|
.
Am ersten Samstag im Januar kam ich gegen ein Uhr ins "Elizium". Als mir die Musik zu seicht wurde, ging ich zu Xentrix mit einigen CD's, die er spielen sollte. Es war schon fast halb drei, und Rafa hatte sich noch nicht sehen lassen. Ich rechnete auch nicht mehr damit, ihn zu sehen. Diese Nacht schien für mich nur eine Feldübung zu werden, kein Ernstfall.
Ich stellte mich vor die Absperrung zum DJ-Pult und wartete, weil Xentrix noch mit einem Mädchen sprach. Eine Hand griff rasch und geschäftig nach meiner Taille. Rafa ging an mir vorbei zu Xentrix. Dann blickte er sich um und grüßte mich mit einem kurzen:
"Na?"
Ich suchte mir Rafas Hand und umschloß sie. Ich hielt sie fest und streichelte sie mit den Fingern. Meine Schulter rückte an seine, als er sich über die Absperrung beugte, um Xentrix zu begrüßen. Rafa war leicht geschminkt und trug Ohrringe, wie meistens. Seine Haare hatte er mit einer großen schwarzen Schleife zum Pferdeschwanz gebunden. Er hatte seinen langen schwarzen Mantel mit den Silberknöpfen an.
"Ach, stimmt ja - ich darf dich ja gar nicht anfassen", sagte ich entschuldigend zu Rafa, ohne seine Hand freizugeben.
Er redete noch mit Xentrix, und ich wiederholte:
"Ich darf dich ja gar nicht anfassen, stimmt's?"
"Hm?" macht Rafa und wendet sich gleich wieder Xentrix zu.
"Darf ich ein bißchen auflegen?" bittet er ihn.
"Nein", antwortet Xentrix bestimmt. "Ich spiele kein W.E!"
"Das will ich ja auch nicht hören."
"Ganz in Schwarz und ohne Blumenstrauß, hm?" sage ich zärtlich zu Rafa und lehne mich an ihn.
Rafa nennt einen Musikwunsch. Dann reiche ich Xentrix meine CD's und zeige ihm die Titel, die er spielen soll; darunter sind auch die Industrial-Stücke "Bloodmoney" von Dive und "Totally gone" von Blackhouse.
"Und das soll ich mir alles merken", seufzt Xentrix.
"Ich sag's dir gleich nochmal."
Rafa holt eine Schachtel Cartier hervor und zündet sich eine Zigarette an. Er widerstrebt ein wenig, als ich fortfahre, seine Hand zu streicheln. Ich greife schließlich in Rafas Ärmel, so weit ich komme, und umfasse seinen Arm. Rafas Haut ist warm und glatt, sein Fleisch fest. Ich finde es schade, daß ich Handschuhe trage und nicht Haut auf Haut fühle. Ich finde es auch schade, daß Rafas Manschetten so eng sind, daß ich nicht sehr weit in seinen Ärmel tauchen kann.
"Das macht echt so einen Spaß, dich anzufassen", schwärme ich.
Leider ist Rafas Mantel lang und schwer, und es ist nicht möglich, ihm unters Hemd zu greifen.
"Das macht echt so einen verdammten Spaß, dich anzufassen", komme ich aus dem Schwärmen nicht heraus. "Macht das einen Spaß, dich anzufassen ... das ist echt so geil ..."
"He! Immer schön geheim bleiben, wenn du von meiner Freundin nichts in die Schnauze kriegen willst!" mahnt Rafa.
"Du bist ja angekommen", erinnere ich ihn.
Ich spiele weiter mit seiner Hand.
"Echt, das macht so einen Spaß, dich anzufassen", genieße ich das unerlaubte Spiel. "Das macht echt so einen verdammten Spaß, dich anzufassen."
"He, aber keine schmutzigen Sachen hier, ja?" sagt Xentrix streng, dem wohl mein sündiges Lächeln und ein auf gewisse Weise verklärter Blick bei Rafa aufgefallen sind.
Dolf erscheint an meiner rechten Seite.
"He! Da ist ja auch unser Kurzhaariger wieder!" ruft Xentrix.
Rafa verhandelt noch ein wenig mit Xentrix, doch ohne Erfolg; er darf nicht ans DJ-Pult. Nun spricht Dolf mit Xentrix.
"Ich fasse dich nicht an", sage ich Rafa ins Ohr, der wieder etwas von seiner Freundin murmelt.
Ich ziehe in Erwägung, Rafa zu küssen, doch ich vermag nicht ganz an sein Gesicht heranzukommen.
"Hm?" macht er und dreht sich zu mir.
"Ich faß' dich schon nicht an", verspreche ich.
"Hör' mal, ich faß' dich auch gerne an", sagt er da. "Überall."
"Ich dich auch ... aber du darfst mich nur anfassen, wenn du keine Beischläferin hast."
"Ja, darf ich dich nun anfassen oder nicht?" fragt Rafa ungeduldig und strebt fort. "He ... was soll das überhaupt mit der Beischläferin? Darf ich dich anfassen, oder darf ich dich nicht anfassen?"
"Ja."
"Is' gut", sagt Rafa lächelnd, als er sich entfernt. "Dann komm' ich wieder."
Ich grabe meine Hand in seine Schulter und drohe mit dem Finger. Er geht hinunter.
Es könnte sein, daß Rafa seinen Leuten vorausgelaufen ist, um als erster von ihnen im "Elizium" zu sein und unbehelligt mit mir sprechen zu können. Er kann sich nicht offen zu mir bekennen. Er muß vor seiner Freundin Versteck spielen. Er braucht Halbheiten.
Unten stelle ich mich wieder zu meinen Leuten in die dunkle Ecke zwischen Treppe und Stahltür. Die Sängerin naht und nimmt auf dem Podest Platz. Rafa läßt sich von ihr bewachen. Er vermeidet es nun strikt, mich anzusehen. Er möchte sich wohl beweisen, daß er sich dicht bei mir aufhalten kann, ohne sich mir zuzuwenden. Außerdem scheint er mich herausfordern zu wollen, indem er seine Sinnlichkeit zur Schau stellt. Er legt seinen Mantel ab und zeigt sein prächtiges Kostüm. Das weiße Hemd ist gewaltig weit und hat breite Spitzenmanschetten. Es steckt in schwarzen Pluderhosen, die unterm Knie geschnürt sind. Über dem Hemd trägt Rafa eine Weste, die vorne schwarz ist und hinten feuerrot. Ich empfinde die grelle, kitschige Tracht als Angriff. Ich möchte Rafa am liebsten die Gurgel durchbeißen und ihn auf der Stelle verzehren.
"Eigentlich darf der gar nicht so aussehen", geht es mir durch den Kopf. "Das gehört verboten. Das ist aggressiv und mutwillig. So, wie der aussieht, muß man ja über ihn herfallen."
Und dann tanzt Rafa auch noch ...!
"Ich zahl's ihm heim", denke ich. "Er wird sehen, was ich mir noch alles anziehe."
Ich frage Lena:
"Hatte er das letztes Mal auch schon an?"
"Ja."
Lena fand es albern. Doch ich finde, daß Rafa solche merkwürdigen Verkleidungen stehen. Das orientalisch wirkende Gesicht und die schwere Gestalt sind wie geschaffen dafür.
Ich betrachte weiterhin Rafa, der mit erhobenem Kinn dasteht und raucht, und ich sage zu Lena:
"Das ist wirklich eine einzige Komödie."
"Du mußt nur aufpassen, damit es nicht zu einer Tragödie wird", warnt sie.
"Das wird erst dann eine Tragödie, wenn einer von uns tot ist", entgegne ich. "Erst dann heißt es 'Rien ne va plus'. So lange wir beide leben, kann immer noch etwas werden. Erst wenn einer tot ist, geht nichts mehr."
Ich lasse Rafa sein Spielchen spielen. Ganz in seiner Nähe wühle ich in meinen Sachen herum, die auf dem Podest neben der Treppe liegen, und ich schaue ihn dabei nicht an.
Rafa erträgt meine Nähe und gleichzeitige Unerreichbarkeit nur kurz. Wie ich scheint er bis zum Hals voller Gier zu stecken, Gier, die er herunterzuschlucken versucht. Er bleibt insgesamt für ungefähr eine halbe Stunde im "Elizium", dann zieht er mit seiner Sängerin im Schlepptau davon.
Der Sängerin geht es vermutlich vor allem darum, als Rafas Freundin zu gelten. Daran, daß dieses Verhältnis in Abständen von wenigen Wochen beendet und neu begonnen wird, hat sie sich anscheinend gewöhnt. Wie ein abgerichteter Hund begleitet sie Rafa und sorgt dafür, daß ich mich ihm nicht nähere. Sie führt ihre Tätigkeit mit Eifer aus. Vielleicht sieht sie ihren Lebensinhalt darin.
Ein Mädchen soll zu Carl über die Sängerin gesagt haben:
"Die hatte schon so tolle Freunde ..."
Das sollte wohl heißen, daß die Sängerin es nicht nötig habe, sich mit dem allseits gehaßten Rafa einzulassen.
Ich vermute, die Sängerin glaubt, mit Rafa angeben zu können. Rafa hat sich mit Kappa zusammengetan, der in der Szene der Schwarzgekleideten als DJ regional bekannt ist, und Rafa hat seine Band W.E. Dadurch kann er der Sängerin die Gelegenheit verschaffen, auf der Bühne zu stehen. Sie kann sich durch ihn wichtig fühlen.
Die Sängerin ist mir zuwider, und Rafa schläft mit ihr. Ich verstehe nicht, weshalb Rafa mir da nicht auch zuwider ist. Ich suche die Lösung des Rätsels vergebens.
Im "Elizium" stand Dolf dicht bei mir und meinen Leuten und schwärmte einem Jungen etwas von der Neuen Deutschen Welle vor. Ich glaube, zu Dolf passen diese Kinderlieder wirklich. Wenn Rafa aus dieser Musik herauswächst, wird Dolf nicht mehr zu ihm passen.
"Oh nein, nicht die!" rief ich entsetzt, als ich sah, daß Xentrix doch noch Rafas MCD hervorgezogen hatte.
Dolf, der nicht mit Rafa fortgegangen war, tanzte. Ich lauschte der Spielzeugmusik und Rafas Stimme, die auf mich etwas hilflos wirkte.
Als "Totally gone" von Blackhouse kam, tanzten Lenni und Lena einen Paartanz in der Ecke vor der Treppe. "Totally gone" hat Anleihen von Suicide; es ist eine Art Industrial-Rock 'n' Roll.
Ich frage mich, ob ich mit Rafa jemals als Paar werde tanzen können.
Derek hat übrigens gesehen, wie ich den herausgeputzten Rafa angeschaut habe, als er in unserer Nähe stand.
"Die hat den angeguckt, als würde sie ihm jeden Moment die Kleider vom Leib reißen", sagte Derek über mich zu Constri. "Die hatte so einen völlig geilen Blick."
Constri hat mir erzählt, daß sie Derek nicht nur gern entkleidet, sondern daß sie auch sehr geschickt darin ist, weil sie schon so lange im Behindertenheim aushilft.
Nach meiner Begegnung mit Rafa im "Elizium" hatte ich folgenden Traum:
Ich kam an einem trüben Winternachmittag nach SHG., Rafas Heimatstadt. Die Sonne ging schon unter. Ich war bei Rafa in der Wohnung; von seiner Mutter war aber nichts zu sehen. Rafa bewirtete mich mit einem alkoholischen Getränk. Er war sehr zuvorkommend und aufmerksam. Er war schüchtern, zärtlich und liebevoll. Er trug mich durch die Wohnung. Ich küßte ihn nun endlich, und er erwiderte das. Ich streichelte ihn, auch die Beine. Er war ganz Hingabe. Zwei Tage und zwei Nächte hingen wir aneinander fest. Die Zeit verlor ihre Bedeutung. Von Rafas Freundin wußte ich nichts mehr; es war, als hätte es sie nie gegeben. Constri sprach mit mir aus der Ferne. Ich mußte ihr am Telefon erklären, weshalb ich nicht heimkam. Meine Mutter begegnete mir in einem Flur. Sie sah Rafa nicht und ahnte auch nicht, daß ich mich bei dem Mann aufhielt, den ich liebte.
Ich verlor etwas unter einem Tisch, etwas Kleines, klein wie die Reiskörner, die Constri in der Silvesternacht in meinem Zimmer verstreut hat. Rafa suchte das Verlorene und fand es für mich. Rafa und ich sprachen in kurzen Sätzen miteinander. Wir verständigten uns fast wortlos. Um Sex ging es nicht. Es ging nur um Zuneigung. Es war, als sei Zuneigung das, wonach Rafa vor allem sucht.
Ich hatte nicht vorgehabt, zwei Tage und zwei Nächte in SHG. zu bleiben, doch auf einmal waren sie herum. Wie einst wollte Rafa mich zum Zug bringen. Er stand in seinem schwarzen Mantel vor der Haustür, und ich wollte noch einmal ins Bad - wie einst.
"Wartest du?" fragte ich.
"Ja, ich warte", versicherte Rafa.
"Wartest du wirklich?"
"Ich warte."
"Du wartest also wirklich?"
"Ja, ich warte."
"Ich mache auch schnell, wirklich."
Im Bad verzettelte ich mich; ich brauchte länger und länger. Die Zeit lief mir davon - wie einst. Ich mußte den Zug verpassen - wie einst.
Als ich aufwachte, war ich aus dem Bad immer noch nicht herausgekommen.
"Ein Unfall ist das", dachte ich über mein Verlangen nach Rafa.
In dem Traum hat Rafa für mich etwas wiedergefunden, das ich verloren hatte. Was kann das gewesen sein? Etwas in mir, zu dem ich keinen Zugang habe?
Es wundert mich, daß ich diesen Traum am 02.01. hatte, dem Tag, den Rafa mir vor Wochen in einem anderen Traum als Tag unseres nächsten Wiedersehens in SHG. genannt hat. Vielleicht ist das, was zwischen Rafa und mir vorgeht, mehr als sinnlich - übersinnlich. Wir können miteinander sprechen, ohne zu sprechen. Wir verständigen uns, obwohl jeder in sich selbst gefangen ist.
Noch flieht Rafa vor mir. Sollte Rafa eines Tages mich suchen, mit der gleichen Erbarmungslosigkeit, mit der ich heute ihn suche?
Wenn Rafa etwas überfordert, fällt er in einen abwesenden, umdämmerten Zustand, in dem er sich nicht mehr vollends in der Gewalt hat. Er erkennt wohl seine Wehrlosigkeit und sein eingeschränktes Denkvermögen in diesem Zustand, und er ist dann bemüht, jeder Gefahr auszuweichen.
Ich möchte wissen, was Rafa als Erstes getan hat, als der Tod seines Vaters festgestellt wurde.
Letztens habe ich mir wieder den Zettel angesehen, auf den Rafa mir vor einem Jahr seine Adresse geschrieben hat. Mir ist aufgefallen, daß Rafa bei diesen wenigen Worten seine Schrift dauernd änderte - als wüßte er nicht, in welchem Gewand er sich mir zeigen sollte. Und seinen eigenen Nachnamen schrieb er falsch.
Constri und ich hatten früher ein Angelspiel. In einem Pappbecken lagen Fische aus Plastik und Pappe, die jeder einen Metallring im Maul trugen. Ohne Sicht ließ man Magnetangeln in das Becken hinunter, tastete nach Fischen und hoffte, daß einer oder mehrere an der Angel hängengeblieben waren, wenn man sie wieder herauszog. So angele ich auch in Rafas Seele herum. Ich suche in diesen dunklen Wassern nach Greifbarem.
Ich glaube, die Ablehnung, die Rafa mir zeigt, gründet auf Furcht - der Furcht, von mir abgelehnt zu werden.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß mir ein Mensch - und dann auch noch dieser Mensch - wirklich gehören soll. Ich kann mir nicht vorstellen, geliebt zu werden. Erst recht kann ich mir nicht vorstellen, geliebt zu werden von dem Menschen, den ich liebe. Rafa kann sich vielleicht ebensowenig vorstellen, geliebt zu werden ... und schon gar nicht, von mir geliebt zu werden.
Ich kann Rafa verstehen, weil er ein ähnliches Mißtrauen hat wie ich. Ich möchte ihm zeigen, daß es sich für ihn lohnt, mir zu vertrauen.
Äußerlich ist Rafa im Besitz der Sängerin und anderer Verehrerinnen. Wenn er jedoch in Wahrheit mir ergeben und verfallen ist, kann es sein, daß er die Nähe anderer Frauen eines Tages nicht mehr erträgt und also mich nicht mehr betrügen kann. Er könnte nicht mehr fliehen. Um das zu verhindern, ist Rafa auf seine Fähigkeit angewiesen, Gefühle von sich abzutrennen und zu verdrängen.
Vielleicht will Rafa sich stets aufs Neue beweisen, wie unabhängig er von mir ist, indem er zu mir kommt - und wieder geht. Doch jedesmal, wenn er zu mir kommt, bindet ihn meine Zuwendung fester an mich, und das Gehen wird ihm schwerer und schwerer.
Ich glaube, Rafa merkt durchaus, was für ein Geschöpf die Sängerin ist. Er hat begriffen, daß der Sockenschuß ein Sadist ist; da kann ihm die wahre Natur der Sängerin nicht verborgen geblieben sein. Im Oktober hat er schon angedeutet, daß Tessa sich in erster Linie fürs Bett eignet.
