke liegt.
And One traten in der "Halle" auf, und ich ging mit Merle hin. Merle verehrt die Gruppe, ich finde sie eher durchschnittlich. Mein Grund, in die "Halle" zu kommen, war ein anderer.
Ich fand in der "Halle" einen stets fluchtbereiten Rafa, der meine Nähe suchte und gleichzeitig mied. Während des Konzerts von And One erschien er oben beim DJ-Pult. Er saß in einer Ecke und rührte sich nicht. Schließlich setzte er seine Spiegelbrille auf.
Kurz nach dem Konzert sah ich Rafa auf der Tanzfläche. Er begrüßte verschiedene Leute. Dann kletterte er wieder nach oben. Er nahm Kappas Platz ein und spielte kitschige Musik. Ich setzte mich und betrachtete ihn. Ich schließe nicht aus, daß auch er mich betrachtete.
Dolf saß in meiner Nähe. Ich vermute, daß er mich beobachten sollte.
Über eine Stunde verging, ehe Rafa in "meine" Ecke kam. Es schien, als wollte er an mir vorbeilaufen; da drehte er sich doch noch um. Er reichte mir aus einem Sicherheitsabstand seine Hand und sagte lächelnd:
"Hallo."
Dann ging er gleich weiter. Er blieb einige Meter entfernt von mir stehen. Als er feststellte, daß ich zu ihm herübersah, lächelte er mich an und verschwand.
Als es halb zwei war, entdeckte ich, daß Rafa dicht bei mir auf dem Bühnenpodest stand, hinter einer Box, in einem "toten Winkel". Er war allein. Er sah kurz zu mir her und dann wieder weg. Ich berechnete zu seinen Gunsten, daß er mich begrüßt hatte; also ging ich langsam zu ihm hinauf, zögernd vor jeder Stufe.
"Du bist heute nicht sehr gesprächig, nicht?" begann ich.
Rafa schüttelte schweigend den Kopf. Sein Blick war seltsam traurig.
"Du hattest letztes Mal gesagt, du würdest deine Gefühle beherrschen", erinnerte ich an unsere Unterhaltung vor zwei Wochen. "Stimmt das?"
Rafa antwortete nichts; er sah mich nur an.
"Du hattest gemeint, du würdest deine Gefühle beherrschen", wiederholte ich. "Wenn du deine Gefühle beherrschst - warum kannst du dann nicht deine Angst beherrschen?"
Rafa schweigt immer noch.
"Das ist ein Widerspruch", setze ich hinzu, "und den möchte ich aufklären."
"Fragen. Immer Fragen", beschwert sich Rafa atemlos. "Immer fragst du mich aus. Wa-rum fragst du mich das alles? Du weißt die Antworten doch sowieso."
"Nein, die weiß ich nicht. Das ist so nicht."
Rafa leert sein Glas und stellt es auf ein Tischchen. Er zieht eine Schachtel Cartier light hervor und nimmt sich eine.
"Ich lebe nur durch dich", sagt er und regt sich mehr und mehr auf. "Was du über mich sagst, stimmt. Du kennst mich besser, als - als ich selbst mich kenne. Wenn ich etwas über mich wissen will, muß ich nur zu dir gehen - du weißt es."
"Ich weiß es nicht", erwidere ich, "und ich möchte schon ganz gerne eine Antwort haben auf meine Frage."
Beim Sprechen hat sich Rafa über meine Schulter gebeugt, und seine Wange streift meine. Näher kommen darf ich ihm allerdings nicht; er achtet weiterhin sehr darauf, daß ein bestimmter Abstand nicht unterschritten wird. Nur seine Hand berührt einmal meinen Arm, und das nehme ich zum Anlaß, seinen Arm zu berühren.
"Fühlst du dich von mir angegriffen?" versuche ich seine Erregung zu deuten.
Er schüttelt den Kopf.
"Bist du wütend auf mich?" forsche ich weiter.
Er schüttelt den Kopf.
"Hast du Aggressionen gegen mich?"
Er schüttelt den Kopf.
"Würdest du mich am liebsten in den Wind schießen?"
Er schüttelt den Kopf.
"Was ist an mir eigentlich so furchterregend?"
Er schweigt.
"Was soll ich denn gegen deinen Willen tun können?"
Er lächelt ein wenig und schweigt.
"Ich kann nichts gegen deinen Willen tun", gebe ich die Antwort, die er schuldig bleibt. "Wenn du dich mit mir nicht unterhalten willst, dann -"
Rafa findet die Sprache wieder.
"Wa-rum ausgerechnet ich?" bricht es aus ihm heraus. "Hier gibt es so viele hübsche Mädchen, auf die ich stehe. Warum wählst du ausgerechnet mich?"
Aus Erfahrung, denke ich bei mir, kann ich Rafas Äußerung gleich umdrehen, und dann würde es stimmig heißen:
"Hier gibt es so viele hübsche Jungs, die auf dich stehen. Warum wählst du ausgerechnet mich?"
"Das kann ich mir nicht beantworten", sage ich zu Rafa. "Das kann ich mir selber nicht beantworten. Einige Gründe habe ich schon gefunden, aber noch längst nicht alle."
"Die Eskalation ... war ... vor Wochen ... vor Monaten ...", sagt Rafa stockend.
"Was war denn die Eskalation?" frage ich nach.
In seinem Gedächtnis scheint Rafa unsere Beziehung zu strukturieren und in Phasen zu unterteilen. Welche Phase er als "Eskalation" bezeichnet, erfahre ich freilich nicht.
Ich versuche, sein Gesicht in mich aufzunehmen. Ich will mich immer daran erinnern können. Das Gesicht ist stark geschminkt. Rafa scheint mit seinem Gesicht zu kämpfen.
"Mit wem bist du denn jetzt glücklich?" frage ich freundlich-harmlos.
Rafa zeigt auf sich selber und sagt:
"Mit mir. Ich bin glücklich mit mir. Und mit den übrigen ... 5,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Du gehörst auch dazu."
Er tippt mir mit einem Finger ans Decolleté.
Aus meinem verbindlichen Lächeln wird ein erleichtertes Lächeln.
"Ich bin so glücklich ...", fährt Rafa fort.
Er lächelt, und seine Augen blicken traurig.
"Hast du die Regel?" fragt er.
"Ach, jetzt kommen die Fragen wieder", seufze ich.
"Paß' auf, ich mache dir einen Vorschlag", sagt Rafa." Ich frage, und du antwortest. Ist das okay?"
"Ich antworte, wenn ich antworten will - wie du."
"Wann fragst du einen eigentlich mal nicht nur aus?" möchte Rafa wissen. "Wenn du einen anderen so ausfragst, der müßte dann ... Kannst du eigentlich einen mal nicht ausfragen, sondern dich ganz normal unterhalten?"
"Ja - wenn du dazu bereit bist, dich normal zu unterhalten."
"Wenn ich dazu bereit bin ... Kannst du dir nicht vorstellen, daß jemand darauf wartet, daß du dazu bereit bist, dich normal zu unterhalten? ... Unterhalten ist nicht Ausfragen ... was gewisse Leute ... gewisse Frauen mit Schleifchen im Haar ... noch nicht begriffen haben."
Das sagt zu mir ein Mann mit Schleifchen im Haar.
"Gut", lenke ich ein, "dann stelle ich dir keine Fragen mehr, sondern sehe dich einfach nur an."
Rafa schaut zur Seite, dreht sich wieder zu mir, macht große, gefährliche Augen, lächelt ... und beugt sich zu mir und fragt:
"Was 's' los?"
"Das weißt du doch", antworte ich und lache.
"Das weiß ich nicht", widerspricht Rafa. "Was 's' los?"
"Ich sehe dich an, solange das möglich ist."
"Ich muß aber gleich wieder weg."
"Das dachte ich mir. Umso wichtiger ist es, daß ich dich ununterbrochen ansehe."
"Warum ist das wichtig?"
"Weil die Momente, in denen ich dich ansehen kann, so kurz sind."
"Warum willst du mich denn ansehen?"
"Ich muß dich ansehen."
"Und warum?" fragt Rafa nach.
"Das glaubst du mir sowieso nicht", entgegne ich lachend.
"Warum?"
"Das habe ich dir schon hundertmal gesagt, aber du glaubst mir den Grund nicht."
"Was ist denn der Grund?"
"Ich habe dir schon hundertmal gesagt, daß ich dich angucken muß, weil meine Empfindungen für dich extrem sind", erkläre ich. "Aber du glaubst mir nicht."
Rafa schweigt einen Augenblick, dann ruft er:
"Egal!"
und geht.
Später erscheint er wieder auf dem Bühnenpodest, weiter vorn, neben der Tanzfläche. Ich tanze in seiner Nähe. Als ein Stück zuende ist, kommt er herunter und streicht an mir vorbei. Ich sehe ihm nach, und er wendet sich um und fragt gedehnt:
"Was ist denn jetzt wieder?"
"Das mit der Panik stimmte", bemerke ich. "Ich hatte vorausgesagt, daß du solche Panik kriegst, daß du nicht ins 'Elizium' kommen kannst. Und ich hatte recht."
"Ich muß erstmal tanzen", entschuldigt Rafa sich eilig.
Ich tanze mit ihm. Bald darauf zieht Rafa sich wieder zurück und besorgt sich Gesellschaft, einen unscheinbar wirkenden Jungen. Mit dem läuft er Arm in Arm durch die "Halle". Beide tragen Biergläser in der Hand. Schließlich setzen sie sich so hin, daß sie den Leuten auf der Tanzfläche wie von einer Tribüne aus zusehen können. Als "Eine neue Zeit" vom Liederkranz kommt, tanzt Rafa mir gegenüber. Bei den letzten dumpfen Beats entfernt er sich eilig. Mit seinem Kumpan an der Seite läuft er noch einmal an mir vorbei, als ich wieder vor der Box stehe; er hebt die Schultern und lächelt bedauernd.
Leutselig grüßt er Lillien, mit der ich gerade spreche. Dann geht er gleich weiter und wirkt immer aufgekratzter. Von seiner Traurigkeit ist nichts mehr zu merken. Die albernsten Stücke sind ihm zum Tanzen eben recht. Ich sehe ihm zu. Ein Junge will mich auffordern und hüpft vor meinen Augen herum. Ich gucke durch ihn hindurch. Rafa sieht öfter zu mir her, lächelt und winkt. Daß ich ihn betrachte, scheint ihn verlegen zu machen. Betont ausgelassen singt er ein Stück mit. Er hat seine "Schutzbrille" schon seit einer Weile nicht mehr auf, setzt sie aber ansonsten dauernd auf und ab.
Da sehe ich ihn vor mir, in einem knielangen taillierten Mantel, dessen Pechschwarz gegen das weiße Spitzenhemd absticht. Rafa sucht sich immer wieder Sachen aus, deren Schnitt ihm besonders gut steht. Ich finde ihn so niedlich, daß ich ihn am liebsten gleich aufessen würde.
Rafa pustet sich sehr häufig die toupierten Ponysträhnen aus dem Gesicht, wobei er seinen Kopf ins Genick wirft. Das wirkt unsicher auf mich.
Als Rafa von der Tanzfläche geht, achtet er darauf, mich nicht anzusehen.
Dolf hielt sich so lange in "meiner" Ecke auf, bis Rafa und ich ins Gespräch kamen. Jetzt redet er mit der ehemaligen Sängerin. Ich glaube, daß die beiden früher gegangen sind als Rafa. Der stand zum Schluß wieder bei den DJ's und sang durchs Mikrophon Kinderlieder aus der Neuen Deutschen Welle mit.
Einmal sah ich Rafa noch auf dem Podest; er zog ein Gesicht, als sich unsere Blicke begegneten. Das sollte wohl heißen:
"Schon wieder die!"
Rafa unterhielt sich auch mit dem Mädchen im schwarzen Hosenanzug, das ich schon letztes Mal in der "Halle" gesehen habe. Inwiefern daraus "mehr" wurde, war nicht zu erkennen.
Am frühen Morgen habe ich geträumt, das Telefon würde klingeln. Ich wußte, daß Rafa anrief und daß ich allein den Hörer abnehmen konnte. Ich nahm ihn aber nicht ab - vorerst nicht.
Es ungewöhnlich für mich, ein Telefon klingeln zu lassen. Ich möchte grundsätzlich erreichbar sein für die, die mich erreichen wollen. Es muß etwas Besonderes dahinterstehen, wenn ich mich Rafa verschließe, ausgerechnet ihm, nach dessen Nähe ich solches Verlangen habe.
Am Samstagabend war Ted bei uns zu Besuch. Er erzählte, daß er gern Leute anspricht, die ihm auffallen, etwa den kleinen Dolf. Seltsamerweise sagte Ted nicht ein Wort über Rafa.
Einen von Teds Freunden soll der W.E-Auftritt im Juni in der "Halle" so begeistert haben, daß er auf der Heimfahrt im Auto dauernd sang:
"Ganz in Weiß mit einem Blumenstrauß ..."
Es kamen noch mehr Gäste - Rikka, Constri, Derek, Steini, dessen Freund Thilo und auch Telgart. Thilo hatte aufregende Stiefel an, gewaltige Treter mit Stahlverkleidung an den Waden. Er geht nur selten aus und ist eher schüchtern.
Constri nahm eine Papprolle als Mikrophon und tat, als wäre sie eine Sorgentante im Fernsehen. Die anderen mußten ihr ihre Probleme erzählen. Ted wollte unbedingt sofort Handschellen haben, und Constri meinte, gleich würde die Nummer einer Sexualberatungsstelle eingeblendet. Steini wollte ein Trabi-Ersatzteil. Auch zu diesem Problem gab es von Constri die passende Telefonnummer.
Kurz nach ein Uhr kamen wir ins "Elizium". Oben auf der Treppe zum DJ lehnte Rafa an der Wand. Er trug ein weißes Hemd und hatte eine schwarze Schirmmütze auf. Ich stellte mich vor ihm ans Geländer und betrachtete ihn.
"Was 's' los?" fragte er.
"Ich tue nur eben meinen Mantel weg", sagte ich nach kurzem Zögern. Ich drehte mich um und ließ den Mantel auf einen Stuhl fallen. Dann trat ich näher zu Rafa und sah ihn weiter an.
"He, sag' mal, soll das jetzt 'n Angucke-Terror werden?" kommt es von ihm.
"Warum 'Terror'?" frage ich ruhig.
"Scheint doch so", sagt Rafa trotzig.
"Soll ich dich nicht mehr angucken?" möchte ich wissen.
Er schweigt.
Auf den Stufen stehe ich unsicher. Ich bin zittrig und versuche, mich an der Wand abzustützen. Mein Bein berührt das feste, schwere Bein von Rafa.
"Ich will dein Gesicht nie mehr vergessen", sage ich.
"Ich bring' dir ein Foto mit", will er mich abwimmeln.
"Ich möchte dich selber fotografieren", erwidere ich. "Ich möchte ... dich ganz oft fotografieren - so echt und lebendig wie möglich."
Ich spüre den Atem der Sängerin, die sich langsam nähert und den Rauch ihrer Zigarette gegen mich bläst.
"Hast du eine Freundin?" nehme ich Rafa ins Verhör.
"Ja."
"Ach, so. Ich will die dir nicht wegnehmen."
Ich schicke mich an, zu gehen.
"Wer sagt denn, daß du mir die wegnehmen willst?" fragt Rafa harmlos.
"Ist schon gut", winke ich ab. "Du wirst dann ... in Zukunft auf meine Gesellschaft verzichten müssen."
"Ja", sagt Rafa, als hätte er nichts anderes erwartet.
Die Sängerin stößt mich mit beiden Händen in den Rücken - als wollte sie mich die Treppe hinunterwerfen. Dabei gehe ich schon von allein.
Ich sehe sie dann oben auf einer Bank sitzen; Rafa kniet vor ihr wie ein Hund vor seinem Herrn.
Ein Stück kommt, das mir gefällt, und ich tanze. Nach den ersten Schritten entdecke ich Rafa und Dolf am Rand der Tanzfläche. Rafa hat seine Spiegelbrille aufgesetzt. Ich habe das Gefühl, daß er mich beobachtet. Ich schaue ihn nicht weiter an. Nach dem Tanzen stelle ich mich zu Ted. Dolf und Rafa tanzen jetzt, und da mir Rafa den Rücken zukehrt, gestatte ich mir, ihm zuzusehen. Als das Stück vorbei ist, geht Dolf zu Ted und begrüßt ihn. Neben Dolf geht Rafa, und der wendet sich mir zu und sagt:
"Ich muß mich übrigens für meine Freundin entschuldigen. Die Frau ist eben furchtbar eifersüchtig."
"Ist sie denn nun deine Freundin oder nicht?" frage ich nach.
"Ja", gesteht Rafa. "Seit heute wieder."
"Dann müßtest du dich entschuldigen."
"Ey, drei Wochen lang war Schluß", gibt Rafa zu bedenken.
"Und jetzt ist erstmal wieder ein halbes Jahr lang Friede, Freude, Eierkuchen", vermute ich. "Du lebst mit einer Lüge. Du belügst dich selber. Du betrügst dich selber."
"Ich belüge mich nicht", wehrt Rafa ab.
"Du bildest dir ein, keine Gefühle zu haben und auch keine zu brauchen", sage ich voll beherrschter Wut. "Und die Frau, die echte Gefühle für dich hat, die stößt du weg. Und stattdessen suchst du dir eine, die überhaupt nicht imstande ist, irgendwelche Gefühle zu haben."
"Das kannst du doch nicht wissen."
"Ein Mensch, der sich so verhält, der hat keine Gefühle. Ich habe sie gut genug beobachtet. Die ist eiskalt. Das ist eine reine Sexgeschichte."
Rafa lächelt.
"Das ist eine verdammte Bettkiste", fahre ich fort.
"Damit liegst du gar nicht so schlecht", bestätigt Rafa.
"Sie hat sich in deine Band gekauft. Sie hat Geld bezahlt, um mit ihrer dünnen, schwachen Stimme in deiner Band singen zu dürfen. Und du warst dir nicht zu schade, um dich kaufen zu lassen."
"Das ist nicht wahr!" ruft Rafa.
"Pfui! Was für ein widerwärtiges Verhalten", spreche ich unbeirrt weiter. "Ich finde es furchtbar, daß ich ausgerechnet für dich ... ausgerechnet für dich ... tiefere Gefühle habe, als ich jemals für jemanden gehabt habe. Ich verfluche das. Und ich muß damit fertigwerden. Und du mußt mit deiner Lebenslüge fertigwerden!"
"Ich werde ... mit allem fertig", sagt Rafa matt und läuft davon.
Einige Minuten nach meiner Predigt schnappt er sich seine wiedergewonnene Freundin und verläßt das "Elizium", um nicht mehr zurückzukommen. Es ist gerade erst halb zwei.
Die Aggressivität der Sängerin beeindruckt mich. Rafa hat sie mir vorgezogen, und doch sieht sie in mir eine Bedrohung. Sie spürt vielleicht, daß zwischen Rafa und mir eine Verbindung besteht, die sie nicht zerstören kann.
Xentrix übertrifft sich selbst. Er spielt "Answers for you" von Blackhouse, "Lord of Ages" von Blood Axis, "Der Feind" von Calva y Nada und das bombastisch-getragene "Kingdom Come" von Will. Es gibt auch viel elektronische Avantgarde zu hören wie die Musik von Mentallo & the Fixer. Ich tanze oft mit dem lederverpackten Ted. Es läßt sich gut mit ihm tanzen. Ich fühle Wut und gleichzeitig eine seltsame Überlegenheit, eine seltsame Macht. Ich fühle mich nicht verlassen, sondern herausgefordert. Ich will schlagen und schlachten. Rafa soll nicht missen, was er sich verdient hat. Er soll fühlen, was er tut.
Im "Elizium" waren auch zwei Jungen, die wissen wollten, ob ich Bettina hieße.
"Wie kommt ihr denn auf diesen Namen?" erkundigte ich mich.
"Jemand sagte, du wärst Elektro-Betty", erzählte einer der Jungen.
"Ich dachte mir so etwas schon", sagte ich.
Die Jungen heißen Henning und Damon. Sie machen selber Musik und wollten sich von mir bei der Wahl ihres Bandnamens beraten lassen. Sie hingen förmlich an meinen Lippen. Sie schienen beeindruckt von mir zu sein.
Besonders schön fand ich im "Elizium" die Tracht eines Mädchens aus HH. Das Mädchen war groß und schlank und trug ein Meßgewand. Es hatte sich geschminkt wie eine Schaufensterpuppe. In das blonde Haar des Mädchens war ein langer schwarzer Schleier geknotet, der weit über das Gewand fiel.
Wenn Xentrix so weitermacht und der Ruf des "Elizium" sich verbessert, könnten bald noch mehr schillernde Gestalten hier erscheinen.
Carl meint, die Art, auf die Rafa und ich uns streiten, zeuge von einer besonderen Vertrautheit, wie man sie bei lange Verheirateten findet.
Es ist nicht möglich, eine bedingungslose Liebe zu brechen, eben weil sie bedingungslos ist. Sollte meine Liebe zu Rafa wirklich bedingungslos sein, so wird er zwar erreichen können, daß meine Wut auf ihn ins Unermeßliche wächst ... doch nie wird er erreichen, daß meine Wut sich in Haß verwandelt. Sein Verhalten kann ich verabscheuen, doch nicht ihn selbst.
Ich verleugne mich nicht und auch nicht meine Gefühle. Ich kann mir das leisten, er nicht.
Es war nicht umsonst, was ich bisher getan habe. Ich konnte Rafa streicheln und umarmen, und das an sich war den Aufwand schon wert.
Vor vierzehn Jahren kam etwas aus dem Nichts auf mich zu, keine Erscheinung, sondern eine Empfindung. Ich wußte fortan, daß ich nach dieser Empfindung suchen würde, so lange, bis ich den Mann gefunden hatte, der sie in mir auslöste. Ich liebte jemanden, den ich nie kennengelernt hatte, und ich wurde von jemandem geliebt, der mich nicht kannte. Ich fühlte mich ihm nahe, fast zum Greifen nah; ich wußte auch, wie es war, von ihm umarmt zu werden, und hatte das doch niemals erlebt. Und in den Armen von Rafa wußte ich, daß ich endlich gefunden hatte, was ich suchte, und mich verlangte nach nichts anderem mehr.
Begeistert wandere ich durch Rafas vielschichtiges, sich bewegendes und veränderndes Innenleben, und nichts, was mir dort begegnet, will ich vergessen. Es ist, als könnte ich in ihm nicht nur ihn selbst finden, sondern auch etwas wiederfinden, das ich verloren habe.
Rafa kann so kalt tun, so gleichgültig. Er verstellt sich. Er spielt im Wechsel seine verschiedenen Rollen, die des Gedankenlos-Kindlichen, die des Gefühlsarmen, Gewissenlosen, die des Leutselig-Überheblichen, die des Heuchlers, die des Frauenhelden, die des Schulmeisters, die des Messias.
Ich glaube ihm seine Rollen, und er scheint darauf angewiesen zu sein, daß sie ihm geglaubt werden - flüchtet er sich doch in sie, um sein wahres Gesicht nicht zeigen zu müssen. Seine Rollen verdecken sein Gesicht wie ein Vorhang. Man sieht seine Züge noch, doch nicht mehr ihn.
An dem Glauben, den Rafa in mir weckt, kann ich erkennen, was er mich glauben machen will. Wenn er mir gegenüber gleichgültig scheint, möchte er, daß ich glaube, ich sei ihm gleichgültig. Vielleicht will er dadurch bewirken, daß meine Gefühle für ihn erlöschen.
Leidet Rafa darunter, daß ich Gefühle für ihn habe?
Wenn er sein Gesicht ablehnt, müßte es ihn belasten und verunsichern, wenn ich ihm immer wieder zu verstehen gebe, wie sehr ich sein Gesicht mag. Laut Carl müßte im Laufe der Zeit bei Rafa eine Abhängigkeit entstehen. Er würde meine Zuneigung brauchen, die Zuneigung, die er selbst sich versagt. Rafa fürchtet sich vor Abhängigkeit, deswegen auch vor Zuneigung. Er versucht mit aller Kraft, mich wegzustoßen ... und stößt damit auch sich weg ... er mißgönnt es sich, geliebt zu werden ...
Ist Rafa sein eigener Gegner? Ist sein Feind in ihm?
Am Samstag war Rafa nicht im "Elizium". Dafür waren Henning und Damon wieder da. Damon trank viel und sah mich mit schmachtenden Blicken an. Um ihm die Hoffnung auf mich zu nehmen, erzählte ich ihm, daß ich seit Anfang des Jahres verliebt bin.
"In wen?" fragte Damon sogleich. "Sag' mir den Namen."
"Den erfährst du nicht. Der bleibt geheim."
"Ich kann mir schon denken, wer es ist. Wir haben dich kürzlich in der 'Halle' gesehen, und da sahst du sehr verliebt aus."
"Das bin ich auch."
"Das steht dir, wenn du verliebt bist", fand Damon. "Das ist schön für dich."
"Schön ... das will ich nicht sagen. Verliebtsein kann auch Tragik bedeuten. Es hat seine zwei Gesichter."
"Ich meine ... du hast dir da ja einen tollen Typen ausgesucht. Aber du kennst mich noch nicht."
"Hinter 'toll' kannst du gleich ein Fragezeichen setzen", erwiderte ich. "Außerdem habe ich ihn mir nicht ausgesucht. Mein Unterbewußtsein hat ihn ausgesucht, und die Entscheidung muß ich hinnehmen."
Damon wollte mich unbedingt allein treffen, und das lehnte ich ab. Es ist nicht so, daß ich keine Jungen allein treffen würde; bei Damon jedoch war mir dessen Absicht zu eindeutig.
"Ich gehe nur einen geraden Weg, ohne davon abzukommen", erklärte ich. "Du meintest doch, daß es mir gut steht, wenn ich verliebt bin?"
"Ja."
"Dann nimm's doch einfach hin, daß ich verliebt bin."
"Ich nehm's ja hin."
"Ich habe strenge Regeln, nach denen ich mich richte. Nehmen wir an, ich würde ihn nicht mehr sehen - dann würde das noch viele Jahre andauern."
"Du bist jung genug, um flexibel zu sein."
"Irgendwann ist man alt genug, um sich festzulegen. Du weißt nicht, wie gerade mein Weg ist."
Ich sagte Damon auf den Kopf zu, daß er in mich verliebt war, und ich sagte ihm auch auf den Kopf zu, daß sich das schon von selbst geben würde. Damon stritt ab, in mich verliebt zu sein. Dabei war sein Balzverhalten mehr als deutlich, doch das war ihm wohl nicht bewußt.
Ich fürchte mich davor, daß eines Tages ein abgewiesener Verehrer dem Rafa aus Rache Lügen über mich erzählt. Ich fürchte mich davor, daß jemand Rafa glauben macht, ich sei nicht treu. So untreu Rafa auch sein mag - er soll nie glauben, daß ich ihn betrüge. Ich will ihn nur etwas eifersüchtig machen.
Xentrix enttäuschte uns auch dieses Mal nicht. Er legte wieder das hymnische "Lord of Ages" von Blood Axis auf ... und das kühle Kult-Stück "Deiche" von den Sex Gang Children ... und ... und ...
Es gibt Neuigkeiten. Ivo soll Timo, seinen "Freund fürs Leben", aus seiner Band geworfen haben. Timo soll gar nicht mehr in die "Halle" kommen. Edit hat ihn schon länger nicht gesehen.
Außerdem erzählte Merle noch etwas von der Tanznacht im Juni, in der Rafa "Ganz in Weiß" vortrug. Bevor Rafa auftrat, ging Merle hinauf in den Glaskasten, weil sie dachte, dort sei ein Ausschank. Da sah sie, wie sich die Sängerin das Brautkleid zurechtzupfte.
"Oh - ein Brautpaar?" dachte Merle.
Vielleicht heiratet Rafa eines Tages seine Sängerin.
Wenn er Gefühle für mich hat, die ihn an mich binden, machen sie mich zu einem Teil von ihm. Das, was er mir antut, tut er auch sich an. Er kann mir nicht ins Gesicht schlagen, ohne sich selbst ins Gesicht zu schlagen. Was er mir tut, fällt auf ihn zurück.
Ich gehe meinen Weg bis zum Ende. Auch Rafa geht seinen Weg bis zum Ende. Er geht bis zum Äußersten. Wenn er das, was er treibt, weitertreibt, weiter und weiter, dann zerreißt es ihn irgendwann. Rafa könnte eine endgültige Selbstflucht versuchen - den Selbstmord. Ich werde ihn in Ruhe lassen, wie ich es immer getan habe, wenn er sich hinter seiner Freundin verschanzt hat. Er muß ohne Hilfe den Weg zu mir finden.
Ich will lernen, durch die Masken hindurchzusehen, die Rafa sich aufsetzt, wenn er möchte, daß ich mit ihm nichts anfangen kann. Eine seiner wichtigsten Waffen verliert dann ihre Wirkung.
Ich will mich nicht mehr abschrecken lassen von der Freundin. Ich will nicht mehr glauben müssen, daß Rafa sie mir vorzieht.
Mir kommt das Salomonische Urteil in den Sinn.
Fünf Personen spielen in der Geschichte mit: zwei Frauen, ein Kind, Salomo und ein Soldat. Die Frauen streiten sich um das Kind. Als Salomo dem Soldaten befiehlt, das Kind durchzuteilen, ist das der einen Frau gleich - sie verzichtet lieber auf das Kind, als daß sie es der anderen gönnt. Sie wird von ihrer Mißgunst geleitet. Die andere Frau verzichtet lieber auf das Kind, als daß sie es sterben läßt. Sie wird von ihrer Liebe geleitet.
Die Entscheidung dieser Frau ist nicht nur eine Entscheidung aus Liebe. Es ist auch eine taktisch kluge Entscheidung. Wenn das Kind tot wäre, hätte sie es für immer verloren. Läßt sie es aber der anderen Frau, kann das Kind eines Tages zu ihr zurückfinden, wenn es herangewachsen ist.
Man könnte sagen, daß die Sängerin und ich uns um Rafa streiten. Ihm fällt dabei nicht nur die Rolle des Kindes, sondern auch die Rolle Salomos zu. Rafa muß entscheiden, welcher Frau er gehört. Er muß feststellen, welche Frau ihn liebt.
In den letzten Oktobertagen hatte ich einen seltsamen Traum. Ein kleiner Junge trug einen grell bemalten Kopf aus Pappmaché. Ob er sich den selbst aufgesetzt hatte, erfuhr ich nicht. Das Kind stand im Dunkeln und war von der Seite angeleuchtet. Es hielt sich die Arme vor das künstliche Gesicht und schrie und heulte, daß es zum Erbarmen war.
Also, also ...
Ich kann kaum fassen, was mir da begegnet ist. War das etwa auch wieder Rafa? Sollte er denn leiden unter den Masken, die er trägt?
Er macht sich nach Kräften unbeliebt. Vielleicht bekommt ihm die Ablehnung nicht mehr, die er bei anderen Menschen erzeugt.
Carl ist davon beeindruckt, wie stark diese Ablehnung bei manchen Leuten ist.
"Wenn der hier ist, bin ich draußen", pflegt Derek über Rafa zu sagen.
In der Straßenbahn sollen sich einige Mädchen über ihn unterhalten haben.
"Rafa, dieses Schwein", sagte eines, "aber die CD muß man kaufen."
"Die Musik ist gut", sagte ein anderes, "aber ... hoffentlich krieg' ich nicht die Pest an den Händen."
Vielleicht ist Rafa damals nicht zu meiner Geburtstagsfeier gegangen, weil er weiß, daß viele Menschen ihn nicht mögen. Er fühlte sich in unsicher bei dem Gedanken, allein in eine Gruppe zu kommen. Er braucht wahrscheinlich eine Position, die ihn in den Mittelpunkt stellt, weil er ohne sie an den Rand gerät. Er muß sich auf vertrautem Boden bewegen. Er muß führen, verführen oder vorführen. Er muß die Leute "in der Hand" haben, da sie ihn sonst ausgrenzen.
Derek ist jetzt viel bei Constri. Sie zieht ihm seine Tasche über den Kopf und steckt ihm eine rosa Stoffmaus unter den Pullover, die sie noch von ihrem früheren Freund Cyd hat und die Derek nicht leiden kann.
In vielerlei Hinsicht hat Constri es mit Derek leichter, als ich es mit Rafa habe. Rafa ist nicht nur schwierig, er ist einfach "unmöglich". Doch "unmöglich" bin ich auch, und das ist Constri nicht. Ich fordere Rafa ganz, seinen Körper, seinen Geist und seine Seele. Ich finde es gerecht, wenn Rafa mir auch alles abverlangt.
In einem Traum wunderte sich U.W. darüber, was ich mit der Kraft meines Willens fertigbrachte. Ich bändigte einen wilden Hund. Außerdem verschaltete ich mich mit einer Anlage und stellte rhythmische elektronische Musik her, die ich gleich auf Band nahm. Was ich fühlte, setzte ich in Klänge um. Meine Gedanken und Gefühle steuerten meine Umgebung und auch mich.
Talis kam abends zu mir und brachte einen Stapel CD's mit. Unter ihnen war ein Sampler mit einem Stück von Rafa. Es ist das Stück, in dem Rafa mit verzerrter Stimme schreit:
"Alles ist sinnlos, sinnlos, denn ich liebe dich nicht!"
Es wirkt auf mich sehr überzeugend. Ich fühle mich angesprochen. Liebt Rafa mich denn tatsächlich nicht, oder wehrt er sich nur dagegen, mich zu lieben? Ich möchte, daß mir mein Unterbewußtsein diese Frage beantwortet. Deshalb höre ich mir das Stück mit dem quälenden Text dauernd an. Ich hoffe, einen Traum zu haben, der mir die Wahrheit bewußt macht. Ich will nicht mit einer Lüge leben.
Talis brachte auch den "Celtic Circle"-Sampler, auf dem sich das Stück "Seele in Not" von Lacrimosa befindet. Lacrimosa schreit den schwierigen Satz "Ich liebe dich" ebenso überzeugend, wie Rafa "Ich liebe dich nicht" schreit.
Talis betonte wieder einmal, daß er Rafa nicht in unserem Freundeskreis sehen möchte. Er könne Rafa nichts abgewinnen.
"Dieser Fassadenbauer", sagte er.
"Dem Rafa kann man auch nichts abgewinnen, es sei denn, man versteht ihn", meinte ich. "Und verstehen kann man ihn nur, wenn man ihn sehr liebt."
Ich erzählte Talis davon, daß ich in letzter Zeit besonders oft von Jungen angesprochen werde.
"Das liegt wahrscheinlich daran, daß dein Tanzstil im 'Elizium' einmalig ist", vermutete Talis.
Talis war früher im "Base" bei den Mädchen angesagt, wahrscheinlich, weil er sich damals noch an die Kleiderordnung hielt. Heute trägt er schlichte Sachen, allerdings immer noch in Schwarz. Talis hat das Aussehen eines Dressman, doch das scheint den Mädchen nicht zu genügen. Unter anderem steht Talis auch durch sein schüchternes Wesen immer etwas abseits. Einen Gegensatz dazu bildet die lebhafte Rikka.
In einem Traum habe ich mich in einem fremden Haus für den Abend umgezogen. Es war ein düsteres, unordentliches Haus, wie das "Trauma". Ich stellte fest, daß mein Rumpf über und über bedeckt war mit kunstvollen Schnörkeln. Sie waren nicht von Menschenhand hineingestochen worden. Kleidung aus gestricktem Stahl, die ich zum Tanzen trug, hatte meine Haut in solcher Weise verletzt. Ich zog die stählernen Sachen auch dieses Mal an. Ich würde nur eine halbe Stunde lang in ihnen tanzen können. Sonst konnten die Stiche zu bluten anfangen, und das durfte nicht sein. Ich mußte verbergen, was mit mir geschehen war.
Meine Kleidung richtete mich grausam zu, und ich ließ es mir gefallen. Das Ergebnis war von einer ekelerregenden Schönheit. Mit den Kleidern am Leib war ich wirklich schön. Unter den Hüllen jedoch fanden sich die Spuren einer ästhetischen Folter. Nach außen erschien ich begehrenswert, und um dessentwillen ließ ich mich kunstvoll quälen. Keiner konnte das merken außer Rafa, der einzige Mensch, der mir nahekommen darf. Nur er konnte ermessen, was ich mit mir angestellt hatte.
Diesem Traum zufolge mache ich etwas mit mir, das mir nicht bekommt und das nur Rafa wahrnehmen kann.
Was ist das nur?
In einem anderen Traum hatte Rafa angekündigt, daß er sich wieder zu seiner Freundin flüchten würde, und er tat das auch. Die beiden saßen auf Barhockern am Rand der Tanzfläche des "Elizium". Als sie hinausgingen, setzte ich mich auf den Hocker der Freundin. Rafa kam allein zurück und setzte sich wieder auf seinen Hocker. Er drehte sich zu mir, schlug die Beine übereinander und schaute mich mit großen Augen an.
"Und du bist wieder glücklich?" fragte ich.
Er schwieg.
"Du liebst sie sehr, hm?" fuhr ich fort.
Rafa hob den Kopf und sah über meine Schulter, als wollte er mir bedeuten, daß hinter mir jemand stünde. Mit einem kurzen Blick vergewisserte ich mich, daß dem so war, und ich fragte Rafa:
"Kommt sie wieder?"
Er nickte.
Ich stand eilig auf.
"Ist gut - ich geh' schon", sagte ich mit dem Mund in Rafas Halsbeuge und leckte an seiner Lederjacke.
Ich habe Rafa noch nie mit Lederjacke gesehen, doch in dem Traum hatte er eine an.
Ich ging in die Schwarze Ecke vor der Treppe. Dort war im Boden eine rechteckige Grube aufgemacht worden, umsäumt von Kränzen und Blumensträußen. Die Gäste des "Elizium" stellten und setzten sich darum herum. Es waren auch Menschen unter ihnen, die sonst nicht ins "Elizium" gehen, etwa meine Mutter. In einem offenen Sarg trug man eine alte Frau herbei, die mit schwarzen Schleiern schön geschmückt war. Die alte Frau lag still, doch als man sie in die Grube hinabließ, hustete sie. Xentrix hatte die Musik abgestellt, und das Husten war gut zu hören.
"He!" rief ich. "Sie lebt noch!"
Sie hörten mich alle, doch niemand achtete darauf, auch nicht die alte Frau.
Ich durchbrach die Zeremonie. Vor aller Augen stieg ich in das offene Grab und sagte zu der Frau:
"Ich nehm' dich mit; ist das o.k.?"
"Ja", erwiderte sie.
Ich sprach mit ihr in dem gleichen Tonfall, in dem ich zuvor mit Rafa gesprochen hatte. Ich sprach eindringlich und ruhig.
Nur der Kopf der Frau war alt; ihr Körper war der makellose Körper einer menschengroßen Barbiepuppe. Die Arme waren abgefallen, und ich setzte sie wieder ein.
"Wenn du mir hilfst, pfleg' ich dich bis an dein Lebensende", versprach ich. "Ist das o.k.?"
"Ja", sagte die Frau.
Ich ergriff den leichten Puppenkörper und stieg wieder aus dem Grab.
"Gute Nacht!" rief ich den Leuten im "Elizium" zu und ging davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.
Später kamen Constri, Rikka und meine Mutter mir nach. Sie wollten mir helfen, doch es gab nicht viel zu helfen. Ich mußte allein mit der Bürde zurechtkommen, die ich mir aufgeladen hatte.
Auch Rafa hat man als Mensch "totgesagt", "abgeschrieben". Er ist nur gefragt als Mittelpunkt von Zeremonien. Ich allein will ihn aus dem Grab holen, in das er sich ohne Widerstand hat legen lassen.
Abends ging ich mit Ortfried zu U.W. Er hatte einen Gast, Sator, der einen Pullover mit dem Emblem des Zoth Ommog-Labels trug. Sator ist dreißig und seit 1980 in der Szene der Schwarzgekleideten. Wie ich wird er gewöhnlich auf mehrere Jahre jünger geschätzt. Sator fütterte mich mit Walnüssen. U.W. servierte Whiskey-Cola.
"Ich hab' Sator gesagt, daß du auf Rafa stehst", erzählte U.W.
"Nun - ein bißchen mehr ist's schon", meinte ich.
"Na ... daß du in ihn verliebt bist", verbesserte sich U.W.
"Ein bißchen mehr ist's schon", sagte ich.
"Ohoo ...", sagten die Jungen.
Ortfried, Sator und ich gingen gegen ein Uhr ins "Trauma". Joël spielte sehr harte Sachen, und es gab immer genügend Platz zum Tanzen. So konnte ich noch mehr Bewegungen und Schritte erfinden. Ich baute einige Schritte zu Sprüngen um. Die Technik dabei ist, daß man die Erdanziehungskraft und den Schwung, den man hat, ausnutzt und daß man keine überflüssigen Bewegungen macht, um keine Energie zu verschwenden.
Am Morgen kamen Ortfried und Sator noch mit zu mir, und wir frühstückten von halb fünf bis halb sieben. Sator findet Träume und Übersinnliches interessant. Er fütterte mich mit Pfeffernüssen. Gespannt lauschte er den Geschichtchen, die ich von Rafa und mir erzählte. Ich wollte nicht allzu viel über Rafa reden, doch ein wenig mußte ich von ihm sprechen.
Ich fand es nicht verwunderlich, daß Sator mich mit einem umflorten Blick ansah. Ich strahle Zuneigung aus. Das zieht die Männer an, wenngleich diese Zuneigung nur einem gehört. Und ausgerechnet der, dem sie gehört, glaubt sie mir nicht ... Alle nehmen meine Gefühle wahr, nur Rafa, der empfindliche Rafa, soll sie nicht wahrnehmen? Vielleicht will er sie nur nicht wahrhaben ...
In einem Traum ging ich durch eine Fabrikhalle. Ich trug mein Kleines Schwarzes. Das hat ein Unterkleid, darüber flattert ein durchsichtiges Gewebe. Eigentlich sollte ich einen blauen Kittel anziehen. Denn es war meine Aufgabe, in der Fabrikhalle sauberzumachen. Doch jedesmal, wenn ein gutaussehender Kerl in die Nähe kam, warf ich den Kittel fort und ließ mich bewundern. In der Halle standen Maschinen eng beieinander, und an ihnen hätte ich mir leicht das Kleid oder die Strumpfhose zerreißen können. Es blieb aber alles heil.
Ich habe auch geträumt, ich würde mit Rafa über seine Lebenslüge reden, lange und in heftigen Worten.
Was das "Elizium" betrifft, möchte ich künftig zu den Xentrix-Nächten gehen und Rafa die Kappa-Nächte überlassen. Also werden Rafa und ich uns nur noch auf den EBM-Nächten in der "Halle" begegnen.
In der Zeitschrift "Autodafé" wurde Rafa von zwei Leuten aus dem Osten gegrüßt, die ihn als "genialsten Newcomer des Jahres" bezeichnen. Kappa hob Rafa in die Redaktionscharts.
Leicht und seicht sind die neuen Stücke von Rafa. Gefälliges kommt an - es gefällt eben. Es hat Rafa eine Gemeinde von Verehrern eingebracht.
Derek hat jetzt auch damit angefangen, elektronische Musik herzustellen. Sie ist maschinell, düster, minimalistisch und fast ohne Melodie. Es gibt nur verzerrte Stimmen. Derek geht es nicht um Gefälligkeit, sondern um das Gegenteil davon. Er nennt sich dementsprechend "Mißratener Sohn".
Zu Allerheiligen feierten wir unser alljährliches Ritual. Vor sieben Jahren lief ich mit Henk und seinen cannabissüchtigen Freunden durch das abendliche BS. Ich hatte mich daran erinnert, daß zu Allerheiligen die Katholiken rote Lämpchen auf die Gräber ihrer Verstorbenen stellen und daß die Gräber gesegnet werden. Wir suchten nach einem Friedhof, der nicht zugesperrt war. Damals fanden wir keinen, aber im nächsten Jahr überredete ich Constri, mit mir in den heimatlichen Vorort von H. zu kommen, auf den kleinen Friedhof, von dem wir wußten, daß man jederzeit über den niedrigen Jägerzaun klettern konnte. Constri wartete auf dem Gehweg, während ich mir in der Dunkelheit die Ewigkeitslämpchen anschaute. Ich hatte ihr versprechen müssen, daß wir danach essen gingen, und wir taten das auch. Es wurde sehr spät und sehr lustig. Seither haben wir dieses Ritual nie ausgelassen.
Merle, Ortfried und Derek kamen in diesem Jahr auch mit auf den Kirchhof. Es fror. Nach unserem Spaziergang warteten wir an einer Straßenbaustelle auf den Bus. Die aufgeschichteten Betonplatten und Gossenwürfel waren mit Rauhreif bedeckt.
Wir gingen in einem umgebauten Fachwerkhaus chinesisch essen; bis nach Mitternacht saßen wir zwischen den plätschernden Springbrunnen und redeten Unsinn.
Anfang November habe ich im Traum sehr viel mit Rafa zu tun gehabt, hauptsächlich im "Elizium". Rafa hat wieder einmal mein Verhalten nicht deuten können und mir meine Liebe nicht geglaubt.
Es ist, als hätte mich das Schicksal auf einem fremden Planeten ausgesetzt, den ich erobern muß, um zu überleben. Ich muß Rafa erobern, um zu überleben, die "Welt" Rafa.
Wie ich es mir gedacht hatte, versteckte sich Rafa während der EBM-Nacht fast die ganze Zeit in der Nähe des DJ-Pults. Er tanzte überhaupt nicht, und es erfolgte auch kein Rundgang durch die "Halle". Dolf war dieses Mal nicht mitgekommen, und Rafa konnte mich nicht von ihm beobachten lassen.
Vor dem Bühnenpodest kamen Damon und Henning auf mich zu. Sie überschütteten mich mit Komplimenten und drängten ihre lederbedeckten Schultern an mich. Rafa stand gerade mit seiner Freundin an einem runden Tisch vorm DJ-Balkon.
"Ich liebe dich", sagte Damon.
"Ah, ja", meinte ich.
"Du hattest recht, als du sagtest, ich würde dich lieben", offenbarte mir Damon.
"Das habe ich nicht gesagt", berichtigte ich. "Ich habe gesagt, du bist in mich verknallt. Liebe ist etwas anderes."
"Kennst du W.E?" fragte Henning.
"Am zweiten Tisch von links", antwortete ich und schaute zu Rafa hinüber. "Da steht er."
"Ach - der mit dem langen Zopf ist das?"
"Ja, der. Und zwar er allein. Der Rest ist Staffage."
"Bist du ein Fan von W.E?"
"Nein, ich bin kein Fan von W.E."
"Warum kennst du die dann?" staunte Henning.
"Sie sind zu mir gekommen und haben sich mir vorgestellt", erzählte ich.
"Uns hat sich noch keiner vorgestellt", klagte Henning.
Kappa spielte zwei Stücke von Rafas W.E. Etwas später wagte Rafa sich bis aufs Bühnenpodest vor, geschützt durch seine Freundin. Er saß eine Zeitlang dicht neben ihr. Sie rauchte zurückgelehnt vor sich hin.
Ich zog meinen Handschuh aus, um mir Damons Nummer aufzuschreiben und kündigte Henning an, daß ich Damon wohl nicht anrufen würde, obwohl er durchaus nett sei.
"Vielleicht will der gar nichts von dir", wollte Henning mich beruhigen.
"Doch", war ich überzeugt.
"Das habe ich noch nie erlebt, daß eine Frau das einem Mann auf den Kopf zusagt", meinte Henning.
Ich erklärte ihm, daß ich nicht mehr zu haben bin.
Rafa ist wirklich nur noch im "Elizium" anzutreffen, wenn Kappa dort auflegt. Kappa scheint für Rafa eine Art Schutzengel zu sein. Er verehrt Rafa, er schirmt ihn ab, er fördert seinen Einstieg ins Musikgeschäft und ist gleichzeitig ungefährlich für ihn, weil er ihn nicht durchschaut. Rafa kann sich bei ihm in Sicherheit bringen.
Ich vermute, Rafa fühlt sich mir unterlegen. Ich vermute, er sieht mich als stählernen Übermenschen, der unverletzbar ist. Deshalb versucht er absichtlich, mich zu verletzen. Er möchte herausfinden, ob sein Bild von mir der Wirklichkeit entspricht.
Ich frage mich, ob ein Mensch sich unbewußt die Aufgaben sucht, die zu ihm passen. Ich frage mich, ob der Fall Rafa den richtigen Schwierigkeitsgrad für mich hat. Bin ich imstande, das Lügengebäude, in dem Rafa sich versteckt, zum Einstürzen zu bringen? Und wenn ich es nicht schaffe, wer schafft es dann?
Xentrix spielte im "Elizium" viele altertümlich wirkende Stücke mit schweren, bombastischen Linien, die immer beliebter werden. Dazu gehört auch "Kingdom come" von Will.
"Siehst du", sagte ich zu Xentrix, "die Leute haben nur auf solche Musik gewartet."
"Ich glaub's echt nicht ...", stöhnte Xentrix. "Ich hatte die Leute echt schon aufgegeben ... ich war schon nahe daran, den Löffel wegzuwerfen ..."
"Die Leute können nicht nur anspruchsvolle Musik vertragen, sie wollen sie auch hören. Du siehst, es kommt an."
Das "Elizium" scheint für Rafa zum Spannungsfeld zu werden. Platten auflegen darf er bei Xentrix nicht, auf die Tanzfläche geht er kaum noch, und durch den Saal laufen und sich herzeigen und mit jedem sprechen kann Rafa anscheinend auch nicht, solange er die Freundin hat. Mit mir darf er nicht reden, weil mich seine Freundin sonst zusammenschlägt, und ich bin doch die Einzige, die sich wirklich für ihn interessiert. Rafa hätte sich mit seiner Freundin in eine Ecke verkriechen müssen.
In dem kommenden Tagen habe ich Folgendes geträumt:
In der Babyabteilung eines Kaufhauses begegnete mir eine Frau mit einer Blüte im Dutt. Sie hieß Gertrud. Zuerst hielt ich sie für harmlos. Im Laufe der Zeit wurde sie mir gegenüber immer giftiger. Ich erfuhr, daß Rafa in ihrem Besitz war.
Im Treppenhaus hatten sich fünf Chöre von Mädchen aufgestellt, die Spottlieder übten. Ein Mädchen sprach mich an:
"He, willst du mitsingen? Diese Gertrud hat heute Geburtstag. Wenn sie hier durchkommt, singen wir ihr was vor."
Ich ging in ein anderes Treppenhaus und fand wieder fünf Chöre von Mädchen, die mich einluden, mit ihnen Spottlieder auf Gertrud zu singen.
Gertrud erinnerte mich an eine "Tante Gertrud", mit der mein Vater früher meine Mutter betrogen hat. "Tante Gertrud" hatte auch eine Blüte im Dutt. Ahne ich eine Ehetragödie mit Rafa voraus? Offenbar sehe ich in Rafa meinen rechtmäßigen Gatten und in seiner Freundin den Eindringling, dem er sich bereitwillig zuwendet.
Ich frage mich, ob Rafa seine Freundin eines Kindes wegen heiraten würde.
In einem anderen Traum ließ ich Rafa etwas erzählen. Wenn ich den Eindruck bekam, daß er ins Lügen abrutschte, stellte ich ihm rasch hintereinander eine Reihe von Fragen, die mich der Wahrheit auf die Spur bringen sollten.
Das gehört zu dem, was Rafa an mir nicht leiden kann: ich verhöre ihn, wenn ich das Gefühl habe, daß er nicht bei der Wahrheit bleibt.
Rafas Verhalten hat sich in den letzten Monaten auffallend verändert. Die überdrehte Ausgelassenheit, mit der er früher durch die "Halle" oder das "Elizium" gelaufen ist, habe ich nur noch in der kurzen Zeit beobachten können, in der er von seiner Freundin getrennt war. Auch getanzt hat er in dieser kurzen Zeit wesentlich mehr als sonst - sogar in meiner Nähe. Damit ist es wieder vorbei. Rafa läßt sich von einer fähigen Wärterin an der Leine halten.
Sein Dasein scheint von Furcht bestimmt. Rafa ist immer auf der Flucht, der Flucht vor sich selber. Er flüchtet sich in Lügen.
Rafa setzt auf die Lüge. Ich setze auf die Ehrlichkeit. Mit der Lüge kommt man äußerlich vielleicht weiter, bleibt aber innerlich zurück. Man erlebt sich nie ganz. Man lebt sich nie ganz. Man mißgönnt sich etwas. Man bleibt unausgefüllt. Mit der Ehrlichkeit gewinnt man innerlich auf jeden Fall, weil man sich selbst ganz annimmt und sich nahe bleibt.
Hat Rafa diesen Gedanken schon gehabt?
Ich kann mir vorstellen, daß Rafa beschlossen hat, mit Hilfe seines Verstandes seinen Gefühlen zu entfliehen. Ist das überhaupt möglich?
Wie sieht es mit Rafas Gewissen aus? Daß er ein Schuldempfinden hat und seine Sünden erkennt und sich ihrer schämt, betrachte ich mittlerweile als gesichert. Rafa zeigt es durch viele deutliche Gesten. Und er zeigt diese Gesten immer, wenn er etwas angestellt hat. Er weiß, was er tut und leidet unter seinem Verhalten. Er nimmt dieses Leid jedoch in Kauf. Er läßt sich von seiner Furcht zu Untaten zwingen. Er ist ein Sklave seiner Furcht, wie ein Süchtiger, der sich von seinem Suchtmittel beherrschen läßt. Er opfert sich seiner Furcht.
Rafa meinte, ich sei eine Sklavin meiner Gefühle. Er sei mir gegenüber im Vorteil, da er seine Gefühle gar nicht erst an sich heranläßt. Ich kann dem entgegenhalten, daß es Freiheit bedeutet, sich Gefühle leisten zu können und damit umgehen zu können, daß die Erfüllung des eigenen Schicksals von einem einzigen Menschen abhängt. Liebe ist für mich nicht dasselbe wie Hörigkeit, im Gegenteil. Wer hörig ist, hat keinen eigenen Willen und tut alles, was der andere von ihm verlangt. Ich richte mich nur nach meinem eigenen Willen und setze Rafa feste Grenzen. Ich lasse mich nicht vereinnahmen. Ich kann mich binden und gleichzeitig mich selber schützen und verteidigen.
Mitte November habe ich Folgendes geträumt:
Mina Harker besuchte ihren Mann Jonathan auf Schloß Dracula. Jonathan verschwieg Mina, daß er bei Dracula nicht Gast, sondern Gefangener war. Er gab seiner Frau nicht die Möglichkeit, ihn vor dem Tode zu retten, wahrscheinlich weil er sich seiner Hilflosigkeit schämte. Vielleicht glaubte er auch, daß Mina nicht imstande war, ihm zu helfen. Dabei schien sie eine besondere Macht über Dracula zu haben. Der Blutsauger tat ihr nichts. Unbehelligt ging sie in dem Schloß ein und aus.
Rafa ist gewissermaßen ein Gefangener seiner Furcht vor Nähe und Abhängigkeit. Befreit werden kann er nur, wenn er das, wovor er sich fürchtet, in sein Leben aufnimmt.
Rafa offenbart sich mir nicht; er kann mir nicht gestehen, was er für mich empfindet. Er gibt mir nicht die Möglichkeit, ihm zu helfen. Das mag daran liegen, daß er sich seiner Hilflosigkeit schämt. Auch mag er glauben, ich könnte ihm doch nicht helfen.
Ortfried, Sator, U.W. und ich fuhren zu viert in die "Halle". Wir waren in ausgelassener Stimmung.
"Laßt uns wieder eine Nacht gemeinsam verbringen", rief Sator. "Laßt uns morgens bei Hetty frühstücken."
Die meisten Leute von mir waren ins "Raveyard" gegangen. Dort war die Musik besser, doch für die Veranstaltung war nicht genügend Werbung gemacht worden. So kam es, daß fast die gesamte Szene in der "Halle" war. Ich wollte unter Menschen sein, und das wollten meine Begleiter auch, also fuhren wir ebenfalls dorthin. In der "Halle" trafen wir Steini. Er hatte Adi mitgelockt. Ich lud ihn wie die anderen auf den nächsten Samstag zu mir ein. Ich setzte mich zu Adi und Steini an einen erhöhten Tisch, wir plauderten angeregt, und ich nahm einen Schluck aus Adis Glas. Dolf war wieder zugegen und häufig in meiner Nähe. Zu vorgerückter Stunde baute ich mit U.W., Sator und Ortfried einen Halbkreis aus Stühlen. U.W. brachte mir Cola mit Osborne. Wir legten unsere Beine alle auf einen Stuhl in der Mitte und klatschten zu den Neue-Welle-Kinderliedern mit, die Rafa abspielte. Aus seiner himmlischen Höhe warf Rafa mir lange, stechende Blicke zu. Ich bedaure es, daß ich kein Opernglas dabeihatte.