Ich kann mir vorstellen, daß Rafa sich nur deshalb nicht vor der Sängerin ekelt, weil ich mich vor ihr ekle. Ich glaube, Rafa möchte Kontrapunkte setzen zu dem, was ich sage, tue und denke, wie auch ich Kontrapunkte setze zu seinen Vorlieben, seinen Ansichten und seinem Verhalten. Gegen meine Offenheit setzt Rafa seine Fassade, gegen meine Aufrichtigkeit setzt er Lügen, gegen mich setzt er seine Freundin, gegen die von mir bevorzugte Industrialmusik setzt er seine Kinderlieder. Umgekehrt kann man sich dasselbe vorstellen. Je ängstlicher Rafa wird, desto mutiger werde ich. Je mehr er ausweicht, desto klarer und bestimmter spreche ich.
Vielleicht möchte Rafa herausfinden, wer von uns mit seiner Vorgehensweise am weitesten kommt und am längsten durchhält.
Wer ehrlich ist, hat für sich selbst schon gewonnen, denn er steht hinter sich. Wer sich belügt, handelt gegen sich. Er schadet sich. Ein Selbstbetrug bringt nur vordergründigen Nutzen. Er endet in einem seelischen Ausverkauf.
Rafa fürchtet wohl um seinen Kopf. Er will mir beweisen, daß er seine Gefühle im Griff hat, nicht sie ihn. In seinem Innern wird er wissen, daß ihn seine Gefühle überwältigen können - eben weil er sie verdrängt.
Eine innere Stimme sagt mir, daß Rafa nicht weniger gelitten hat als ich, als er im April nicht zu mir kam, obwohl er es versprochen hatte. Mein Unterbewußtsein glaubt, daß Rafa sich damals in einem Zwiespalt befand, der zur Entscheidungsunfähigkeit führte. Es war für ihn ein alptraumhaftes Erlebnis, seine Verabredung mit mir nicht einhalten zu können. Rafa flüchtete zur Sängerin. Die Sängerin ist kalt, stumpf und oberflächlich. Bei ihr ist Rafa sicher vor tiefen Gefühlen. Bei ihr kann er seine Fassade aufrechterhalten.
Carl hat berichtet, daß Rafa eine Woche nach unserer Begegnung wieder im "Elizium" war. Kappa überließ Rafa das DJ-Pult. Rafa blieb die ganze Zeit dort oben. Die Sängerin tanzte unten. Sie hielt sich nicht in Rafas Nähe auf. Um drei Uhr ging sie mit ihm weg.
Carl hat sich Rafa etwas genauer angesehen, als dieser an ihm vorbeikam. Rafa trug seine gewohnte schwarze Tracht. Carl findet, daß er tatsächlich ein seltsames Wesen ist. Er findet, daß Rafa sich seltsam bewegt und seltsam aussieht.
Die Musik, die Rafa auflegte, soll erträglich gewesen sein. Ein rauhes Industrial-Stück war darunter, das Xentrix sonst spielt.
Im "Elizium" redet man über die Sängerin besser als über Rafa. Grob gesagt ist sie die "gute Tessa" und er der "böse Rafa". Ich frage mich, was ich in der Auffassung der Leute bin. Ich frage mich, inwieweit überhaupt bekannt ist, was zwischen Rafa und mir abläuft. Rafa scheint das geheimhalten zu wollen. Versteckt er damit auch einen Teil seiner selbst? Versteckt er seine Fähigkeit, zu lieben?
Im "Elizium" soll es viele Jungen geben, die gerne mit der Sängerin ins Bett gehen würden.
"Sie reizt", sagen einige Mädchen über die prostituiertenhafte Aufmachung der Sängerin.
Abgelehnt wird sie deshalb jedoch nicht.
In einem Traumbild sah ich Folgendes:
Ein Weg wurde gepflastert. Es war der Weg, über den ich Rafa führen mußte. Der Weg war so lang, breit und gerade, daß Rafa nicht glauben konnte, daß er nur für ihn gemacht sei.
Rafa kann wahrscheinlich nicht glauben, daß ich nur für ihn da bin.
In einem anderen Traum verwandelte sich Rafas sinnliche Tracht in Mönchskleidung, sobald ich ihn umarmte.
Gab Rafa sich so keusch, weil er sich vor mir fürchtete oder weil er mich schützen und schonen wollte?
Carl und ich haben wieder einmal über die Vergangenheit und Rafas Familie gesprochen. Rafas Vater muß Geld gehabt haben; sonst hätte er sich kein Haus, keinen Mercedes und keine Uhrensammlung leisten können. Ich frage mich, was Rafas Vater von Beruf war. Ich frage mich auch, wie Rafa zum Geldhaben und zu Statussymbolen steht. Er verdient nicht viel und scheint auch nicht nach mehr zu streben. Das Malen und Musizieren scheint nur ein Spaß für ihn zu sein. Die Uhr an seinem Handgelenk ist für ihn ein Erinnerungsstück, das vor allem persönlichen Wert hat.
Leider kann ich mit Rafa über solche Themen noch nicht sprechen. Ich darf vorerst nur über ihn selbst sprechen. Es muß für Rafa unmißverständlich sein, daß ich ihn als Mensch sehe und nicht als Anstreicher oder Musiker oder Sohn eines Mannes, der es "zu etwas gebracht hat".
U.W. erzählte mir am Telefon ein bißchen von dem, was er und Rafa Anfang Dezember in "Halle 1" miteinander gesprochen haben. U.W. hatte Rafa darum gebeten, andere Musik aufzulegen.
"Tu's für Hetty", flehte er.
"Warum für Hetty?" soll Rafa gefragt haben.
Rafa scheint allgemein den Eindruck erwecken zu wollen, daß ich ihm gleichgültig bin. Er versucht nach Kräften, mich zu entmutigen und zu verunsichern.
"Kriegst mich nicht! Kriegst mich nicht!" scheint er zu rufen.
Laut U.W. soll man auch im "Elizium" der Ansicht sein, ich würde mir nur einbilden, daß Rafa in mich verliebt ist. Dolf soll gesagt haben:
"Rafa will überhaupt nichts von der."
Ich schließe nicht aus, daß Rafa dafür sorgt, daß Dolf so etwas verbreitet. Dolf hat anscheinend die Aufgabe, für Rafa zu reden und Leute abzufangen und abzuwimmeln. Ich ziehe es vor, mich persönlich an Rafa zu wenden. Ich übergehe und übersehe Dolf. Das dürfte Dolf stören, und er könnte ein eigenes Interesse daran haben, daß ich aus Rafas Leben verschwinde.
Bei U.W. habe ich den Verdacht, daß er mir nur deshalb empfiehlt, Rafa fallenzulassen, weil er selbst ein Interesse an mir hat.
Wann immer mir jemand einen Rat gibt - und das ist oft der Rat, Rafa fallenzulassen -, stelle ich mir die Frage, warum meinem Ratgeber daran gelegen sein könnte, daß ich seinen Rat befolge. Wenn er mir nur um seiner eigenen Interessen willen so rät, brauche ich auf seinen Rat nichts zu geben. Außerdem sehe ich mir an, wie mein Ratgeber lebt und was er in seinem Leben hat. Ich frage mich, ob ich so leben will wie er, und wenn ich so nicht leben will, dann ist sein Rat für mich nicht der richtige.
Als Xentrix Mitte Januar auflegte, kam Rafa nicht ins "Elizium". Xentrix brachte ein anspruchsvolles Programm, das auch angenommen wurde. "Bloodmoney" von Dive, das rauhe Industrial-Stück mit dem zersetzenden Rhythmus, ist auf dem Weg zum Kultstück. Freilich hat Xentrix die CD noch gar nicht, auf der es sich befindet.
"Es wäre nett, wenn du sie wieder mitbringen würdest", bat er mich, da er nach der CD bislang vergeblich gesucht hat.
Als ich Xentrix CD's hochbrachte, stand Kappa bei ihm vor der Barriere. Sonst war keiner anwesend von Rafas "Schutztruppe". Ich kam dicht an Kappa heran, um Xentrix die CD's zu reichen. Kappa verstummte. Er blickte mich nicht an; er stand reglos da und wartete, bis ich mich wieder entfernte.
Kappa blieb nicht lange. Als er fort war, fragte ich Xentrix, ob sein Verhältnis zu ihm gespannt sei.
"Privat ist das mit Kappa in Ordnung", meinte er, "nur - wenn wir eine Independent-Party machen, legt der eine auf, und der andere säuft, und so sollte das eigentlich nicht sein. Ich würde die Uhr gerne um drei Jahre zurückdrehen, wo das noch ganz locker war und Kappa seinen Größenwahn noch nicht hatte."
Ted war im "Elizium", mit mehreren Freunden. Constri alberte viel mit Ted herum. Carl war wieder einmal ganz besonders schick; er trug ein schwarzes Spitzenhemd und grauen Lippenstift. Es geht ihm um Saverio. Saverio ist mit seiner Freundin Edna seit Jahren zusammen. Wie wichtig Edna ihm tatsächlich ist, bleibt unklar. Wenn er sich mit Carl trifft, scheint sich eine besondere Spannung aufzubauen, ein Knistern.
Dieses Knistern erinnert mich an das, was zwischen Rafa und mir abläuft. Laut Rafa ist zwischen uns "nichts". Es gibt keine "Beziehung". Doch was die Gefühle angeht, ist zwischen uns vielleicht mehr, als jemals zwischen Rafa und einer Frau war. Ich vermute, wenn ich Rafas Hand streichle, weckt das in ihm mehr Empfindungen, als wenn er mit einer anderen Frau ins Bett geht.
Ich vermute, Rafa vollzieht eine Trennung von Sex und Gefühlen. Gefühle scheinen ihm Angst zu machen. Er ist auf eine Freundin angewiesen, der er nicht in Liebe verbunden ist.
Wenn Rafa das, was ihm Angst macht, in Wahrheit braucht, läuft er mit seinem Vermeidungsverhalten in eine Sackgasse. Er hungert sich aus.
Mit seiner Sehnsucht nach tiefen Gefühlen könnte Rafa auch seine Sehnsucht nach mir verdrängen. Er könnte Gefühle ebenso fürchten wie die daraus entstehende Abhängigkeit - die Abhängigkeit von mir.
Vielleicht zieht Rafa sich auch deswegen mehr und mehr aus der Clubszene zurück, um mir seltener zu begegnen. Er ist schon lange nicht mehr "der doofe Rafa, der immer überall sein muß". Er ist inzwischen der Rafa, den man "schon lange nicht mehr gesehen" hat.
Rafa schließt sich aus. Wer in der Clubszene nicht anwesend ist, kann nicht angesagt sein. Rafa sieht man nur noch "oben bei Kappa" oder "an irgend'ner Bar mit seiner Freundin". Er scheint seine Stellung in den Szenecliquen aufzugeben.
Ich glaube, Rafa fällt es schwer, hinzunehmen, daß er ein ungewöhnlicher Mensch ist und daß er nicht geschaffen ist für das, was er unter einer "ganz normalen Beziehung" versteht. Er scheint sich nach "Normalität" zu sehnen. Heftig wies er meine Behauptung zurück, er sei schwierig. Er möchte sich wohl nicht damit abfinden, daß er anstrengend ist und daß infolgedessen auch sein Leben anstrengend ist. Ich stehe dazu, ungewöhnlich zu sein, und ich strebe eine ungewöhnliche Beziehung mit Rafa an, die seinem und meinem Wesen entspricht. Das berührt ihn empfindlich. Mit Hilfe der Sängerin mag er mir vorführen wollen, wie "normal" er sei und daß er sich nicht verbunden fühle mit Außenseitern wie mir.
Man könnte ein Videospiel namens "Elizium" erfinden, in dem ich von Sängerinnen gejagt werde, die Rafa gegen mich ins Feld schickt. Sooft ich es schaffe, Rafa zu streicheln, bekomme ich Punkte. Ich muß immer die kurzen Augenblicke nutzen, in denen ihn gerade keine Sängerin bewacht. Sonst geht eine Alarmsirene los, und die Sängerin, die gerade mit Rafa zusammen ist, versucht mich umzutreten. Rafa wechselt die von ihm bevorzugte Sängerin von Zeit zu Zeit aus. Wenn er sich eine neue Sängerin erwählt hat, darf sie mit ihm auf die Bühne und fängt an zu singen.
In einem Traum stand ich mit Rafa vor meinem Bett. Es war bezogen mit der rosa Bettwäsche, auf die meine Mutter Monogramme gestickt hat. Rafa schlug das Bett auf. Er faßte mir kurz in den Rücken und machte eine einladende Handbewegung. Ich stieg ins Bett, und er legte sich zu mir. Es erstaunte mich, mit welcher Selbstverständlichkeit und Unbefangenheit wir das taten.
In einem anderen Traum war ich in dem Arbeitszimmer von meiner Mutter. Dort lag eine Waffe, die ein Außerirdischer dagelassen hatte. Ein fremder Mann steckte diese Waffe ein. Unten im Haus begann der Sockenschuß zu lärmen. Ich fürchtete mich sehr. Der fremde Mann sagte etwas wie:
"Dann woll'n wir mal sehen, was die Jochens machen."
und ging hinunter.
Ich folgte dem Fremden in geringem Abstand, denn ich hatte Angst um ihn, noch größere als um mich. Ich wollte ihm beistehen, falls der Sockenschuß ihn angriff. Der Fremde zog die Waffe hervor und schoß den Sockenschuß in den Arm. Die Kugel hatte magische Kräfte; sie verwirrte den Geist und die Sinne. Der Sockenschuß wälzte sich am Boden. Zu seinem Wahn kam eine Desorientiertheit, die die Aufnahme in eine Klinik erforderlich machte. Für lange Zeit war der Sockenschuß außer Gefecht gesetzt. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem er wieder freikam.
Rafa ... Rafas magische Waffe gegen den Sockenschuß ...
U.W. behauptete am Telefon, Rafa wüßte gar nicht, wie ich heiße. Ich fragte ihn, wie er darauf käme. Er berichtete, daß er Mitte Januar freitags in der "Halle" gewesen ist. Er hat Rafa an der Bar unterm DJ-Balkon getroffen. Rafa legte nicht auf. Er trug seine Spiegelbrille und etwas Rotes, das "verboten" ausgesehen haben soll; wahrscheinlich war das seine neue Weste. "Kosakenhosen" soll Rafa auch angehabt haben. Von der Sängerin soll nichts zu sehen gewesen sein. U.W. sprach Rafa an, und der erzählte ihm, er habe vor, am nächsten Tag nach HF. ins "Limited" zu fahren, wo ein Konzert stattfinden sollte. U.W. faßte nach Rafas Schulter und fragte ihn:
"Und, was macht Hetty?"
"Kenn' ich nich'", soll Rafa geantwortet haben.
"Mensch - Elektro-Betty", rief U.W. ihm ins Gedächtnis.
Da soll Rafa ein "A-ha" genickt haben. Und er soll sich rasch anderen Leuten zugewendet haben.
"Ich weiß nich', er war kurz angebunden", erzählte U.W., "und er redete da wohl auch noch mit so 'nem Typen."
Einige Leute, die auf dem Konzert im "Limited" waren, kamen danach noch ins "Elizium". Sie berichteten Carl, das Konzert sei nicht besonders gewesen.
In der "Halle" gibt es jetzt Schranken wie im Schwimmbad; wenn man die "Halle" verläßt, muß man noch einmal bezahlen. Das heißt, daß man nicht mehr "für einen Augenblick nach draußen" gehen kann.
In der "Halle" war es schon immer ein wenig wie in einer Schwimmhalle. Es gibt einen Teich darin, und durch die Luft ziehen Dampfschwaden, die nach Parfüm riechen.
Merle hatte gute Laune und wollte die ganze Nacht durchtanzen. Es kamen hin und wieder Stücke, die sich auch für mich eigneten. Rafa sah ich zunächst nicht. Stattdessen sah ich die Sängerin hereinkommen. Sie war in Begleitung eines anderen; es kann Dolf gewesen sein. Die Haare der Sängerin sahen wieder sehr künstlich rot aus, bonbonrot. Sie hingen in Zotteln um ihr Gesicht herum. Dieses Gesicht zeigt nie eine Regung, nie ein Lächeln, nie Wärme. Es ist maskenhaft starr.
Die Sängerin nahm neben einem Jungen auf dem Bühnenpodest Platz. Ich vermute, daß sie mich im Auge behalten wollte.
Es verging mehr als eine Stunde, ehe ich Rafa zu sehen bekam. Er stand an der Bar neben dem Eingang. Er trug die Weste mit dem feuerroten Rückenteil, das weite weiße Hemd und eine weiße Taftschleife im Pferdeschwanz. Er verließ "seinen" Bereich nicht; er bewegte sich nur zwischen den Bars um das DJ-Pult herum oder auf dem Bühnenpodest. Einmal war er auch kurz oben bei Kappa. Ich sah Rafa wild gestikulieren und verhandeln. Schließlich sagte Kappa durchs Mikrophon:
"Die höhere Gewalt hat gesiegt."
und kündigte zwei Stücke von Rafas Album an, das Ende Februar erscheinen soll.
Ich verließ "meinen" Bereich ebensowenig wie Rafa den "seinen". Infolgedessen sah ich Rafa kaum.
Die Tatsache, daß er in der "Halle" umherläuft, bedeutet in aller Regel, daß er keine Freundin hat. Wenn er nicht in meine Nähe kommt, bedeutet das, daß er es nicht wagt, mich anzusprechen. Ich kenne seine "stumme Sprache" schon recht gut. Dennoch fühlte ich Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht. Und ich fühlte Wut auf diesen Menschen, der so nah und doch unerreichbar war. Nun ... auch ich bin in gewisser Hinsicht unerreichbar für ihn, so nah ich ihm auch kommen mag.