Cilly umarmte mich von hinten und nahm sich auch einen Stuhl.
"Ich möchte wissen, ob die fürchterliche Freundin bei Rafa oben ist", sagte ich zu ihr. "Leider ist er der einzige Mann für mich."
"Ich hoffe, daß das noch was wird mit euch."
"Was glaubst du, wie ich das hoffe."
Die Musik wurde später noch besser. Rafa spielte unter anderem das melancholisch-verhangene "Song of the Winds" von Projekt Pitchfork. Ich tanzte viel und gerne. Ich trug die Corsage mit den Trägern und den weiten Taftrock. Die um die Taille geknotete Schärpe verdeckt den Rockbund, so daß es aussieht, als hätte ich ein Kleid an.
Henning kam und tanzte mit mir. Damon war auch da und ein Junge namens Heiner, der mich immer anschaute und dazu lächelte.
Rafa kam erst am frühen Morgen herunter vom Balkon. Kappa begleitete ihn. Die beiden tanzten zu "Night of Love" von Deine Lakaien. Rafa hatte sich mit seiner Spiegelbrille geschützt. Ich tanzte ebenfalls und beobachtete ihn dabei. Ich fühlte die Mauer zwischen uns. Ich meinte, sie anfassen zu können.
Rafa tanzte auch zu dem nächsten Stück. Ich stieg aufs Bühnenpodest und sah ihm weiter zu. Henning fragte, ob ich mich denn nicht unterhalten wolle.
"Doch", gab ich zur Antwort. "Ich will nur erst noch ein bißchen gucken."
"Was gibt es denn da zu gucken? Vielleicht finde ich das auch interessant."
"Nein, das ist nichts Interessantes für dich!"
Als Rafa wieder oben war, blieb ich an dem Geländer des Podests stehen und fragte Henning, wo Damon sei.
"Da vorne sitzt er", sagte Henning. "Geh' doch mal zu ihm."
Damon saß am Rand der Tanzfläche, die schon fast leer war. Ich ging zu ihm und winkte ihm, mit zum Geländer zu kommen. Er stellte sich dort hin, und ich setzte mich auf das Geländer und ließ mich von den Jungen umgarnen. Ich achtete darauf, mich keinem zu sehr zu nähern; dennoch wirkte sich der Osborne auf mein Verhalten aus. Sator, Ortfried und U.W. kamen auch noch, und ich packte alle sechs an ihren Jacken und stellte sie einander vor.
Sator, Ortfried und U.W. suchten sich einen Tisch auf dem Podest, und ich nahm bei ihnen Platz. Rafa ließ Kappa durchsagen:
"Und jetzt ein Wunsch von Rafa für Tessa."
Ein Stück mit deutschem Text begann, dessen Aussage wohl sein sollte, daß Männer "immer nur das Eine wollen". Ich fand das Stück albern. Rafa und seine Freundin tanzten nebeneinander, und sie waren die Einzigen, die tanzten. Die Freundin hatte Leggins mit durchsichtigen Querstreifen an. Ihre Haare waren noch violetter als sonst. Ich wandte mich ab; ich wollte mir den Anblick dieses Pärchens ersparen. Es wundert mich, daß Rafa und die Freundin nie gegenüber tanzen, sondern nur nebeneinander. Ich finde keine Zärtlichkeit zwischen ihnen, kein Knistern.
Bald nach diesem Tanz verabschiedete sich Rafa am Fuß der Treppe zum DJ-Pult von einigen Leuten. Ich saß so, daß ich den Weg zum Ausgang überblicken konnte. Als Rafa mit dem Verabschieden fertig war, legte er den Arm um seine Freundin und zog an mir vorbei; dabei küßte er sie fortwährend auf die Wange und vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge. Dies war umso auffälliger, als er sich die Nacht hindurch kaum um die Freundin gekümmert hatte. Die meiste Zeit hatte sie unterm DJ-Balkon allein an der Bar gestanden.
Rafas Vorführung war kurz und choreografisch gelungen. Ich nehme an, es hat ihn viel Mühe gekostet, sie echt wirken zu lassen. Nur weiß ich zu viel über ihn, um ihm diese zur Schau getragene innige Verbundenheit abkaufen zu können. Sicher - ich war durchaus wütend auf ihn. Ich hatte eine Wut, die war wie ein Atemzug, der in einen gekachelten Abgrund stürzt, in einen Betonschacht. Wenn mir das Schicksal die Stunde schenkt, in der ich ihm seine Tat vergelten kann, will ich Nägel durch ihn treiben, längs und quer, Nägel mit Widerhaken, die er sich nicht herausziehen kann. Dies ist mein Geschenk an ihn, denn ich mache eine solche Anstrengung nur für einen Menschen, der mir sehr viel bedeutet.
Ich frage mich, ob ich in Rafa Eifersucht ausgelöst habe und er sich rächen wollte.
Am Frühstückstisch sprachen Sator und ich über das scheinbar hoffnungslose Lieben. Auch Sator hat eine Beziehung gehabt, in der es hin- und herging. Er hat die Freundin schließlich aufgegeben, weil sie ihm zu schwierig war .
"Warum kann das nicht einfacher sein mit uns?" hat er sich gefragt.
"Wenn man einen Menschen wirklich will, muß man auch die Schwierigkeiten annehmen, die er einem macht", meinte ich dazu. "Er ist unersetzbar, also muß man ihn nehmen, wie er ist und sich dem Kampf um ihn stellen. Wahrscheinlich mußt du ein Leben lang kämpfen, wenn du dich doch noch für das Mädchen entscheidest. Du mußt mit dem Mädchen auch den Kampf wollen, sonst hat es keinen Sinn."
Carl hat Rafa im "Elizium" gesehen, als Kappa dort auflegte. Rafa soll sich meistens in Kappas Nähe beim Pult aufgehalten haben.
Carl hat sich an eine Geschichte erinnert, die sich vor etwa einem Monat in der "Halle" zugetragen hat. Rafa lief durch die "Halle", fiel über eine Stufe und schlug hin. Er soll so gefallen sein, daß es aussah, als wollte er beten:
"Herr, vergib mir."
Seine Jacke und sein Hemd waren hochgerutscht, so daß sein Rücken zu sehen war. Iana fragte ihn, ob er sich wehgetan hätte. Da wurde Rafa rot und sagte ärgerlich:
"Hält sich in Grenzen."
Vielleicht ist Rafa über die Stufe gefallen, über die ich am letzten Freitag auch gestolpert bin. Ich habe mich freilich nicht so hingelegt wie Rafa. Ich konnte mich eben noch auffangen.
Rikka meinte, daß auch in einem Verhältnis von Rafa und mir irgendwann der Alltag einkehren würde. Ich erwiderte, daß es in einem solchen Verhältnis schwerlich einen Alltag geben könne, da es ein einziger Kampf sei. Jedes Mal, das ich Rafa streichle und küsse, muß ich mir erringen. Jedes Mal kann auch das letzte Mal sein.
Ein Verhältnis von Rafa und mir würde mit Angst beginnen - meiner Angst um sein Leben. Es gibt so viele Arten, auf die ich ihn verlieren könnte. Ich wüßte nicht, wie ich mit der Angst vor seinem Tod umgehen sollte.
Mitte November war ich endlich wieder im "Fall". Der Zug fuhr durch Rafas Heimatstadt, die im Licht der Nachmittagssonne dalag.
Im "Fall" gab es ein Konzert von Whitehouse. Die drei schäbig gekleideten Herren hatten ihre Keyboards auf groben Holztischen liegen. Durch Druck auf einige Knöpfe erzeugten Whitehouse ein unbeschreibliches Dröhnen, und dazu schrien sie jämmerlich und schlugen mit Bierflaschen auf die Tischplatte und mit den Fäusten auf den Boden. Ihre Texte sind immer unter der Gürtellinie.
"Zu dieser Musik kannst du dich umbringen, aber nicht tanzen", weiß Folter.
Diese Un-Musik wirkt auf mich befreiend und erfrischend. Ich kann lachen über das, was mich quält, und darauf herabschauen.
Zwei Jungen saßen neben mir, Philipp und Nino. Wir kamen über Industrial-Musik ins Gespräch. Wir verabredeten uns. Ted, dessen Gast ich war, kam nach dem Konzert ins "Fall", weil dort noch eine Elektro-Bizarr-Nacht stattfand. Ted brachte seine Freunde mit und stellte sie mir vor. Die Musik fand ich sehr gut und tanzbar. Es kamen "Das zweite Leben" von den Serpents, "Puppets" von Syntec, "Geile Tiere" von Geile Tiere, "Solitude of Confinement" von Frontline Assembly und viele mehr.
Ich ermutigte Ted, seinen verlorengeglaubten Freund Marvin nicht aufzugeben. Und wirklich bemühte sich Marvin nach einem zähen Streit um Versöhnung.
Ich fühlte mich bestätigt in meiner Hoffnung, daß es sich lohnt, einen Menschen nicht aufzugeben, an dem einem liegt.
In einem Traum ging Rafa auf mich zu, und das hieß, daß er sich von seiner Freundin getrennt hatte.
Einen anderen Traum nannte ich
Das Fabeltier
In der Straße vor ihrem Haus machte meine Mutter mich auf einen kleinen Hund aufmerksam, der herrenlos zu sein schien. Ich hatte den Hund erst gar nicht wahrgenommen, obwohl er schon längere Zeit in der Nähe vom Nachbarhaus herumstrich. Als ich ihn beobachtete, wirkte er auf mich hilflos und verstört. Er tat mir leid. Ihm schien jemand zu fehlen, der ihn führte und versorgte. Ich nahm an, daß der Hund todgeweiht war, wenn sich niemand um ihn kümmerte. Es wurde Winter; das Wetter war kalt und neblig.
Der Nachbar kam heraus, den ich nicht mag, weil er eine lärmende Art hat; er soll außerdem vor über zehn Jahren meine Katze Mimi umgebracht haben, und wenn jemand einer Katze etwas tut, ist es, als täte er es mir an. Der Nachbar half, nach dem Herrchen des Hundes zu fahnden. Ich schlug vor, ein Tierheim anzurufen. Meine Mutter wollte das nicht; sie hoffte, das Herrchen noch zu finden. Wir gingen die ganze Straße ab, die U-förmig ist. Ein großer schwarzer Hund namens Ajax begleitete uns. Ich hatte Sorge, daß er dem kleinen Hund etwas tat. Deswegen behielt ich den kleinen verstärkt im Auge und kam dazu, ihn genau zu betrachten. Er sah recht wunderlich aus. Er war schwarz und struppig, und zur Hälfte war er eine Katze. Ein solches Tier konnte es eigentlich gar nicht geben.
Das verwaiste Geschöpf hielt sich sehr an uns. Ein wenig fürchtete ich mich davor, daß das Fabelwesen mich als Frauchen wählen könnte. Meine Gefühle für das Tier verstärkten sich im Laufe der Zeit. Dies wurde unterstützt durch das seltsam zutraulich-bittende, wie Motorengeräusch klingende Schnurren, das das Wesen von sich gab. Meine Stimmung wurde immer trauriger. Ich wollte unbedingt, daß das Tier überlebte.
Wer das "unmögliche" Tier wohl war ...!
Der Traum vom Fabeltier erinnert mich an einen anderen Traum, den ich im April hatte - "Schafe unter Drogen".
Auch damals habe ich von herrenlosen kleinen Hunden geträumt; sie waren zu zweit, und sie trugen weiße Schafspelze. Sie sahen harmlos aus und waren es nicht. Daß sie keinen Herrn hatten, machte sie nicht hilflos, sondern gefährlich.
Der struppige schwarze Hund, der zum Teil eine Katze war, war ohne Herrchen nicht gefährlich, sondern hilflos. Und er war allein. Er schadete niemandem; er wirkte nur fremdartig und ein wenig unheimlich.
Demnach braucht Ivo eine Führung, die seine Mitmenschen vor ihm schützt, und Rafa braucht eine Führung, die ihn selbst schützt.
Einen weiteren Traum nannte ich
Die Königskinder
"Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb; sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.
'Ach, Liebster, könntest du schwimmen, so schwimm' doch herüber zu mir; drei Kerzen will ich anzünden, die sollen leuchten dir.'
Das hört' eine falsche Nonne, die tat, als wenn sie schlief; sie tät' die Kerzen verlöschen, der Jüngling ertrank so tief."
Meine Mutter sagte zu diesem Lied:
"Das ist eine alte Nonne, die hat gesehen, daß die Prinzessin Julia das mit ihrem Prinzen so macht, wie ihre Eltern es schon gemacht haben, um sich zu finden. Julias Eltern lebten auch diesseits und jenseits des Wassers, und die Mutter zündete für den Vater Kerzen an. Die Nonne hat das mißgünstig betrachtet. Sie wollte verhindern, daß nun auch Julia ihren Romeo bekommt."
Romeo war aber nicht ertrunken. Allerdings hatte er in dem Schloß von Julias Eltern viele Feinde. Drei Jungen und sieben Mädchen zogen ihn aus dem Wasser. Die Mädchen stürzten sich auf ihn und zwangen ihn dazu, Tabletten zu schlucken - synthetische Drogen. Die Jungen nahmen Romeo alte Goldmünzen weg, die er in den Tiefen des Wassers gefunden hatte. Bevor sie mit ihm noch etwas Schlimmeres anstellen konnten, gab es eine Erschütterung im Schloß, ein leichtes Erdbeben. Die zehn jungen Leute bekamen Angst und liefen davon. Romeo machte sich auf die Suche nach Julia. In ihrem Schlafzimmer saß sie und wartete auf ihn. Die beiden gingen in die Küche hinunter. Dort setzte sich Romeo auf Julias Schoß. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und fragte:
"Hat in den letzten vier Stunden unsere Beziehung aufgehört?"
"Nein", antwortete sie, "die hat nie aufgehört."
Sie küßten sich lange.
Romeo fürchtete sich davor, daß Julia ihm untreu geworden war, und er betrachtete sie und überlegte, ob er sie darauf ansprechen konnte. Sie öffnete die Ofenklappe und sagte:
"Komm', sieh mal - hier ist dein Rheingold."
Im Ofen war aber nicht das verlorene alte Gold, sondern Kuchen.
"Mein Kuchen", sagte Romeo, der all das, was er mochte, als sein Eigentum ansah. "Ich brauche das Rheingold gar nicht. Ich tauche nicht mehr in dieses Wasser wegen diesem Rheingold."
Carl kam in die Küche und mahnte:
"Ihr sollt nicht die Herdplatte anlassen."
"Ist schon gut, ist schon gut", sagte Julia schuldbewußt.
Auf erfrischende Weise war ein wenig Alltag in die Beziehung von Romeo und Julia eingekehrt.
Alltag in der Beziehung von Rafa und mir ... das wird wohl ein Traum bleiben.
In einem weiteren Traum waren rote Rosen die Darsteller in einer kitschdurchtränkten Fernsehserie. Die Serie lief jeden Tag. Eine Folge dauerte nur wenige Minuten. Ich wollte keine Folge verpassen, um den Faden nicht zu verlieren. Außer mir sah keiner, den ich kannte, die Serie regelmäßig an. Alle fanden sie zu kitschig. Mir half die Serie dabei, etwas über meine Zukunft zu erfahren. Ich brauchte die kurzen Filme.
Ich glaube, bei den kurzen Filmen handelt es sich um meine Träume von Rafa. Sie sind sehr wichtig für mich; sie zeigen mir meine Gegenwart und meine Zukunft. Ich möchte keinen dieser Träume "verpassen", das heißt, vergessen.
Ich bekam später am Tag den neuen Katalog von einem Independent-Vertrieb zugeschickt. Rote Rosen zieren ihn, golden umrahmt. Das Dekor wirkt auf mich nicht kitschig, sondern nur schön.
Ende November fiel Schnee. Rikka und ich gingen freitags ins "Trauma". Wir erfuhren, daß Geschäftsführer Gerald und DJ Joël gefeuert worden sind, wahrscheinlich wegen Drogenhandels. Das "Trauma" war viel leerer als sonst. Es kam aber harte Musik, und so lohnte es sich dennoch für uns. Das "Trauma" muß um sein Bestehen fürchten.
Die Kälte schneidet wie Messer. Feiner Schnee fliegt über die Straßen und füllt die Ritzen zwischen den Pflastersteinen.
Am Samstagabend waren wir zuerst im "Raveyard" und hatten dort eine schöne Tanznacht. Cyber legte zusammen mit anderen DJ's vier verschiedene Sorten von Wave und EBM auf. Der einzige Schatten war die Anwesenheit des Sockenschuß. Seit Langem schon habe ich den mir widerwärtigen Anblick nicht mehr ertragen müssen.
Gegen drei Uhr kamen wir ins "Elizium". Xentrix spielte vom Besten, was der Industrial- und Avantgarde-Bereich zu bieten hat. Mal rhythmisch, rauh, karg und atonal, mal getragen und neoklassisch, verführt diese Musik zu einer Art Ausdruckstanz, den man auch als Tempeltanz bezeichnen könnte. Es waren dabei "America" von Esplendor Geometrico, "Answers for you" von Blackhouse, "Koslow" von :wumpscut:, "Bloodmoney" von Dive und "Kleppen-Spoeling" von De Fabriek. "Lord of Ages" von Blood Axis entwickelt sich im "Elizium" zum Kultstück. Den Sampler "The Lamp of the invisible Light", auf dem sich "Lord of Ages" befindet, habe ich mir endlich gekauft.
Raoul aus Süddeutschland brachte ein Tape mit, das von ihm selbst stammt. "Noisex" heißt das Projekt. Es gab noch einen weiteren Gast, der ein selbstgemachtes Stück spielen ließ, "Zivilisation - Das Ende meiner Träume". Er kam zu mir - ein kunstvoll geschminkter und aufgeputzter Gothic, den ich schon öfter gesehen habe - und fragte, ob das Stück mir gefallen hätte. Ich bejahte. Der Gothic erzählte, demnächst würde er mit seiner Band auftreten. Anschließend sollte es Tanz geben mit Xentrix als DJ. Wahrscheinlich würde die Veranstaltung an einem Freitag Ende Januar stattfinden.
"Als Konkurrenz zu Kappa", mutmaßte ich. "Nun - es gibt da ja die Provokation und die Reaktion. Schade ... eigentlich sollte die Independent-Szene ja zusammenhalten ..."
"Na ... wir provozieren ja nicht", meinte der Gothic. "Wir reagieren."
"Das ist richtig."
Kappa hatte den beiden laufenden Veranstaltungen im "Raveyard" und im "Elizium" Gäste entzogen, indem er in der "Halle" ebenfalls eine Tanznacht gab.
Der Gothic behauptete, ich würde ihn kennen.
"Wie heißt du denn?" fragte ich ihn.
"Revco."
"Und woher kenne ich dich?"
"Durch Rafa und durch Dolf ... und durch einen, dessen Name dich melancholisch machen würde, wenn ich ihn ausspräche ... Jochen ..."
"Der Sockenschuß!" rief ich. "Dem sein Name macht mich nicht melancholisch! Wenn, dann macht mich der Name 'Rafa' melancholisch! Ich habe damals mit Rafa ..."
"Ich weiß! Ich war dabei!"
Revco hat im März im "Elizium" beobachtet, wie der Sockenschuß um Rafa und mich herumsprang und schrie, als Rafa und ich uns umarmten. Revco hat sich damals sehr darüber aufgeregt, daß der ursprünglich geplante Termin für Rafas Auftritt in der "Halle" verlegt werden sollte.
"Ich war mit Rafa lange befreundet", erzählte Revco. "Aber der ist in der letzten Zeit immer arroganter geworden."
"Seit wann ist das ungefähr, daß der immer arroganter wird?"
"Seit zwei Monaten vielleicht."
Revco meint, daß es keiner schaffen kann, Rafa zu durchschauen.
"Ich glaube, ich kann das schon - mehr, als ihm lieb ist", sagte ich. "Ich muß ihn durchschauen; ich habe keine Wahl."
"Weil du noch geil auf ihn bist?"
"So will ich das nicht nennen", berichtigte ich. "Mit Geilheit hat das nichts zu tun."
"Hör' mal ... die Leute fragen mich, ob ich beruflich mit Psychologie zu tun hätte ... hab' ich aber nicht ...", prahlte Revco.
"Ich habe auch nichts damit zu tun", sagte ich.
Ich erzählte, daß ich Rafa Fragen stelle und daß ihn das stört.
"Was war die intimste Frage, die du ihm gestellt hast?" fragte Revco voller Lust aufs Wetteifern.
"Eine der intimsten war wohl die, ob er jeden Tag einen Kampf mit seinen Gefühlen ausficht", antwortete ich.
"Die isses nicht!" freute sich Revco. "Ich hab' ihm eine Frage gestellt, mit der hab' ich alles erfahren!"
"So - und du willst mit einer Frage mehr erfahren haben als ich mit hundertfünfzig?"
"Du hast ihm die Frage nicht gestellt", tat Revco geheimnisvoll, "die eine ... ich sag' dir nicht, was er geantwortet hat ..."
"Was ich herausfinden will, finde ich auch von selbst heraus."
"Hast du ihn mal nach seinem Vater gefragt?" gab Revco nach.
"Das weiß ich längst", sagte ich. "Das hat er mir von sich aus erzählt, in allen Einzelheiten."
"Ja, aber nicht, was vorher war ... mit dem Familienleben ..."
"Daß da vorher schon was nicht in Ordnung war, weiß ich auch - sonst wär' der doch nicht so!"
Revco meinte, ich solle bloß nicht bei ihm versuchen, was ich mit Rafa mache.
"Ich bin nicht zu durchschauen", war er sicher. "An mir haben sich schon einige Leute die Zähne ausgebissen."
"Mit dir will ich das gar nicht machen", beruhigte ich ihn. "Ich will das nur bei Rafa. Er ist mein Objekt. Er ist mein Ziel."
"Ah, ja ..."
Revco übte einen bedeutungsschweren Blick.
"Die Beliebtheit von Rafa ist wohl eher zweifelhaft?" forschte ich.
"Rafa ist ein arrogantes A...loch", sagte Revco.
Ich schüttelte lächelnd den Kopf.
Revco machte mir ein Angebot:
"Sprich' mit ihm ... frag' ihn nach seinem Familienleben ... dann komm' zu mir, und ich erzähl' dir vielleicht was."
"Ich kann nicht mit ihm sprechen, weil mich sonst seine Freundin zusammenschlägt."
"Die Tessa?"
"Kürzlich hat sie mich hier fast die Treppe 'runtergeschmissen. Die ist zu allem fähig."
"Nein, nein, die nicht."
"Doch, doch."
"Du - die ist jünger als ich", gab Revco zu bedenken.
"Ja, und?" sagte ich nur.
"Die ist jünger als ich", wiederholte Revco.
"Ja, und?"
"Das ist nicht die", verteidigte Revco die Sängerin. "Das geht von Rafa aus."
"Ich weiß über diese Frau bescheid."
"Du irrst dich in ihr hundertprozentig."
"Oh, nein", erwiderte ich bestimmt. "Ich liege hundertprozentig richtig. Ich habe die beobachtet."
Revco sah mich mit einem durchdringend-verschleierten Blick an, langte nach meinem Oberkörper und sagte:
"Ich gehe. Wir sehen uns bald!"
Ich habe den Eindruck, daß er versucht, Rafa nachzuahmen.
Rafa zieht Haß und Verehrung auf sich. Viele empfinden ihm gegenüber beides gleichzeitig.
In Revcos Verhalten sehe ich tatsächlich die Arroganz, die er Rafa vorwirft. Revco macht sich ein Vergnügen daraus, zu prahlen und Menschen zu ärgern, indem er sie auf angebliche Geheimnisse neugierig macht, die er dann nicht preisgibt.
Daß Rafa immer arroganter wird, glaube ich nicht, doch daß er sich absondert, glaube ich schon. Er beteiligt sich an Kappas feindseligem Verhalten und setzt sich dadurch selbst in einen Käfig. Rafa sucht in der Gefangenschaft nach Sicherheit.
Ich frage mich, wo solch ein Weg endet. Ich frage mich, wohin die Furcht vor Nähe und Zuwendung Rafa noch treibt. Gegenwärtig ist er im "Block"; mit ihm ist "nichts anzufangen".
Zu Konzerten geht Rafa anscheinend gar nicht mehr. Ich glaube, daß er allgemein Veranstaltungen meidet, es sei denn, er tritt selbst auf, als DJ oder Musiker. Laut Ivo soll Rafa früher "überall" gewesen sein.
Der Auftritt von Deine Lakaien in HI. war eine beeindruckende Darbietung, bei der auch mittelalterliche Instrumente verwendet wurden. Ich fuhr mit Sator und U.W. nach HI.
"Du kannst dich freuen, daß du uns hast", sagte U.W. auf der Rückfahrt zu mir. "Na - wir können uns auch freuen, daß wir dich haben."
Bei U.W. vorm Haus ist eine Baustelle. Sator lud für mich einen U-förmigen Kalksandstein in den Kofferraum, einen Schalungsstein. Er läßt sich gut als Beistelltisch verwenden.
Wir tranken noch einen Morgenkaffee bei U.W. U.W. wollte mich wieder einmal dazu überreden, Jeans anzuziehen.
"Diese Beine sind viel zu schade, um sie mit einer Hose zu verhüllen", erklärte ich.
"Die Frau hat gesprochen", meinte Sator.
Mit Sator fuhr ich nach BO. ins "Fall" zum Konzert von Death in June.
Der Interregio hält in SHG. nicht; dafür ist die Stadt zu klein. Ich sah SHG. auf der Hinfahrt kurz vor Sonnenuntergang, und auf der Rückfahrt sah ich es kurz nach Sonnenaufgang. Das schneebedeckte Land lag in hellblauem Dunst. Die Sonne schimmerte rötlich.
Vor dem Konzert waren wir noch mit Ted und seiner Nachbarin Blanca essen. Es gibt in dem Haus, in dem Ted wohnt, einen Griechen; zu dem geht er immer.
Die Musik von Death in June ist karg, dunkel und kulthaft. In dem Stück "Total War", das Boyd Rice vortrug, wird nur die Trommel geschlagen und gesprochen. Am schönsten fand ich das Stück "He's disabled". "Er ist behindert" ...
Philipp traf ich kurz. Und ich verlor meinen Handschuh und fand ihn später wieder; jemand hatte ihn an der Kasse abgegeben.
Ted, Sator, Blanca und ich gingen später noch im "Werk" tanzen. Dort war ein Mädchen, das wie eine Zweitausgabe von Rafas Freundin aussah. Auch dieses fremde Mädchen war eher klein und um die Hüften recht breit. Es trug Klimperohrringe und einen Nasenstecker, und die künstlich roten Haare hingen strähnig und krisselig gekreppt herunter. Das Mädchen trug auch Lack und Schuhe mit Pfennigabsätzen und tanzte zu jedem Lied fast gleich. Der Typ Frau ist also nichts Einzigartiges.
Laut Carl sagen die Leute, mit Rafa und seiner Freundin wäre es "ziemlich eng". Rafa ist geübt darin, den Menschen etwas vorzuspielen. Er weiß, welche Gesten nötig sind, um die Leute glauben zu machen, seine Beziehung mit der Sängerin sei innig. Diese Gesten wird er gezielt einsetzen. Für mich hat Rafa eine solche "Vorstellung" auch schon gegeben.
Ich vermute, daß Rafa nicht zuletzt darauf eifersüchtig ist, daß ich Menschen habe, mit denen ich mich austauschen kann und bei denen ich Anregungen und Halt finde. Rafa hat Schwierigkeiten damit, sich den Menschen freundschaftlich zuzuwenden. Wahrscheinlich hat er deshalb auch niemanden, dem er vertrauensvoll sein Herz ausschütten kann.
Ich rede mit vielen Menschen über Rafa, und das stärkt mich. Mit wem aber sollte Rafa über mich reden können?
In den letzten Novembertagen hatte ich folgenden Traum:
Rafa schrie um Hilfe, als er nicht mehr fliehen konnte. In einem Zimmer waren Menschen, die griffen ihn einfach. Ich sah aufmerksam zu. Rafa schrie ziemlich laut. Ich hätte damit rechnen können, daß er sich nicht stumm einfangen ließ. Es überraschte mich aber doch. Ich nahm mir die Tastatur und gab in den Computer ein, was er schrie:
"Nein! Nein! Hilfe! Hilfe! Hilfe!"
In einem anderen Traum wurden Leute aufgehängt. Dabei wurde die Technik des Hängens erklärt.
Hoffentlich hängt sich Rafa nie auf. Hoffentlich ist er nicht imstande, sich etwas anzutun.
Telgart meldete sich und fragte nach dem Beginn von Constris Einweihungsparty. Außerdem wollte er wissen, ob Rafa auch zu der Party käme. Ich erklärte, daß das undenkbar sei wegen Rafas Furcht vor mir. Telgart hatte die Idee, Rafa unter einem Vorwand aus der "Halle" wegzulocken.
"Das schafft man nicht", sagte ich bestimmt. "Der hat den gleichen IQ wie wir und ist ebenso redegewandt wie ich und unglaublich empfindlich, mißtrauisch und gerissen. Der läßt sich nichts vormachen. Außerdem hat der eine Freundin, die nicht davor zurückschrecken würde, mich zu schlagen und zu treten. Da hat sich Rafa wirklich die Schlimmste ausgesucht. Das paßt zu ihm: er treibt es immer bis zum Äußersten."
"Ihr laßt ja Filme ablaufen!" staunte Telgart.
"Ich warte auf den Zeitpunkt, an dem er ihr ausdrucksloses Plastikgesicht nicht mehr ertragen kann", fuhr ich fort. "Ich warte auf den Augenblick, in dem sie ihm zum Hals heraushängt. In dem er sie einfach nicht mehr erträgt. In dem sie ihm zuwider wird. In dem sie ihn ankotzt."
"Ihr laßt ja Filme ablaufen."
"In der 'Halle' kann er sich nicht mehr frei bewegen, solange er mit ihr zusammen ist. Das hat mich an einen Film erinnert, den wir früher im Biounterricht gesehen haben. Da gab es zwei Käfige, und in jedem saß ein junger Schimpanse. Außer dem Schimpansen war nur noch eine Schimpansenattrappe im Käfig. In dem einen Käfig war die Attrappe aus Plüsch, in dem anderen aus Draht. In dem Käfig mit der Plüschattrappe sprang der Schimpanse überall herum und war fröhlich und neugierig, und er ist auch immer wieder auf die Plüschattrappe gesprungen. In dem Käfig mit der Drahtattrappe saß der Schimpanse zusammengekauert in einer Ecke und rührte sich nicht.
Nun stell' dir die 'Halle' als großen Käfig vor. Im ersten Versuchsaufbau hat Rafa mich, seine Freundin aber nicht. Was tut er? Er rennt überall herum und ist ausgelassen und kommt immer wieder zu mir, wie der Affe das mit der Plüschattrappe macht. Im zweiten Versuchsaufbau hat Rafa seine Freundin, mich aber nicht, weil sie ihm den Zugang zu mir unmöglich macht. Was tut er? Er verkriecht sich in eine Ecke und rührt sich nicht ..."
Telgart lachte. Ich erzählte weiter:
"Er ist ja auch so mies zu mir, wie er nur kann. Vielleicht heiratet er seine Freundin und hat Kinder mit ihr, um mich zu verletzen. Er hätte so gern kein Gewissen und hat doch eins. Er versucht, mich zu beleidigen, aber ich bin dann nicht beleidigt."
Ich erzählte, daß ich im September 1989 den Mann gezeichnet habe, nach dem ich mich sehnte. Damals - es war kurz vor der Eröffnung des "Elizium" - konnte ich Rafa noch gar nicht kennen.
"Man sieht einen Mann auf einem Bett liegen und schlafen, und er ist dem Rafa gar nicht unähnlich. Er hat keine Haare. Die Männchen, die Rafa malt, haben auch keine Haare und sind schlicht gekleidet - wie dieser auch."
Der Mann liegt etwa so, wie ich Rafa Jahre später in SHG. auf seinem Bett habe vor mir liegen sehen, auch vor einem Fenster.
Auf Constris Party sagte Telgart zu mir:
"Nach unserem Telefongespräch mußte ich erstmal meinen Kopf ordnen."
Er muß jetzt immer lachen, wenn er mich sieht.
"Du bist noch absurder geworden", findet er.
Ich wollte von Telgart wissen, wie er es früher fertiggebracht hat, mit so vielen fremden Frauen zu schlafen, ohne sich zu ekeln.
"Ach, weißt du - da hatt' ich so eine trübe, dunkle Brille auf ...", erzählte Telgart.
"So eine dunkle Brille, wie ein gewisser Rafa auch immer aufhat?" fragte ich.
"Etwa ..."
Constri hat einen sehr eindringlichen Blick, wenn sie Derek ansieht, und eine sehr eindringliche Stimme, wenn sie mit ihm spricht. Ich kenne dieses Verhalten von mir; ich gehe mit Rafa auch so um.
Steini erzählte von Rafas MCD; er hat sie sich in der "Halle" gekauft. In einem Lied singt auch die Sängerin. Doch ihre Stimme ist so weit zurückgeregelt, daß man sie kaum hört. Dies war im Mai auf der Bühne nicht anders. Ich frage mich, weshalb Rafa ihre Stimme nahezu unhörbar macht. Es könnte sein, daß die Sängerin das will. Es könnte sein, daß Rafa zurückgeregelte Stimmen besser gefallen. Es könnte auch sein, daß Rafa die Stimme seiner Sängerin gar nicht so gerne hört.
Im "Fall" habe ich eine Doppel-CD von Esplendor Geometrico gekauft, "1980 - 1982". Wenn ich diese außergewöhnliche Musik höre, habe ich das Gefühl, daß sie eigentlich auch zu Rafa passen müßte. Er ist ebenfalls außergewöhnlich, vielschichtig, hintersinnig und anspruchsvoll. Vielleicht ist Rafa einfach noch nicht reif für solche Musik. Vielleicht erschließt sie sich ihm erst in späteren Jahren.
In einem Traum sah ich ein Kunstwerk aus Stahl, scharf wie Messerklingen. Es konnte nur entstehen durch die Arbeit zweier Menschen - Rafa und mir.
In einem weiteren Traum kam ich in ein verwunschenes Haus. Ich wurde davor gewarnt, es zu betreten, da ich mich verlaufen könne. Ich hatte aber keine Furcht.
Das Haus kann Rafa gewesen sein.
In einem weiteren Traum saß ich mit zwei Mädchen an einem Tisch. Uns gegenüber nahm ein jüngeres Mädchen Platz, das viel und schnell redete. Es begann, mich und die beiden anderen zu beleidigen und zu belästigen. Es fand Unterstützung in zwei jungen Leuten, die sich daran machten, uns die Taschen auszuleeren. Ich stand auf und setzte mich zur Wehr.
"Warum wehrt ihr euch nicht?" fragte ich meine Nachbarinnen. "Warum laßt ihr euch das gefallen?"
"Es geht nicht; wir können uns nicht wehren", gaben sie zur Antwort.
Ich verließ den Raum und kam in einen Saal, in dem hatten junge Leute andere junge Leute an Pfähle gebunden und an Pfosten gehängt, und keines der Opfer wehrte sich.
Während der Flucht verwischte ich meine Spur, indem ich um viele Ecken ging. Ich gelangte ins Freie. Auf einer Heuwiese kamen mir meine beiden gequälten Nachbarinnen hinterher.
"Endlich haben sie uns gehen lassen", erzählten sie. "Wir kommen aus der Hölle."
"Warum habt ihr euch nicht gewehrt?" fragte ich. "Warum seid ihr nicht geflohen wie ich?"
"Wir konnten nicht!" riefen sie. "Es ging nicht!"
Am folgenden Tag mußten wir drei wieder in jenen Raum gehen, weil wir dort einen Kurs besuchten. Das bösartige junge Mädchen war auch wieder da. Es legte sich vor mir auf den Tisch und lächelte.
"Wage es bloß noch einmal, mich anzugreifen", warnte ich.
Da setzte sich das Mädchen hin und war still.
Wie in "Der Rätselraum" ging es um Folter und Demütigung und um die Bereitschaft, sich zu verteidigen. Auch hier war ich die Einzige aus der Reihe der Opfer, die stark genug war, sich zu wehren. Auch hier konnte ich allein es vermeiden, gefoltert zu werden. Auch hier konnte ich allein mich retten.
In dem kommenden Nacht träumte ich Folgendes:
Ein Mann ging auf Reisen. Unterwegs traf er jemanden, der mahnte ihn, aus keinem Becher zu trinken, der ihm dargeboten würde. Der Mann achtete der Warnung nicht. Als ihm jemand einen Weinkelch reichte, trank er daraus. Der Wein war aber vergiftet, und der Mann fiel wie tot zur Erde. Seine Frau wartete daheim auf ihn. Eines Tages sagte der Postbote zu ihr:
"Ich liebe dich."
"So", dachte die Frau, "die Männer haben meinen Gatten aus dem Weg geschafft, um meiner habhaft zu werden!"
Wenn dieser Gatte aber auch nie einer Verführung widerstehen kann ...
Etwas, das in Rafa einen Wandel hervorrufen könnte, ist sein ausgeprägter Ehrgeiz. Wenn er sieht, was ich kann und was andere können - ehrlich sein, treu sein und Verantwortung tragen -, wird das in ihm vielleicht eines Tages das Verlangen wecken, zu zeigen, daß er dies auch vermag.
Carl sagte beim Essen:
"Ich frage mich, wann der Rafa hier sitzt."
"Wenn er hier jemals sitzt", äußerte ich Zweifel.
Ich glaube, Rafa würde mehrere Schachteln Zigaretten verbrauchen, wenn er hier wäre.
Carl erzählte eine Geschichte, die sich im vergangenen Januar zugetragen hat. Er und Constri, Derek und Lenni bewarfen sich im "Elizium" mit Zitronenscheiben. Rafa kam vorbei, und da warf Carl auch ihm eine Zitronenscheibe an den Kopf, mit dem Gedanken:
"Er darf auch zu uns gehören."
"Warst du das?" fragte Rafa.
"Äh ... ja", gestand Carl.
"Wollen wir 'rausgehen?" fragte Rafa kampflustig.
Carl glaubt, daß die Sache zwischen Rafa und mir nicht der Vergangenheit angehört, sondern eher in die Zukunft weist und daß noch einiges geschehen wird.
Philipp schickte mir drei Kassetten mit Industrialmusik, auch Haus Arafna und die frühen Severed Heads, von denen ich vor allem die Raritäten "Spurned" und "Petrol" beeindruckend finde. Er schrieb, wenn mir die Kassetten nicht gefielen, wolle er sich einbetonieren lassen. Philipp erzählte auch von einer Band namens Psychotische Träume. Sie sollen "vor Staubsaugereinsatz nicht zurückschrecken". Die möchte ich mal live sehen.
Philipp wünscht sich von mir nicht nur eine schriftliche Antwort, er will auch etwas zum Hören. Angerufen (und besucht werden) möchte auch Damon (und Henning möchte das wohl auch). Damon wollte, daß ich zu seiner Geburtstagsfeier komme, die am 04.12. stattfindet. Da muß ich aber schon zu Steini, der ebenfalls seinen Geburtstag feiert. Steini bekommt von mir ein besonders hübsches Kassettenregal aus Acryl. Schließlich hat er mir ein Videoregal aus Beton gebaut und ein Zimmer in meiner Wohnung mit Gehwegplatten gepflastert.
Constri ist krank, und Derek pflegt sie. Er macht ihr Essen, wärmt ihr Bett und verzichtet um ihretwillen sogar auf Steinis Party. Es ist rührend, die beiden zu beobachten.
In einem Traum kam ich nach SHG. Dort hatte ich eine geschäftliche Verabredung mit Rafas Mutter. Sie bat mich ins Wohnzimmer, und ich setzte mich auf ein schwarzes Sofa. Ich saß da recht lange und beobachtete die Familie. Außer der Mutter war Rafa selbst anwesend und auch sein Bruder und ein älterer Verwandter. Sie sprachen alle nicht sehr viel miteinander.
"Jetzt bin ich also hier, in SHG.", dachte ich.
Und ich dachte an die Tragödie, die sich in dem Wohnzimmer abgespielt hat. In Wahrheit habe ich weder dieses Zimmer noch Rafas Familie je gesehen.
Die Mutter stellte fest, daß sie mir noch nicht alles geben konnte, was sie mir versprochen hatte.
"Aber ich den nächsten Tagen habe ich Zeit; da habe ich um zwölf Uhr dreißig Feierabend", sagte sie.
"Um zwölf Uhr dreißig?" fragte Rafa nach.
"Weißt du das nicht?" wunderte sich die Mutter.
"Nein, ich war in dem Laden noch nie drinne", sagte Rafa.
"Er weiß nicht, wo und wie seine Mutter arbeitet", dachte ich.
Der ältere Verwandte, die Mutter, Rafa und ich gingen hinaus in den Winternachmittag. Rafa hatte sich nur notdürftig zurechtgemacht und Kleider übereinandergezogen, die nicht richtig zusammenpaßten.
"Wann soll ich denn nun wiederkommen?" fragte ich die Mutter.
"Am 02. Januar", antwortete sie.
Auch sie legte Termine spät - wie Rafa.
"Am Montag, dem 02. Januar", sagte Rafa und schaute mich an. "Dann backen wir."
"Ja - weil du dann wieder absagen wirst und behaupten, du könntest nicht", vermutete ich. "Übrigens ist der 02.01. kein Montag. Das ist ein Sonntag."
"Rafa ... red' nicht immer soviel", ermahnte ihn die Mutter.
"Wir sehen uns!" rief Rafa mir zu und entfernte sich mit erhobenen Armen.
"Man wird sehen ... man wird sehen ... we will see ...", sagte ich zweifelnd.
"Zieh' dir dann aber was Anständiges an!" rief der ältere Verwandte Rafa nach.
Und mit einem Kopfschütteln sagte er zu mir:
"Wie er heute wieder 'rumläuft, also ..."
"Ach - es ist mir so egal, was er anhat, und wenn es die letzten Fetzen sind - es ist mir so egal", erwiderte ich lächelnd.
Ich entdeckte ganz in unserer Nähe ein Restaurant, einen nüchternen Betonwürfel. Es hieß "Dracula".
Die EBM-Nacht fand dieses Mal in "Halle 1" statt, die sich hinter der eigentlichen "Halle" befindet. Ich hatte im Juni einen Traum, in dem eine weitere Halle des ehemaligen Fabrikgeländes für Veranstaltungen genutzt wurde. Diese ähnelte der "Halle 1".
Ich tanzte zu "Mindphaser" von Frontline Assembly. Der Boden in "Halle 1" ist zum Tanzen viel besser geeignet als der in der "Halle"; es ist ein federnder Bretterboden, auf dem man nicht so leicht ausrutschen kann.
Nach dem Tanzen stellte ich mich an den Rand der Tanzfläche.
"Wenn Rafa auf mich zukommt, hat sich etwas geändert", habe ich kürzlich in einem Traum gedacht.
Und da kam er, geschminkt, mit Schleifchen im Pferdeschwanz, in dem schwarzen Mantel mit den Silberknöpfen. Er nickte mir zu, reichte mir die Hand und sagte:
"Na?"
und hielt mich auch schon in den Armen. Ich schmiegte mich an ihn. Dann suchte ich mir seine Hand wieder und schloß meine Hände darum. Er drückte meine Hand spielerisch.
"Was gibt's Neues?" fragte er.
"Was soll's Neues geben ...", sagte ich unsicher. "Was gibt's bei dir Neues?"
"Ich bin sexsüchtiger als je", antwortet Rafa lächelnd.
"Und, hast du dir schon eine ausgesucht?"
"Nein. Es ist mir egal, was für eine Frau das ist. Ich brauch' nur eine Frau ... ich brauch' einfach nur eine Frau ..."
"Bei mir gibt's nichts Neues", versichere ich.
"Nichts Neues?" fragt Rafa nach.
"Nein. Nichts Neues."
Ich lehne meine Wange an seine und blicke strahlend hinauf in das weiße Scheinwerferlicht.
"Ich brauche eine Frau", erzählt Rafa, "nein, ich brauche irgendeine Frau ..."
"Wolltest du nicht eine Frau haben, die dich fordert?"
"Mich fordert jede Frau."
"Ach, das ist Unsinn", sage ich lächelnd.
Ich ziehe seine Hand an meinen Körper. Rafa macht seltsame Gesichter.
"Jede Frau fordert mich", beharrt er.
"Das ist Unsinn", wiederhole ich. "Kann es sein, daß ich dich überfordere?"
"Ich kann mich mit dir nie normal unterhalten!" beschwert sich Rafa leidenschaftlich und atemlos. "Für dich ist es ein I-Tüpfelchen, für mich - eine ganze Welt."
Ich schließe meine Arme um ihn.
"Für mich ist es auch sehr viel", sage ich ernst. "Ich will mich mit dir normal unterhalten."
"Wollen reicht eben nicht aus", meint Rafa.
"Ich habe nur nie die Zeit dazu", erkläre ich. "Du läufst immer wieder davon."
Ich streiche über seine Wange. Er zuckt erst zurück, läßt es dann aber geschehen. Ich streichle und umarme ihn fortwährend.
"Es kann echt sein ... daß ich eines Tages noch was ganz anderes mit dir mache", droht Rafa und deutet einen Würgegriff an.
"Was?" frage ich und lehne mich an ihn.
"Hetty", sagt er mit einem gequälten Ausdruck im Gesicht, "können wir nachher weitersprechen? Mir wird das echt schon wieder zuviel. Ich muß erstmal weg."
Seine Stimme hat den überkippenden Klang und den flehenden Ausdruck, den sie schon im Mai hatte, als er mich um eine Liebeserklärung bat.
"Lauf' doch nicht gleich wieder davon", sage ich ruhig und lege meine Hände auf seine Schultern.
"Hetty!" ruft er und will sich mir entwinden. "Bitte ... bitte, laß' uns später weitersprechen ... ich komm' auch bestimmt nochmal, ich versprech's dir ... ist das o.k.?"
"Nein", antworte ich und fasse ihn am Kragen.
"Dann überhaupt nicht!" ruft Rafa außer sich. "Was ist, ja oder nein?"
"Ja - wenn du es nicht anders kannst."
Mein Gesicht legt sich an seins. Ich streichle ihn weiter und halte seine Hand, und ich fühle, daß er schwach zu werden droht.
"Hetty!" ruft er. "Bitte, bitte ... ich komme nachher nochmal ... ich komme nachher nochmal, echt ..."
"Unser Rafa", sagt Kappa durchs Mikrophon.
Rafa reißt sich los und folgt dem Ruf.
Nach kurzer Zeit kommt er noch einmal an mir vorbei. Er bleibt stehen und sagt:
"Na?"
Ich greife nach ihm, und er legt seine Arme um mich und fragt:
"Was 's' los?"
"Was immer los ist", erwidere ich lächelnd.
"Du, ich muß jetzt nochmal weg, Licht machen", entschuldigt sich Rafa und löst sich von mir.
"Licht machen?"
"Licht. Au Feu."
Er muß für die Beleuchtung sorgen, während die Gewinner des "Electrocity IV"-Samplers bekanntgegeben werden. Sator hat auch gewonnen.
Es kommen einige schnelle Stücke, darunter "Don't tame your soul" von Leæther Strip. Dieses Stück ist düster und leidenschaftlich. Leæther Strip alias Claus Larsen gehört zu denen, die es verstehen, der harten elektronischen Musik ein mystisch-sakrales Gewand anzuziehen.
Lillien spricht mich an:
"Hast du wieder schön getanzt! Ich seh' dir immer so gerne zu!"
Wir unterhalten uns angeregt. Rafa hat mit Lillien heute auch schon gesprochen.
Die Sängerin, mit der Rafa anscheinend Schluß gemacht hat, steht auf der Bühne, wo sich das DJ-Pult befindet. Sie hält mehrere Meter Abstand zu Rafa, der fast die ganze Zeit hindurch auflegt. Ich kann mir vorstellen, daß die Sängerin darauf lauert, daß Rafa wieder Verwendung für sie hat.
Ein Kumpan von U.W. gesellt sich zu uns. Der Kumpan ist betrunken und hat Appetit auf mich. Es kostet mich einige Mühe, ihn von mir wegzuhalten.
Rafa spricht öfters durchs Mikrophon, wie Kappa das auch tut. Die Musik, die er spielt, wird zunehmend leichter und seichter. U.W. geht zu Rafa hinauf und beschwert sich. Er redet längere Zeit mit ihm. Als U.W. wieder zu Sator, Ortfried und mir herunterkommt, ist aus ihm nicht viel mehr herauszubringen als:
"Hetty ... wenn du auf den stehst, tust du mir echt leid ... das ist ein Pisser ... ein Pisser ist das ... vergiß' ihn ..."
Sator und ich fragen U.W., was Rafa denn zu ihm gesagt hat. Darüber schweigt U.W. jedoch eisern. Es muß schlimm gewesen sein ...
Das Einzige, was wir erfahren, ist, daß Rafa U.W. angeboten hat, ihm eine CD von W.E zu verkaufen. Wir stehen nah an der Bühne, und ich kann Rafa gut sehen - er mich ebenfalls; deswegen hat er sich wohl seine Spiegelbrille aufgesetzt. Ich lache Rafa ins Gesicht. Da fängt er an, hinter dem DJ-Pult zu singen und zu tanzen. Er schneidet eigenartige Grimassen. Und er legt gleich sein Stück gegen Videospiele auf und singt es mit.
U.W. hat sich an Rafa die Finger verbrannt. Rafa findet schnell heraus, was für eine Art Mensch er vor sich hat. Es ist ihm ein Vergnügen, die Menschen bei ihren Schwächen zu packen und sich über sie lustig zu machen.
Der linkische U.W. bietet sich als Opfer geradezu an - nicht zuletzt, weil er zu den Jungen gehört, mit denen ich spreche und die Rafa wahrscheinlich allesamt zum Teufel wünscht.
Sator stellt sich viel geschickter an als U.W. Er geht nicht zu Rafa hinauf, als er mit ihm sprechen möchte, sondern er läßt ihn zu sich herunterkommen. Und er handelt nicht mit Rafa, sondern er fragt ihn nur kurz nach dem Titel eines Liedes. So bekommt Sator auch eine vernünftige Antwort.
Die Sängerin geht gelegentlich an uns vorbei; sie muß kochen vor Wut.
Rafa wagt sich erst wieder nach unten, als wir ans Heimfahren denken. Ich tanze zu "Eine neue Zeit", da sehe ich, daß Rafa in meiner Nähe mit Dolf an einem Tisch steht. Nach dem Stück gehe ich in seine Richtung, und unsere Blicke treffen sich. Rafa beginnt zu tanzen, nach einem eher düsteren Stück im Stil der Krupps. Ich tanze mit ihm. Wir bewegen uns aufeinander zu und wieder voneinander weg. Wie zufällig habe ich einmal seinen Mantel in der Hand, ein anderes Mal streift mein Rock über seine Finger. Wir stoßen beinahe zusammen. Schließlich tanzt Rafa nur noch auf der Stelle, in sicherer Entfernung von mir.
Ich bin versucht, zu glauben, daß Rafa nur mit seinen Reizen spielt - und mit mir spielt. Da Rafa mich ebenfalls anziehend findet, könnte es sein, daß er ein Gleiches von mir denkt.
Rafa geht nach dem Tanzen sofort wieder nach oben. Ich bin mir sicher darin, daß er zwar - wie versprochen - noch einmal zu mir kommen wollte, jedoch nicht zu mehr imstande war, als mit mir zu tanzen.
Ich halte es für angebracht, heimzufahren. Und wir fahren.
Ich bin nicht zum DJ-Pult hinaufgestiegen, weil ich Rafa eine Zuflucht lassen möchte. Er soll sich nie von mir bedrängt fühlen.
Als wir nach Hause fuhren, sagte Ortfried etwas, das er in letzter Zeit andauernd sagt:
"Also, die da von Rafa, die möchte ich echt mal ..."
"War die dir nicht zu ausgeleiert?" fragte ich.
"Ach", meinte Ortfried, "die kannen ja auch innen Mund nehmen. Der Mund leiert nicht so aus."
Ich glaube, die Behauptung von Rafa, es sei ihm egal, mit welcher Frau er schlafe, drückt nur seinen Wunsch aus, daß dies so sein möge.
In einem Traum, den ich nach der Nacht in "Halle 1" hatte, spielte ich mit jemandem eine Art Schach. Ich weiß nur nicht, wer das war ...
Abends war ich auf Steinis Geburtstagsfeier. Talis erzählte von den rauhen Sitten im wilden Rußland. Er hat einen Kollegen, der daher stammt. Heudiebe sollen den einarmigen Nachtwächter einer Kolchose niedergemacht und zu einem Staudamm verarbeitet haben. Der Nachtwächter hatte sich daran gestört, daß die Diebe das Heu dreist mit großen Wagen wegfuhren, anstatt - wie vorher - mit Plastiktüten anzurücken. Das Grauen kommt in Rußland nicht mehr von oben. Es kommt aus dem Volk.
Lena deutete an, daß der Sockenschuß sie noch immer nicht in Ruhe läßt. Ich war in meinem Innern entsetzt über Lenas Schicksalsergebenheit und Wehrlosigkeit. Lenni meinte, daß er Lena schon helfen werde.
"Dafür muß ich abwaschen", erzählte Lena.
"Ich würde mit Freuden abwaschen und die Wohnung sauberhalten, wenn mir ein Mann einen solchen Liebesdienst erweisen würde", meinte ich.
Lena wollte wissen, wie das denn für mich sei mit Rafa - über den würden die Leute ja auch viel Schlechtes reden.
"Ich muß mit ihm meine Erfahrungen machen, so, wie du deine mit dem Sockenschuß machen wolltest", gab ich zur Antwort. "Ich möchte meine Maßstäbe selbst setzen. Ich möchte mich nach meinem Gefühl richten. Und das zieht mich immer wieder zu Rafa. Und was immer die Zukunft bringen mag - ich hatte von ihm schon so viel, daß ich auf der Stelle tot umfallen könnte, und mein Leben hätte sich doch schon gelohnt."
"Der hat aber doch ... auch einen Schaden."
"Der hat einen Schaden, und was für einen! Aber ich habe auch einen Schaden, und wir können uns gegenseitig helfen."
Lena und Lenni sind am Vortag ebenfalls in "Halle 1" gewesen. Unglücklicherweise kamen sie, als Rafa gerade am DJ-Pult stand. Die Musik gefiel ihnen so wenig, daß sie bald wieder gingen.
"Ich hasse den, der da oben steht!" sagte jemand zu Lena über Rafa.
"Ich hasse ihn auch", pflichtete Lena ihm bei. "Aber was willst du machen?"
Steini hat sich die MCD von Rafa gekauft. Ich lieh sie mir aus. Ich will die MCD aufnehmen und das Cover farbig kopieren. Dieses Cover erinnert mich an die Cover von Kinderplatten, weil es so bunt ist. Es wirkt auf mich in der Gestaltung verunglückt. Die grellrote Schrift beißt sich mit Rosa und erschlägt ein braungetöntes Foto der Band. Die Kostümierung der Bandmitglieder sieht aus wie irgendwo abgeschaut. Die Sängerin trägt eine Corsage, die ihre Oberweite kaum zu fassen vermag. Die Herren tragen steife Anzüge.
Ich kann mir kaum vorstellen, daß Rafa das, was er hier darstellt, wirklich ernst meint.
Gegen ein Uhr fuhren Lena, Lenni und ich zum "Elizium". Im Auto erzählte ich Lena und Lenni einen Traum, den ich vor fünf Jahren vom Sockenschuß hatte.
In diesem Traum stieg der Sockenschuß dauernd durch ein Schiebefenster in meine Küche. Angewidert rammte ich ihm ein Lineal in den Hals, und er stöhnte:
"Mach' weiter, das tut gut!"
Die Erfahrung, daß der Sockenschuß auch die allerärgste Brutalität von mir als Zuneigung umdeutete, entsetzte mich so, daß ich aufwachte.
Im "Elizium" spielte ich Schach mit Rafa, und Menschen waren unsere Figuren. Wir schoben sie hin und her und versuchten, sie uns gegenseitig abzujagen. Wer hat das Spiel gewonnen ...?
Rafa war ins "Elizium" gekommen, obwohl Xentrix auflegte. Er stand mit Dolf an der Bar. Die Sängerin sah ich in der Nähe der Treppe.
Ich ging davon aus, daß Rafa mit der Sängerin wieder zusammen war und nahm mir vor, mich ruhig und untätig zu verhalten und so zu tun, als hätte ich Rafa gar nicht gesehen. Es fühlt sich merkwürdig an, wenn man sich gelassen gibt und dabei innerlich aufgewühlt ist. Man glaubt, man müßte zerspringen.
Einige Verehrer kamen an. Damon wollte mich küssen. Ich sagte zu ihm:
"Gestern habe ich den Mann gestreichelt, den ich liebe. Da kann ich dich nicht küssen."
"Du bist prüde", fand Damon.