Ivo Fechtner setzte sich mit Bias und Edit neben den Stuhl, auf dem meine Sachen lagen. Ich nickte Bias und Edit kurz zu. Ich fragte mich, ob Ivo Fechtner mich beobachten wollte. Ich finde es aufdringlich von jemandem, dem ich die Freundschaft gekündigt habe, mir so nahe zu kommen.
Als das EBM-Stück "Religion" von Front 242 kam, tanzte Dolf mir gegenüber. Ich fragte mich, was er bei mir suchte.
Till grüßte mich mit einer Umarmung und war verärgert, als ich nicht recht mitmachte.
"Ich umarme meine Freunde gerne", erklärte ich, "nur geht das zur Zeit nicht so gut. Das liegt daran, daß ich jemanden liebe. Wenn ich dich umarme, kommen in mir Sehnsüchte hoch nach dem Menschen, den ich eigentlich umarmen will."
"Wieso, kann ich dem Rafa nicht das Wasser reichen?"
"Es geht nicht um Qualität, sondern um Spezifität. Du bist nicht besser oder schlechter als Rafa, sondern anders. Und er paßt eben besser zu mir als du."
Toro sah ich; er kam, um mich zu begrüßen. Er mußte mich auch drücken. Ich lobte seinen Vampirumhang. Er hat ihn selbst genäht.
Es war nach zwei Uhr, und ich kam von den Toiletten; da sah ich am Rand meines Weges Rafa an einer Bar stehen. Er holte sich Bier. Er sprach mit der Frau hinter der Theke. Ich ruckte im Gehen an seinem Pferdeschwanz. Ich drehte mich nicht um und tanzte, gleich nachdem ich meine Tasche weggebracht hatte. Ich fand es sehr schön, nach langer Zeit wieder Rafas Haar anzufassen.
Ich tanzte längere Zeit. Dann bekam ich Hunger und aß etwas Süßes. Ich stand eben wieder vor der Tanzfläche, da legte sich von hinten ein Arm im weißen Hemdsärmel um meine Taille, und eine Stimme sagte:
"So."
Ich streichelte den Arm und barg die Hand in meiner. Dann drehte ich mich um und streichelte den übrigen Körper von Rafa. Ich fuhr über sein Haar und sein Gesicht und legte die Arme um seine Schultern. Er widerstrebte mir.
"Kriech' nicht so zu Kreuze!" rief er atemlos. "He! Kriech' nicht so zu Kreuze!"
Ich legte seine Hand an meine Wange.
"Kriech' nicht so zu Kreuze!" rief Rafa noch einmal.
"Was?"
"Kriech' nicht so zu Kreuze!"
"Ich krieche nicht zu Kreuze! Ich mache nur, was ich will! Ich nehme mir nur, was ich will!"
"Was willst du?"
"Alles."
"Was hast du eben gegessen?" fragt Rafa.
"Ich habe Hunger gehabt, und da habe ich ein paar Süßigkeiten gegessen."
Er kuschelt sich an mich.
Was ich gegessen habe, waren Haribo-Erdbeeren "Primavera" aus Schaumzucker. Sie sollten mir vor allem als Nahrung dienen, doch ich hatte auch Hintergedanken, als ich sie kaufte.
Ich streichle Rafa weiter. Er beginnt wieder, sich zu wehren:
"He ... nicht so ... ich kann mich mit dir nicht unterhalten, wenn du mich dauernd streichelst."
Ich nehme ein wenig Abstand.
"Bist du jetzt eigentlich vierundzwanzig?" möchte ich wissen.
"Mh-mh. Nein."
"Ja, ja ... Wie alt bist du denn? Willst du mir dein Alter nicht sagen?"
"Nein. Aber ich schwöre dir, daß ich nicht vierundzwanzig bin."
"Bist du dreiundzwanzig?"
"Mh-mh."
"Fünfundzwanzig?"
Rafa zuckt mit den Achseln.
"Dann bist du fünfundzwanzig", schließe ich.
Er zuckt wieder mit den Achseln.
"Sag' bloß, du bist schon ein Vierteljahrhundert alt."
Er schweigt.
"Ich glaube, ich esse dich roh, nicht gebraten", teile ich ihm mit. "Ich glaube, roh schmeckst du besser. Es bleibt nur die Frage, ob ich dich lebend esse oder ob ich dir vorher die Gurgel durchschneide. Was hättest du denn lieber, hm? Wie möchtest du denn lieber gegessen werden?"
Ich streichle ihn weiter, und er bittet:
"Laß' ... nicht so ... da kann man sich nicht richtig unterhalten bei ... wir müssen uns mal irgendwo in Ruhe unterhalten."
"Ja, laß' uns mal wohin gehen, wo man sich in Ruhe unterhalten kann", sage ich und bin schon auf dem Weg.
"Wohin denn?" fragt Rafa und schiebt mich zu einer der hinteren Ecken der "Halle", nur wenige Meter von meinem Platz entfernt.
"Ach, irgendwohin", antworte ich und schmiege mich sehnsüchtig in seinen Arm.
"Irgendwohin?"
"Ja. Irgendwohin."
In der Ecke schlüpfen wir durch einen Spalt in der Zeltplane und gelangen in die große Halle, die Konzerthalle. Auch sie besteht aus einem Zelt, einem gewaltigen Zirkuszelt, das mehrere tausend Menschen faßt. Beide Zelte sind in einer ehemaligen Fabrikhalle aufgestellt worden, ebenso wie das Zelt, in dem sich die Location "Halle 1" befindet. Die Fabrikhalle mißt etwa einen halben Kilometer in der Länge und ragt himmelweit in die Höhe.
Die Konzerthalle ist menschenleer und nur schwach beleuchtet. Es ist kalt dort. Ich hoffe, daß Rafa mich ausreichend wärmt. Ich habe mir nichts mitgenommen. Am Leib trage ich nur mein ärmelloses Oberteil und den neuen Organzarock. Beide Sachen sind schwarz und vorne mit Haken verschlossen. Das Oberteil hat neunundzwanzig Haken, der Rock ist am Mieder befestigt und hat eine durchgehende Leiste mit einunddreißig Haken.
"Der reinste Liebestöter", hat Derek gesagt, als er die vielen Haken gesehen hat. "Der Boy tut mir leid, der die aufmachen muß."
"Das ist das Geringste", meinte ich. "Viel schwerer ist es, die Erlaubnis zu bekommen, die Haken aufzumachen."
Als Rafa und ich uns einer Treppe nähern, die auf die Pressetribüne führt, fragt er:
"Kannst du ganz schnell laufen?"
Er hat wohl mitbekommen, daß ich fröstele, und will mich aufwärmen.
"Ganz schnell laufen?" wiederhole ich.
"Ja, ganz schnell laufen."
"Ja, ja."
Er nimmt meinen Arm, und wir rennen die Treppe hinauf. Die Pressetribüne ist lang und dunkel, und der Boden ist mit einem rauhen schwarzen Teppich bedeckt. Den Ort mag Rafa schon vorher für ähnliche Treffen verwendet haben.
"Also, ich hatte kürzlich einen Traum, da hattest du mich nach SHG. eingeladen, und zwei Tage und zwei Nächte haben wir miteinander verbracht", erzähle ich. "Geküßt haben wir uns, und getragen hast du mich, und in einem anderen Traum konnte ich dich tragen."
"Haben wir uns auch ausgezogen?"
"Nein, das war doch nicht nötig."
Wir kommen zu einem schwarzen Kasten, hoch und lang wie ein Sideboard. Er steht am äußersten Ende der Tribüne. Rafa wischt prüfend mit der Hand darüber und sagt:
"Ja."
Ich falle ihm wieder in die Arme.
"Ich hab' echt soviel gesoffen; mit mir kannst du heute echt nichts anfangen", erzählt Rafa kichernd, als wir auf dem Kasten sitzen.
"Oh, ich kann mit dir sehr wohl was anfangen", finde ich.
Ich ahne, was Rafa in den Stunden gemacht hat, die er vergehen ließ, ehe er zu mir kam. Er belauerte mich und trank sich Mut an. Doch Alkohol allein genügt ihm offenbar nicht.
"Hast du Feuer?" fragt er.
"Nein. Du weißt doch, ich rauche nicht."
"Mensch, warum hast du bloß kein Feuer?"
Rafa schaut suchend zu der kleinen, verlassenen Bar hinüber, die sich ein paar Schritte entfernt von uns auf der Tribüne befindet.
"Du rauchst doch nur; du bist doch süchtig", sage ich ernst. "Immer brauchst du diese Zigaretten. Rauch' doch mal nicht. Wußtest du eigentlich, daß das Bronchialkarzinom die häufigste Krebstodesursache bei Männern ist?"
"Ich bin kein Mann", erwidert Rafa.
"Ach, du bist kein Mann."
"Nein. Ich bin kein Mann."
"Aber was bist du denn? Sag' jetzt bloß, du seist kein Mensch."
Ich lege meine Wange an seine und fahre fort:
"Außerdem küsse ich dich viel lieber, wenn du nicht geraucht hast. Das schmeckt dann besser."
Auf einen solchen Satz scheint Rafa nur gewartet zu haben. Er küßt mich leidenschaftlich.
"Genau wie im Traum!" erkenne ich begeistert. "Echt, genau wie im Traum ..."
Rafa erhebt sich und zieht mich mit hoch.
"Paß' auf", bestimmt er, "jetzt machst du mal genau, was ich sage ... und zwar nichts. Und dann küsse ich dich. Also."
Er greift nach meinem Kinn.
"Hier alles locker", sagt er. "Locker! Locker! - So. Nichts machen. Du machst jetzt gar - nichts. Und jetzt machst du deinen Mund ein bißchen auf. Und den Rest mache ich."
Er beschäftigt sich eingehend mit mir. Ich hänge meinen Kopf über seine Schulter.
"Ich lasse mich gerne von dir küssen", sage ich.
"Darf ich dich jetzt ausziehen?" geht es gleich weiter.
"Du willst mich ausziehen", wiederhole ich.
"Ich werde dich ausziehen", kündigt Rafa an.
Er hat den obersten Haken schon in der Hand.
"Und was ist, wenn uns jemand sieht?" wende ich ein.
"Wer soll uns denn sehen? Hier ist doch niemand!"
"Aber es könnte uns doch jemand sehen ..."
"Hier ist es dun-kel, und außerdem ist hier keiner."
"Tja, wir müßten eben bei mir zuhause sein."
Wieder greift Rafa nach dem Haken.
"Du kannst mich nicht einfach so ausziehen", bremse ich.
"Wie alt bist du?"
"Das weißt du doch."
"Wie alt?"
"Siebenundzwanzig."
"Mensch, warum bist du bloß so alt?" seufzt Rafa.
"Ich bin es eben. Was kann ich dafür?"
"Hast du die Regel?"
"Nein."
"Nimmst du die Pille?"
"Nein."
"Warum nimmst du nicht die Pille?"
"Ich brauche sie nicht."
"Du bist siebenundzwanzig, und ich darf dich nicht ausziehen."
"Das hat doch nichts mit dem Alter zu tun."
"Ja, warum darf ich dich denn nicht ausziehen?"
"Da ist etwas in mir, das verbietet mir das", erkläre ich. "Das heißt, ich will es schon, aber ich darf es nicht."
"Wieso? Warum? Was verbietet dir das?"
"Das hat zu tun mit meiner Vergangenheit. Ich bin früher als 'Kopfmensch' bezeichnet worden."
"Kopfmensch? Was ist das?"
"Jemand, bei dem der Körper nichts zählt."
"Paß' auf, stell' dich mal da hin", fordert Rafa mich auf.
Er schiebt mich zur Brüstung und stellt sich vor mich. Das Licht, das schräg von unten heraufkommt, strahlt mich an. Rafa öffnet einige Haken.
"Ich habe irgendwann niemanden mehr umarmen wollen", sage ich. "Dann hat man mich eben ausgelacht deswegen."
"Ausgelacht? Wer hat dich ausgelacht?"
"Na, die Leute haben sich eben über mich lustig gemacht. Mir ist suggeriert worden, daß das was Lächerliches ist, wenn ich mich hingebe. Seitdem ist das für mich auch demütigend."
"Wer hat dir das suggeriert?"
"Ich weiß nicht, wer das war. Ich weiß es nicht."
"Darf ich mit dir schlafen?" fragt Rafa. "Ich will jetzt gleich mit dir schlafen. Darf ich? Ja oder nein?"
"Man muß doch nicht immer gleich ... man kann doch auch einfach nur zärtlich miteinander sein."
"Darf ich?" fällt Rafa mir ins Wort. "Ja oder nein?"
"Diese Frage muß ich geteilt beantworten."
"Ja - oder - nein?"
"Darauf kann ich nicht mit 'ja' oder 'nein' antworten."
"Ja oder nein? Ja oder nein?"
"Das kann ich nicht ..."
"Ja oder nein? Ja oder nein?" fragt Rafa laut.
Er wirft den Kopf zurück und schaut mich trotzig an.
"Jetzt nicht", gebe ich zur Antwort.
"Das ist gut", meint Rafa und zieht mich an sich. "Ich hätte sowieso nicht mit dir geschlafen."
"Nein?"
"Nein. Ich will dich nur überreden."
Ich streichle ihn wieder, und er sagt:
"Dann willst du also nie mit mir schlafen."
"Doch."
"Und wie soll das gehen?"
"Ich wollte jemanden finden, für den ich Gefühle haben kann. Dadurch kann sich das vielleicht mal bessern."
"Ach, und dann willst du immer nur meine Gefühle lieben."
"Nein. Ich habe Wünsche, aber ich kann die nicht ausleben", erkläre ich. "Das ist wie eine böse Macht, die mich in den Klauen hält und mir das Schöne in diesem Leben vergällt, die mir nicht gönnt, was das Leben schön macht. In mir ist etwas kaputt. In mir ist etwas zerstört. Ich bin auch geil auf dich, aber ich darf nicht das tun, was ich will."
"'Geil'!" rügt Rafa. "Auf was für einer Ebene reden wir denn hier!"
"Ich meine, ich will schon mit dir schlafen, aber ich darf es nicht."
"Heißt das, wenn ich jetzt mit dir schlafen würde, dann wäre es genauso, wie wenn ich dich vergewaltige?"
"Ja, genauso. Es hinterläßt Spuren in meinem Innern, die bleiben für immer."
"Mensch, dann kannst du doch nie eine Beziehung haben. Mädchen, wenn du nur endlich mal verstehen würdest, daß ...", seufzt Rafa. "Wenn du mich nur endlich mal ein bißchen begreifen würdest."
"Nun red' doch nicht immer in halben Sätzen. Was verstehe ich angeblich nicht?"
"Du verstehst mich nicht."
"Was verstehe ich denn an dir nicht?"
"Ich sage ja, du verstehst mich nicht."
Rafa öffnet noch mehr Haken und küßt und streichelt mich dabei.
"Das heißt, wenn ich das jetzt hier mit dir mache, hinterläßt das gleich Spuren", forscht er.
"Ja."
"Genieß' es einfach."
"Ich kann das nicht so einfach genießen. Ich finde das schön, aber es ist auch gleichzeitig eine Beklemmung."
"Genieß' es einfach. He, es geht nur darum, was du willst. Es geht hier nicht um mich. Es geht höchstens um dich."
Er streift mir das Oberteil über die Schultern.
"Hiier durch ... und hiier durch", sagt er und läßt mich mit den Armen durch die Armlöcher schlüpfen.
Er umarmt mich und leckt an mir herum.
"Wenn ich das jetzt hier mache ...", fährt er fort, "wie ist das? Ist das auch so, wie wenn ich dich vergewaltige?"
"In gewisser Weise schon."
"Hiier durch ... und hiier durch", sagt Rafa wieder.
Er nimmt meine Arme und steckt sie durch die Armlöcher. Dann zieht er mir das Oberteil hoch und beginnt, die Haken zu schließen.
"Warum machst du es wieder zu?" frage ich.
"Weil ich niemanden vergewaltige."
"Du vergewaltigst mich doch nicht."
"Eben hast du gesagt, daß ich dich damit vergewaltige", erinnert mich Rafa. "Das waren deine Worte."
"Es kann sich aber doch auch etwas ändern."
"Wodurch soll sich was ändern?"
"Dadurch, daß ich liebe."
Rafa scheint es spannend zu finden, sich mit den Haken auseinanderzusetzen. Er redet vor sich hin:
"Es geht schon. Wart' mal, es geht schon. Ich hab' s gleich."
Ich streichle sein Haar; meine Arme werfen Schatten und nehmen ihm die Sicht.
"He, laß' das mal, ich seh' sonst nichts", wehrt er mich ab.
Er möchte nicht, daß ich ihn bei seiner Arbeit störe.
"Ab hier kannst du sie aber ruhig auflassen", sage ich, als noch etwa zehn Haken offen sind.
"Nein, nein, das krieg' ich auch noch hin", meint Rafa. "Jetzt hab' ich sie sowieso schon fast zu. Außerdem waren sie vorher auch alle zu."
Er schiebt mich vor den schwarzen Kasten. Er hat sich etwas Neues überlegt:
"Jetzt mach' mal die Augen zu. Los, mach' die Augen zu."
"Wenn uns jemand sieht ..."
"Ach, da sieht uns keiner. Hör' mal, ich steh' vor dir. Da müßte einer Röntgenaugen haben, wenn er da durchsehen könnte."
Ich glaube ihm. Er ist erheblich breiter als ich und kann mich vollkommen verdecken.
"So, du machst jetzt deine Augen zu", fordert er mich wieder auf, "und du tust nichts, und du siehst nichts, und du hörst nichts. Du hörst auch die Musik nicht mehr. So, du hörst jetzt die Musik nicht mehr. Und? Hörst du die Musik jetzt noch?"