"Ich bin nicht prüde", entgegnete ich. "Ich bin treu. Ich darf doch treu sein - oder?"
Nach einiger Zeit sah ich Rafa Arm in Arm mit Damon auf mich zukommen. Rafa sagte kurz:
"Hi!"
und gab mir die Hand. Er ließ seine Schultern kräftig an meinen entlangstreifen. Dann ging Rafa mit Damon weiter, und er schien es eilig zu haben.
"Immerhin eine Begrüßung", dachte ich.
Revco kam wieder auf mich zu und erzählte, daß die Kassetten mit seiner Musik inzwischen zu haben seien.
"Schön", meinte ich. "Übrigens ... ich habe dem Rafa die Frage schon lange gestellt, die Frage, wie das früher in seiner Familie war. Er meinte, da sei eitel Friede gewesen. Mehr konnte ich ihn nicht fragen; was hätte ich auch fragen sollen? Du kannst mir also nun ruhig dein kleines Geheimnis erzählen."
Revco zögerte aber und wollte nicht mit der Sprache heraus. Da fragte ich ihn schließlich:
"Willst du nun mit mir handeln, oder willst du mir helfen?"
"Eigentlich eher helfen."
"Dann erzähl's mir."
"Du kennst Rafa?"
"Ja."
"Dann erzähl' mir erstmal, was du über Rafa weißt."
"Ah, dann ist es also doch ein Handel."
Revco verneinte, warf mir dann aber vor, aus der Angelegenheit einen Handel zu machen.
"Ich kenne viele von Rafas ehemaligen Freundinnen", erzählte er.
"Das ist gut möglich, wenn du aus der Ecke kommst", sagte ich.
Revco prahlte:
"Aber keine einzige von ihnen weiß, was ich weiß."
"Das ist Angeberei."
"Ich bin ein Angeber."
"Stimmt."
Revco fragte, ob der Handel denn gelte.
"Wenn ich dir alles erzähle, was ich über Rafa weiß, würde das Tage dauern", erklärte ich. "Außerdem will ich dir nicht meine sämtlichen Geheimnisse anvertrauen."
"Das mußt du auch nicht; mir reicht das in Stichworten."
"Ich möchte ein Geheimnis wissen; dann müßte dir auch ein Geheimnis genügen."
"Warte ab ... fang' erstmal an ... vielleicht sag' ich nur die ganze Zeit: 'Das kenn' ich schon, und das kenn' ich schon, und das kenn' ich schon ...'"
Ich mochte mich auf den Handel nicht unbedacht einlassen und nahm mir vor, eine neue Strategie anzuwenden: Ich ließ Revco gehen und kümmerte mich nicht weiter um ihn.
Rafa kam bald danach wieder zu mir. Wir standen uns am Rand der Tanzfläche gegenüber. Ich betrachtete ihn prüfend und fragte:
"Gehe ich jetzt das Risiko ein, von deiner Freundin zusammengeschlagen zu werden?"
"Das ist gleich dreimal falsch", antwortet Rafa sehr aufgebracht. "Erstens habe ich zur Zeit keine Freundin. Zweitens gehst du kein Risiko ein, denn meine Freundinnen haben nie etwas gegen meine Freun-dee."
"Ich bin nicht irgendein Freund von dir", unterbreche ich ihn.
"Was bist du denn?"
"Meine Empfindungen für dich sind jenseits von Freundschaft, weit jenseits."
"Mädchen ...", beginnt Rafa atemschöpfend und setzt mir wieder einmal auseinander, was er davon hält, wie ich mit ihm Gespräche führe.
Nach Rafas Ansicht versucht er mit allen Mitteln, sich mir im Gespräch zu nähern. Ich bin diejenige, die dagegen arbeitet. Rafa hält mich für unfähig, mit ihm zu reden, ohne ihn zu verhören.
"Heute unterhalten wir uns normal", verspreche ich. "Ist das in Ordnung?"
"Du fängst das Gespräch ja schon an mit so einer Frage!"
"Ist gut, dann stelle ich dir jetzt keine Fragen mehr. Ich sehe dich an. Das sage ich. Dadurch erspare ich dir schon einmal die Frage: 'Was 's' los?'"
"Hey", seufzt Rafa, "warum kannst du nicht mal ... einfach sagen ... 'Hallo, Rafa! Na, wie geht's denn?'"
"Hallo, Rafa! Na, wie geht's denn?" grüße ich ihn freundlich.
"Oh, Mensch ... heute nicht ... nächstes Mal ...", stöhnt Rafa.
Ich verteidige mich:
"Ich wollte ja auf dich zukommen und sagen: 'Na, Rafa, wie geht's?' Ich wollte ja zu dir gehen. Aber es konnte ja sein, daß du schon wieder eine Freundin hast, und ich wollte mich nicht von der treten lassen."
"Können wir das nicht einfach mal ganz normal machen?" schlägt Rafa vor. "Du rufst mich an, und wir sagen, wir treffen uns dann und da in H., und wir gehen irgendwohin?"
"Doch, das können wir machen. Wir können auch jetzt gleich irgendwohin gehen."
"Ruf' mich lieber an, und wir verabreden uns, o.k.?"
"Das ist ein Wort."
Ich kann Rafa kaum berühren und nur flüchtig den Arm um ihn legen. Er wirkt sehr empfindlich. Ich sehe es kommen, daß er bald wieder wegläuft.
"Also, dann unterhalten wir uns jetzt normal", beschließe ich.
"Ja", sagt Rafa mit Zynismus in der Stimme. "Programmieren wir das mal ein."
"Du bist echt geil ... programmieren wir das mal ein ..."
Sein Bild von mir als seelenlose Maschine scheint unverändert.
"Darf ich nicht fragen, wie's dir geht? Also, wie geht's?" erkundige ich mich und fühle, daß aus meiner Stimme nicht weniger Zynismus klingt.
"Ganz gut", antwortet Rafa und holt tief Luft. "Ich habe jetzt auch einmal eine ganz große Frage an dich."
"Ja?"
"Bist du so, wie du dich gibst, oder nicht?"
"Das kommt darauf an", erwidere ich zögernd. "Ich gebe mich nicht immer gleich. Mal gebe ich mich so, wie ich bin, und mal nicht."
Rafa läßt mich nicht ausreden.
"Was ist; bist du nun so, wie du dich gibst, oder nicht?" fragt er laut dazwischen.
"Wie ich mich gebe, hängt sehr davon ab, wie du dich gibst", erkläre ich.
"Das ist keine Antwort", findet Rafa. "Was ist jetzt, ja - oder - nein?"
"Wenn ich ..."
"Was ist, ja - oder - nein?" fordert Rafa. "Ja - oder - nein? Ich will einfach nur wissen, ja - oder - nein?"
"Das kann ..."
"Ja - oder - nein? Ja - oder - nein?"
"Man kann darauf nicht mit 'ja' oder 'nein' antworten."
"Doch, man kann nur mit 'ja' oder 'nein' antworten. Also - ja - oder - nein?"
"Wenn ich mit 'ja' oder 'nein' antworte, kann es sein, daß du gleich wieder wegläufst."
"Wenn du nicht antwortest, laufe ich sowieso weg", droht Rafa.
"Also gut", seufze ich. "Ja, ich bin so, wie ich mich gebe."
"Gut", meint Rafa zufrieden. "Ich laufe aber trotzdem weg."
"Das ist es, was ich an ihm so liebe", denke ich entzückt. "Das kann keiner so wie er."
Rafa läuft davon, und ich tanze weiter. Der betrunkene Damon torkelt auf der Tanzfläche herum. Auf seiner Geburtstagsfeier hat er einiges zu sich genommen. Als er gegen mich stößt, weise ich ihn zurecht:
"He, so geht das aber nicht. Wenn du tanzen willst, tanze mit mir, nicht gegen mich."
Alsbald sehe ich Rafa mit den Verehrern - Damon, Henning, Versicherungs-Rono und einem Unbekannten - vor dem langen Tisch an der Seitenwand stehen. Rafa führt mit den Jungs ein angeregtes Gespräch. Er packt Damon bei der Schulter und sagt zu mir:
"Er ist mein Mann!"
"Der ist echt gut drauf, der Rafa", findet Damon, und Henning gibt ihm recht.
Die beiden sind von Rafa sichtlich beeindruckt. Ich muß lachen.
"Rafa hat die Jungen erstaunlich schnell eingewickelt", denke ich. "Allerdings ist das bei solchen Hohlköpfen auch kein Kunststück."
Rafa hat einen taktisch wichtigen Posten besetzt. Über die Verehrer kann er mich erreichen. Außerdem kann er die Verehrer steuern und nach seinen Bedürfnissen nutzen.
Ich höre die Jungen rufen:
"Astrein!"
"Astrein, echt! Alles astrein!" ruft auch Rafa.
"Alles astrein!" rufe ich mit ihm. "Alles bestens! - Nein. Nicht alles bestens."
"Warum nicht?" fragt Rafa und wendet sich mir zu.
Ich antworte stockend:
"Weil ... ich dich ... nicht immer wieder verlieren möchte."
"Du zerstörst ja immer alles zwischen uns."
"Ich zerstöre nichts", widerspreche ich. "Ich versuche, etwas aufzubauen."
"Du zerstörst alles", beharrt Rafa. "Das ist der Fakt."
"Was hast du schon getan?" erinnere ich ihn an seine Sünden. "Was hast du schon getan?"
Nach kurzem Schweigen sagt Rafa achselzuckend:
"Bitte, du mußt sehen, was du von deinem Verhalten hast."
"Ich hatte schon etwas davon", gebe ich zurück. "Ich konnte dich streicheln. Ich bin so froh, daß ich das geschafft habe. Das war's wert, echt."
Rafa schaut mich seltsam an.
"Warum bist du eigentlich mal wieder im 'Elizium'?" frage ich ihn trotz meines Vorsatzes, ihn nichts mehr zu fragen. "Du warst doch so lange nicht da ..."
"Wegen dir", gibt er zu.
Ich nicke.
Er betrachtet mich und sagt:
"Also, manchmal denke ich echt, du bist nur irgendsoein Computer."
"Tötet Tante Hetty, hm?" wandle ich Rafas Liedtext ab, in dem er dazu auffordert, ein gewissen "Onkel Mario" zu töten, eine Nintendo-Figur.
"Nein", entgegnet er lächelnd. "Tötet die Berechnung."
Er redet weiter mit den Jungen. Ich beobachte sein leutseliges Gehabe und die Verehrung, die meine Verehrer ihm zollen. Sie scheinen Rafa für einen Star zu halten, der sich dazu herabläßt, mit ihnen sein Bier zu trinken. Dieses Mal trinkt Rafa wirklich Bier, ohne Cola.
Ich fühle mich getrieben, nach Rafas Arm zu greifen. Er wehrt das ab.
"Ou, darf ich das nicht?" frage ich und weiche zurück.
"Nein", antwortet er. "Wenn du so 'rüberkommst, nicht."
"Vielleicht bekomme ich von dir eines Tages noch die Erlaubnis, dich zu essen."
Rafa lächelt und schüttelt den Kopf. Ich betrachte eben seine Hand, als er sagt:
"Mensch, es gibt noch so viele tausend andere hier."
"Für mich gibt es aber nur dich", erwidere ich fest und blicke ihm in die Augen. "Aus-schließ-lich."
"Du rufst mich an, und wir treffen uns, o.k.?"
Er muß lächeln wie jemand, der gerührt ist. Er faßt nach meiner Schulter und rüttelt daran. Ich mache mit ihm das Gleiche.
Rafa tanzt in dieser Nacht fast nie. Doch das Stück von dem verliebten Computer, das nun kommt, scheint er sich gewünscht zu haben:
"Die Module spiel'n verrückt,
Mensch, ich bin total verliebt ..."
Rafa beschäftigt wohl die Vorstellung, wie es sein könnte, wenn ein Computer Gefühle entwickelt. Wahrscheinlich erlebt er mich als Maschine, als Olympia-Puppe, in der er nach einem Menschenherz sucht.
Seltsamerweise ist er den wildfremden Frauen gegenüber, die er reihenweise im Vorbeigehen ins Bett zieht, nicht so mißtrauisch - die Sängerin eingerechnet. Vielleicht ist ihm bei diesen Frauen gar nicht wichtig, daß sie etwas für ihn empfinden - im Gegenteil, es wäre eher störend.
Als Rafa auf die Tanzfläche geht, stelle ich mich neben Henning, weil ich Rafa von dort aus besonders gut zusehen kann.
"Bet-ty!" ruft Henning. "Weißt du was? Du fährst ganz schön auf Rafa ab."
"Ich würde es nicht so nennen", entgegne ich. "Ich habe andere Wörter dafür."
"Welche denn?"
"Tja."
"'Tja' ist keine Antwort."
"Tja ..."
"In meinem Horoskopbuch steht, Wassermänner sind kompliziert", erzählt Henning.
"Steinböcke sind auch kompliziert", weiß ich aus Erfahrung.
"Wieso, wer ist denn Steinbock?" fragt Henning.
"Tja."
"Wenn du mit 'Tja' antwortest, kann das eigentlich nur mein Freund Rafa sein", vermutet Henning.
"Seit wann ist der dein Freund?" möchte ich wissen.
"Der war gleich mein Freund", behauptet Henning. "Der Rafa ist voll in Ordnung."
Ich mache Gesten des Zweifelns.
Es kommt ein wildes, rituell anmutendes Stück, in dem man nur Holz auf Stahl schlagen hört, "Nagasaki pour la vie" von den Tambours du Bronx. Nach dem Tanzen gehe ich zu Xentrix hinauf, um nach dem Namen dieses Stücks zu fragen. Als ich mich umdrehe, finde ich Rafa mit den Verehrern auf einer Bank sitzen, dicht beim DJ-Pult. Rafa bemerkt mich nicht oder will mich nicht bemerken. Ich gehe wieder hinunter. Nach einiger Zeit gehe ich die Treppe noch einmal hinauf. Mitten auf der schmalen Galerie, die zum DJ-Pult führt, stehen Rafa und Henning und blicken mir entgegen, als hätten sie auf mich gewartet.
"Hetty!" rufen die beiden im Chor. "Wir haben eine Frage an dich!"
"Wer nun zuerst?" fragen Rafa und ich gleichzeitig.
Henning läßt Rafa den Vortritt.
"Also", beginnt der, "eine Frage. Du kennst doch die neuen Folgen von Raumschiff Enterprise?"
"Die alten ja, die habe ich sogar - aber ..."
"Die neuen auch", behauptet Rafa. "Die kennst du auch. Also. Wie heißen die mit den Segelohren und den spitzen Eckzähnen, die keine Haare haben? Wie heißen die? Los, sag'. Du weißt es."
"Ich habe von den neuen Folgen fast nichts gesehen ..."
"Du weißt aber, wie die heißen. Also, los - wie heißen sie? Sag' jetzt bloß nicht 'Jochen'."
"Oh, jetzt fang' nicht schon wieder von dem an!" stöhne ich; an den Sockenschuß möchte ich wahrhaftig nicht erinnert werden.
"Romulaner oder Amerikaner?" fragt Rafa.
"Romulaner oder Amerikaner?" fällt Henning ein.
"Eher Romulaner", versuche ich zu raten.
"Nein, so können sie nicht heißen", macht Rafa seine Frage unsinnig.
"Ich wußte es; so können sie nicht heißen", pflichtet Henning ihm bei. "Wir unterhalten uns nämlich schon die ganze Zeit darüber ..."
"Wie, die haben Segelohren, spitze Eckzähne und ...", versuche ich, mir ein Bild von diesen Gestalten zu machen.
"... keine Haare", ergänzt Rafa.
"Keine Haare", wiederhole ich.
"Erinnere dich", sagt Rafa beschwörend. "Gehe in dein Inneres ... in deinem Innern weißt du es ... auch wenn du nicht weißt, daß du es weißt ..."
"Ja, gehe in dein Inneres", kommt es auch von Henning.
Rafa hat ein Modellkreuzverhör inszeniert. Ohne zu erfassen, worum es geht, läßt Henning sich in die Vorführung einbauen. Er spielt die Rolle, die Rafa ihm zugewiesen hat, mit Eifer.
"Du kommst drauf", ist Henning gewiß. "Denke nach. Denke genau nach."
"Wir müssen es unbedingt herausfinden", sagt Rafa. "Es hängt ..."
"... die Welt davon ab", vermute ich.
"Nein. Der Abend hängt davon ab."
"Ach, der ganze Abend ist sonst hin."
"Ja."
"Also ... ich habe von den neuen Folgen vielleicht eine halbe Folge gesehen", setze ich Rafa und Henning ins Bild. "Und da kamen die Segelohrigen, Spitzzahnigen, Haarlosen nicht vor."
"Das ist schon mal sprachlich falsch!" tadelt Rafa. "Es heißt nicht 'spitzzahnig'; es heißt höchstens 'spitzzähnig'."
"Danke, Herr Deutschlehrer", sage ich und lache.
Gewöhnlich bin ich es, die das Deutsch anderer Leute berichtigt. Rafa ist der erste, der mich endlich auch mal berichtigt. Er verwendet dabei sogar denselben besserwisserischen Tonfall wie ich.
"He!" ruft Rafa streng. "Nicht 'rumlachen! Nachdenken! 'rumlachen nützt uns nichts!"
"Du bist so geil drauf", sage ich hingerissen und schmiege mich an ihn.
"Denke nach ... gehe in die Tiefe ...", befiehlt Rafa.
"Gehe ganz nach unten", befiehlt Henning.
Ich schaue zur Decke und lache immer noch.
"Ja, ganz nach unten", sagt Rafa.
"Ich soll mein Unterbewußtsein fragen?"
"Ich frage jetzt dein Unterbewußtsein", erklärt Rafa. "Hettys Unterbewußtsein! Das ist eine Frage an dich! Wie heißen die mit den spitzen Zähnen, den Segelohren und ohne Haare?"
"Du fragst mein Unterbewußtsein ... du bist echt so geil ..."
"Dein Unterbewußtsein soll es sagen", bestätigt Rafa.
"Eine Anordnung von Captain Picard", teilt Henning mir mit.
"Ich erreiche mein Unterbewußtsein normalerweise in Träumen", sage ich rasch, ehe die beiden mich wieder unterbrechen.
"Leg' dich hin und ruh' dich aus", empfiehlt Henning und deutet auf die gepolsterte Bank beim DJ-Pult.
Rafa greift mein Kinn und ruft, als wolle er mich wecken:
"Het-ty!"
Schließlich stellt er fest:
"Du weißt es nicht. Du weißt es nicht ... warum sagst du nicht gleich: 'Ich weiß es nicht.'?"
"Ich weiß nicht, ob mein Unterbewußtsein es nicht weiß."
"Du weißt es nicht. Wenn du gleich gesagt hättest, daß du es nicht weißt, hättest du die letzten ... zwanzig Minuten gespart."
"Ja, aber mir wäre dann auch deine Vorstellung entgangen. Die Vorstellung eben, die war es wert."
"Die Vorstellung?"
"Die Vorstellung, die du eben gegeben hast."
Rafa sagt mir leise ins Ohr:
"Hast du deine Tage?"
"Jetzt fängt das wieder an!" rufe ich begeistert.
Ich fasse nach seiner Hand. Rafa zuckt unwillig.
"Aha! Das darf ich also nicht!" folgere ich.
"Nein", bestätigt Rafa. "Nicht unter diesen Umständen."
Ich lasse seine Hand los und sage:
"In Ordnung. Wird respektiert."
"Sonst schlägt dich meine Freundin zusammen", warnt er.
"Ach, du hast also doch eine Freundin."
"Nein - aber das ist ein gutes Argument!"
Ich sehe die Sängerin an uns vorbeigehen und erschauere.
"Warum muß bloß immer so eine Sch...-Beziehung zwischen uns sein?" klagt Rafa.
"Wir müssen uns halt aufeinander zukämpfen", erwidere ich ruhig und ernst. "Du bist schwierig, und ich bin schwierig ..."
"Ich bin nicht schwierig!"
"Oh, doch."
"Du machst mich schwierig!"
"Du bist schwierig."
"Wir haben vor '81 zusammen aus dem Malkasten gemalt ... wir haben zusammen im Sandkasten gespielt ... wer sollte mich kennen, wenn ... nicht ... du?"
"... sollte dich besser kennen als ich?" sage ich mit Rafa im Chor.
Rafa wendet sich einem Jungen zu, der bei Xentrix sitzt und fragt ihn nach den Außerirdischen mit den Segelohren und den spitzen Zähnen, die keine Haare haben. Henning erklärt mir, daß ich ein Android sein müsse. Ihm sei kein Mensch begegnet, der imstande sei, so viel auf einmal zu reden wie ich.
"Ich denke immer, wann sucht sie nach einer Steckdose", sagt er.
Als Rafa zur Treppe geht, greife ich hinter mich und taste nach seiner Schulter. Ich wühle in dem Stoff seines Mantels herum und bekomme schließlich den Steg am Rücken zu fassen. Ich halte Rafa jedoch nicht auf.
Als ich Xentrix frage, ob er "Bloodmoney" von Dive auflegt, steht auch Rafa beim DJ-Pult; er tut jedoch so, als sei ich nicht vorhanden und geht rasch fort.
Ich tanze eine Zeitlang, dann finde ich Rafa vor der Treppe; er unterhält sich mit Versicherungs-Rono.
"Na? Willst du ihm auch eine Versicherung verkaufen?" frage ich Versicherungs-Rono.
Rafa geht ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf und setzt sich neben ein Mädchen auf die Stufen. Er spricht mit dem Mädchen, das er schon länger zu kennen scheint. Es sieht nach einer unverfänglichen Plauderei aus. Dennoch will ich zu dem, was er tut, ein Gegengewicht schaffen. Ich rede mit Versicherungs-Rono und gebe mich dabei so kokett wie möglich. Mir ist bewußt, daß ich es schlimmer treibe als Rafa. Doch in der Vergangenheit hat er es weit ärger getrieben als ich, und das wird auch in Zukunft wieder so sein. Ich möchte Rafa ein bißchen quälen, damit er begreift, was er mir schon angetan hat.
Versicherungs-Rono arbeitet in einem zweifelhaften Maklerbetrieb. Letztens hat er versucht, mich anzuwerben. Nun klagt er mir sein Leid, und ich höre ergriffen zu. Keiner möchte ihm glauben, daß sein Vorgesetzter erst neunzehn Jahre alt ist - wie er selber.
"Ich glaube dir", tröste ich.
"Da oben sitzt er!" ruft Versicherungs-Rono und zeigt auf die Galerie. "Da oben sitzt mein Vorgesetzter!"
"Ah, ja."
"Und keiner will glauben, daß der erst neunzehn ist! Du glaubst mir auch nicht, oder?"
"Doch, doch!"
"Er sitzt da oben! Da oben!"
"Oh, wirklich!"
"Du glaubst mir auch nicht, oder?"
"Doch!" beruhige ich ihn und mache keinerlei Anstalten, hochzugehen und nachzuprüfen, ob der Vorgesetzte wirklich neunzehn Jahre alt ist. "Oh, doch!"
"Ach, du glaubst mir nicht ... er sitzt wirklich da!"
"Ich glaube dir!"
"Ach, ich glaube, du nimmst mich gar nicht ernst ..."
"Ohh ... oh, Jammer ..."
"Du nimmst mich nicht ernst, nicht?"
"Nein ... ach, wie furchtbar das ist ..."
Versicherungs-Rono hat mich schon die ganze Nacht lang geneckt. Wann immer er an mir vorbeiging, tippte er mich an die Schulter, als wollte er mich sprechen. Er faßte mich jedoch absichtlich so an, daß ich mich nach der falschen Seite drehte. Jetzt bin ich an der Reihe und necke ihn.
Revco spricht kurz mit Rafa. Ich frage mich, weshalb er sich mit Rafa unterhält, wenn er so eine niedrige Meinung von ihm hat.
Im "Elizium" ist auch Luisa. Sie hat den Freund nicht mehr, mit dem ich sie im Sommer gesehen habe. Ich frage mich, ob sie Rafa wieder nehmen würde, wenn er zu ihr zurückkäme. Vielleicht hat sie inzwischen festgestellt, daß er ihre Bedürfnisse nicht erfüllen kann.
Es kommt ein Stück, zu dem tanzt Rafa, und die Sängerin tanzt ebenfalls. Sie tanzen nebeneinander und halten einen größeren Abstand ein. Wenn die Sängerin tanzt, kann man das schon an dem wilden Klimpern ihrer Armreifen hören.
Daß ein Mensch sich mehr von mir unterscheidet als die Sängerin, ist für mich unvorstellbar. Ich will keinen Mann anfassen, der diese Frau angefaßt hat. Ich will keinem Mann in die Augen sehen, der dieser Frau in die Augen gesehen hat. Ich will mit keinem Mann sprechen, der mit dieser Frau gesprochen hat. Ich bin sicher, daß Rafa das weiß. Ich glaube, er will herausfinden, ob meine Zuneigung zu ihm stärker ist als mein Abscheu vor der Sängerin. Meine Zuneigung muß wirklich stärker sein als mein Abscheu, denn ich tue nichts lieber, als Rafa anzufassen, ihm in die Augen zu sehen und mit ihm zu sprechen.
Ich stehe an der Treppe und warte. Rafa kommt auf mich zu. Ich blicke ihm schweigend entgegen. Die Schatten des Zweifels und der Selbstanschuldigungen scheinen wieder über ihn zu fallen.
"Er denkt wohl, daß bald die Zeit kommt, wann ich ihn nicht mehr sehen mag", vermute ich. "Er denkt wohl, daß ich seiner bald überdrüssig werde."
"Was is', hm? Was sagst du?" fragt Rafa.
Ich lehne meine Wange an seine.
"Was sagst du?" wird Rafa ungeduldig.
"Muß man immer sprechen?" frage ich zurück.
"Wie geht's dir?" möchte er wissen.
"Teils, teils."
"Wie findst du's hier heute?"
"Teils, teils."
"Kommst du am nächsten Freitag in die 'Halle' zur NDW-Nacht?" erkundigt sich Rafa.
"Wir wollten uns doch vorher treffen", erinnere ich ihn.
"Was ist, bist du am Freitag in der 'Halle'?" drängt Rafa.
"Das sage ich dir, wenn wir uns treffen."
Rafa schickt sich an, die Treppe hinaufzusteigen. Ich fasse nach seinem Arm und frage:
"Na? Willst du nicht, daß ich mit nach oben komme?"
"Doch, sicher kannst du nach oben gehen."
Rafa macht eine einladende Geste. Ich tue einen Schritt und stelle fest, daß er mir nicht folgt.
"Und?" fragt Rafa hinterhältig. "Du willst nach oben gehen - warum gehst du nicht?"
Die Sängerin nähert sich; sie ist in Eile und verabschiedet sich mit starrer Miene von Rafa:
"Also, ich sag' dann nur noch tschüß, ne?"
"He, ich komme noch mit", bremst er sie sogleich.
Beide gehen die Treppe hinauf.
"Das ist es wohl gewesen", denke ich. "Wenn er mit ihr fährt, wird er auch mit ihr schlafen."
Ich gehe auch nach oben und setze mich zu den Verehrern an einen Tisch.
"Endlich setzt sie sich mal", sagt Henning.
Ich sitze im Durchgang. Ich beobachte Rafa fast ununterbrochen, da ich weiß, mit welcher Geschwindigkeit er an mir vorbeihuschen kann. Er soll noch etwas von mir zu hören bekommen, bevor er geht.
Rafa redet wieder mit dem Mädchen, mit dem er auf der Treppe gesessen hat. Die Sängerin ruft ihm zu:
"Also, tschüß dann!"
"He! Ich komme doch mit!" ruft Rafa und läuft hinter ihr her.
Als er an mir vorbeimuß, beuge ich mich zurück und sage von unten nach oben:
"Du schläfst also doch wieder mit ihr, stimmt's?"
"Nein", erwidert Rafa. "Heute nicht."
"Wir werden sehen."
Ich bin mir sicher, daß er vorhat, mit ihr zu schlafen.
Damon liegt betrunken über dem Tisch. Die anderen Verehrer unternehmen den schon einmal gescheiterten Versuch, mich dazu zu bringen, Hosen zu tragen. Als ich gehen will, frage ich Henning und Versicherungs-Rono:
"Wollt ihr noch bleiben?"
"Ja."
"Schade. Dann hat auch bestimmt keiner von euch Lust, mich zum Taxi zu bringen, oder?"
"Nein."
"Das ist aber gar nicht ritterlich."
"Ich kann mir ja nächstes Mal eine Ritterrüstung anziehen", schlägt Henning vor.