"Ja ..."
"Jetzt nimm' den Kopf zurück und mach' mal gar nichts. Auch kein 'rumgelache. Gar nichts."
Er hakt das Oberteil wieder auf. Dieses Mal streift er es mir nicht von den Schultern, sondern er zieht es aus dem Rockbund. Er kratzt mir mit den Fingernägeln über die Haut. Dann beugt er sich herunter und leckt und küßt mich.
"Sag' es doch, du magst es nicht", zeigt Rafa sich enttäuscht.
"Doch, ich mag das schon", versichere ich. "Ich genieße das auch. Aber da ist immer eine Beklemmung."
"Du magst es also nicht. Du magst das also nicht."
"Doch, schon, aber es ist immer etwas dabei."
"Und du läßt mich das machen."
"Ja. Ich möchte es, weil ich dich liebe."
"Kannst du das nicht genießen? Kannst du das nicht?"
"Doch, es gefällt mir schon ..."
Er schließt wieder einige Haken, und ich frage:
"Warum machst du's denn wieder zu?"
"Du willst es doch nicht. Ich tue nie etwas, das du nicht willst."
"Ja, ich weiß das. Das weiß ich."
"Also, ich vergewaltige niemanden."
"Das weiß ich doch."
Ich streichle seine Haare.
"Hier, nimm' mal die Hände weg; dann sehe ich wenigstens was", kommt es von ihm.
Ich nehme meine Hände herunter.
"Das Licht reicht grade so ... ich find'n, ich muß nur noch gucken", sagt er ehrgeizig. "Die sind so klein, diese Haken."
"Tja, die sind auch nur dazu da, um dich zu ärgern."
"He, he, faß' mich nicht immer so an, damit -", meldet sich Rafa, als ich es wieder nicht lassen kann, nach seinem Haar und seinen Schultern zu greifen.
"So, jetzt knie' dich hin", fordert er mich auf.
Er kniet sich auch hin.
"Ich find' das immer so geil, vor einer Frau zu knien", sagt er und umarmt mich. "Nicht, daß du denkst, ich sei jetzt sadomaso."
"Nein, das denk' ich nicht. Ich knie ja auch gerne vor dir."
Ich fasse nach seinen Ponysträhnen und ziehe daran. Ich ziehe auch Strähnen aus seinem Pferdeschwanz. Ich überlege, ob ich Rafa das Haar öffnen soll. Seit er es im letzten Frühjahr öffnete, habe ich Sehnsucht danach, in seinen Haaren zu wühlen. Doch ich hätte es auch nicht gern, wenn man mir die Haarschleife aufknoten würde. Im Dunkeln und ohne Spiegel ist es schwierig, sie neu zu binden.
"Jetzt will ich dich aber mal ausziehen", sage ich zu Rafa.
"Ja, bitte, kannst mich gern ausziehen", entgegnet er bereitwillig. "Ich lasse mich ebenso gern ausziehen, wie ich andere ausziehe."
"Was kann ich denn alles ausziehen?"
"Du darfst alles ausziehen", sagt Rafa verlangend. "Ich lasse mich gerne ausziehen. Ich liebe es, ausgezogen zu werden, genauso, wie ich es liebe, jemanden auszuziehen."
"Haha, klar, das macht voll Spaß."
Ich streife meine Handschuhe ab und lege sie neben mich. Dann prüfe ich Rafas Spitzenmanschetten. Sie sind mit einem Gummi gerafft.
"Ah, da geht's gar nicht 'rein", stelle ich fest. "Da geht gar nichts auf. Da habe ich mich schon geärgert, daß ich da nicht so weit 'reingekommen bin."
Ich schiebe meine Hand in seinen Ärmel und komme wirklich nicht sehr weit. Ich beginne, seine Weste aufzuknöpfen.
"Ja, du hattest ja schon mal - am 01.01. - diese unverschämt rote Weste an", bemerke ich.
"Jaha, die ist schick, nicht?" strahlt Rafa.
"Allerdings. Ich hätte dich am liebsten gegessen."
Ich kann nun endlich mit der Weste spielen. Als ich sie öffne, entdecke ich, daß das Hemd am Kragen geschnürt und nicht geknöpft ist. Mir gefallen solche Hemden. Ich löse die Schnürung und greife nach der Haut darunter. Rafa hebt artig seine Arme in die Höhe und läßt sich das Hemd über den Kopf ziehen. Dann schüttelt er seine Haare zurecht.
"Das reicht erstmal", finde ich.
Ich ziehe ihm die Hose nicht aus. Ich kann Rafa streicheln und umarmen, ohne daß Stoff im Wege ist. Daran muß ich mich erst gewöhnen. Sein Körper ist kräftig, fest und warm.
"Endlich", seufze ich. "Ich habe mich immer danach gesehnt."
"Echt, ich will dich so gerne zum Freund haben", sagt Rafa und drückt mich an sich.
"Ich will dich auch gerne zum Freund haben. Für immer."
"Wenn ich dir das nur glauben könnte."
"Ich möchte, daß du mir glaubst", fordere ich. "Ich möchte, daß du mir meine Gefühle glaubst. Glaube mir doch einfach mal. Glaube mir doch. Ich möchte, daß du mir das glaubst, daß ich dich liebe. Ich möchte, daß du mir das glaubst."
"Du liebst mich nicht."
"Natürlich tue ich das", sage ich bestimmt. "Ich liebe dich auf jeden Fall, ganz sicher."
"Ich - will - nur - Sex und sonst nichts. Das sollst du glauben. Het-ty."
Er hat sich ein wenig versprochen, doch meinen Vornamen weiß er, im Gegensatz zu dem, was U.W. behauptet hat.
Ich lehne mich an Rafa. Er wuschelt mir in den Haaren herum.
"He, ich versuche, so mies zu dir zu sein, wie es geht", deckt er die Karten auf. "Aber Hetty ..."
Er zeigt Erstaunen darüber, daß ich mich von seinen Entmutigungsversuchen nicht abschrecken lasse.
"He!" ruft er unruhig. "Genieß' nicht immer den Augenblick! Du sollst nicht immer den Augenblick genießen!"
"Ich genieße aber den Augenblick."
"Das ist nicht gut."
"Ich denke aber auch an die Zukunft."
"Mensch, warum muß das - Mädchen, das könnte doch so einfach sein zwischen uns."
"Das ist nicht einfach", widerspreche ich. "Das ist schwierig. Das ist anstrengend, mich zu gewinnen. Du kannst mich nicht so einfach bekommen. Das ist harte Arbeit. Das dauert Jahre. Ich möchte ehrlich zu dir sein."
"Warum sollte ich das tun?"
"Traust du es dir nicht zu? Hältst du dich nicht für so stark wie mich?"
Rafa lacht und sagt:
"Ich bin viel stärker."
"Ja, dann kannst du es doch", folgere ich.
"Ist das schon ein Grund?" fragt Rafa.
"Na - wenn du mich liebst; das ist es eben."
"Und das soll ich auf mich nehmen?"
"Was glaubst du, was ich schon alles auf mich genommen habe deinetwegen?"
"He, ich verrechne hier nicht", will er klarstellen. "Das ist ja, wie wenn ich sage, ich gebe dir das, aber nur, wenn du mir das dafür gibst."
"Stimmt", berichtige ich mich. "Es ist anders. Du sollst es auf dich nehmen, wenn du mich liebst."
"Jetzt gleich will ich mit dir schlafen, jetzt gleich."
"Das geht nicht. Das kann ich nicht. Das darf ich nicht."
"Warum darfst du das nicht?"
"Das mußt du herausfinden. Das ist das Rätsel, das mich umgibt. Das ist das Rätsel, das aufgelöst werden muß."
"Das kann ich nicht auflösen", meint Rafa.
Während ich mich an ihn kuschle, sagt er nachdenklich:
"Dann kannst du ja nie eine Beziehung haben. Wie soll denn eine Beziehung von uns aussehen? Wie soll denn das aussehen?"
"Ja, sehr lebendig. Es würde sich dauernd etwas tun."
"Und das weißt du einfach so."
"Ja. Es würde halt dauernd etwas geschehen. Wir würden einander sehr stark beeinflussen. Es würde sehr viel geschehen darin. Es wäre nie Ruhe."
"Und das weißt du alles. Was du immer so alles über mich wissen willst. Du kennst mich doch gar nicht. Du kannst mich doch gar nicht kennen. Du weißt doch gar nicht, wen du vor dir hast."
"Doch, dich. Dich habe ich vor mir."
"Aber woher kennst du mich denn?" fragt Rafa und ist wieder unruhig und angstvoll. "Woher kennst du mich denn?"
"Oh, ich habe so viel mit dir gesprochen. Ich habe dich schon kennenlernen können."
Ich küsse ihn. Er beginnt, an meinen Beinen herumzustreicheln und greift mir in den Schritt. Ich ziehe seine Hand weg.
"Das darfst du nicht", sage ich.
"Warum darf ich das nicht?"
"Du darfst es eben nicht."
"Paß' mal auf, wir machen das so ...", kündigt er an.
Er versucht, meine Beine um seinen Körper herumzulegen. Es mißlingt.
"Ich tu' dir doch nichts", sagt er.
"Das weiß ich doch", beteure ich. "Es geht aber trotzdem nicht."
Rafa faßt meine Beine und zieht sie in die Höhe. Er versucht, sie in gestrecktem Zustand auseinanderzubiegen. Auch das wird nichts.
"Willst du das denn nicht?" fragt er.
"Ich will es, aber ich darf es nicht", antworte ich.
"Warum nicht?"
"Ja, das ist eine dunkle Macht, die mich in den Klauen hält."
Er streichelt weiter über meine Beine und fragt:
"Darf ich jetzt gleich mit dir schlafen, jetzt gleich?"
"Du darfst ja nicht. Du darfst ja nicht. Ich würde ja gerne, aber es geht nicht."
"Ich will gar nicht mit dir schlafen", behauptet Rafa. "Ich würde sowieso nicht mit dir schlafen. Ich will dich nur überreden."
Er läßt mich los, und ich kniee mich dicht vor ihn und lege meine Arme um ihn.
"Wir müssen das jetzt gleich lassen", sagt Rafa leise und ernst. "Wir müssen jetzt damit aufhören."
"Du willst damit aufhören."
"Bitte, wir müssen das jetzt unbedingt beenden."
Er sieht mich mit einem traurigen Blick an. Ich kenne diesen Blick.
"Warum müssen wir das beenden?" frage ich vorsichtig. "Warum müssen wir das?"
Es liegt wie ein Schatten über Rafas Zügen. Er sitzt sehr still da. Er scheint etwas in seinem Innern niederzuringen. Für kurze Zeit schließt er seine Augen. Als er sie wieder öffnet, lächelt er entschuldigend. Ich fasse nach seiner Wange.
"Nun, los, sag', was du sagen willst", fordert er mich auf.
"Ich will nichts sagen", entgegne ich und lehne meine Schläfe an seine.
"Doch, du willst etwas sagen", ist Rafa sicher.
Ich schaue ihn wieder an. Ich habe mich an etwas erinnert, als er seine Augen geschlossen und geschwiegen hat. Mir ist eingefallen, daß jemand, der von Tränen überwältigt wird, eben dies tut, wenn er nicht will, daß sein Gegenüber es bemerkt. Rafa scheint meine Gedanken wahrgenommen zu haben. Vielleicht hatte er den Eindruck, daß ich sie ihm mitteilen wollte.
"Was denkst du?" frage ich ihn.
"Nichts, nichts, überhaupt nichts", behauptet Rafa. "Ich hab' echt so viel gesoffen. Es ist echt nicht zu fassen, so viel getrunken hab' ich."
Er nimmt mein Gesicht zwischen seine Hände. Ich tue ein Gleiches mit ihm. So betrachten wir uns. Er scheint sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Mit einem Auflachen greift er unter meinen Körper.
Mir fällt ein, daß jemand, dem zum Weinen zumute ist, gern lächelt oder lacht, weil er hofft, dadurch seine Trauer übertünchen zu können.
Rafa setzt sich in den Schneidersitz und legt mich über seine Beine. Ich lasse mich zurückfallen und schließe die Augen. Ich liege da wie eine Schaufensterpuppe. Rafa hat wieder einige Haken aufgemacht und streichelt mich. Ich umfasse Rafa mit meinem linken Arm, so weit ich es kann.
"Du hast überhaupt keine Angst vor mir", staunt Rafa und muß lachen.
"Nein", bestätige ich. "Ich weiß, daß du nie etwas tun würdest, das gegen meinen Willen ist."
Ich freue mich darüber, sein Lachen hören zu dürfen. Ich höre es allzu selten.
"Woher kennst du mich nur?" fragt Rafa. "Du kennst mich doch gar nicht."
"Doch, ich kenn' dich. Ich kenn' dich."
"Haha ... du kennst mich vielleicht drei, vier Jahre ... ich kenne mich schon ein ganzes Leben lang. Ich kenne mich schon, so lange es mich gibt. Wie willst du mich kennen?"
"Ich denke, ich konnte dich schon kennenlernen."
"Kann ich mit dir schlafen? Ich möchte jetzt gleich mit dir schlafen."
"Das geht nicht."
"Wieso geht das nicht? Natürlich geht das."
"Es geht wirklich nicht."
"Mensch, es könnte so einfach sein ..."
"Es ist aber nicht einfach. Ich habe einen Schaden, im Kopf", sage ich langsam und deutlich und forsche in Rafas Augen nach, ob er es begreift. "Ich funktioniere nicht. Und du hast auch einen Schaden im Kopf."
Rafa schiebt die Haken wieder durch die Ösen.
"Ey, ich ziehe Frauen fast so gerne an, wie ich sie ausziehe", meint er. "Alle reden immer vom Vorspiel. Keiner redet davon, daß es auch ein Nachspiel gibt."
"Ich finde, ein Nachspiel gehört in jedem Fall dazu."
"Nicht? Finde ich auch. Wenn ich eine Frau ausziehe, möchte ich sie auch wieder anziehen. Das ist, wie wenn man ein Geschenk auspackt und dann wieder für jemand anderen einpackt. Für wen packe ich dich eigentlich ein?"
"Für mich."
"Das ist die Frage."
Ich muß seufzen.
"Ich liebe nur dich und ausschließlich dich", erkläre ich.
Ich streichle sein Haar und sein Gesicht.
"Wenn ich dir das nur glauben könnte", sagt Rafa. "Wenn ich nur glauben könnte, daß das stimmt."
"Doch, es ist so. Es ist wirklich wahr."
"Ja, wenn ich so höre, was andere Leute über dich sagen, dann kommen mir Zweifel."
"Was sagen die anderen Leute über mich?" frage ich lauernd. "Meine Leute ..."
"Ich rede hier nicht von deinen Leuten, mit denen du redest. Ich rede von anderen Leuten, mit denen ich rede."
"Was sollen die denn über mich sagen?"
"Ja ... wenn da bestimmte Leute kommen und sagen, du würdest jemand andern ... der würde dich ..."
"Wer sagt da was über mich?"
Das möchte Rafa nicht preisgeben.
"Ach, das waren bestimmt diese Idioten, die sich einbilden ... von denen der eine sich einbildet, er würde mich lieben", vermute ich. "Die haben bestimmt gegen mich jetzt eine Intrige in die Welt gesetzt. Nee, also. Nee, nee, nee, nee. Denk' bloß nicht, ich sei untreu. Den Gefallen tu' ich dir nicht. Es gibt für mich dich und sonst - nichts."
Ich sehe das gerührte Lächeln in Rafas Gesicht, das mir schon vertraut ist.
"Wen sollte ich denn sonst wollen?" fahre ich fort. "Ich will nur dich. Ich will eben keinen anderen."
"Du weißt doch gar nicht, was ich bin. Du weißt doch über mich gar nichts."
"Oh, was glaubst du, was ich alles über dich weiß. Wir haben so viel miteinander geredet. Und ich habe dich beobachtet. Ich will nur dich", sage ich mit Streitlust im Blick und in der Stimme. "Ich kann nur dich lieben und dich wollen."
"Das glaube ich nicht ... haha ..."
"Ich liebe dich und nur dich. Und ich will, daß du mir das glaubst."
"Und da bist du dir ganz sicher."
"Ja. Ich denke nur an dich."
"Viel-leicht."
"Nein, bestimmt."
"Viel-leicht."
"Ich habe mir über niemanden so viele Gedanken gemacht wie über dich."
"Das ist es ja", meint Rafa. "Du denkst zu viel an mich."
"Nein."
Ich betrachte ihn, seine Züge, seinen Körper, und setze hinzu:
"Ich habe mich noch mit niemandem so viel beschäftigt wie mit dir. Es gab noch niemanden, zu dem mir so viel eingefallen ist wie zu dir. Ehrlich nicht. Ich habe mein ganzes Leben lang nur dich geliebt."
Rafa schüttelt den Kopf und fragt:
"In was für einer Welt lebst du?"
"In dieser."
Er hat seine Finger zwischen meinen hindurchgeschoben und hält so meine rechte Hand umschlossen.
"Echt, ich möchte zu gerne wissen, in was für einer Welt du lebst", sagt er. "Auf keinen Fall - in der realen."
Ich will ihm widersprechen, da fährt er fort:
"Bau' doch mal was auf. Zerstör' doch nicht immer nur."
"Ich baue etwas auf", weise ich seinen Vorwurf mit Bestimmtheit zurück. "Wir müssen uns gegenseitig helfen. Wir müssen versuchen, die Schwächen des anderen zu finden und zu kurieren. Du hast nämlich auch einen Schaden. Du hast ein äußerst gespanntes Verhältnis zu deinen Gefühlen."
"Zwischen mir und meinen Gefühlen ist alles klar", behauptet Rafa. "Mit dreizehn habe ich alles mit mir abgemacht, und damit bin ich gut gefahren."
"Wie sieht der Pakt aus, den du mit deinen Gefühlen geschlossen hast?" forsche ich.
"Ich habe allgemein festgelegt, wie mein Leben verlaufen soll."
"Was hat nun der Pakt enthalten? Was hast du da beschlossen?"
"Das - nee", lacht Rafa. "Das sag' ich nicht. Das nicht."
"Nun, komm'. Wie sieht der aus?"
"Nein, nein. Das gibt's nicht."
Ich befreie meine Hand und schließe die Arme um Rafa. Ich möchte nicht, daß er friert.
"Paß' auf, ich ziehe dich jetzt ganz zärtlich aus, und dann schlafe ich ganz zärtlich mit dir - hm?" versucht er es wieder.
"Nein, das kann nicht sein", muß ich antworten.
"Ja, warum denn nicht? Warum darf ich nicht?"
"Es geht halt nicht."
"Mensch, echt ... dann kannst du doch nie eine Beziehung haben."
"Es ist so ... ich mußte jemanden finden, den ich lieben kann."
"Du brauchst mich nicht; du brauchst jemand anderen."
"Ich will aber nur dich."
"Du brauchst mich nicht", beharrt er. "Du brauchst jemand anderen. Ich meine, ich werde dir helfen. Aber du brauchst jemand anderen."
"Nein, ich will nur dich. Wen soll ich denn brauchen?"
"Du brauchst jemanden, aber nicht mich."
"Ja, wen brauche ich denn?"
"Jemand anderen."
"Wen soll ich denn brauchen? Wen? Wen?"
"Ja, jemand anderen."
"Wen denn?"
"Das sage ich nicht."
"Also, komm', jetzt!"
Er will nicht mit der Sprache heraus.
Anscheinend hat er das Gefühl, daß jemand zwischen uns steht.
"Das ist doch klar, ich will dich, und das war's", gebe ich Rafa aufs Neue die Bestätigung, von der er anscheinend nicht genug bekommen kann.
"Du brauchst jemand anderen als mich", muß ich da wieder hören.
"Nein, wirklich nicht", versichere ich. "Wirklich nicht. Wen sollte ich wollen? Wie denn?"
"Ich helf' dir. Aber du brauchst jemand andern."
"Nein, ich will aber bloß dich. Fertig, aus."
"So, ziehst du mich wieder an?" fragt Rafa.
"Ich soll dich wieder anziehen", sage ich zögernd, weil ich ihn lieber noch länger ohne sein Hemd im Arm hätte.
"Hilf' mir", bittet er. "Ich hab' dich auch wieder angezogen. Jetzt zieh' mich auch wieder an."
Er reicht mir sein Hemd und hebt die Arme hoch, damit ich es ihm überstreifen kann. Ich spiele dabei mit dem Hemd herum, weil ich Zeit gewinnen möchte. Er wird ungeduldig und bindet sich das Hemd selbst zu.
"Ist das schade", seufze ich. "Ich hab' dich lieber, wenn du ausgezogen bist. Ich muß dich doch streicheln. Ich muß dich streicheln."
Ich greife nach dem Saum und fasse unter dem Hemd nach Rafas Rücken.
Er stellt sich hin.
"So, jetzt noch die Hose ein Stück auf ...", sagt er.
Ich sehe sein Bein und greife danach.
"He! Was ist denn das?" fragt er entrüstet.
"Ich fasse doch nur deine Beine an."
"Ich mache das nur, um mein Hemd wieder 'reinzustecken", erklärt Rafa.
Ich lehne mich an den schwarzen Kasten. Rafa hat sein Hemd gerichtet und steht vor mir. Ich spiele mit seinem Kragen und seinen Manschetten und streichle ihn.
"Ich will dich noch ein bißchen ...", sage ich. "Das macht so einen Spaß. Das macht so einen Spaß. Das macht so einen Spaß. Ich spiel' da so gerne mit."
"He, laß' uns doch mal auf einer Ebene das machen", beschwert sich Rafa.
"Auf welcher Ebene?"
"Ich hab' dich auch gefragt, ob ich dich ausziehen darf."
"Ach, dann soll ich dich auch fragen, ob ich dich streicheln darf."
"Ja."
"Faßt du mich gerne an?" frage ich.
"Ja."
"Willst du denn, daß ich dich streichle?"
"Ja."
"Also, ich darf dich streicheln."
"Ja."
"Ah, dann streichle ich dich."
Ich fahre fort, ihn zu streicheln.
"Darf ich mit dir schlafen?" fragt Rafa. "Ich möchte jetzt gleich mit dir schlafen."
"Es tut mir so leid, daß ich dir das versagen muß."
"Versagen? Warum versagen? Ich hätte doch eh nicht mit dir geschlafen."
"Nein, hättst du nicht?"
"Nein."
Ein Pärchen kommt auf die Pressetribüne. Sie scheinen nach einem Platz zu suchen, wo sie ungestört sind.
"Da sind welche", sage ich erschrocken.
Rafa dreht sich flüchtig um.
"Wo?" fragt er. "Ich seh' keine."
"Doch, da sind welche."
Wieder dreht sich Rafa kurz um und behauptet:
"Ich seh' nichts."
Ich bin sicher, daß er sie gesehen hat. Doch er meint wohl, daß es die beiden Leute nicht geben darf und daß es sie deswegen auch nicht gibt. Sie kommen nicht in unsere Nähe. Sie scheinen uns bemerkt zu haben und gehen wieder hinunter. Eng an Rafa geschmiegt warte ich, bis sie fort sind.
"Ich weiß jetzt", führe ich unser Gespräch weiter. "Der Mann, der mich liebt, der ..."
"Ich bin kein Mann."
"Du bist aus Fleisch und Blut, und du schüttest dich immer mit Nikotin zu, damit du auch schön früh stirbst."
"Alkohol ... und ... Koks", ergänzt Rafa. "Früh sterben ist doch nicht schlecht, denn wenn man tot ist, ist man unsterblich."
"Du möchtest also tot sein."
"Ja, ist doch nicht schlecht. Die Erfahrung muß doch sowieso jeder mal machen. Und je eher man stirbt, desto eher ist man unsterblich."
"So, und meinst du nicht, das kann noch ein bißchen warten? Wenn du die Erfahrung sowieso machen mußt, meinst du nicht, das hat noch ein bißchen Zeit?"
"Jeder Mensch hat im Leben ein Ziel, das er erreichen muß, und wenn er das erreicht hat, kann er ruhig sterben", findet Rafa. "Wenn er stirbt, bevor er das Ziel erreicht hat, ist's schlecht."
"Ja ... das heißt, wenn ich dich erreicht habe, dann kann ich ruhig sterben", folgere ich.
"Nein", erwidert Rafa schnell.
Er nimmt mich auf die Arme und ruft:
"Ach, macht das einen Spaß! Mann, bist du leicht!"
"Ja, fünfzig Kilo. Was wiegst denn du eigentlich?"
Er schwenkt mich herum.
"Fast das Doppelte", sagt er und lacht verlegen.
Ich muß andauernd lachen.
Als er mich wieder auf die Füße stellt, sage ich:
"Das war genau wie in dem Traum. Und in dem anderen Traum, da konnte ich dich tragen."
"Was!" ruft Rafa erstaunt. "Du hast geträumt, du könntest mich hochheben?"
"Ja, sicher. Das war ganz leicht. Ich habe dich immer so eine Galerie langgetragen."
"Also, jetzt will ich's wissen. Jetzt versuch's mal."
Ich greife von unten um Rafas Körper herum und hebe ihn ein Stück in die Höhe. Ich bin wirklich dazu imstande, ihn hochzuheben, wenn es auch nur eine Handbreit ist.
"So, jetzt stell' dich mal hin, so vor mich", bittet er.
Er greift unter mich und hebt mich so an, daß meine Beine seinen Körper umschließen.
"Das ist schön", sagt er.
"Ja, das ist schön."
"Das macht Spaß, das macht Spaß."
"Hm, mir macht das auch Spaß."
Er faßt um meine Knie und hebt mich noch höher. Dann nimmt er mich wieder ein Stück herunter und hält mich wie zuvor. Er dreht sich mit mir, und ich muß lachen. Er dreht sich so lange, bis uns beiden schwindelig ist. Dann bleibt er stehen und ruft seine Augen, die sich ruckartig weiterbewegen:
"Hier ... nun komm' schon ... komm' ... komm' ... ja, ja ... oh, ich hab' wirklich zuviel getrunken."
"Ich rutsche 'runter. Du mußt nachfassen."
Er faßt nach.
"Ja", sage ich zufrieden.
Ich lache und lache.
"Macht das einen Spaß!" rufe ich. "Macht das einen Spaß!"
Ich lecke und beiße an seiner Schulter herum, die nur der Stoff des Hemdes bedeckt. Rafa stellt mich hin und hebt seine Weste auf.
"Was ist das?" fragt er und tastet über den Boden.
"Das sind meine Handschuhe. Die hatte ich doch ausgezogen."
Ich küsse ihn, während er sich die Weste zuknöpft.
"Komm' wieder auf den Boden", bitte ich.
Wir knieen voreinander. Rafa faßt mein Oberteil und hakt geschäftig.
"Aber nicht alle", sage ich mit einem Blick auf mein Organzaröckchen, das auch mit Haken verschlossen ist.
"Ich mach' alle auf", hat Rafa sich vorgenommen.
"Nein, das geht nicht."
Rafa zieht ein weiteres Mal meine Beine in die Höhe. Wieder lassen sich die Beine nicht auseinanderbiegen.
"Geht das wirklich nicht?" fragt er. "Du bist doch sonst so gelenkig."
"Ich kann es eben nicht. Das ist wie ein Programm in mir. Da geht bei mir eine Klappe 'runter. Das haut nicht hin. Das wird einfach nichts."
"Paß' mal auf ... du legst jetzt den einen Arm da hin ... und den anderen Arm legst du da hin. Und jetzt bleiben die da."
Er breitet meine Arme aus. Dann zieht er wieder meine Beine in die Höhe und fährt an ihnen entlang.
"He, das kitzelt", sage ich und winde meine Beine aus seinem Griff.
"Ich will dich ja kitzeln", sagt Rafa lächelnd. "He, ich mach' dich jetzt so weggetreten, so völlig weggetreten ..."
"He, das kitzelt, echt."
"Ich will dich kitzeln."
Noch einmal macht er den Versuch, meine Beine zum Herrenspagat auseinanderzubiegen.
"Hey, geht das so?" fragt er.
"Ja, schon ..."
Er greift mir in den Schritt, und ich fahre ihm dazwischen.
"Wo gehören die Arme hin?" fragt Rafa streng. "Wo gehören die Arme hin? Wo gehören die Arme hin? Wo gehören die Arme hin?"
"Ich habe gesagt, das geht nicht. Das ist ein Programm. Ich habe dann immer das Gefühl, daß mich jemand ausnutzt."
Nun möchte er, daß ich meine Arme unter dem Kopf verschränke. Auch damit kommt er nicht weit.
"Hetty ... so lernt man dich also kennen", meint er nachdenklich. "Du bist noch viel mehr anders als die andern, als ich dachte."
Er faßt mich und legt sich auf den Boden neben dem schwarzen Kasten. Er verhakelt mich mit seinem Körper. Mein rechtes Bein steckt er zwischen seine, und seinen linken Arm schiebt er unter meine Schultern. Dann fährt er mir durchs Haar. Er streichelt mein Gesicht und auch meine Augen. Ich frage mich, ob meine Schminke heil bleiben wird.
"Sag' mal, wieviel wiegst du denn nun eigentlich?" möchte ich wissen.
"Ach - zuviel", antwortet Rafa verschämt.
"Wieviel?"
"Zuviel."
"Ja, wieviel denn nun?"
"Achtzig."
"Geil, da habe ich ja genau richtig geschätzt."
Rafa hebt meinen Organzarock hoch und findet mit geübtem Griff den Bund meiner Strumpfhose. Er streift die Strumpfhose ein Stück herunter und versucht, in meinen Schlüpfer zu fassen. Ich bremse ihn auf halber Strecke, indem ich meine Hand um seine schließe. Er bittet mich darum, ihn nicht zu stören.
"Leg' mal deine Hand in meine", fordert er mich auf.
Er will meine linke Hand in seine Linke nehmen. Ich weiß jedoch, wie Rafa zufassen kann. Ich könnte die Hand nicht mehr befreien. Die rechte Hand habe ich ohnehin nicht mehr zur Verfügung, denn er hat meinen rechten Arm unter seinen Körper geklemmt. Ich zögere erst und taste neben meiner Schulter nach Rafas Raubtierpranke. Dann entschließe ich mich dazu, weiter seine Rechte im Griff zu behalten.
"Nein", sage ich zu Rafa. "Ich muß aufpassen."
Er faßt mir von hinten zwischen die Beine. Gleich ziehe ich seine Hand weg.
"Komm', ich tu' dir doch nichts", sagt er. "Ich tu' dir doch nichts."
"Ich weiß doch, daß du mir nichts tust. Das weiß ich doch. Aber es geht einfach nicht."
"He, warum geht das nicht?"
"Es geht eben nicht."
Mir fällt ein, daß meine Handschuhe noch dort liegen, wo Rafa seine Füße hat. Ich richte mich auf und sage:
"Meine Handschuhe sind da noch."
Er zieht mich zurück.
"Was ist da?" fragt er.
"Meine Handschuhe sind da noch."
Ich richte mich wieder auf. Er zieht mich wieder zurück und sagt:
"Nein, nein."
"Du liegst mit deinen Schuhen auf meinen Handschuhen", erkläre ich. "Die werden dann schlecht."
"Nein. He, jetzt ..."
Auf keinen Fall möchte Rafa sich bei seinem Vorhaben unterbrechen lassen.
Er hebt aufs Neue den Organzarock hoch und schiebt die Hand in meinen Schlüpfer. Aufs Neue wird er von mir aufgehalten.
"Weiter darfst du nicht", bestimme ich.
"Ich geh' aber weiter."
"Das darfst du aber nicht."
"Wie weit darf ich denn?"
"Das hier gar nicht."
"Paß' mal auf ... jetzt laß' mal die Hände weg, jetzt ..."
"Nein, die bleiben da."
"Also ..."
Er nimmt seine Hand fort und beginnt, an mir herumzulecken. Doch auch auf diese Weise kommt er nicht dahin, wohin er möchte. Er schiebt seine Hand wieder unter den Saum meines Schlüpfers, wo sie von meiner Hand gebremst wird.
"So, und jetzt nimm' mich einfach ganz fest in den Arm, ja?" sagt er listig.
"Ja, aber nur, wenn du deine Hand da wegnimmst", entgegne ich ebenso listig.
"Die nehm' ich nicht weg."
"Dann nehme ich meine auch nicht weg."
"Nun komm', nimm' mich in den Arm."
Es wird nichts daraus.
"Ich werde dich jetzt ganz ausziehen", sagt Rafa.
"Du kannst nicht alles ausziehen."
"Hm?"
"Du kannst nicht alles ausziehen."
"Würdest du dich auch nicht von einem Mann ausziehen lassen, wenn du ihn liebst?"
"Ich will ja", sage ich traurig. "Aber ich darf nicht."
"Ist voll irre, wie man dich kennenlernt ... Hier kann ich dich anfassen wie ein Rowdy" - er lacht und greift nach meinem Oberkörper - "'Mann, hat die geile Titten, ey!' und so weiter ... da passiert nichts, das läßt du dir gefallen - aber hier -" er faßt mir in den Schritt - "hört für dich der Spaß auf."
"Ja."
"Du hast zwei verschiedene Augen", meint Rafa. "Das hier ist nett, das ist schick. Das andere ist böse."
"Soso, ich habe also zwei verschiedene Augen."
"Ja."
"Ich bin also einmal gut und einmal böse."
"Ja."
"Und du ... wie sieht das denn bei dir aus? Doch wohl ganz ähnlich."
"Nein."
"Wie sieht's denn aus?"
"Ich bin nur gut", behauptet Rafa.
"Ah, warte ... warte ... warte ...", drohe ich.
Er greift mir wieder von hinten zwischen die Beine.
"Und?" fragt er. "Merkst du was? Fühlst du was? Nichts, was? Nichts, was?"
Ich ziehe seine Hand weg.
"He, du hast gar keine Angst vor mir", zeigt Rafa aufs Neue sein Erstaunen.
"Nein, nein", bestätige ich. "Ich weiß ja, daß du nichts tun würdest, das gegen meinen Willen ist. Ich weiß, daß du mich nie vergewaltigen würdest."
"Du hast aber gesagt, daß das Vergewaltigung ist, was ich mache."
"Nein, das ist es nicht."
"Tja, manche Leute muß man eben zu ihrem Glück zwingen."
"Allerdings", stimme ich zu und denke dabei an ihn. "Manche Leute muß man zu ihrem Glück zwingen."
"Ich mache mit dir auch, was du nicht willst. Nein, du willst es ja. Was du nicht darfst, aber willst."
"Mache ich Sachen, die du nicht willst?"
"Nein. - Willst du denn irgendwann mit mir schlafen?" möchte Rafa wissen.
"Ja, sicher", antworte ich. "Ich habe definitiv sexuelle Wünsche, auch an dich ... das heißt, vor allem an dich ... eigentlich - nur an dich ..."
"Und an wen noch?"
"Ich sagte ja, nur an dich."
"An wen noch?"
"An keinen andern, nur an dich."