"Es geht nicht um irgendwelche Ritterrüstungen", erkläre ich. "Es geht darum, daß man eine Dame nicht allein zum Taxi gehen läßt."
Von solchen Regeln wissen die beiden Jungen nichts. Ich sage achselzuckend:
"Tja ... Persönlichkeitstest - durchgefallen."
Ich fühle mich in meiner Meinung bestärkt, daß diese Jungen menschlich nichts bieten, keine Nähe, keine Verläßlichkeit und keine Anhänglichkeit. Man kann sie lediglich benutzen, wie man Gegenstände benutzt. Sie benutzen ja auch mich - als Gegenstand der Verehrung. Sie haben nichts Besseres verdient, als wie Schachfiguren behandelt zu werden.
Am Morgen nach dem Schachspiel im "Elizium" habe ich geträumt, Rafa würde mir in einem von ihm inszenierten Stück die Hauptrolle geben.
Will er mir in seinem Leben die Hauptrolle geben?
Rafa hatte mich gebeten, ihn anzurufen. Er selbst scheint sich außerstande zu fühlen, mich anzurufen. Er sollte nun sehen, daß ich den telefonischen Kontakt zu ihm aufnehmen kann. Ich machte den Schritt, zu dem er nicht fähig ist. Ich führte ihm vor, daß das Telefonieren mit einem geliebten Menschen nicht den Kopf kosten muß. Am Abend rief ich bei ihm an. Seine Mutter meldete sich, wie ich es erwartet hatte:
"Dawyne?"
"Guten Abend. Ich würde gern Rafa sprechen."
"Ja, Moment ..."
Rafa nahm sich den Apparat.
"Ja?" sagte er.
"Na?"
"Na?"
"Wir wollten uns verabreden", begann ich.
"Ja."
"Also ... Montag?" schlage ich vor.
Rafa weicht aus:
"Am Montag habe ich keine Zeit."
"Dienstag?"
"Ich habe eigentlich die ganze Woche über keine Zeit."
"Bist du mit deiner Freundin wieder zusammen?"
"Nein."
"Es hat mich nur gewundert, daß du die ganze Woche über keine Zeit hast", erkläre ich. "Du hast nämlich auch schon davon gesprochen, daß du entscheidest, wann du Zeit haben willst."
"Ich habe in der Woche keine Zeit", beteuert Rafa. "Ich kann doch nichts dafür, wenn ich da keine Zeit habe."
"Wie ist es denn mit der nächsten Woche?"
"Ich muß mal sehen ..."
"Ja, guck' nach."
"Eigentlich habe ich in der Woche noch nichts vor."
"Dann nehmen wir doch gleich Montag, den 13. Dezember."
"Bist du am Freitag in der 'Halle'?"
"Nein, aber ich bin am Samstag im 'Elizium'."
"Gut, dann sage ich dir dann, ob es was wird."
"Kannst du das denn jetzt noch nicht?" frage ich nach. "Trag' dir das doch gleich ein. Halt' dir das gleich frei."
"Ich gehöre leider nicht zu denjenigen, die immer im Voraus wissen, was kommt."
"Ich auch nicht. Aber ich kann jetzt schon sagen, daß ich am 13. Zeit habe, weil ich mir im Zweifelsfall die Zeit einfach nehme."
"Ich kann noch nicht sagen, ob ich am 13. Zeit habe", wird Rafa ungeduldig. "Es kann immer sein, daß mir noch etwas dazwischenkommt."
"Sicher - es kann immer noch sein, daß dir eine Dame dazwischenkommt. Aber ich meine ... wir hatten eine ähnliche Situation ja schon mal im Februar. Da haben wir uns auch über ein Wochenende hinweg verabredet. Da haben wir gesagt, am Montag in SHG., und das war es."
Rafa und ich verbleiben schließlich so, daß er mir am Samstag im "Elizium" mitteilt, ob er die Verabredung einhalten kann.
"Also, dann sehen wir uns am Samstag", will ich das Gespräch beenden.
"Ja", sagt Rafa zögernd.
"Dann ist ja eigentlich soweit alles klar", sage ich in die entstandene Stille hinein.
"Ja", kommt wieder von Rafa.
Ich schweige, und er schweigt. Ich habe das Gefühl, daß er sich nicht von mir verabschieden kann. Er scheint mir noch etwas sagen zu wollen. Ich möchte mit ihm ein wenig plaudern, in der Hoffnung, daß er damit herausrückt.
"Und ... wie geht's so?" erkundige ich mich.
"Ganz gut."
"Fein."
Unser Gespräch ertrinkt aufs Neue in Schweigen.
"Na, wie ist es für dich, mich einmal wieder am Telefon zu haben?" möchte ich wissen.
"Wie soll es sein?" tut Rafa verständnislos.
Er spricht schnell; er stößt die Worte hervor. Ich versuche, ein Gegengewicht zu bilden und besonders langsam und deutlich zu sprechen.
"Ich meine, das letzte Mal war ja im Mai", erinnere ich ihn. "Deine Stimme war kalt wie ein Kühlschrank; ich werde das nie vergessen. Und daß sie so kalt war, hatte einen Grund. Ich wußte gleich, daß etwas nicht stimmte. Ich meine, ich habe es nicht eigentlich gewußt, aber ich habe es gefühlt. Jetzt ist deine Stimme eher unsicher; das ist schon besser."
Wieder schweigt Rafa. Ich warte eine Weile, dann fordere ich ihn auf:
"Erzähl' mal was."
"Was soll ich erzählen?"
"Irgendwas. Ich weiß so wenig von deinem Leben."
"Von meinem Leben?"
"Von dem, was du so machst. Davon weiß ich fast nichts."
"Ich mache nichts."
"Das stimmt nicht."
"Nein, ich mache wirklich nichts", versichert Rafa.
Nach einer weiteren Pause frage ich:
"Na, was denkst du gerade?"
"Ich denke nichts."
"Aber man denkt doch immer an etwas."
"Ich denke an nichts."
Wieder schweigen wir. Dann sagt Rafa etwas, zu dem er sich wohl sehr hat überwinden müssen:
"Also, ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was das bringen soll, wenn wir uns treffen."
"Oh, ich denke, das bringt sehr viel."
"Ja, was - was soll das denn bringen?"
"Es würde uns beide nach vorne bringen."
"Wieso?"
"Weil wir uns endlich privat sehen würden", erläutere ich. "Das wäre ein großer Schritt für uns. Wir könnten ganz anders miteinander reden als sonst."
"Und, was bringt uns das?"
"Nähe. Einfach Nähe. Eine besondere Form der Nähe."
"Nähe ist nicht gut."
"Oh, doch, das ist gut."
"Wir haben uns doch schon privat getroffen."
"Ja, aber das ist lange her."
"Echt - echt - was soll das für ein Ziel haben, wenn wir uns treffen?" fragt Rafa unruhig.
"Es muß doch gar nicht unbedingt ein Ziel haben", entgegne ich.
"Es hat aber ein Ziel", meint Rafa. "Es hat mit Bestimmtheit eins."
"Doch, stimmt, es hat ein Ziel. Du hast recht, es hat ein Ziel. Ich meine aber, daß es bei so einer Verabredung nicht nur darum geht, daß sie zu einem fernen - oder weniger fernen Ziel führt. Ich denke, so eine Verabredung hat auch eine Bedeutung für sich. Man kann das nicht nur auf ein Ziel bezogen sehen wie bei der Investition in eine Firma."
"Echt, mit jedem Wort, das du sagst, finde ich mehr, daß das absolut nichts bringt. Das ist echt - unter meinem Niveau."
"Unter deinem Niveau?"
"Das ist echt - echt un-ter meinem Niveau."
"Ach, du findest, das ist unter deinem Niveau, dich mit jemandem zu treffen und in ein Café zu gehen", versuche ich Rafas Gedanken nachzuzeichnen.
"Nein, das ist nicht unter meinem Niveau."
"Nicht."
"Ich finde, es kommt darauf an, mit wem man sich trifft", erklärt Rafa.
"Und es ist unter deinem Niveau, dich mit mir zu treffen", folgere ich.
"Es ist unter meinem Niveau", bestätigt Rafa, "denn wenn ich mich mit dir treffe, kann das nur wieder in einem Kreuzverhör enden."
"Du möchtest also schon mit mir sprechen; dir paßt nur die Ebene nicht, auf der die Gespräche landen. Dazu muß ich sagen, daß nicht nur ich daran beteiligt bin, wie unsere Gespräche ablaufen. Du bist ebenso daran beteiligt."
"Falsch", widerspricht Rafa. "Du bist allein daran beteiligt."
"Das geht gar nicht."
"Du bist allein daran beteiligt. Du bist das, nur du. Denn mit keinem meiner Freunde rede ich so wie mit dir."
"Ich bin überzeugt, daß wir es schaffen können, relativ unbefangen miteinander zu sprechen. Ich will, daß du nicht das Gefühl haben mußt, ah, jetzt zerreißt die mich wieder. Daß ich dich zerlege, bleibt unbenommen. Doch ich halte es für durchaus möglich, daß wir miteinander sprechen, ohne auf der Verhörsebene zu landen."
"Was erhoffst du dir davon?" fragt Rafa mißtrauisch. "Was sind deine Ziele?"
"Ich möchte dir nahe sein. Ich möchte dich erreichen, dich als Mensch."
"Und da bist du dir sicher."
"Ja."
"Und du bist dir auch sicher, daß du dir das nicht nur einbildest."
"Ja. Ich meine, ich war mir nicht immer so sicher. Gefühlt habe ich es von Anfang an. Aber ich wollte es wohl erst nicht wahrhaben. - Ich bin mir sicher, daß wir es schaffen können, miteinander zu sprechen, ohne daß das in ein Verhör abrutscht."
"Das wird bei dir immer ein Verhör", glaubt Rafa.
"An einem Gespräch sind immer zwei beteiligt", halte ich dagegen. "Ich kann mit meinem Teddybär nicht solche Gespräche führen wie mit dir. Ich kann das nur, wenn der Betreffende mitmacht. Das ist das, was ich dir erklären will."
"Echt, unsere Gespräche sind für mich der absolute Horror. Ich will da bloß nicht dran denken. Und - wenn ich 'Gespräch' sage, sage ich das auch nur, weil du das sagst. Für mich sind das keine Gespräche; ich nenne das 'Kreuzverhöre'."
"Warum kommst du dann immer wieder an und sprichst mit mir?"
"Weil ich immer noch hoffe, mit dir auch mal normal reden zu können. Aber es geht einfach nie. Das artet immer aus in ein Kreuzverhör. Und ich kann mich gegen deine Fragen nicht wehren."
"Ich möchte es dir möglich machen, mit mir zu sprechen ohne das Gefühl, daß das gleich zum Verhör wird. Mach' es nur einfach mal", ermutige ich Rafa. "Ich kann dich verstehen. Ich kann mir vorstellen, was du denkst. Ich möchte mich in dich hineinversetzen. Ich will nicht über dich drübertrampeln, nein, weiß Gott nicht. Ich möchte nicht, daß du von mir denkst, daß ich dich nur zerreißen will. Du bist nicht einfach ein Objekt für mich, das ich erforschen möchte.
Ich denke, wir können es vermeiden, das Gespräch auf die Ebene zu bringen, die dir nicht gefällt. Es gibt so viel, über das ich mit dir sprechen will, ohne daß das gleich ein Verhör wird. Du mußt es nur einfach mal machen.
Ich finde so viel in dir, sehr viel - man kann sagen, ein Universum."
Rafa schweigt daraufhin.
"Was treibt dich nur immer wieder zu mir?" frage ich, und als Rafa immer noch schweigt, setze ich hinzu:
"Ich würde das gern mal wissen."
"Nichts", antwortet er. "Mich treibt nichts zu dir."
"Aber warum kommst du dann immer wieder an?"
"Mädchen ... ich gehe halt zu den Leuten, die ich kenne, und dich kenne ich eben ..."
"Und ich bedeute dir nicht mehr als die Leute, die du sonst noch so kennst."
"Nein."
"Das sah aber schon ganz anders aus."
"So, wie sah das denn aus?"
"Du hast einmal gesagt, du hättest Angst, daß Schluß ist, wenn ich dich erst kenne."
"Schluß mit was?"
"Das hast du nicht gesagt", rufe ich ihm ins Gedächtnis zurück. "Ich habe dann gesagt, da ist nicht Schluß, weil eben der Wille da ist."
"Schluß mit was?"
"Das hast du ja nicht gesagt. Das war damals, als du dich darüber beschwert hast, daß ich eine Mauer um mich herumbaue. Du hast gemeint, das würde dich noch ins Grab bringen."
"Was du alles über mich erzählst!" regt Rafa sich auf. "Du kennst mich längst besser, als ich mich kenne. Wenn ich über mich etwas wissen will, brauche ich nur bei dir anzurufen, und du sagst es mir."
"Ich bin mir sicher, daß ich eine besondere Bedeutung für dich habe. Du denkst viel an mich."
"Sicher; wenn jemand so extrem 'rüberkommt wie du, muß ich daran denken."
"Ich bin viel in deinen Gedanken; wir würden uns sonst nicht immer so schnell so nahe sein können."
"Was du alles über mich weißt!"
"Ich hätte zu dir nie das Verhältnis entwickeln können, das ich zu dir entwickelt habe, wenn du zu mir nicht auch ein ähnliches, ein immerhin vergleichbares Verhältnis hättest", meine ich. "Das geht sonst nicht; da fehlt sonst die Logik."
"Und woran siehst du das?"
"Das fühlt man. Sowas fühlt man einfach. Ich fühle das in mir."
"So, so, du fühlst das."
"Ich sehe das in deinen Augen."
"Und wo ist der Beweis dafür?"
"Du meintest selber, daß es Dinge gibt, die man nicht mit dem Verstand beweisen kann."
"Du sagst also selber, du kannst es nicht beweisen", ist Rafa enttäuscht.
"Ich kann es fühlen", wiederhole ich. "Außerdem hat es eine besondere Bedeutung für dich, wenn du dich mit mir triffst. Du sagtest ja, es kommt darauf an, mit wem man sich trifft."
Rafa stimmt mir zu; es käme darauf an, mit wem man sich träfe, und deshalb wolle er sich eben nicht mit mir treffen.
Wenn Rafa mir vorwirft, ihn andauernd nur verhören zu wollen, wirkt er sehr aufgebracht. Seine Stimme bekommt den seltsamen, überkippenden Klang, den sie auch am letzten Freitag hatte, als er sich aus meinen Armen wand. Ich scheine Rafa ziemlich aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Er klagt mich an. Ich frage mich, an wessen Stelle er mich anklagt. Ich frage mich, für wessen Sünde ich büßen soll.
Um ein unbefangenes Gespräch führen zu können, muß man seinem Gegenüber Vertrauen schenken. Man muß sich bei ihm sicher fühlen. Wenn man erwartet, angegriffen zu werden, kann man nicht unbefangen sein. Man nimmt eine Abwehrhaltung ein.
"Ich will dir vertrauen", sage ich zu Rafa. "Ich will dir gerne vertrauen. Aber - du weißt, was du getan hast ..."
"Wieso, was hab' ich denn getan?"
"Das weißt du, was du in den vergangenen Monaten getan hast."
"Was denn?" tut Rafa ahnungslos. "Was hab' ich denn getan?"
"Jetzt stell' dich nicht dumm."
"Wieso - ich weiß es echt nicht."
"Wenn eine Frau erleben muß, wie der Mann, den sie liebt, immer wieder mit einer anderen abzieht, dann bleibt das nicht ohne Folgen", sage ich ernst und eindringlich und voll gebremster Wut. "Das hinterläßt Spuren, und die gehen nicht mehr weg. Du hast mich verletzt, immer wieder."
"Das hast du mich auch."
"Ich habe dich auch verletzt ...?"
"Ja."
"Warum bist du dann immer wieder angekommen, um mit mir zu reden?"
"Weil ich das eben nicht so mache, einfach Schluß und tschüß", erklärt Rafa. "Wenn ich Leute kenne, dann kenne ich die, und dann rede ich mit denen, und dich kenne ich und rede auch mit dir."
"Und du kommst immer wieder an und läßt dich von mir verletzen."
"Ja."
"Warum läßt du dich immer wieder verletzen? Warum gibst du mich nicht auf?"
"Ich gebe niemanden auf."
"Du hast also für mich in dem Sinne keine besonderen Gefühle."
"Ich habe für alle Menschen irgendwelche Gefühle."
"Ich habe nicht von irgendwelchen Gefühlen gesprochen, sondern von besonderen Gefühlen."
"Ja, ich habe für dich keinerlei besondere Gefühle."
"Dann dürfte es auch nichts Besonderes für dich sein, dich mit mir zu treffen", baue ich das Gedankengebäude weiter. "Deine Gefühle für mich sind extrem; ob das nun Zuneigung oder Ablehnung ist, sei dahingestellt. - Ich möchte dir vertrauen, wirklich. Ich möchte dir gerne vertrauen. Aber wenn ich immer damit rechnen muß, daß du gleich wieder mit einer anderen abziehst ..."
"Ich liebe Tessa."
"So - warum bist du dann nicht mit ihr zusammen?"
"Zufällig hat sie Schluß gemacht."
"Ach ..."
Ich kann mir vorstellen, daß Rafa in gewisser Weise schon dafür sorgte, daß seine Freundin mit ihm Schluß machte. Er legt Wert darauf, die Fäden in der Hand zu behalten. Ich glaube nicht, daß er die Trennung zugelassen hätte, wenn sie nicht in seinem Sinne gewesen wäre.
"Ich liebe dich nicht", sagt Rafa zu mir, und er scheint seinen Worten nachzulauschen.
"Das habe ich auch schon öfter von dir gehört", entgegne ich seufzend. "Allerdings nehme ich dir das nicht ab. Früher hätte ich dir das vielleicht noch geglaubt. Heute glaube ich's dir nicht mehr. Außerdem ... daß du deine Sängerin liebst, das kannst du mir schon lange nicht mehr erzählen. Das glaube ich dir sowieso nicht."
"Warum glaubst du mir das nicht?"
"Tessa kommt in keiner Weise mit dir mit, vom IQ her nicht und auch sonst nicht", sage ich voller Abscheu. "Du kannst mit der machen, was du willst. Du kannst die bewegen wie eine Marionette. Du kannst die hin- und herschieben. Sie fordert dich überhaupt nicht. Sie ist das genaue Gegenteil von mir."
"Sag' mal - wie kommst du überhaupt darauf, sowas zu sagen?" will Rafa mich in die Schranken weisen. "Echt - im Grunde ist das eine bodenlose Frechheit. - Woher willst du eigentlich wissen, seit wann ich mit meiner Freundin auseinander bin?"
"Am Samstag warst du schon mal mit ihr auseinander."
"Aha."
"Und am Freitag auch. Sonst hätte sie mich in den Rücken getreten, als ich dich umarmt habe, denn dazu wäre die fähig gewesen. Stattdessen hat sie nur giftspuckend in der Ecke gestanden, wie sie es am Samstag ja auch getan hat. - Ich habe so ein dunkles Gefühl."
"Wieso?"
"Ich rechne damit, daß du dir bald wieder eine beliebige Freundin suchst. Du bist mir nämlich in den letzten Tagen wieder recht nahe gekommen ..."
"Wann? Am Freitag?"
"Auch am Freitag."
"Ich habe ... dich begrüßt - und?"
"Das war nicht nur eine Begrüßung", halte ich dagegen. "Das war mehr."
"Das war nicht mehr."
"Das war mehr."
"Was soll denn da mehr gewesen sein?"
"Du hattest mich sofort im Arm."
"Ja - und?"
"Du hast dich - auch am Samstag - wieder sehr mit mir verwickelt und verklebt. Ich kann mir denken, daß dich jetzt die Furcht wieder gepackt hat und du erstmal weg willst. Ich kann mir denken, daß du dir gesagt hast:
'Was soll das alles? Was soll das bloß alles? Das ist doch nichts, das ist doch Unsinn.'
Ich nehme doch an, daß es so ist; wenn es nicht so ist, korrigiere mich."
Rafa schweigt.
"Ist es nun so oder nicht?" dränge ich.
"Das weiß ich nicht", weicht er aus.
Ich kenne inzwischen ein ganzes Sammelsurium von Fluchtverfahren, die Rafa umschichtig verwendet. Eines Tages wird ihn seine Phantasie im Stich lassen, und ihm fallen keine mehr ein, die ich nicht als das erkenne, was sie sind.
"Ich glaube, du weißt das schon", vermute ich.
"Nein", beharrt er. "Warum mußt du mich denn noch kennenlernen? Du kennst mich doch bereits."
"Es geht nicht nur ums Kennenlernen."
"So, worum denn noch?"
"Es geht auch um Nähe."
"Um Nähe?" fragt Rafa wie ein Schüler, der ein neues Fach lernt.
Ich lache und erkläre es ihm noch einmal genau:
"Wenn man für jemanden diese extremen Gefühle hat, dann will man dem nahe sein. Dann hat man einfach das Verlangen danach, den um sich zu haben. Dann hat man einfach Sehnsucht nach dem."
"Wenn du dich verliebst, dann ist das dein Problem", erwidert Rafa, und er scheint bemüht, seine Stimme möglichst kalt klingen zu lassen. "Damit mußt du zurechtkommen, nicht ich."
Ich glaube, Rafa möchte mir das antun, was er selbst nicht erleiden möchte. Er weist mich zurück, weil er sich vor Zurückweisung fürchtet. Er möchte herausfinden, wie ein Mensch, der ihm ähnelt, Zurückweisung beantwortet - und bewältigt. Er möchte lernen, mit Zurückweisung umzugehen. Ich soll ihm Bewältigungsmethoden vorführen. Ich soll ihm ein Beispiel geben, nach dem er sich zu richten vermag.
"Wenn ich dich recht verstanden habe", folge ich seinen Gedanken, "ist es so: du hast für mich überhaupt keine besonderen Empfindungen."
"Genau. Ich habe für dich keinerlei ... besondere ... Empfindungen. In meinen Gedanken ist keinerlei Raum für dich."
"Weshalb wolltest du dich dann mit mir verabreden?"
"Ich war neugierig darauf, ob du anrufst", hat Rafa sein Alibi gefunden. "Das war nur ... Menschenkennerei."
"Du willst dich also gar nicht mit mir treffen."
"Ich sage ja, ich war einfach neugierig. Ich wollte wissen, ruft die Frau jetzt an? Das war nur Menschenkennerei, sonst nichts."
"Ich bin also für dich nur ein Objekt, das du erforschen willst."
"Ja. Ich bin ein Forscher."
"Ich bin auch ein Forscher."
"Dann haben wir ... etwas gemeinsam", stellt Rafa fest.
"Du bist aber nicht bloß ein Gegenstand für mich, den ich erforsche", betone ich.
"Mädchen, du solltest mal darüber nachdenken, wie das weitergehen soll", mahnt er. "Das geht nämlich mittlerweile fast ein Jahr so."
"Und es geht vielleicht noch die nächsten zehn Jahre so."
"Das geht nicht so", ist Rafa überzeugt. "Das kannst du vergessen."
"Das vergessen? Das kann ich nicht vergessen."
"Ich empfinde aber nichts für dich. Deshalb kannst du das mit den zehn Jahren vergessen."
"Du hast gesagt, du wärst wegen mir ins 'Elizium' gekommen. Da ist schon ein Widerspruch."
"Ich habe am Freitag gesagt, wir sehen uns noch im 'Elizium'."
"Das stimmt nicht", muß ich berichtigen. "Das hast du nicht gesagt."
"Was?"
"Du hast nicht gesagt, daß du am 04.12. ins 'Elizium' gehst."
"Wann?"
"Am 04.12. Das war gestern. Das hast du nicht angekündigt."
"Ich bin ins 'Elizium' gekommen, weil ich dachte, du hast mir vielleicht noch irgendwas Wichtiges zu sagen."
"Das war auch so."
"Deshalb bin ich gekommen. Ich dachte, vielleicht wird das mit dir mal ausnahmsweise nicht wieder so ... aber das war schon wieder so ..."
"Du bist wegen mir ins 'Elizium' gekommen. Das steht im Widerspruch zu deiner Behauptung, daß in deinen Gedanken keinerlei Raum für mich ist."
Rafa scheint sich entlarvt zu fühlen. Er wählt den Rückzug und sagt:
"Ich wäre sowieso ins 'Elizium' gegangen."
"Ah, du wärst sowieso ins 'Elizium' gegangen."
"Ja."
"Bist du dir sicher, daß ... ach, die Frage ist obsolet ... natürlich behauptest du, du seist dir sicher ..."
Ich denke kurz nach und fahre fort:
"Die Mauer, die du um dich herumbaust, besteht aus mehreren Steinen. Du willst mich glauben machen, daß ich dir gleichgültig bin - nicht unbedingt gleichgültig, doch daß du für mich nicht mehr empfindest als für irgendwen sonst. Du willst mich glauben machen, daß du nur aus Milde mit mir sprichst."
"Ich spreche nicht aus Milde mit dir."
"... sagen wir, aus Grundsätzen ..."
"Ich spreche mit dir, weil ich dich eben kenne und weil ich mit den Leuten spreche, die ich kenne."
"Und du sprichst immer wieder mit mir und läßt dich immer wieder verletzen."
"Ja. Ich sage ja, ich gebe nicht auf."
"Wenn ich mit jemandem spreche, und der verletzt mich und demütigt mich, dann kriegt der von mir einen Tritt und kann gehen."
"Tja, das unterscheidet uns eben voneinander."
"Ich gehe davon aus, daß du dich in allernächster Zeit wieder hinter irgendeiner Freundin versteckst", tue ich einen Blick in die Zukunft. "Ich muß damit rechnen. - Du denkst dir wahrscheinlich:
'Was soll dieser ganze Blödsinn? Was soll das alles? Die Hetty, die liebt mich doch sowieso nicht. Die will mich doch nur zerreißen und zerlegen. Die hat ja wohl überhaupt keine Gefühle. Die ist ja wohl völlig eiskalt. Die spielt ja nur mit mir.'"
Rafa schweigt.
"Was meinst du dazu, hm?" frage ich ihn.
Rafa schweigt immer noch. Schließlich sagt er:
"Wir könnten's auch so machen, daß wir uns am Samstag vorm 'Elizium' im 'Nachtbarhaus' treffen."
"Vorm 'Elizium' im 'Nachtbarhaus'. Und um wieviel Uhr?"
"Sagen wir, zweiundzwanzig Uhr."
"Zweiundzwanzig Uhr. Und wollen wir uns im 'Nachtbarhaus' treffen oder davor?"
"Das ist mir vollständig egal."
"Ja, wo denn nun?"
"Ich sage, das ist mir egal."
"Wie machen wir das bloß ...", seufze ich.
"Ich meine, wenn du ganz pünktlich bist ...", zögert Rafa. "Ach, sagen wir lieber halb zehn, das ist besser ..."
"Einundzwanzig Uhr dreißig, das ist wirklich besser ..."
"... dann bist du auch ... noch flexibler, ich meine, falls du dasitzt, und ich komme nicht ..."
"So, das kannst du also nicht sicher sagen, ob du die Verabredung einhalten kannst", werde ich argwöhnisch.
"Ich kann nicht sicher sagen, ob ich sie einhalten kann", gibt Rafa zu.
"Ich möchte das aber sicher wissen", verlange ich. "Ich möchte da nicht einen Karren voller Leute mitschleppen müssen, damit ich im 'Nachtbarhaus' nicht allein bin. Denn wenn du kommst, ist das blöd mit der Atmosphäre."
"Warum?"
"Weil wir dann nicht mehr ungestört sind. Außerdem möchte ich nicht im Zickzack fahren."
"Bist du am Freitag in der 'Halle'?"
"Nein, da gehe ich ins 'Trauma'."
"Da könnte ich dir nämlich definitiv sagen, ob es klappt."
"Kannst du das denn nicht schon jetzt?"
"Nein, jetzt weiß ich das noch nicht."
"Aber das muß doch möglich sein für einen normalen Menschen, sich über fünf Tage hinweg zu verabreden."
"Bin ich normal?"
"Nein. Ich bin ja auch nicht normal."
"Siehst du, wir beide sind nicht normal", stellt Rafa klar.
Er hat uns nicht immer als Außenseiter betrachtet. Vielleicht wollte er früher als normal gelten und hat inzwischen erkannt, daß er - ebenso wie ich - ein ausgefallenes, auffälliges Wesen ist.
"Was normalen Menschen schwerfällt, fällt uns leicht", fasse ich zusammen, "und was normalen Menschen leicht fällt, fällt uns schwer."
"Wie ist das, kommst du in die 'Halle'?"