"Haha, wer lügt denn hier?" lacht Rafa und zieht mich an sich heran. "Wer ist denn nun der, der lügt?"
"Ich lüge nicht. Ich will wirklich nur dich."
Rafa nimmt das zur Kenntnis.
"Aber schöne Beine hast du", sagt er, wie um sich zu trösten.
"Ja, dann faß' die doch an", schlage ich vor.
"Ach, das darf ich."
"Ja, das darfst du."
"Jetzt zieh' mich aus", bittet Rafa.
Ich will mich an der Weste zu schaffen machen.
"Nein. Da warst du schon", meint er.
"Aha, ich soll dir deine Hose ausziehen."
Er nickt zustimmend.
"Aber das geht ja jetzt auch nicht", sage ich.
"Warum geht das denn auch nicht?"
"Ja, das geht auch wieder nicht."
Rafa überlegt.
"Ich wäre also jetzt als Mann der erste Freund, den du hättest", vermutet er.
"Ja", sage ich achselzuckend.
"Und wenn ich mit dir schlafen würde, dann wäre das für dich das erste Mal, daß du mit jemandem geschlafen hast."
"Ja."
"So. Und das glaube ich dir."
Nach kurzem Nachdenken meint er:
"Das ist nicht gut. Ich würde keinem Mädchen empfehlen, mich als ersten Mann, fürs erste Mal zu nehmen. Das - das ist nichts."
Rafa legt mich auf den schwarzen Kasten und hakt mein Oberteil zu.
"Jetzt muß ich nur sehen, daß das mit den Haken aufkommt", sagt er und hakt voller Eifer.
"Das kann auch ich ...", schlage ich vor.
"Das mach' ich schon", winkt er ab. "Ich hab' dich schließlich auch ausgezogen."
Er hakt und hakt.
"Jetzt müssen wir nur noch sehen, ob der letzte Haken genau paßt", sagt er endlich. "Ja, jetzt ist da nur noch ein Haken und eine Öse. Das paßt genau. - Warum zitterst du?"
"Mir ist kalt."
"So, jetzt suchen wir mal auf dem Boden die Sachen zusammen."
Rafa hebt meine Handschuhe auf.
"So, schön schick", sagt er, als er sie mir wieder über die Arme zieht.
Offenbar hat er vergessen, daß er mir das Oberteil aus dem Mieder herausgezogen hat.
"Hier, das ist noch nicht ganz richtig", gebe ich ihm einen Hinweis. "Das gehört andersrum. Das gehört noch so 'rein in den Rock."
Ich stelle mich vor ihn, und er beschäftigt sich mit dem Oberteil.
"Nein, nein", unterbreche ich ihn, "das Mieder muß man aufmachen."
Er hakt das Mieder auf, an dem der Organzarock befestigt ist.
"Weiter", sage ich, "das reicht noch nicht."
Ich helfe ein wenig dabei, das Oberteil in die Strumpfhose zu stecken. Rafa versucht, das Mieder von unten zuzuhaken.
"Das geht nicht, das muß man von oben ...", erkläre ich.
"Also, nee, du bist ja wirklich ... Ich mach' das jetzt von unten", bleibt er dabei. "Echt, die gehen leichter auf als zu ..."
Er schafft es nicht, das Mieder zu schließen.
"Das muß von oben ...", sage ich noch einmal.
Nun schließt er das Mieder von oben, und das gelingt. Rafa zupft das Oberteil zurecht. Dabei streift er das schwarze Taftunterröckchen herunter.
"Oh! Hab' ich jetzt dein Unterröckchen ... oh! Das gehört da nicht ..."
Ich ziehe das Unterröckchen wieder hoch.
"Ich muß jetzt unbedingt auf den Pott", will Rafa sich entschuldigen. "Ruf' mich einfach mal an."
"Ich möchte dich so gerne mit nach Hause nehmen."
"Das geht nicht", meint Rafa. "Ich kann nicht."
"Ich möchte dich noch ein bißchen streicheln. Ich möchte dich noch länger streicheln."
"Augenblick ..."
Rafa geht zu der kleinen Bar und sucht dort herum. Mit einigen Mühen bringt er eine Kerze zum Brennen. An der Kerze zündet er sich eine Zigarette an. Dann macht er die Kerze wieder aus. Mit erleichtertem Gesicht kommt er zu mir zurück.
"Jetzt muß ich aber wirklich auf den Pott", sagt er. "Wirklich."
"Außerdem hast du mein Make-up verwüstet", gebe ich zu bedenken. "Jetzt kann ich mich nicht mehr sehen lassen."
"Doch, du kannst dich noch sehen lassen", versichert er.
In der Nähe der Treppe hebt Rafa etwas vom Boden auf, ein weißes Stück Stoff. Im Laufen schüttelt er es sorgfältig aus und streicht es glatt. Ich erkenne, daß es sich um eine Kellnerschürze handelt. Rafa bindet sich die Schürze um. Er tut es, als wäre das etwas Selbstverständliches.
"Eine Kellnerschürze! Ist das geil!" rufe ich.
Ich lache und greife nach seinem Arm.
Es sieht aus, als hätte er einen langen, schmalen Rock an. Der Stoff spannt über den Hüften. Ich finde, daß ihm das hinreißend steht.
"Ich möchte dich so gerne nach Hause mitnehmen", wiederhole ich, als wir die Treppe hinuntergegangen sind.
"Mich kann man aber nicht eben so mitnehmen."
"Ich nehm' dich noch mit", versichere ich. "Ich nehm' dich noch mit."
Ich entdecke das Pärchen, das vorhin auf der Tribüne herumgelaufen ist. Die beiden sitzen unten auf der Bühne, weit entfernt von uns.
Wir nähern uns der Zeltplane.
"So, jetzt wollen wir mal unauffällig in die 'Halle' zurückgehen", bestimmt Rafa.
"Warum unauffällig?" frage ich nach. "Warum nicht auffällig?"
"Warum?"
Wir sind bei der Plane angekommen. Es bleibt mir keine Zeit mehr, zu erkunden, warum Rafa seine Beziehung mit mir geheimhalten möchte.
In der Toilette stelle ich fest, daß meine Schminke kaum verwischt ist und daß auch mein Haar noch recht ordentlich aussieht. Bei aller Leidenschaft besitzt Rafa ein ausgesprochen feines Gefühl für solche scheinbaren Nebensächlichkeiten.
Merle ist schon gegangen. Ich tanze noch zu einigen Stücken, auch zu dem mittelalterlichen Totentanz "Ad mortem festinamus" von Qntal. Rafa ist wieder auf "seine" Seite zurückgekehrt. Er bewegt sich in der Nähe von Dolf und der Sängerin und ist damit für mich unerreichbar. Ich beobachte, wie er sich die Ponysträhnen zurückstreicht, die ich ihm aus dem Pferdeschwanz gezogen habe. Sie fallen ihm immer wieder ins Gesicht. Kappa sagt das letzte Stück an; es ist von Rafa. Das Stück wirkt gereifter als das meiste von dem, was Rafa sonst macht. Es hat einen Dreivierteltakt. Es klingt hymnisch und düster und erinnert an die Musik von Laibach. Rafa singt tiefer als gewöhnlich. Leider verstehe ich kaum ein Wort. Rafa tanzt in der Nähe des DJ-Pults, dort, wohin ich nicht komme und er sicher vor mir ist. Die Schürze hat er nicht mehr um. Außer Rafa tanzen noch zwei Leute, auch die Sängerin. Ihretwegen will ich nicht tanzen, obwohl mir das Stück gefällt. Rafa singt mit. Ich lehne an einem Geländer und schaue ihm zu. Er blickt mich auch an und lächelt ein wenig. Ich erwidere das Lächeln. Er sieht öfter zu mir herüber.
Als das Stück zuende ist, geht Rafa mit der Sängerin hoch zu Kappa. Ich verlasse die "Halle" und steige in ein Taxi, das draußen wartet.
Endlich konnte ich Rafa entkleiden und mit seinen Haaren spielen, etwas, das ich alle Tage tun möchte. Den Geruch seines Körpers trage ich und er den von meinem.
Endlich weiß ich, wie schwer Rafa ist. Und er weiß, daß ich ihn hochheben kann.
Vieles scheint in Erfüllung zu gehen, was ich von Rafa träume. So habe ich schon im vergangenen Sommer geträumt, wir beide würden in einer Fabrikhalle eine Treppe hinaufgehen, während die Sängerin untätig zusehen mußte und von mir rasch vergessen wurde. Oben lag Teppichboden, und Rafa und ich ließen uns darauf nieder. Wir schwebten über den Menschen, kehrten schließlich aber zu ihnen zurück und gingen zur "Nachtordnung" über, als sei nichts gewesen.
Ich sehe es bestätigt, daß Rafa meine Liebe verdient. Ich habe den Eindruck, daß er Gefühle sehr ernst nimmt und daß er auch Menschen sehr ernst nimmt. Er fand nichts Lächerliches an der Tatsache, daß ich mit keinem Mann je etwas hatte und auch mit keinem etwas haben kann. Im Gegenteil ... es stimmte ihn so traurig, daß er ... wenn mein Eindruck mich nicht trügt ... nahe daran war, in Tränen auszubrechen.
Was ich auch tue, Rafa scheint mir nicht glauben zu können, wie wichtig er mir ist. Er kann das ebenso wenig, wie ich zulassen kann, daß er mit mir "etwas hat". Vielleicht glaubt er, daß ich ihn nur quälen will, indem ich ihm erst Hoffnungen mache und ihn dann fallenlasse. Und er ist eifersüchtig auf Männer, die er sich einbildet, weil er nicht fassen kann, daß ich ihn wirklich liebe.
Vielleicht würde Rafas Selbstbild umkippen, wenn er mir meine Liebe glauben würde, und das würde ihn verunsichern und ihm Angst machen. Er darf sich nicht gestatten, mir zu vertrauen.
Vielleicht liegt Rafa schon längst wieder bei der Sängerin im Bett. Er reißt mich voll Verlangen an sich, und einen Augenblick später läuft er fort und bangt, daß keiner etwas von seinen heftigen Gefühlen erfährt. Um sich und aller Welt zu beweisen, daß er nicht an mich gebunden ist, sucht Rafa eilig Zuflucht in unverbindlichen Beziehungen mit Frauen, die leicht zu handhaben sind und die ihm nicht abfordern, sich mit dem zu beschäftigen, was in seinem Innern vor sich geht.
Was er mir antut, scheint Rafa nicht als verletzend zu bewerten. Er scheint mich als "die Böse" zu betrachten, die Täterin, die ihm nicht treu ist, die ihn belügt und verläßt, und er scheint zu glauben, daß es nur gerecht ist, wenn er andere Frauen bevorzugt.
An wessen Stelle will er mich strafen? Was hat Rafa veranlaßt, schon in seiner Kindheit mit seinen Gefühlen einen "Pakt" abzuschließen, den er geheimhält? Wer hat ihn damals allein gelassen?
Seine Zuneigung umklammert mich, und ich weiß doch, daß er nichts unversucht läßt, mich zu enttäuschen und zu entmutigen. Je mehr er mich liebt, desto mehr quält er mich, in der Hoffnung, daß ich ihn aufgebe.
Vor zehn Jahren schon hatte ich einen düsteren Traum, der handelte davon, daß meine Hochzeit nie stattfinden wird, weil Das Böse mich im Würgegriff hält.
Am Samstagnachmittag rief ich bei Rafa an; er war nicht daheim. Gegen sechs Uhr erreichte ich seine Mutter. Sie erzählte, sie habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen.
"Soll ich was ausrichten?" fragte sie.
"Emm ... nein."
Ich kann mir vorstellen, daß Rafa bei der Sängerin ist.
Wenn er nicht heimkommt, kann er keine Geburtstagsfeier geben. Am letzten Samstag kann auch keine stattgefunden haben. Feiert Rafa seinen Geburtstag am Ende gar nicht mehr? Gehören seine "kultigen" Parties mit Friedhofsbesuchen und zerschlagenen Sektgläsern der Vergangenheit an?
In der kommenden Nacht war Rafa nicht im "Elizium". Darrin H. kam aber gegen vier Uhr vorbei und wurde von Xentrix freudig begrüßt. Darrin hatte ein Konzert gegeben. Er war mit seiner Band Psyche im Rahmen einer Depeche Mode-Party in "Halle 1" aufgetreten. U.W. berichtete mir später Genaueres von diesem Auftritt. Darrin hat Rafa als Gastmusiker verwendet. Rafa soll an einem Keyboard gestanden haben, das nicht eingesteckt war, und sein Gehabe soll äußerst peinlich gewirkt haben. Er soll so getan haben, als würde er voller Leidenschaft musizieren.
Sator hat den Auftritt von Rafa und Darrin auch gesehen.
"Das war so peinlich!" bestätigte er U.W.'s Bericht. "Der Darrin stand da halt und sang seine Stücke. Und der Rafa zog daneben voll seine Show ab ..."
"An dem nicht eingesteckten Synthi."
"Genau! Der hat voll so getan, als würde er echt spielen."
"Süß!" rief ich ein ums andere Mal. "Ist das süß! Ich glaube, ich hätte mich totgelacht. Übrigens weiß der ganz genau, wie lächerlich er wirkt. Er will lächerlich wirken. Er will eine Antithese setzen. Er will wohl einen Graben ziehen zwischen sich und anderen. Er will sich ausgrenzen."
Merle hat das Konzert ebenfalls gesehen. Sie berichtete, die Sängerin habe Rafa Sachen tragen helfen für die Bühne. Solche Dienstleistungen könnte Rafa von mir nicht Tag für Tag erwarten, weil das gar nicht in meinen Terminkalender paßt. Von daher bildet die Sängerin für ihn die praktischere Lösung.
In einem Traum wurde ich von einem etwa vierzigjährigen Mann begafft, den ich äußerst widerwärtig fand. Er war schlecht rasiert, trug eine braune Lederjacke und hatte einen sperrigen Körperbau. Der Mann ähnelte sehr demjenigen, der mich im letzten Sommer im Traum vergewaltigte. Auch in diesem Traum machte der Mann Anstalten dazu. Er griff nach meiner Schulter und drückte sie. Ich hielt das nur für einen unsauberen Scherz und ging weg. Der Mann ließ aber nicht von mir ab. Ich überlegte, wie ich mich ihm entwinden konnte, da wachte ich auf.
Schon in dem Traum im letzten Sommer sollte Rafa büßen für ein Verbrechen, das ein anderer an mir beging. Rafa büßt auch jetzt. Er leidet für die Sünden anderer. Ich muß an Vergewaltigung denken, wenn er mich berührt, weil unbekannte Ereignisse in der fernen Vergangenheit mich nicht loslassen. Ich muß Rafa zurückweisen, und wenn er noch so liebevoll und zärtlich ist. Dabei will ich ihn gar nicht zurückweisen.
Die Menschen, die sich an mir versündigt haben, sind unerreichbar für mich. Ich bin ohnmächtig ihnen gegenüber. Rafa hingegen kann ich erreichen. Ich habe Macht über ihn. Ich kann ihn verletzen, weil er Gefühle für mich hat. Also muß er tragen, was ich anderen nicht aufladen kann.
"Er fühlt die Verantwortung", sagte Carl. "Er scheint zu begreifen, daß er der Einzige ist, der dich retten kann."
Am Montag versuchte ich nachmittags noch einmal, Rafa anzurufen. Ich konnte halbwegs sicher sein, daß er dann zuhause und auch allein sein würde. Er hat mir einmal erzählt, daß seine Mutter erst gegen neunzehn Uhr heimkommt.
"Ja? Dawyne?" meldete er sich.
Wie ich es von Rafa gewohnt bin, sprach er am Telefon sehr schnell und schien bemüht, seine Stimme möglichst abweisend klingen zu lassen. Ich versuchte, in dem Gespräch einen heiteren Ton anzuschlagen und Rafa ein wenig von oben herab zu behandeln. Auch sollte aus meiner Stimme Fürsorglichkeit sprechen. Ich wollte damit seiner Unsicherheit und seiner zur Schau getragenen Überheblichkeit entgegenwirken.
"Rafa?" fragte ich.
"Ja."
"Du hattest mich gebeten, mich anzurufen. Jetzt ruf' ich dich an."
"Ja."
"Hast du jetzt eigentlich schon wieder eine Freundin, oder hast du noch keine Freundin?"
"Was stellst du mir denn da immer nur für Fragen?" entrüstet sich Rafa.
"Ja, wenn du eine Freundin hast, kann ich doch mit dir nichts machen", erkläre ich. "Dann kann ich nicht mit dir reden und mich nicht mit dir verabreden ... ich kann mit dir gar nichts machen. Und deswegen ist das wichtig, zu erfahren, ob du eine Freundin hast oder nicht."
Rafa scheint keine Freundin zu haben, denn er spricht nicht von einer Freundin.
"Und, wie ist es?" frage ich. "Ich würde mich gerne mit dir verabreden."
"Tja, ich hab' aber keine Zeit. Ich habe überhaupt keine ... in der nächsten Zeit über-haupt keine Zeit. Ich muß nämlich dieses blöde Album fertigmachen."
"Ah ... das Stück ... das letzte Stück, das am Freitag in der 'Halle' gelaufen ist, wie hieß das denn?"
"Ja, welches Stück?"
"Ja, Kappa hatte doch zuletzt, ganz zum Schluß, am Freitag in der 'Halle' ein Stück gespielt von dir. Er hat angesagt:
'Jetzt ...'
und ... Ja, wie hieß das denn?"
"Ach, das ... das letzte", erinnert sich Rafa. "Das heißt 'Der strahlende Held'. Wieso?"