"Ich gehe nicht in die 'Halle'", zeige ich mich unerbittlich. "Ich gehe ins 'Trauma'. Ich muß mal wieder abtanzen."
"Das kannst du in der 'Halle' auch."
"Nicht so wie im 'Trauma'."
"Du, da ist NDW-Night", wirbt Rafa. "Weißt du, was da gespielt wird?"
"'Fred vom Jupiter'."
"'Fred vom Jupiter' ist nichts", sagt Rafa wegwerfend über sein einstiges Lieblingslied.
"Nena und die neunundneunzig rosa Luftballons und die Kriegsminister", rate ich. "Hubert Kah ... ach ja, und Kim Wilde kommt bestimmt auch wieder ... und dieses unbeschreibliche 'Hello Eileen', bei dem ich aus der 'Halle' rennen mußte, weil ich es nicht ertragen konnte ... und Depeche Mode und Village People ..."
"Das ist N-D-W", erinnert mich Rafa sanft. "Was ist N-D-W? Da haben ja wohl Kim Wilde und Village People und Depeche Mode nichts mit zu tun ..."
"Du hast recht, das sind ja gar keine Deutschen."
"Na."
"Aber Nena, die muß bestimmt wieder herhalten. Und die Sternenmitte und die Dritte von links. Ich meine, ich finde das alles ja ganz niedlich. Aber 180 bpm ist eben doch etwas ganz anderes. Ich brauche das einfach alle paar Wochen, richtig abtanzen zu können. Und ich weiß, was bei den NDW-Nächten läuft; ich war oft genug da. Außerdem ... ich gehe davon aus, daß du dich die meiste Zeit hinterm DJ-Pult aufhalten wirst."
"Ja, dann kommst du eben hoch und sagst, na, Rafa, wie isses morgen?"
"Ach - ich soll nur in die 'Halle' kommen, um dich das zu fragen?" schlußfolgere ich.
"Nein!" erwidert Rafa schnell, der es so nicht verstanden wissen möchte. "Ich meine nur, wenn du zufällig in der 'Halle' bist."
"Ich bin aber nicht in der 'Halle', ich bin im 'Trauma'. Du - wie wär's denn, wenn wir am Freitag einfach nochmal telefonieren?"
"Das wäre auch eine gute Idee", ist Rafa zufrieden. "Ruf' mich am Freitag nochmal an."
"Um wieviel Uhr? Ich gehe um sechs weg. Vielleicht um fünf?"
"Um sechs, heißt das, um achtzehn Uhr?"
"Ja, um achtzehn Uhr."
"Also, ab achtzehn Uhr bist du weg."
"Ja."
"Dann ruf' mich um fünf an ... oder besser um halb fünf, dann bin ich nämlich tausendprozentig da."
Ich glaube nicht recht daran, daß Rafa da sein wird. Dazu ist er mir zu "tausendprozentig" da. Ich könnte mir vorstellen, daß er absichtlich nicht zuhause ist, damit ich ihn nicht erreiche.
"Also, sechzehn Uhr dreißig", wiederhole ich. "Ich hoffe, daß es klappt, wirklich. Es wäre schön, wenn es klappen würde."
"Also, dann - wünsch' ich dir noch einen schönen Abend", sagt Rafa hastig, als fürchte er sich davor, daß ich das Gespräch noch weiter verlängere. "Schlaf' gut ... träum' was Schönes ..."
"Du auch."
"... tschüß."
"Tschüß."
Während des Telefongesprächs war ich mir nicht bewußt, wie lange es tatsächlich dauerte. Ich sprach etwa eine Dreiviertelstunde mit Rafa. Was wir sagten, konnte ich mir unter anderem deshalb merken, weil ich mir gemerkt hatte, wo und wie ich in dem blau erleuchteten Flur stand und wohin ich blickte, während die einzelnen Sätze fielen. Mal schaute ich das Regal an, mal den Videotisch aus Beton, oder ich stellte mich in die Tür zum kleinen Zimmer.
Wenn ich mir ein längeres Gespräch merken möchte, kann ich so vorgehen, daß ich mir eine Reihe verschiedener Bauklötze hinlege und bei jedem Satz oder jeder Sequenz einen anderen Stein ansehe.
Einige Tage später habe ich von einem Garten geträumt, durch den Hornissen flogen. Die sahen aber nicht wie gewöhnliche Hornissen aus. Sie flogen aufrecht und waren walzenförmig. Ihre Köpfe saßen auf einer Art Hals. Die Hornissen schwebten durch die Luft wie gelbschwarz geringelte Menschlein. Ich stand beim Zaun und sah drei Hornissen sich paaren. Sie paarten sich schwebend. Ich wich dem Insektenhaufen aus und rannte fort. Eine Hornisse flog mir hinterher. Ich rannte und rannte. Immer, wenn ich mich umsah, war sie noch hinter mir. Endlich gelangte ich in mein Zimmer. Ich wollte mich schlafen legen. Als ich eben im Bett lag, kam eine Hornisse herein. Ich stellte fest, daß ich statt eines Fensters zwei hatte, und durch das rechte war das Insekt gekommen. Ich hoffte, daß es wieder hinausflog, und es flog hinaus. Ich schloß das Fenster. Nun kam durch das linke Fenster eine Hornisse. Auch diese verschwand von selbst, und ich schloß das linke Fenster gleichfalls. Im Zimmer hatte sich aber noch eine dritte Hornisse versteckt. Sie schwirrte zum linken Fenster und setzte sich auf die Scheibe. Ich nahm meinen Schuh in die Hand und zielte. Die Hornisse erkannte meine Absicht und flog auf. Dann setzte sie sich wieder auf die Scheibe, und ich zielte wieder. Abermals flog die Hornisse auf. Unbedeutend, schwach und trotzdem bedrohlich schwebte das Insekt mitten in meinem Zimmer. Ich erkannte, daß die Hornisse umgeben war von feinen schwarzen Fäden, ähnlich den Fäden, an denen eine Marionette hängt. Um sie war ein Geräusch wie das Summen eines eingeschalteten Radios, wenn der Sender weggedreht ist.
Ich seufzte.
Die Hornisse muß Rafas Freundin sein, seine Sängerin und Marionette. Sie ist schwach und unbedeutend und dennoch aggressiv und bedrohlich.
Mir fällt ein, daß Rafas Freundin wirklich Ringeln hat wie eine Hornisse. Sie ist geringelt, wenn sie die Leggins mit den durchsichtigen Querstreifen trägt.
Das Radiosummen in dem Traum erkläre ich mir durch die Zusammenhänge zwischen Rafas Band W.E und Radios. Früher hieß W.E noch "Feindsender", und der Name "W.E" soll der Name eines Feindsenders gewesen sein. Es gibt auch einen W.E-Titel namens "Radio". Passend dazu hat Rafa ein Radio auf die Bühne gestellt. Und er hat seiner Sängerin "den Ton weggedreht", indem er ihre Stimme ganz leise geregelt hat.
Telgart fragte mich, ob ich Rafas Sängerin auch dann so abstoßend finden würde, wenn sie mit Rafa nichts hätte.
"Sie wäre mir wohl auf den ersten Blick unsympathisch", vermutete ich, "doch ich würde sie gleich wieder vergessen."
Tags darauf habe ich von einem unübersichtlich großen, baufälligen Hospital geträumt, in dem ich etwas suchte. Ich stieg in den Keller hinunter, den seit Langem keiner mehr betreten hatte. Dies war nicht unbedingt erlaubt und auch gefährlich. Die Treppen waren eng, steil und brüchig. Die Gänge waren schmal und dunkel. Man konnte sich darin verlaufen und verlorengehen. Das Innere des Kellers war weiß, weiß wie Putz, Mörtel und Kalksandstein. Es gab dort unten auch einen klapprigen Fahrstuhl. Auf meiner Suche kam ich in Winkel, Nischen und Sackgassen. Ich fürchtete mich davor, daß die Decke einstürzte, daß ich auf einer Treppe ausrutschte oder daß eine Tür ins Schloß fiel und sich nicht mehr öffnen ließ. Dann war ich da unten begraben. Ich ging wieder hinauf und wählte einen anderen Weg durch den Keller. Erforschen mußte ich ihn nun einmal.
Der andere Weg war ebenfalls steil und gefährlich. An einer Engstelle saß ein altes Klobecken in der Wand. Ich ekelte mich und wollte umkehren. Doch dann sagte ich mir, daß ich mich von so einem Klobecken nicht wegekeln lassen durfte. Ich schlüpfte an dem Klobecken vorbei, und von da an war der Weg breiter und weniger steil. Er führte zu einer großen Turnhalle. Dort waren viele Menschen. Sie hatten die Halle von der anderen Seite betreten, unmittelbar von draußen her. Meinen Weg kannten sie nicht. Während ich quer durch die Halle ging, stellte ich fest, daß ich nur meine Nachtwäsche trug. So konnte ich mich nicht sehen lassen. Ich betrachtete die Menschen genauer, und siehe da - sie schliefen alle, im Liegen oder im Sitzen, und sahen mich gar nicht. Sie schienen unter einem Bann zu stehen, der mich schützen sollte.
Draußen standen vor den großen Fenstern der Halle viele wache Menschen, die aber nicht in die Halle hineinschauten. Ich ging eilig zwischen den Schlafenden zurück in Sicherheit. Dann setzte ich meine Suche in den Kellergängen fort.
Der verwinkelte, baufällige Keller ist wahrscheinlich Rafas Innenleben. Die Kloschüssel versinnbildlicht wohl, daß Rafa mich abschrecken möchte - durch Zurückweisung und durch seine Freundin.
Ich habe zu recht meine Zweifel daran gehabt, daß Rafa sich zur verabredeten Zeit von mir anrufen lassen würde. Er war um sechzehn Uhr dreißig zu "tausendprozentig" daheim, um wirklich daheim sein zu können. Ich ging davon aus, daß er sich bis achtzehn Uhr irgendwo herumtrieb und sich einen Vorwand schaffte, um nicht heimkommen zu müssen.
Am Ende entschied sich Rafa aber doch noch dafür, sich anrufen zu lassen. Gegen siebzehn Uhr dreißig erreichte ich ihn.
"Ja? ... Dawyne?" meldete er sich.
"Em ... hier ist Hetty; ist Rafa da?" fragte ich unsicher, weil ich ihn nicht erkannte.
"Ja", sagte Rafa. "Ich bin's."
"Ach, du bist es. Na, wie sieht's aus?"
"Gut. Null Zeit."
Er sprach noch schneller, als er sonst am Telefon spricht.
"Null Zeit", wiederholte ich. "Und, wie sieht's morgen aus?"
"Morgen?"
"Wollen wir uns morgen im 'Nachtbarhaus' treffen?"
"Nein, ich glaub', das geht eher nich'."
"Meinst, du schaffst das nicht."
"Nein."
"Meinst, das ist für dich noch zu heiß."
"Wart' ma' ... paß' ma' auf ... wir können das doch morgen im 'Elizium' besprechen."
"Im 'Elizium'."
"Weil, da besteht dann immer noch die Möglichkeit, daß wir uns ... aus dem 'Elizium' verpissen und im 'Nachtbarhaus' weiterquatschen."
"Ja, das ginge."
"Gut", meint Rafa zufrieden. "Ich muß nämlich jetzt auch Schluß machen, weil, ich bin noch im Arbeitsstreß, und inner Stunde muß ich wieder sonstwo sein."
"Gut. Was ich nur sagen will, ist Folgendes: Am 18. werde ich nicht im 'Elizium' sein, weil ich da in BO. eingeladen bin. Morgen bin ich aber mit absoluter Sicherheit im 'Elizium'. Nur, damit du weißt, wo ich bin."
"Gut. Also - bis morgen, und viel Spaß im 'Trauma'. Tschüß."
"Tschüß."
Ortfried und ich gingen in die "Fabrik", weil es uns im "Trauma" zu leer war. In der "Fabrik" liefen einige von den harten Stücken, die ich aus dem "Trauma" kenne. Ich tanzte viel. Am Morgen knackten wir bei mir noch über eine Stunde lang Nüsse. Ortfried meinte, der Rafa sei wohl doch nicht so, wie er anfänglich gedacht hätte. Er glaube, zwischen Rafa und mir könne durchaus etwas entstehen. Über die Sängerin sagte Ortfried:
"Die muß nur noch eine kleine Handtasche haben, dann ist sie eine Hure."
"Die hat sie doch schon", teilte ich Ortfried mit. "Was glaubst du, wie winzig der ihr Handtäschchen ist ..."
Im Gegensatz zu mir braucht die Sängerin nur sehr wenig Sachen. Selbst im harten Winter nimmt sie zum Ausgehen nur ein zerrissenes Jeansjäckchen mit.
Vielleicht braucht sie nicht nur nicht viel Zeug, sondern auch nicht viel Zeit. Sie macht sozusagen keine großen Umstände. Dadurch wäre sie eine sehr bequeme Freundin. Ganz im Gegensatz zu mir ...
Ich habe den Verdacht, daß Rafa gar nicht so ungern hörte, was ich am Telefon über die Sängerin sagte. Ich war sehr boshaft, aber ich glaube, daß Rafa insgeheim ähnlich denkt wie ich.
In der folgenden Nacht sah ich Rafa im Vorraum des 'Elizium' mit der Sängerin an der Kasse stehen. Eilig lief ich zurück zur Tanzfläche, ehe er mich bemerken konnte.
"Entweder ist er wieder mit ihr", dachte ich, "oder er läßt sich nur von ihr fahren. Wenn ich mit ihm etwas hätte, würde ich nicht dulden, daß er mit dieser Frau zu tun hat, egal, unter welchem Vorzeichen."
Rafa machte sich weitgehend unsichtbar. Eine Zeitlang stand er auf der Treppe zur Galerie. Als ich zur Treppe kam, plauderte Rafa mit einem Jungen. Ich blieb unten stehen. Nach einer Weile sah Rafa mich an und hob grüßend die Hand. Ich hob ebenfalls die Hand. Dann sah Rafa wieder weg und redete weiter mit dem Jungen. "Moldavia" von Front 242 wurde gespielt, zu dem ich immer tanze. Man könnte sagen, von dem Rhythmus wird man durch die Luft geworfen und zu Boden geschleudert.
Einmal kam auch Rafa auf die Tanzfläche. Ich betrachtete ihn aufmerksam.
"Ihn und sonst keinen", dachte ich, wie schon oft.
Das Stück, zu dem Rafa tanzte, war "Zivilisation" von Revco. Es gefällt mir; es ist elektronisch und hat eine einprägsame, etwas abgehobene, melancholische Melodie. Den Text finde ich allerdings recht naiv.
Rafa versteckte sich lange oben beim DJ-Pult. Er schien mir auszuweichen. Das wertete ich als Hinweis darauf, daß er wieder gebunden war.
Die meiste Zeit war ich mit Tanzen beschäftigt. Xentrix brachte "Der Feind" von Calva y Nada, "Crowning Glory" von Will, "Heartland" von den Sisters of Mercy und viele andere.
Erst gegen vier Uhr morgens kam Rafa herunter. Er stellte sich mit einem Mädchen vor die Stahltür bei der Treppe. Das Mädchen hatte lange, glatte, rotgefärbte Haare und trug eine schulterfreie Abendrobe aus schwarzem Samt, bodenlang, mit Schnürung am Rücken. Durch Dritte erfuhr ich, daß das Mädchen Velvet heißt, passend zum Kleid, und daß es etwa zwanzig Jahre alt ist.
"Was 's' los?" fragte Rafa das Mädchen.
Wievielen Mädchen er diese Frage wohl schon gestellt hat ...?
Ich holte mein Portemonnaie und ging zur Bar. Als ich an Rafa vorbeihuschte, sah er mich mit großen Augen an, Augen wie Ehrenteller oder Schießscheiben. Die Irissen schimmerten hell wie Zinn.
Ich kaufte ein Milky Way, steckte das Portemonnaie wieder in meine Tasche, die bei den Mänteln auf dem Podest lag, und begann zu essen. Velvet ging weg, und Rafa kam zu mir.
"Was gibt's?" fragte er harmlos.
"Was gibt's?" fragte ich zurück. "Gibt's was Neues?"
"Nicht direkt, nein."
"Du hattest vorgeschlagen, daß wir ins 'Nachtbarhaus' gehen. Wollen wir das machen?"
"Nein."
"Ist dir das zu ... Fürchtest du dich zu sehr davor?"
"Nein. Aber ich krieg' dann Streß mit meiner Freundin ... und mit meinem Freund."
"Ach, du hast also doch eine Freundin", stelle ich fest. "Dann lüg' mich doch nicht an und behaupte, es gebe nicht Neues."
"Ich habe dich nicht angelogen", wehrt sich Rafa. "Ich hab' dir gesagt, ich hab' eine Freundin."
"Ach - na, das wär's dann wohl erstmal wieder. Ich bin gespannt, wie lange es diesmal dauert."
"Jetzt biste ganz schön geschockt, was?" freut sich Rafa.
Er ist stolz wie ein Lausbub, der etwas besonders Ungezogenes angestellt hat.
"Nein", entgegne ich und werfe das Milky Way-Papier in eine Ecke. "Mit der da schockst du mich schon lange nicht mehr."
"He - es ist ja nicht gesagt, daß es die is'."
"Na, dann ist es halt mal 'ne andere. Das Prinzip ist immer das Gleiche. Du versuchst, vor mir wegzulaufen und suchst dir irgendwas. - Ich wünsch' dir viel Spaß bei deiner Flucht."
"Das ist keine Flucht."
"Hier", sage ich und tippe mir an die Stirn. "Hier."
Rafa stürmt zur Tanzfläche, um zu "Film 2" von Grauzone zu tanzen. Ich tanze neben ihm. Danach bringe ich Xentrix drei Industrial-CD's, von Dive, De Fabriek und Esplendor Geometrico. Als ich wieder herunterkomme, gehe ich an Rafa und Velvet vorbei, ohne das Paar anzublicken. In der Folge läuft Rafa mehrmals durch den Seitengang, immer dicht an der Stelle vorbei, wo ich mit Constri, Derek und Carl stehe. Velvet nimmt er meistens mit. Er schleppt Gläser zwischen der Bar und der Ecke vor der Treppe hin und her. Diese plötzliche Rastlosigkeit nach mehreren Stunden ruhigen Verharrens auf der Galerie läßt mich vermuten, daß Rafa nach Gründen sucht, in meine Nähe zu kommen. Er scheint sich nicht daran gewöhnen zu können, daß ich für ihn nicht zu sprechen bin.
Constri und Derek schauen sich tief in die Augen, ganz so, wie Rafa und ich uns immer angesehen haben. Constri streichelt Derek auch so das Gesicht, wie ich Rafa das Gesicht gestreichelt habe.
"Bloodmoney" von Dive kommt, das ich Xentrix gegeben habe. "Bloodmoney" ist rauh, kalt und hart wie Beton und hat einen schleifenden, treibenden Rhythmus.
Rafa läuft kurz nach "Bloodmoney" schräg über die Tanzfläche, dicht an mir vorbei.
"Betty tanzt wieder", hat Carl Sasch im Herrenklo sagen hören.
Ob Sasch jetzt noch mit Hennike zusammen ist, weiß ich nicht. Hennike soll übrigens zu Carl gesagt haben:
"Oh, heute sind so viele widerliche Leute da ... Rafa ist da ..."
Ich glaube, Rafa möchte, daß auch ich ihn widerlich finde. Er tut einiges dafür.
Ich habe mir Rafas MCD genau angehört. DieSängerin darf nur in einem einzigen Stück singen, und sie singt es auch nur zur Hälfte. Den Refrain singen Rafa und die Sängerin im Duett. Rafa hat ihre flache, ausdruckslose Stimme weit zurückgeregelt. Seine eigene Stimme ist sehr laut geregelt. Ich vermute, ihm ist klar, daß seine Sängerin nicht singen kann.
Die kindlich-seichte Musik von Rafa empfinde ich als niederdrückend. Rafa bezieht sich in seinen Texten auf gesellschaftliche Probleme und Scheinprobleme. Er hört sich an wie ein Weltverbesserer und Heilsbringer. Sein eigenes Gefühlsleben bleibt weitgehend ausgeklammert. Rafa scheint von sich selbst ablenken zu wollen. Er will nicht gesehen werden; nur seine Fassade soll man sehen.
Ich möchte diese Fassade zertrümmern. Rafas Scheinwelt soll zusammenbrechen. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben.
Für Rafa sind die Gespräche, die er und ich miteinander geführt haben, Horror; er will nicht an sie denken. Ich hingegen will sie nicht vergessen.
Indem ich mir merke, was er sagt, kann ich Widersprüche in seinem Tun und Reden aufdecken. Außerdem kann ich die Regelkreise nachvollziehen, denen sein Verhalten folgt, und gezielt in sie eingreifen.
Um Macht über mein Schicksal zu gewinnen, muß ich Macht über Rafa gewinnen.
In einem Traum Mitte Dezember fand ich Rafa neben mir in der "Halle" sitzen. Ich erklärte ihm ruhig und bestimmt, daß ich in meinem Kampf um ihn nicht aufgeben werde.
Dann sah ich mich im "Elizium" bei der Treppe stehen, und Rafa kam mit einem Haufen fremder Begleiter, einem Schutzheer.
"Wir wollten doch ins 'Nachtbarhaus'?" sprach Rafa mich an. "Das können wir jetzt."
Ich wertete es als großen Schritt nach vorn, daß Rafa es fertigbrachte, mit mir ins "Nachtbarhaus" zu gehen - auch wenn er sich eine Hilfstruppe mitnehmen mußte.
Eine entfernte Verwandte wurde beerdigt, und in dem Zusammenhang mußte ich daran denken, daß ich Rafa mit Sicherheit verlieren werde - durch den Tod.
"Man verliert den geliebten Gatten oft schon, bevor er endgültig geht", sagte ich zu meiner Mutter. "Der Körper verfällt und der Geist. Ich habe im Krankenhaus einen Mann gesehen, der starb und war nur noch Haut und Knochen. Auf seinem Nachttisch stand ein Portrait von ihm, wie er einmal gewesen war - wohlgenährt und rosig -, und im Bett lag ein bleiches Gerippe. Das Bild hatte die Ehefrau wohl hingestellt, damit sie sich daran erinnerte, um wen es sich handelte."
Solange Rafa diese Freundinnen hat, ist er für mich nicht unwiderruflich verloren. Erstens lebt er noch, und zweitens liebt er keines von diesen Mädchen. Selbst der Luisa hat er sich nicht so hingeben müssen, wie ich es von ihm fordere. Ich bin unbeherrschbar für ihn, und eine solche Beziehung gab es in seinem Leben noch nicht.
Ich glaube, Rafa stellt mich auf eine Zerreißprobe. Er prüft meine Bindung an ihn auf ihre Reißfestigkeit.
"Guck' mal, was ich wieder angestellt habe", scheint er mir sagen zu wollen. "Ich tue ganz, ganz schlecht, so schlecht, wie es geht - mal sehen, ob du mich dann noch willst."
Er vermag wohl nicht daran zu glauben, daß ich ihn halten kann. Er denkt wohl, er sei zu schwer für mich.
Es kommt mir manchmal vor, als wolle er mich bitten, ihn nicht aufzugeben.
Mir fällt ein Traum ein, den ich 1992 hatte, kurz bevor ich Rafa kennenlernte. Der Traum handelt von einem Frauenhelden, der sich zu einem verantwortungsbewußten Menschen entwickelt - nicht zuletzt, indem er mit mir eins wird.
Es ist die folgende Geschichte:
Offenbarung
Andreas Lormann war wieder aufgetaucht, der ewig schicke Andreas mit der Brillantine im Haar und dem FBI-Parka. Caren, Ell und Marva hatten ihn verfolgt - und nicht nur sie -, und bekommen hatte ihn keine. Inzwischen saß Marva im Rollstuhl, und sie konnte nicht mehr auf Andreas hoffen.
Es war eben dunkel geworden, da erschien Lormann auf einem Parkplatz, wo sich die Kleinstadtjugend gewöhnlich traf.
"Andreas Lormann, du bist kein Zauberer", dachte ich.
Etwas Reizendes, Anziehendes, Aufforderndes in seiner Art hatte mich beeindruckt und verwirrt, seit ich ihn kannte. Doch inzwischen war seine glänzende Oberfläche stumpf geworden. Andreas Lormann wirkte unruhig und gehetzt. Er sah schmutzig aus und hatte sich schlecht rasiert. Das fettige, verfilzte Haar hing ihm weit über den Rücken. Den feinen Parka hatte er mit einer zerschlissenen Lederjacke vertauscht. Um seine Verehrerinnen kümmerte er sich nicht. Etwas anderes schien seine Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen.
Bei einer Schlägerei auf dem Parkplatz war jemand verletzt worden, ein stämmiger, braunhaariger Mann. Er lag auf einem Autodach. Lormann ging zu ihm.
"Töte mich!" bat der Verletzte. "Sonst offenbare ich mich!"
Seine Jacke begann sich langsam wie von selbst zu öffnen. Lormann zögerte. Er brachte die Tötung nicht über sich, wenngleich er eine Gefahr zu ahnen schien. Der Mann starb. In diesem Augenblick öffnete sich seine Jacke ganz. Der Bauch trug nun ein Gesicht, erheblich größer als ein gewöhnliches. Es hatte Augen, die von unten nach oben sahen, als würden sie staunen, und es grinste fortwährend. Das Gesicht wanderte vor den Kopf wie eine übergroße Maske und verwandelte den Menschen in ein Monster. Das stand auf und stieg von dem Auto herunter. Die jungen Leute flohen. Zu dem Monster gesellten sich noch mehr, alle mit denselben grinsenden Gesichtern. Das waren die Schläger gewesen, die den Mann auf dem Gewissen hatten. Durch seinen Tod waren sie ihrem Opfer gleich geworden.
Die Monster wanderten im Trupp durch die umliegenden Wohnviertel. Lormann lief zu einem Reihenhaus am Ende eines schmalen Waschbetonweges. Er klingelte. Marva öffnete ihm.
"Schatzi!" rief Lormann schmeichelnd. "Es ist wunder-wunderschön, dich zu sehen. Ich konnte es gar nicht erwarten, bei dir 'reinzuschauen. Laß' uns ins Wohnzimmer gehen, ja?"
Marva rollte zur Seite, damit er in dem engen Flur an ihr vorbeikam, und fuhr dann hinter ihm her. Im Wohnzimmer hielt sich Marvas Familie auf - die Eltern, ihre Großmutter und noch eine jüngere Verwandte. Lormann, der trotz seines stark veränderten Äußeren seine zuvorkommende, einnehmende Art noch immer besaß, wurde empfangen wie ein Freund des Hauses.
Ich war hinter Lormann eingetreten. Während Marva ihm Platz machte, schloß ich mühevoll die Haustür, die ein Bügel nur langsam zufallen ließ.
"Nnnein", sagte ich ungeduldig und lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür. "Nnnein. Nnnein."
Im Wohnzimmer verschmolz ich mit Lormann und gab ihm meine Gedanken und meine Gestalt. Er war nun ein Mädchen im kurzen schwarzen Rock, silbern geschminkt und mit Schleife im Haar. Niemanden erstaunte oder erschreckte es, daß Lormann in mich hineinstieg und sich mit mir verband. Ich, die nun auch er war, stürzte auf die weit geöffnete Terrassentür zu. Marvas Familie war ahnungslos. Sie hatten draußen noch den Tisch gedeckt und wollten eben Kaffee trinken. Ich scheuchte sie ins Innere des Hauses. Sie ließen sich auf der Polstergarnitur nieder.
Auch die Tür zur Terrasse schloß ich nur mit Anstrengung, weil sich immer wieder die Gardine einklemmte.
"Nnnein", sagte ich. "Nnnein. Nnnein."
Die Monster würden kommen, auch hierher und besonders hierher, wohin Lormann gelaufen war. Ich überwand mich, in den dunklen Garten hinauszusehen, um mich auf die Ankunft der Monster einstellen zu können. Da kamen sie auch schon um die Ecke eines Schuppens herum. Sie stapften durch die hellblaue Dunkelheit, gemächlich, doch stetig auf das Haus zustrebend. Ich erschauerte. Das waren die Unsterblichen, die Gewissenlosen, die nur ihren Launen folgten.
Lormanns Erfahrung hatte sich mir durch unser Einswerden mitgeteilt. Von dieser Erfahrung geleitet, nahm ich eine Dose Kondensmilch in die Hand. Ich fühlte, wie sich ein Körper an mich heranschob. Es war eines der Monster, das schon im Zimmer gewesen sein mußte, ehe Lormann und ich dort eintrafen. Das Monster machte im Gleichschritt mit mir einen Bogen durchs Zimmer.
"Schätzchen", raunte es, "du weißt, daß ich dich liebe."
Ich bespritzte das Monster mit Büchsenmilch. Es wich zurück und rief:
"Büchsenmilch! Genau das ist es, das Einzige, was uns allemachen kann!"
Außer der Scheibe in der Terrassentür gab es noch vier weitere bodentiefe Fenster im Wohnzimmer; so waren es fünf Rechtecke nebeneinander. Die Monster, die inzwischen das Haus erreicht hatten, verteilten sich davor. Durch jedes Fenster blickte eines von ihnen. Ich fragte mich, welches Monster als erstes die Glasscheibe durchbrechen würde. Dieses würde ich zuerst mit Dosenmilch bespritzen müssen.
"Es wird unappetitlich", sagte ich zu Marva und ihrer Familie. "Es kann sein, daß nicht alle von uns überleben."
Das Monster, das sich an mich herandrängte, hatte etwas vom Sockenschuß. Lormann in mir wußte das Mittel, das ihn vernichtete. Lormann und ich wurden durch unsere Einheit mit den Zombies fertig.
Zombies ...
Mitte Dezember ging ich in einem Traum spätabends durch ein Stadtrandgebiet. Vom Bürgersteig gegenüber hörte ich das laute Geschrei zweier betrunkener Männer. Sie waren Rechtsanwälte; durch den Suff freilich waren sie nur noch Männer und sonst nichts. Sie torkelten mir über den Weg, und ich dachte:
"Vergewaltigen sie mich nun oder nicht?"
Jedesmal, wenn ich sie etwas rufen hörte, erschienen am Wegesrand Haufen von Hundekot. Die Männer "redeten Sch...". Sie "stanken mich an".
In einer Straßenbahn fand ich Zuflucht. Dort traf ich auch Rikka.
Mit Philipp und Nino war ich in HF. im "Limited" bei einem Industrial-Festival. Ich traf Mal wieder und seinen Freund Ytong, dessen Industrial-Performance ich Ende März gesehen habe. Bei dem Festival gab es viel Rares zu kaufen, zu schauen und zu hören. Es wurde mit Kalksandsteinen und Schrotteilen Musik gemacht. Ars Moriendi hatten eine Bühnenshow mit Tanz vor einer Videoleinwand. Ein Mitglied der Gruppe verteilte während der Vorstellung im Publikum Sekt. Ytong und ich unterhielten uns ein wenig. Ich erklärte ihm, daß ich mit Ivo Fechtner nie zusammen war, auch wenn das vielleicht so ausgesehen hat.
"Er hat mich eine Zeitlang umworben", sagte ich.
"Kann ich verstehen", meinte Ytong.
"Damals hat mein Herz schon längst seinem Rivalen gehört", fuhr ich fort, "und der wußte das nicht ... Er hat immer fleißig über seinen Rivalen gelästert, und ich dachte nur, warte ab ... und dann ging Ivo eines Tages wieder ins 'Elizium', wo der lange nicht gewesen war ... und da hat der etwas zu sehen bekommen, was er wohl nicht gerne gesehen hat ... und dann hat er gegen mich so richtig schön intrigiert ..."
Ytong erzählte über Mal, daß dieser recht zurückhaltend sei. Mal soll viele Musiker kennen, doch soll er das nicht so vor sich hertragen wie Ivo Fechtner.
"Mal hat's eben nicht nötig", meinte ich.
"Ich geh' auch nicht 'rum und spreche mit jedem", sagte Ytong. "Dich - nun, dich kenne ich halt ..."
Im Januar ist Ytong auf einer Schwarzen Nacht in HB. gewesen und hat mir beim Tanzen zugesehen.
"Ich tanze so gerne", erzählte ich.
"Nicht nur gerne!" verbesserte Ytong. "Gut! Gut!"
Ich mußte lächeln und ihm mit der flachen Hand auf die Schulter klopfen.
Ytong möchte mit Mal einen Industrial-Laden in HH. aufmachen. Ich versprach, zu kommen.
Philipp übernachtete im Quartier der Musiker. Nino und ich fuhren zu Philipps Wohnung. Die Wohnung ist - wie bei fast allen Leuten, die ich kenne - hübsch und modern eingerichtet. Vor dem Schlafengehen hatten Nino und ich noch Tee, und ich servierte Pfeffernüsse und Ringli. Das letzte Lied, das wir vor dem Einschlafen hörten, war "Force de l'amour" von Étant Donnés. Deren CD "Bleu" hatte Philipp sich auf dem Festival gekauft und Nino mitgegeben. "Force de l'amour" ist - wie die Musik von Étant Donnés überhaupt - sehr ruhiger, atonaler Ambient-Industrial. Das Stück besteht fast nur aus an- und abschwellendem Rauschen und Schlittenschellen im Hintergrund; dazu flüstert eine Stimme:
"Force de l'amour ... force du jour ..."
Es ist eine hypnotische Musik. Sie erinnerte mich an die Zeit vor zwanzig Jahren, als wir versucht haben, in dem altersschwachen Fernseher unserer Urgroßmutter selig einen Sender zu finden. Das gab auch immer nur ein an- und abschwellendes Rauschen, ein Weißes Rauschen.
Philipp hat viele außergewöhnliche Werke aus dem Industrial-Bereich. Einige von ihnen sind auch in gestalterischer Hinsicht außergewöhnlich. Eine Vinylplatte hat ein Cover aus Baumwolle. In einem anderen Cover steckt ein Tütchen Laub. "Elektronisches Blätterrauschen" soll auf der Platte zu hören sein.
Manche gestalterischen Ideen bewerte ich allerdings als zweifelhaft, wenn nicht als geschmacklos. Dazu gehört ein Coverbooklet, in dem echtes Blut verschmiert ist.
Übrigens besitzt Philipp den Sampler, den ich damals bei Rafa in SHG. vergessen habe. Endlich konnte ich ihn mir aufnehmen.
Rituelle, sphärische und mystische Musik sammelt Philipp ebenso wie ich. Bei ihm konnte ich ein Album von Perotin aufnehmen, frühe Mehrstimmigkeit. Diese geistlichen Stücke sind von Autopsia in neoklassische Klangschleifen eingebaut worden. Auch tibetanische Mönchsgesänge tauchen bei Autopsia auf, etwa in "Does the knife cry when it enters the skin", auf einem Teppich aus einzelnen dumpfen Trommelschlägen und einem Scharren wie von Beton auf Beton. Das Stück endet mit dem Schlagen einer Uhr.
In Ht. gab Ted seine Geburtstagsparty. Es waren etwa fünfzig Gäste da, und es wurde viel getanzt. Auch Ragnar, der Bruder von Xentrix, war eingeladen. Er hat davon erzählt, wie Xentrix und er vor vier Jahren auf der Beerdigung ihres Onkels waren, bei dem sie aufgewachsen sind. Die Cousine weinte, Xentrix biß sich auf die Lippen, und er selbst wollte unter keinen Umständen weinen, hatte aber sehr zu tun, um das zu verhindern. Der Onkel starb aus Trauer, denn ein Jahr zuvor war seine Frau gestorben.
Zwei Mädchen, die bei Ted zu Gast waren, sind verheiratet und haben Kinder. Sie meinen, durch ihre Mutterschaft mehr zu gewinnen als zu verlieren. Sie bestätigten meine Vermutung, daß in der Beziehung zwischen Eltern und Kind ein Machtkampf stattfindet.
"Man ist gezwungen, sein Kind in den Griff zu bekommen", sagte ich nachdenklich, "denn man kann es nicht wegwerfen - man liebt es ja."
Carl berichtete, als ich auf Teds Geburtstagsfeier war, sei Rafa außerordentlich kurz im "Elizium" gewesen. Er sei sehr früh gegangen. Derek berichtete, Rafa habe in der kurzen Zeit nur mit der Sängerin an der Bar gesessen und auch mit ihr das "Elizium" verlassen. Wahrscheinlich hat Rafa mit der Sängerin wieder ein Verhältnis. Ich frage mich, weshalb er überhaupt im "Elizium" war, wenn es ihn so bald wieder fortzog. Wollte er nachsehen, ob ich wirklich nicht da war? Ich war nicht da. Rafa soll erfahren, daß ich mein Wort halte.
Carl erzählte von einer Beobachtung, die auch ich gemacht habe. Er meinte, das Verhalten vom Sockenschuß habe sich gewaltig verändert, seit Rafa an meinem Leben teilhat.
"Rafa hat den Sockenschuß aus deinem Blickfeld verschwinden lassen", sagte Carl. "Er hat ihn weggeschossen wie einen Fußball. Er hat ihm die Luft abgedrückt."
Der Sockenschuß ist nicht nur aus dem "Elizium" verschwunden, sondern auch aus dem "Trauma" und der "Halle". Und immer seltener läßt er sich in meinem Wohngebiet sehen. Dabei hätte man annehmen können, daß der Sockenschuß erst recht angriffslustig würde, aus Eifersucht. Indes, das Gegenteil trat ein. Anscheinend hat Rafa es geschafft - er bändigte einen Wahnsinnigen, der mich fünf Jahre lang verfolgt hat.
"Rafa ist auf den Sockenschuß immer noch eifersüchtig; er glaubt, wohl immer noch, daß ich mit dem etwas hatte", sagte ich.
"Na, da haben wir ja schon den Grund", meinte Carl. "Der Sockenschuß mußte weg, da half alles nichts."
An seiner statt legte Rafa sich eine Freundin zu, die nicht weniger aggressiv ist als der Sockenschuß. Jedoch kann Rafa die Aggressivität seiner Freundin nach Bedarf regulieren und für seine Zwecke einsetzen. Rafa glaubt wahrscheinlich, mir nicht waffenlos gegenübertreten zu dürfen. Und die Sängerin ist eine sichere, zuverlässige Waffe.
Rafa wirft mir vor, ihn zu verhören. In der Tat beherrsche ich das Verhören; ich habe mich mit diesem Thema ausführlich beschäftigt. Ich zerlege Rafa aber nicht, um ihn zu vernichten. Das Gegenteil will ich erreichen.
In einem Traum an Heiligabend habe ich sehr lange mit Rafa geredet. Dauernd hörte ich seine Stimme.
Dann wollte ich den "bösen Tod" malen und fing mit dem bleichen Schädel an. Ich gab dem Geschöpf immer mehr menschliche Gestalt - Rafas Gestalt -, und währenddessen verschwand der Totenschädel, als hätte ihn jemand wegradiert, und es war Platz für ein lebendiges Gesicht.
An Heiligabend hat Carl Rafa in der Stadt herumlaufen sehen. Carl war darüber verwundert, daß Rafa nach H. gekommen ist. Und er war auch verwundert über Rafas Aussehen und Verhalten. Rafa war sehr schlicht gekleidet, unrasiert und ungeschminkt. Er war allein. Er wirkte in sich gekehrt und schien sich von der Menge dahintreiben zu lassen. Er erinnerte Carl an einen streunenden Hund. Carl sah ihn in der unterirdischen Fußgängerzone bei einem Verkaufsstand. Er ist nicht sicher, ob Rafa ihn ebenfalls gesehen hat.
Rafa sondert sich ab; er zieht sich zurück. Sein Verhältnis zu Dolf scheint von dieser Entwicklung auch betroffen zu sein. Wie eine echte Freundschaft wirkt die Beziehung von Rafa und Dolf auf mich ohnehin nicht. Vielmehr scheinen die beiden voneinander abhängig zu sein wie Diener und Herr. Kürzlich soll Rafa im "Elizium" laut "Doolf!" gerufen haben, gerade als sei Dolf seine Rettung in der Not. Dolf hat vermutlich auch die Aufgabe, sich um die Mädchen zu kümmern, die Freundinnen von Rafa waren oder sind und um die Rafa sich nicht ausreichend oder nicht mehr kümmert.
Ich vermeide es, Dolf näherzukommen. Ich lehne alles und jeden insoweit ab, als es oder er ein Baustein in Rafas Mauer ist. Ich lehne die Mauer insgesamt ab. Die Mauer ist mein Feind.
Gegen elf Uhr abends begann es am Heiligabend zu schneien. Constri, Derek und ich gingen nach der Feier im Familienkreis noch aus. In dem fast leeren "Elizium" kamen uns drei Jungen entgegen - Damon, Henning und Versicherungs-Rono.
"Betty!" riefen sie.
"Mein Bruder Rafa ist leider nicht da", ließ Henning sich hören. "Mein Freund Rafa ist leider nicht mitgekommen. Ich liebe Rafa, und er liebt mich. Wir sind seit zwei Jahren zusammen."
Ich erfuhr, daß Kappa in der "Halle" auflegte.
"Dann wird Rafa da wohl auch sein", vermutete ich.
Damon hatte von mir den Eindruck, daß ich nicht in Weihnachtsstimmung sei. Ich erzählte ihm, daß ich schön gefeiert hätte, doch nun im "Elizium" sei meine Stimmung tatsächlich wie immer.
Henning gab wieder einmal seine Ansicht kund, Rafa sei "voll in Ordnung". Ich schwieg dazu, und Henning wollte wissen, ob ich anderer Meinung sei.
"Ich sagte schon - zwischen Rafa und mir ist keine Freundschaft", antwortete ich.
"Nein", berichtigte sich Henning, "es ist die wahre Liebe."
"Ja."
"Und wenn er dich nicht mehr lieben würde, dann würde es noch zehn Jahre dauern."
"Hat er dir das erzählt?"
"Ich sage das."
"Also, einer von euch hat schon mal ein gutes Gedächtnis", bemerkte ich. "Rafa hat auf jeden Fall ein gutes Gedächtnis."
Ich wollte in Erfahrung bringen, was Rafa den Jungen alles so über mich erzählt hat. Henning wollte aber nicht recht mit der Sprache heraus. Er sagte mir auch nicht, wie lange er und Damon schon derart von Rafa umgarnt werden.
Rafa hat eine starke sinnliche Ausstrahlung, die auch auf Männer wirkt. Er scheint mich damit verunsichern zu wollen, daß er über sich verbreiten läßt, er sei "andersrum".
Henning fragte mich, ob es mich denn störe, daß er Rafa liebe. Ich würde soviel wissen wollen.
"Ich will wissen, weshalb Rafa so einen Affentanz aufführt", erklärte ich. "Er und ich spielen eine Art Schachspiel."
"Wenn das ein Schachspiel ist, dann ist der matt", war Henning überzeugt. "Er ist matt; er weiß es nur nicht. Er ist total verliebt. Er ist der Liebe verfallen."
Ich mußte lachen.
"Zum Glück höre ich nicht nur auf das, was du sagst", meinte ich. "Ich höre vor allem auf meine Träume."
"Was träumst du denn so?"
"Lauter Märchen."
Henning behauptete, ich hätte erzählt, Rafa im Traum ohne Kleider gesehen zu haben. Ich verneinte das mit Nachdruck, doch Henning schien mir nicht glauben zu wollen.
Übrigens unterstrich Henning wieder einmal, nicht in mich verliebt zu sein. Das Gleiche tat Damon:
"Ich finde dich sympathisch; weiter will ich nichts von dir."
"Das ist gut so", entgegnete ich. "Ich möchte nicht, daß du dir falsche Hoffnungen machst. Es gibt für mich einen einzigen Mann, und du weißt, wer das ist."
"Ja. Ich versteh' mich gut mit Rafa."
Nach wie vor will Damon mich kennenlernen. Ich schlug ihm vor, er könne mich ja mal anrufen, und wir könnten uns treffen - nun ich wisse, daß er von mir weiter nichts wolle.
"Ich möchte nur nicht, daß du denkst, du hättest die leiseste Chance bei mir", betonte ich.
"Ich finde es beleidigend, daß du mir immer noch unterstellst, ich würde etwas von dir wollen", beschwerte sich Damon.
Ich versprach, es ihm nicht mehr zu unterstellen.
"Und?" fragte ich dann. "Bist du zufrieden?"
"Nicht ganz."
"Warum nicht ganz?"
"Weil ich das Gefühl habe, daß du mir immer noch nicht glaubst."
Damon sah mich mit einem leidenden Hundeblick an, den ich sehr wohl kenne; alle Männer, die verschossen sind, zeigen ihn.
Rafa sieht mich nicht mit einem leidenden Hundeblick an. In seinem Blick finde ich ehrliche, tiefe Zuneigung, keine oberflächliche "Verschossenheit".
Es könnte sein, daß Rafa die Verehrer Damon und Henning als Verständigungsmittel gebraucht. Er selbst hielt sich wahrscheinlich bei Kappa in der "Halle" auf. Damon und Henning waren im "Elizium", und eines der ersten Worte, die ich von ihnen hörte, war "Rafa". Vielleicht wünscht Rafa, daß die Jungen mich aushorchen. Er schickt die Jungen vor, weil er selbst nicht kommen kann.
Ich frage mich, mit welchen Sprüchen und Geschichtchen Rafa die Jungen beimpft hat. Die Jungen tragen immer nur Bruchstücke davon an mich weiter. Ich möchte den "Draht" zu Rafa auch für mich nutzen. So habe ich etwa den Jungen erklärt, was ich von der Sängerin halte.
"Kennst du die denn?" wollte Henning wissen.
"Gut genug", erwiderte ich. "Die hat mich einmal fast die Treppe 'runtergeschmissen; das hat mir gereicht."
"Die würdest du bestimmt umbringen, wenn du könntest?"
"Nein. Warum? Wenn es die nicht mehr gibt, holt Rafa sich gleich eine andere."
"Wenn er sie liebt, kann er sie nicht ersetzen."
"Er liebt sie nicht."
Zwischen Rafa und mir haben sich im Laufe der Zeit recht eigenartige Verständigungsformen entwickelt. Wir unterhalten uns mit Blicken und Gesten und durch Schauspiel, Tanz und Gesang. Wir sprechen bereits durch unsere Kleider und durch An- oder Abwesenheit.
Am ersten Weihnachtstag trafen Constri, Sadia, Carl, Derek, U.W. und ich uns alle bei Sator, der Geburtstag hatte und uns Kuchen anbot. Gemeinsam fuhren wir nach HH. zum "Dark X-Mas"-Festival. Das Wetter war naßkalt und winterlich. Schnee fiel in wattigen Flocken. Das Veranstaltungszentrum - die "Nachtschicht" - war noch geschlossen, als wir ankamen, und die kunstvoll gewandeten und geschmückten Gothics bevölkerten in schwarzen Scharen die umliegenden Restaurants. Ich setzte mich mit Carl gleich an einen Tisch, an dem Leute saßen, die er aus dem "Elizium" kannte und die mir auch nicht fremd waren - Sasa, Henriette, Jason und Luce. Wir waren rasch mit ihnen im Gespräch. Constri, die dem Unbekannten gegenüber recht abweisend sein kann, wollte sich nicht dazusetzen. So wanderten unsere übrigen Leute durch zwei andere Lokale, ehe sie zurückkamen und sich an den Nebentisch setzten. U.W. erzählte der Runde, daß ich zu ihm gesagt habe, er habe Komplexe. Dadurch gab er Constri einen Anknüpfungspunkt; er konnte sich mit ihr über Komplexe unterhalten. Ich sprach längere Zeit mit Jason. Er trägt provokante Symbole; er mag Runen und SS-Schädel. Ich glaube, er weiß nicht, was das in Wirklichkeit zu bedeuten hat. Denn wie ich ist er gegen jede Art von Terror und Ausgrenzung. Er möchte als Mensch gesehen werden, und so behandelte ich ihn; es gefiel ihm wohl, daß ich auf sein Gerede von der Waffen-SS und nordischen Kults nicht einging.
Die "Nachtschicht" ist ein großes ehemaliges Fabrikgebäude. Sie hat zwei Stockwerke und eine Galerie, von der aus die Bühne gut zu sehen ist. Die Galerie läuft ringsum. Im oberen Stockwerk hatte sich eine Gruppe von Gothics niedergelassen, die so zurechtgemacht waren, als hätten sie selbst einen Auftritt. Ein Mädchen hatte alle Haare abrasiert bis auf einen Pferdeschwanz, der schwarz gefärbt und zu dünnen Zöpfchen geflochten war. Der Kopf war weiß geschminkt, so daß er einem Puppenkopf ähnelte. Die Augen waren schwarz ummalt, die Kajalstriche bis zu den Ohren gezogen. Das lange Kleid bestand aus vielen schwarzen Rüschen. Der Stoff ähnelte zerknülltem Papier. Ein anderes Mädchen hatte sich Vampirzähne einbauen lassen. Korkenzieherlocken, Spitzenschleier und Reifröcke gab es zu sehen.
Vor der Bühne unterhielt ich mich längere Zeit mit Luce. Wie ich meint sie, daß es vielen Menschen leichter fällt, sich körperlich nahezukommen, als sich seelisch nahezukommen. Und sie meint, daß der umgekehrte Fall - der bei mir vorliegt - selten ist.
Dirk I. gab sein Bestes und später Autogramme. Carl findet, es sieht "irgendwie ziemlich geil aus", wie ich zu "Bloodmoney" tanze. Es ist aber auch eines der schönsten Stücke von Dirk "Dive" I. Sadia fand Gefallen an der für sie noch fremden Musik. Ich traf Mal, Edit und Bias wieder. Die Form traten zuletzt auf. Ihre Schau - Musik vom Dat, Tanz-Performance und Film - ist nicht mehr verbesserungsfähig. Die Zuschauer wirkten betroffen und wie gelähmt. Das Leben vom Philippe Fichot und Eliane scheint nur aus dem Durchführen abwegiger Coitusformen zu bestehen. Es kann sein, daß die beiden immer, immer wieder die Tragödie von der vergewaltigten Unschuld spielen müssen - als läge ein Fluch auf ihnen.
Vor einem Jahr vertrug ich die Schau noch recht gut. Dieses Jahr bekam ich einen Anfall von Übelkeit und Schwäche. Ich war einer Ohnmacht nahe und mußte auf die Galerie hinauf und aus größerem Abstand zusehen. Ich hatte dort auch genügend Platz, um zu "Unlimited" zu tanzen - das hatte ich mir schon lange gewünscht.
Seit einem Jahr bin ich aufgeladen mit körperlicher Sehnsucht, ein Gefühl, das ist, wie wenn man in einen bodenlosen Abgrund fällt. Es erleichtert mich nur, daß ich endlich weiß, nach wem ich verlange. Im Dezember des letzten Jahres tanzte ich im "Elizium" und wußte nicht, wohin mit meinen Händen. Sie streiften immer an meinem Taftrock entlang, und allein diese zufällige Berührung reichte schon aus; ich sah um mich und konnte den Menschen nicht finden, den ich umarmen wollte, und am Ende war nur Trauer übrig.
Vielleicht war Rafa damals ganz in der Nähe, unerreichbar für mich.
Zwei Tage nach dem Festival in der "Nachtschicht" träumte ich Folgendes:
Es war ein Krankenhaus, das ähnelte dem Veranstaltungszentrum "Nachtschicht", war jedoch im Unterschied zu diesem hell erleuchtet. Ich hatte einen Dienst als Sonderwache. Zu dem Bereich, in dem ich eingesetzt war, gehörte ein Vorflur. Dort hinein kamen einige schön kostümierte Gothics. Rafa war unter ihnen. Die Gothics wollten nichts als "gucken". Rafa kam mit seinem schüchternen Lächeln auf mich zu. Er sprach öfter mit mir und ging zwischendurch auch wieder in den Schnee hinaus. Im Laufe der Zeit entwickelte sich zwischen Rafa und mir ein Streitgespräch nach dem bekannten Muster. Rafa versuchte, mir etwas beizubringen, von dem er glaubte, daß ich es doch nicht verstünde. Währenddessen überschüttete ich ihn mit Zärtlichkeiten. Das machte ihn wehrlos. Ein Junge griff um seinen Körper. Ich nahm die Beine, und wir trugen ihn hinauf zur Galerie. Dann ging der Junge fort. Ich stellte fest, daß ich Rafa ohne Hilfe tragen konnte. In meinen Armen wog er fast nichts. Ich ging mit ihm die Galerie entlang, ringsherum, wieder und wieder. Dann kamen mehrere Leute und fielen über Rafa her. Sie trieben arge Scherze mit ihm. Das war mir recht. Ich ließ sie gewähren. Es gab so vieles, für das ich Rafa bestrafen wollte, und nun kamen andere und taten es an meiner Statt. Am Ende lag Rafa auf dem Fußboden und rührte sich nicht. Man schaffte ihn fort. Ich nahm mir vor, Rafa in dem Haus zu besuchen, in das er gebracht wurde. Die Scherzbolde fanden bald ein neues Opfer, das sie auf ein Bett warfen. Meine Gedanken waren jedoch nur bei Rafa. Ich fragte mich, wann es an der Zeit war, zu ihm zu gehen.
Was für eine schwindelerregende Macht ... Ich hatte mein Schicksal in der Hand. Ich hatte mein Leben in der Gewalt. Eine solche Gewalt vermag zu retten und auch zu töten. Ich will auf jeden Fall herausfinden, wie es bei Rafa mit einer Selbstmordgefährdung aussieht. Ich denke, um das mit ihm zu besprechen, muß zwischen uns so viel Vertrauen herrschen, daß es ihm möglich wird, sich mit mir außerhalb von Discotheken zu unterhalten.
Auf meiner Fensterbank habe ich einen Betonstein liegen, der ist besonders schwer. Es ist ein halbes anthrazitfarbenes Betonsechseck, ein Randstein. Die Heizung erwärmt ihn, und wenn ich an dem Beton entlangstreiche, ist es ein wenig so, als würde ich Rafa streicheln.
Auf unserer Silvesterparty erzählte mir Lena, am ersten Weihnachtstag sei Rafa im "Elizium" gewesen. Die Sängerin sei immer hinter ihm hergelaufen.
"Der sah so komisch aus", sagte Lena über Rafa. "Der hatte solche Pluderhosen an; der sah echt aus wie aus dem Mittelalter."
Lena findet, Rafa ist "echt kaputt".
Als ich Derek fragte, was es bedeuten könnte, wenn die Sängerin hinter Rafa herläuft, antwortete er:
"Nichts. Absolut - nichts."
"Und was hat es zu bedeuten", fragte ich weiter, "wenn ich träume, daß ich Rafa durch die Gegend tragen kann und er sich nicht wehrt?"
"Also, das Einfachste wäre ... daß die Zeit kommt, wo ihr zusammen seid. Die Frage ist nur, wann."
Wir hatten einen Longdrink namens "Sanfter Engel", der aus Bacardi, Orangensaft und Vanilleeis besteht. Constri war entzückt, weil ich davon etwas angeheitert war, und sie filmte mich. Währenddessen begann sie, in meinem Zimmer mit Reis herumzuwerfen. Es gab eine große Reisschlacht.
Rikka hat für Constri eine Kassette mit Volksmusik und Schlagern mitgebracht, um sie das Fürchten zu lehren. "Ganz in Weiß" im Original von Roy Black ist auch auf der Kassette.
Rafas Coverversion von "Ganz in Weiß" finde ich wundervoll. Das Original von Roy Black hingegen finde ich furchtbar seicht und süßlich. Rafa hat aus dem kitschigen Text etwas herausgeholt, von dem ich nicht gedacht hätte, daß es darin sein könnte. Er hat die Melodie so abgewandelt, daß sie kaum wiederzuerkennen ist. In Rafas Version bekommt der Text einen tragischen Beiklang und gleichzeitig etwas Verführerisches. Es ist, als wollte Rafa sagen:
"Unwissend läßt du dich auf mich ein; es wird dich dein Leben kosten, und ich kann es nicht hindern."
Till rief am Neujahrstag an und entschuldigte sein Fernbleiben zu Silvester. Er sei in der Nacht mehrmals "abgestürzt". Er war wieder bei dem Herrn zu Gast, der die Leute einlädt, die mit Kappa zu tun haben. Unter diesen waren auch Rafa, Dolf und die Sängerin. Auf Rafa hat Till nicht weiter geachtet; er mag ihn nicht. Mit Dolf hat er über Bacardi gesprochen, und er hat sich auch mit der Sängerin unterhalten.
"Ih!" rief ich.
"Ist doch auch nur'n Mensch", sagte Till.
"Aber die ist doch so widerlich!"
Herumgemacht hat Till mit der Sängerin nicht, obwohl er mit vielen herumgemacht hat, sogar mit seinem Freund Lego. Till hat auch nicht beobachtet, daß Rafa mit der Sängerin Zärtlichkeiten ausgetauscht hat. Später hat er Rafa und seine Gefolgschaft noch mit zu einer Bekannten genommen. Dort gefiel es Rafa und seinen Leuten aber nicht. Till nimmt an, daß sie gegen Morgen ins "Elizium" gefahren sind.
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