"Ja, wovon handelt das denn?"
"Ja, das handelt von einem, der ... alle Menschen total fasziniert und in seinen Bann zieht."
Ich muß lachen. Auch Rafa lacht verschämt.
"Ja, das kann Jesus Christus sein", lenkt er von der Möglichkeit ab, daß er sich selbst gemeint haben könnte.
Nun muß ich aber erst recht kichern, weiß ich doch, daß Rafa sich mit Jesus Christus zu vergleichen pflegt. Rafa muß ebenfalls kichern.
"Das kann auch Adolf Hitler sein", setzt er schnell hinzu.
"Das Stück war nämlich gar nicht so schlecht", lobe ich.
"Ja?"
"Es wirkte schon ... im Stil gereifter. Das ging schon mehr so in Richtung Laibach. Die anderen Sachen sind ja mehr ... Kinder...musik ..."
"Ich will Kindermusik machen."
"Ich weiß. Das ist so, daß du das willst. Du kannst nämlich auch anders."
"Ich weiß, daß ich anders kann."
"Aber ich weiß das auch."
"Ja, aber ... ich will Kindermusik machen, weil, mit dem anderen kann man nichts erreichen."
Tatsächlich scheint es Rafa in erster Linie darum zu gehen, zu gefallen - gefällig zu sein. Nur erreicht er damit eher das Gegenteil. Seine Musik mag einigen Leuten wohl gefallen, doch ihn selbst können sie deswegen noch lange nicht leiden.
"Ah, es geht dir also nicht darum, eine bestimmte Musik zu machen, sondern es geht dir darum, was zu erreichen", vermute ich.
"Es geht mir darum, eine bestimmte Musik zu machen."
"Ja ... aber doch nicht im Wesentlichen um die Musik, sondern darum, daß du etwas Bestimmtes damit erreichst, oder?"
"Es geht mir darum, eine bestimmte Musik zu machen."
"Ja ... aber du hast doch eben davon geredet, daß es dir darum geht, etwas zu erreichen. Du hast gesagt: 'Mit dem anderen erreicht man nichts.'"
"Ja, damit erreicht man auch nichts", meint Rafa. "Das andere bringt mir nichts. Damit erreiche ich für mich auch nichts."
"Aha, das heißt, die Kindermusik gibt dir auch mehr, nicht?"
"Ja, ja, Mensch, und du mit deinen Verhörsfragen fängst jetzt schon wieder an", beschwert sich Rafa.
"Oh, entschuldige", sage ich in einem Tonfall, als wollte ich ihm über den Kopf streicheln. "Ich wollte dich nicht schon wieder verhören. Aber es gibt halt so Dinge, die will ich halt unbedingt mal wissen. Ja, und deswegen frage ich dann danach. - Ja, es ist schade, daß wir es nicht schaffen, uns privat zu treffen. Ich würde mich nämlich liebend gern mit dir verabreden."
"Ja, du immer mit deinem Verabreden!" stöhnt er. "Jetzt willst du dich immer gleich wieder verabreden!"
"Ja, eine andere Möglichkeit gibt's doch gar nicht, uns zu treffen."
"Warum treffen? Warum?"
"Ja, warum nicht? Wir können uns doch treffen."
"Ich habe gefragt, warum."
"Ich würde dich nämlich gerne mal wieder privat sehen. Meinst du, du schaffst das, daß wir uns irgendwann mal verabreden?"
"Was heißt denn hier 'schaffen'?" fragt Rafa ärgerlich. "Das hat nichts mit Schaffen zu tun, das hat nur was mit Wollen zu tun."
"Aha, du willst dich also nicht mit mir verabreden. Na? Ein andermal hast du nämlich gesagt, du wolltest dich schon mal mit mir treffen."
"Über das Thema ... hatten wir ... schon gesprochen", kommt es zögernd von Rafa.
"Ja, darüber haben wir schon gesprochen."
Rafa erinnert mich daran, daß er mir gestanden hat, sich vor einem Treffen mit mir zu fürchten.
"Wann ... sollen wir uns denn mal verabreden?" frage ich.
"Ja, wenn ich - wenn ich echt mal Zeit habe."
"Ja, du hast aber nie Zeit."
"Ach, Mensch ... ich hab' wirklich keine Zeit", windet er sich.
"Oh, ich kann mir denken, daß du keine Zeit hast", entgegne ich sanft. "Du machst dir einen guten Streß nicht? Du machst dir schön viel Streß. Du machst dir immer schön viel Streß."
"Was? Was? Ich hab' keine Zeit!"
"Dann sehen wir uns ja erst in drei Wochen wieder."
"Wieso in drei Wochen?" fragt er beunruhigt.
"Ich bin doch erst am 12. wieder im 'Elizium'."
"Wieso am 12.?"
"Ja, am 05. gebe ich doch meine Party", erzähle ich. "Und ich würde dich liebend gern dazu einladen, wenn du es nur schaffen würdest, zu mir zu kommen."
"Was für eine Party?"
"Mensch, ich geb' doch meine Geburtstagsparty. Am 31. habe ich doch Geburtstag."
"Aha."
"Weißt du's nicht mehr?"
"Nein."
"Jahaha ... du merkst dir sowas. Hahaha."
"Nee. Ich merk' mir sowas nicht. - Du bist Wassermann?"
"Ja, ja."
"Hm, hm."
"Wann hast du eigentlich nochmal genau?" erkundige ich mich. "Hast du am 19.?"
"Nein."
"Ja, wann hast du denn? Hm?"
"Ist egal."
"Am 18.?" forsche ich. "Am 16., 17.?"
"Nein, nein."
"Ja, wann hast du denn?"
"Ist egal."
"Ja, ja, jetzt willst du mir deinen Geburtstag auch nicht sagen. Es reicht ja nicht, daß du mir dein Alter nicht sagen willst. Du willst mir deinen Geburtstag auch nicht sagen. Aach ... Mensch, nun rück' damit 'raus. Wann hast du denn nun Geburtstag?"
"Am 11."
"A-ha, am 11. Na, hast du denn auch gefeiert?"
"Weniger."
"Nun ... nicht? Du hast aber gefeiert", vermute ich.
"Ja ... mh ... weniger."
Das sollte wohl "gar nicht" heißen.
"Ja, sonst hast du aber die kultigen Parties gemacht", erinnere ich Rafa an das, was er mir von seinen vergangenen Geburtstagen erzählt hat. "Mit Gläser an den Grabstein schmeißen und so weiter."
"Na - da hatte ich aber dieses Jahr - nicht so die Lust zu."
"Ja, und warum ... hattest du denn ... nicht so die Lust zu?" frage ich nach.
"Ja ... paßte mir eben nicht so", will Rafa ausweichen. "Hatte ich eben nicht so die Lust zu."
"Interessant ... warum hattest du denn keine Lust dazu?" hauche ich.
"Ja - man kann doch mal - keine Lust dazu haben."
"Ich würde mich so gerne mit dir verabreden", sage ich nach kurzem Schweigen.
"Ja, ich hab' aber keine Zeit."
"Schön ... hm, hm ... ich weiß, du hast ganz gerne keine Zeit, nicht?"
"Nee, ja - ich - ich hab' keine Zeit."
"Ja, ja, ich kann mir denken, daß du nicht so gerne Zeit haben möchtest. Haha. Hmm, ja, ja. 'Ich hab' keine Zeit, und ich will keine Zeit haben, und ich hab' keine Zeit'", ahme ich Rafa nach. "Ja, ja. Wahrscheinlich willst du dich gar nicht mit mir verabreden."
"Ich sage nur, i-ich hab' keine Zeit", beharrt er. "Ja. Die nächsten zwei Wochen ist absolut dicht. Und danach habe ich dann ... danach ist noch gaar nichts ... also, danach weiß ich noch nicht. Da will ich mir auch jetzt nicht den Kopf drüber zerbrechen."
"Ja ... du hast ja auch ... dir fehlt ja auch ein Terminkalender, nicht?"
"Wie?"
"Ich meine, du verzichtest ja auf einen Terminkalender. Du scheinst ja keinen zu haben."
"Ich habe meinen Terminkalender im Kopf."
"Ja ... und du hast schon im Kopf, daß du in zwei Wochen noch nichts vorhast und dich aber auch nicht mit mir verabreden willst."
"Mensch, ich will jetzt an die Zeit danach nicht denken."
"Du hattest mich gebeten, dich anzurufen. Du hast mich drum gebeten."
"Ja."
"Warum hast du mich drum gebeten?"
"Was weiß ich, was ich zu den Leuten sage, wenn ich mit denen rede?" rechtfertigt sich Rafa. "Da sag' ich halt auch mal, ruf' mich mal an. Was ist denn dabei? Warum nicht? Warum?"
"Warum hast du mich denn gebeten, dich anzurufen?"
"Ja, warum nicht?"
"Ja, ich frage nicht, warum nicht. Ich frage ja, warum. Du mußt doch einen Grund dafür gehabt haben, wenn du wolltest, daß ich dich anrufe. Das muß dir doch wichtig gewesen sein, daß ich dich anrufe."
"Jetzt habe ich jedenfalls keine Zeit mehr", versucht Rafa das Gespräch zu beenden.
"Ja, wie verbleiben wir denn nun?" frage ich.
"Ja, man sieht sich halt zufällig ... man begegnet sich halt ..."
"Aha, so willst du das machen, daß wir uns denn eben zufällig mal wieder begegnen ..."
"Ja", sagt Rafa. "Du weißt doch, wo ich am Wochenende bin."
"Ja, und du weißt auch, wo ich am Wochenende bin."
"Ja, wo bist du denn am Wochenende?"
"Ja, das weißt du doch."
"Nein, das weiß ich nicht", behauptet Rafa.
"Mensch, das weißt du doch, wo ich am Wochenende bin."
"Nein, das weiß ich nicht."
"Mensch, ist doch klar, ich bin immer am Wochenende bei Xentrix."
"Bei Xentrix?" fragt Rafa mit Argwohn in der Stimme.
Er scheint wirklich von der Angst gequält zu sein, ich könnte einem anderen gehören. Ich muß lachen.
"Ja, bei Xentrix in der Disco!" beruhige ich ihn. "Im 'Elizium'! Wenn er auflegt! Nicht bei Xentrix. Einfach nur in der Disco, wenn er auflegt."
"Aha ... Ruf' mich am besten morgen nochmal an. O.k.?"
"Ja."
"Ja, tschüß."
"Tschüß."
In einem Traum, den ich nach diesem Gespräch hatte, saß Rafa vor mir und gab mir zu verstehen, daß ich ihm sehr wichtig sei und ihm sehr viel bedeute.
Am Telefon versuchte er, mir das Gegenteil weiszumachen - allerdings nicht so, daß ich ihm hätte glauben können. In kurzen Zeitabständen macht Rafa das Türlein in seiner Mauer ein Stück auf, guckt verstohlen hinurch und wirft es schnell wieder zu. Und da ich weiß, daß das Türlein aufgehen kann, bleibe ich ruhig davor sitzen und warte wie die Katze vor dem Mauseloch.
Seinem Wunsch ensprechend rief ich Rafa am nächsten Tag noch einmal an, wieder am späten Nachmittag.
"Ja?" meldete er sich.
"Ja. Ich bin's."
"Ach? Schon wieder?" mimt Rafa Erstaunen.
"Ja."
"Du hast mich doch gestern erst angerufen."
"Ja, du hast mich gebeten, dich anzurufen, gestern."
"Hab' ich das?"
"Ja, das hast du gesagt. Du hast gesagt:
'Ruf' mich doch morgen nochmal an.'
Wenn du mich nicht darum gebeten hättest, hätte ich dich nicht angerufen, auf keinen Fall."
"Ja, aber das war nur, weil ich dachte, daß du vielleicht noch irgendwas sagen willst", behauptet er. "Ich bin ... ich hatte nämlich keine Zeit."
"Aha. Hast du denn heute Zeit?"
"Nein", antwortet er; wie immer spricht er schnell und läßt seine Stimme möglichst kalt klingen. "Heute hab' ich auch keine Zeit. Ich mach' gerade Musik."
"Ich ruf' ja eigentlich auch nur an, um mich mit dir zu verabreden."
"Das hatte ich dir schon bei der letzten Unterhaltung erzählt, wie das ist mit Verabreden."
"Ja? Ich dachte, du kannst dir das denken, daß ich deswegen nochmal anrufe."
"Nein, ich dachte nur, du hättest mir irgendwas zu sagen."
Es folgt Schweigen.
"Und?" frage ich schließlich.
"Was 'und'?"
"Wie sieht's aus?"
Wieder folgt Schweigen. Dann sagt Rafa mit Ungeduld in der Stimme:
"Hör' mal, ich mach' jetzt hier ganz artig Musik."
Er ahnt wohl, daß ich jeden Tag damit rechne, daß er sich wieder eine Freundin zulegt.
"Aha. Was für Musik?" erkundige ich mich.
"Im Moment bin ich gerade bei 'Sinnlos'. Das kennst du nicht, ne?"
"Doch, doch. Das ist auf dem 'An Ideal for Living'-Sampler."
"Ja, genau."
"Den kenn' ich."
"Da hat mir kürzlich einer vom Bodensee geschrieben, der fand das voll gut."
"Ja, der hat den Sampler."
"Genau. Und ich mach' das nochmal neu."
"Ist das gegen mich gerichtet?"
"Du, das ist von ... achtund...achtund...achtzig."
"Ja, dann kann das natürlich nicht gegen mich gerichtet sein."
"Das war ursprünglich gegen Luisa gerichtet", erzählt Rafa offen. "Ach, was soll's; das kann ... theoretisch ..."
"Ja, das kann sich auf alles Mögliche beziehen."
"Das war mal ein Gedicht von mir."
"Ich weiß, du schreibst Gedichte. Du hast mir ja auch schon mal welche von dir gezeigt. Es gefällt mir, daß in 'Sinnlos' eine persönliche Botschaft enthalten ist."
"Meine Stücke enthalten alle persönliche Botschaften ... ausgenommen natürlich Coverversionen", scheint Rafa auf "Ganz in Weiß" anzuspielen. "Da kann man keine persönliche Botschaft mehr mit 'reinbringen."
"Na ja, es kommt ja auf die Auswahl der Coverversion an", nehme ich meinerseits Bezug auf "Ganz in Weiß".
"Ja, die Auswahl ...", stimmt Rafa zu, "aber sonst, vom Text her, kann man höchstens die Botschaft eines anderen weitertragen, aber keine eigene 'reinbringen."
Er möchte wohl verhindern, daß ich "Ganz in Weiß" auf mich beziehe.
"Einige Stücke finde ich aber auch eher hohl", sage ich aufrichtig.
"Welche denn?" fragt Rafa verteidigungsbereit.
"Aach, weißt doch ..."
"Ja, welche denn?"
"Na, ja. 'Tötet Onkel ...' und so weiter ..."
"Das soll keine Botschaft enthalten? Und was für eine Botschaft!" nimmt Rafa seinen Clubhit über Videospiele in Schutz, der dazu auffordert, den Helden Mario umzubringen. "Du, der Text hat's ganz schön in sich! Das richtet sich gegen Spiele, an denen schon vier oder fünf Leute dran krepiert sind! - Warte mal, das laß' ich nicht auf mir sitzen. Das les' ich dir mal vor. Da hol' ich mal was."
"Ja, lies' mir das mal vor."
Rafa sucht herum, und währenddessen höre ich ihn von Weitem rufen:
"Ha! Das laß' ich nicht auf mir sitzen! Das wäre ja noch schöner!"
"Er ist so süß", denke ich bei mir und kichere.
"So", sagt Rafa, als er wieder an den Apparat kommt. "Das laß' ich nicht auf mir sitzen. Das les' ich dir jetzt mal vor.
'WARNUNG ...'"
Er liest mir einen Beipackzettel zu Videospielen vor, in dem darauf hingewiesen wird, daß Lichtblitze bei entsprechend veranlagten Personen epileptische Anfälle auslösen können.
"Das weiß ich", unterbreche ich ihn, "und das gilt nicht nur für Fernsehbilder und Videospiele, sondern auch für unser Stroboskop in der Disco."
"Hör' zu, laß' mich weiterlesen!"
Als er fertig ist, sagt er:
"So, und das ist ein Original-Beipackzettel, der ist bei allen Spielen dabei."
"Du, das weiß ich doch. Das weiß ich doch, daß durch Lichtblitze epileptische Anfälle ausgelöst werden können. Die können übrigens auch durch Stroboskope ausgelöst werden."
"He, es geht hier um Kinder!" ruft Rafa aufgeregt. "Es geht um Kinder! Es geht um Spiele, an denen schon mehrere Menschen krepiert sind. Und da sind Eltern, die ihren Kindern diese Spiele untern Weihnachtsbaum legen und meinen, jetzt hätten sie etwas Vernünftiges zu tun."
"Das weiß ich ja alles. Das habe ich ja in diesem Sommer alles lesen müssen, daß epileptische Anfälle durch Lichtblitze ausgelöst werden können."
"Daß Eltern ihren Kindern sowas schenken! Dieser Beipackzettel, der ist winzig klein, und das ist da ganz winzig klein draufgedruckt."
"Damit ihn niemand liest."
"Genau."
"Sollte man den denn größer machen?" schlage ich vor.
"Ach, Quatsch!" ruft Rafa. "Eltern sollten ihren Kindern überhaupt nicht sowas schenken! Mensch, das ist doch so, als würdest du deinen Kindern eine Spritze mit Heroin schenken! Ich finde das unmöglich, daß Eltern ihren Kindern was schenken, wo schon fünf Menschen dran krepiert sind."
"Du, es gibt aber kein Ding ohne Gefahr. Und es gibt auch Dinge, an denen noch viel mehr Menschen krepieren."
"Mensch, ich red' jetzt nicht von so Sachen wie Verkehr und so. Ich red' jetzt davon, daß Eltern ihren Kindern das untern Tannenbaum legen."
"Ich finde, das ist aus dem Lied nicht ersichtlich, was du sagen möchtest."
"Ha, und wie das ersichtlich ist!" verteidigt sich Rafa. "Was glaubst du, was ich für Briefe kriege!"
"Ich kenne nur die Reaktion: 'Mein Gott, ist das albern.' Keine andere."
"Wie soll man das denn verpacken für die Kids?"
"Es geht dir also um Kinder", folgere ich. "Das Lied richtet sich also an Kinder."
"Quatsch, an Kinder ... ich werd' doch hier nicht die Leute in Schubladen stecken und ihnen vorschreiben, was sie hören sollen und wer was gut findet. Wer das mag, der soll das hören."
"Es gibt also auch Lieder, die nicht für Kinder sind."
"Ja, allerdings. Es gibt Lieder, die sind durchaus nichts für Kinder, zum Beispiel das eine, 'Helden sterben früh' ... ach, das kennst du ja nicht ... 'Helden sterben früh' und das andere, das in der 'Halle' lief, das du ja kennst, das durchaus nichts für Kinder ist."
"Du hast also ein gewisses Sendungsbewußtsein", vermute ich. "Es geht dir also darum, eine bestimmte Message 'rüberzubringen, eine bestimmte Botschaft 'rüberzubringen."
"Ja."
"Ich habe auch schon kritische Stücke gehört, deren Verpackung aber auf mich glaubwürdiger wirkte. Ich meine, man kann solche Kritik auch glaubwürdiger verpacken."
"So, und du meinst, wenn die glaubwürdiger verpackt ist, erreicht sie mehr."
"Ja."
"Nun ... ich meine, man sollte sie so verpacken, daß die Leute das gerne hören."
"Ja, das Lied ist gefällig. Das kann man so sagen. Ja."
"Deswegen muß es aber noch nicht schlecht sein", findet Rafa, und es scheint ihm nahezugehen, daß ich das Stück nicht leiden kann.
"Nein, das muß es nicht", stimme ich ihm zu. "Ich habe nur so das Gefühl, dadurch, daß du so dich um andere sorgst und dich zu anderen hinwendest, daß du den Lichtstrahl von dir ablenken möchtest."
"Das tue ich ja gerade nicht! Ich hab' ja damit Erfolg! Ich tue ja damit was für mich, mit dem, was ich mache."
"Aber es geht ja nicht um deine eigenen Gefühle."
"Es geht wohl um meine eigenen Gefühle. Wer anderen hilft, hilft sich selbst."
"Was hast du denn so für Briefe gekriegt?" erkundige ich mich.
"Ja, die haben mir geschrieben, endlich macht mal einer was dagegen und so", erzählt Rafa. "Ich finde das furchtbar, wenn sich Menschen den ganzen Tag vor so ein Videospiel setzen. Ich find' das halt so völlig blödsinnig; wenn man sonntags morgens den Fernseher einschaltet, kommt da nur so dauernd so 'ne abgef...te Werbung drüber, wo für Videospiele für Kinder geworben wird."
"Ich gucke mir sowas ja nicht an. Und ich spiele keine Videospiele."
"Es geht hier ja nicht um dich", meint Rafa. "Es geht hier um Kinder, um die Kids."
"Warum sind dir eigentlich Kinder so wichtig?"
"Kinder sind das Wichtigste auf der Welt!"
"Warum sind sie denn das Wichtigste?"
"Ja, denk' doch mal, sie sind doch das Wichtigste. Und ich werd' vielleicht auch irgendwann mal Kinder haben."
"Aha ...", sage ich zögernd. "Warum sind eigentlich nicht Menschen das Wichtigste? Wir, die wir erwachsen sind, sind wir denn nichts mehr wert?"
"Kinder sind doch das, was zählt. Die anderen zählen doch gar nichts mehr."
"Was? Wir sind nichts mehr wert, bloß weil wir erwachsen sind?"
So meint Rafa das nicht, doch anscheinend hält er die, die nachkommen, für wichtiger als die, die schon da sind.
"Stell' dir vor, du bist jetzt fünfzig, sechzig, und die Kids fragen dich, was hast du getan dagegen und dagegen?" äußert er Verantwortungsbereitschaft für die zukünftigen Generationen.
Ich werde nachdenklich:
"Ich weiß nicht ... zu Kindern habe ich gar kein rechtes Verhältnis."
"Oh, das ist traurig", sagt Rafa kühl. "Dann bau' mal eins auf."
"Es geht nicht darum, eins aufzubauen", erkläre ich. "Es geht darum, daß ich das nicht habe. Ich muß erstmal herausfinden, warum ich mit Kindern nichts anfangen kann."
"Ja, und wenn du weißt, warum du mit Kindern nichts anfangen kannst, was hast du dann davon?"
"Dann weiß ich, woran es liegt."
"Ja, und was hast du davon?"
"Ich weiß dann, woran es liegt."
"Dadurch hast du aber noch kein Verhältnis zu Kindern. Ich sage doch, du mußt eben eins aufbauen."
Ich bin mir sicher, daß eine Beziehung zu Kindern nicht aus der hohlen Hand entstehen kann. Ich will mich jedoch nicht mit Rafa darüber streiten.
"Du möchtest also etwas für die Menschheit erreichen", fasse ich seine Aussagen zusammen.
"Was heißt 'für die Menschheit'?"
"Ich erinnere mich gerade daran, daß du gemeint hast, wenn man sein Ziel im Leben erreicht hat, dann kann man ruhig abtreten. Dann habe ich gemeint:
'Wenn ich dich erreicht habe, dann kann ich also auch ruhig abtreten.'
Dann hast du gesagt:
'Nein.'
Warum hast du 'nein' gesagt?"
"Mensch, weil - ich bin kein Ziel", erwidert Rafa.
"Ja, doch, du bist eins."
"Quatsch", findet Rafa. "Das ist Blödsinn."
"Nein, das ist kein Blödsinn."
"Ich bin kein Ziel. Das ist Unsinn."
"Doch, doch."
"Ja, wieso?" fragt Rafa aufgebracht. "Was erreichst du denn damit für die Welt? Das ist doch nur Eigennutz. Damit erreichst du doch nur für dich persönlich was."
"Ja, und für dich was."
"Was erreichst du damit für die Welt? Was denn? Was denn?"
"Ja, das ist so ..."
"Das beantwortet man", fällt Rafa mir ins Wort. "Das kann man klar beantworten. Da kann man nicht 'Das ist so' sagen."
"Ja, man tut damit sich einen Gefallen, und man tut damit jemand anderem einen Gefallen."
"Und das weißt du einfach. So, so. Was du nur immer alles weißt!"
"Ich bin der Meinung, daß man damit durchaus etwas erreicht."
"Ja, für dich erreichst du was", wiederholt Rafa. "Ich frage dich, was du für die Welt erreichst. Ich frage dich, was du damit veränderst."
"Ich verändere damit durchaus etwas. Für mich und für jemand anderen. Wir sind doch selber ein Teil der Welt, wir beide. Und damit ist ja auch der Welt gedient, wenn wir uns dienen."
"Und für wie lange?"
"Ja, solange das Leben dauert, mein Leben und auch deins."
"Und wie lange ist das?"
"Das ist nicht lang, aber ... ich verändere damit schon etwas."
Rafa läßt sich nicht überzeugen. Eine Liebe ist nach seiner Meinung nichts Weltbewegendes. Er bezeichnet sie als "Nebensache".
"Nebensache! Für mich ist das eine absolute Hauptsache!" muß ich entgegnen. "Das Erreichen eines Menschen gibt meinem Leben Inhalt. Eine Liebesbeziehung ist für mich das Wichtigste auf der Welt."
"Das ist doch was ganz Selbstverständliches! Das läuft nebenher!"
"Oh, das finde ich aber nicht, daß das sowas Selbstverständliches ist. Das ist das Schwerste, was es gibt, das Höchste, was ich kenne, einen Menschen zu erreichen. Man bricht aus einem Käfig aus."
"Ja, aber in dem Käfig bist du nicht seit deiner Geburt. In den hast du dich selber gesetzt."
"Oh, nein", widerspreche ich. "Oh, nein."
"Und wenn du den dann gefunden hast ...", spinnt Rafa den Faden weiter.
"Um's Finden geht's nicht mehr", berichtige ich ihn.
"Na, gut - wenn du ihn hast ... was hast du dann erreicht?"
"Ja, das ist so, wenn man aus seiner Isolation ausbricht und sich zu einem anderen Menschen hinwendet ... und aus seinem Käfig ausbricht ..."
"Aha!" ruft Rafa mit dem Gefühl, mir auf die Schliche gekommen zu sein. "Aus dem Käfig ausbrichst, in den du dann jemand anderen noch 'reinsteckst, um das Vakuum wieder aufzufüllen!"
"Nein, nein", sage ich und beantworte das zynische Lächeln in seiner Stimme mit einem verzeihenden Lächeln. "Der andere sitzt ja selber drinne."
"Bitte?"
"Der andere sitzt ja selber drinne."
"Was du alles weißt! Du solltest echt Hellseher werden. Hetty, der große Ratgeber. Jeder kann sich bei dir Rat holen. Du bist ja so weise und so alt ..."
"Fast alles, was in meinen Träumen passiert, passiert nachher wirklich."
"Aach, ich glaub', das ist eher umgekehrt! Daß du das, was in deinen Träumen passiert, nachher in der Wirklichkeit durchspielst!"
"Nein, das ist nicht so. Ich bin ja nicht zu dir gekommen. Du bist zu mir gekommen."
"Ja, und? Ist das sowas Besonderes?"
"Ja, das ist für mich was Besonderes", sage ich ernst. "Bevor du zu mir kommst, glaube ich nie daran, daß du zu mir kommst, und dann tust du es doch, und das ist für mich was sehr Ungewöhnliches. Außerdem - in meinen Träumen ist soviel Positives."
"Ach so, und das Negative nicht?"
"Das Negative nicht."
"Das Negative nicht, nur das Positive, he?" fragt Rafa lauernd.
"Nein, auch das Negative."
"Ja, was denn? Wie denn? Was denn nun?"
"Aber im Moment ist das fast nur Positives, was darin passiert", erzähle ich. "Und das hat die Wirklichkeit bis jetzt noch nicht alles eingelöst, was in den Träumen geschehen ist. - Ich denke über so viele Sachen nach und frage mich dann ... So denke ich zum Beispiel zur Zeit darüber nach, wie es kommt, daß das, was zwischen uns so passiert, daß du das immer geheimhältst."
"Daß ich das geheimhalte?"
"Du hast am Freitag gesagt, wir sollen unauffällig in die 'Halle' zurückgehen."
"Ja?" tut er ahnungslos. "Habe ich das?"
"Ja. Warum durften wir denn nicht auffällig in die 'Halle' zurückgehen?"
"Ja - ziehst du dich auf der Tanzfläche aus?"
"Das verstehe ich. Das kann ich verstehen. Aber du könntest dich doch wenigstens zu mir bekennen. Meine Schwester und ihr Freund zeigen ja auch, daß sie zusammen sind."
"Wir sind nicht zusammen", schnappt Rafa.
"Was ist denn das Kriterium dafür, daß man zusammen ist?"
"Das weißt du nicht?"
"Nein, das weiß ich nicht."
"Tja. Traurig."
"Das Kriterium ist nämlich Folgendes für mich: man ist dann mit jemandem zusammen, wenn man sich an jemanden gebunden fühlt und sich für jemanden entschieden hat."
"Das ist aber einseitig."
"Ja, wenn es auf Gegenseitigkeit beruht, wenn das gegenseitig ist, dann ist man zusammen."
"Ja, dann bist du bei mir aber an der falschen Adresse", sagt Rafa kalt, und aus ihm spricht der schlechte Verlierer.
Er scheint sich in seinem Stolz verletzt zu fühlen, weil er von mir nicht ohne Weiteres bekommt, was er fordert. Der Coitus ist wohl die Eintrittskarte für eine Beziehung mit ihm. "Freundin" ist ein käuflicher Status, der durch den Coitus allein erworben wird. Durch das "Schlußmachen" geht der Status sogleich wieder verloren.
Vielleicht wollte Rafa vor allem deshalb so rasch mit mir schlafen, um mich als "Freundin" bezeichnen zu können. Ich will mich aber nicht "auszeichnen" lassen wie ein Stück Seife. Ich will kein Schildchen tragen. Ich bin kein Verhältnis. Ich bin ein Mensch.
"Kann ja auch sein, daß man sich an jemanden gebunden fühlt und daß einem das nicht recht ist", fügt Rafa hinzu.
"Erwischt!" denke ich und bekomme große Augen.
Rafa meint wohl, daß das Türlein in seiner Mauer ein wenig geöffnet werden könnte.
"Aha, das kann also sein", wiederhole ich.
"Ja, das kann sein", sagt Rafa trotzig.
"Aha ... für dich kann das vielleicht sein ... aha ... Ich sehe das so: Ich kann mir vorstellen, daß du dich an mich gebunden fühlst, und daß dir das nicht recht ist."
"Ich fühle mich nicht an dich gebunden", läßt Rafa das Türlein wieder ins Schloß fallen.
"Aha ... ja, ja, ja, ja. Ich habe nur das Gefühl, daß du zu dir nicht so richtig ehrlich bist", äußere ich Zweifel an der Gleichgültigkeit, die er mir gegenüber zur Schau trägt.
"Zu mir bin ich immer ehrlich!" beteuert Rafa heftig. "Höchstens bin ich zu anderen nicht richtig ehrlich."
"Aha, es könnte also sein, daß du zu mir nicht so richtig ehrlich bist."
"Warum hast du dich denn für mich entschieden?" lenkt Rafa ab.
"Ja, ich habe mich da auch nicht mit dem Kopf für entschieden", erzähle ich. "Ich habe mich erst total darüber geärgert, daß es der ist, der und nun gerade der und kein anderer ist. Aber ... da kann man nichts gegen machen."
"Da kann man sehr wohl was gegen machen", sagt Rafa eifrig und scheint aus Erfahrung zu sprechen.
"Ja, aber ... ich hätte gegen mich handeln müssen, gegen meine Gefühle", wende ich ein. "Es geht mir darum, meinen Gefühlen treu zu bleiben. Ich will mich nach meinen Gefühlen richten."
"Ja, was ... es soll aber doch Erfolg haben, nicht?"
"Ja, aber es geht mir vor allem darum, mir treu zu bleiben."
"Ja, aber es muß doch auch Erfolg haben, nicht?"
"Das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, daß ich meinen Gefühlen folge."
"Gefühle sind doch nur irgendwelche Hormone, die von irgendwelchen Drüsen ausgeschüttet werden", sagt Rafa abfällig.
"Ist dann alles, was mit Liebe zu tun hat, für dich was ganz Primitives?" vermute ich.
"Ja."
"Ich denk' ja mal, daß das was recht Komplexes ist, was Vielschichtiges, sehr Spezifisches, Besonderes ist und daß die Menschen durchaus nicht austauschbar sind."
"So, ich muß Schluß machen", unterbricht Rafa. "Da will jemand telefonieren."
Ich höre eine Stimme etwas rufen. Ich nehme an, es ist Rafas Mutter. Ich habe den Verdacht, daß es der Mutter mit dem Telefonieren nicht allzusehr eilt. Rafa scheint die Störung jedoch willkommen zu sein; sie bietet ihm einen Anlaß, das Gespräch zu beenden.
Ich zögere mit dem Verabschieden, und Rafa sagt:
"Ja - vielleicht sehen wir uns ja am Wochenende."
"Am Wochenende."
"Ja, am Wochenende", sagt er ungeduldig. "Warum nicht?"
"Ich bin am Freitag im 'Elizium'."
"Ja, da bin ich vielleicht auch."
"Aha, du bist am Freitag auch im 'Elizium'."
"Ja, vielleicht. Nochmal sehen."
"Ja, wir werden's mal sehen", äußere ich Zweifel daran, daß er kommen wird.
"Ja", sagt er bestätigend, als störten ihn meine Zweifel. "Mal sehen."
"Ja, wir werden's mal sehen", wiederhole ich.
"Also, am Freitag im 'Elizium'."
"Ja, wir werden sehen. Wir werden sehen."
"Also, tschüß."
"Tschüß."
Rafa regt sich sehr darüber auf, daß Kinder zu schädlichen Dingen verführt werden. Er selbst schadet sich aber ständig durch seinen Alkohol-, Zigaretten- und Drogenkonsum. Glaubt er, er könne sich ruhig schaden, weil er volljährig ist? Glaubt er, mit der Volljährigkeit würde ein Mensch wertlos?
Wie will Rafa den Kindern ein Vorbild sein, wenn er sich selbst nicht an das hält, was er sie lehren möchte?
Zu was für einem Verhalten ist Rafa erzogen worden? Glaubt er, daß seine Mutter sich darüber freut, daß er sein Leben wegwirft? Glaubt er, eine Mutter hat nur ein Interesse an ihren Kindern, solange sie klein sind?
Carl nimmt an, daß sich etwas ändert im Hause Dawyne. Rafa löst die Bindung an seine Clique. Gleichzeitig dürfte er sich seinen nächsten Angehörigen wieder mehr zuwenden. Das, was vor zehn Jahren auseinandergefallen ist, kann teilweise wieder zusammengefügt werden. Familiäre Bindungen könnten für Rafa wieder mehr in den Vordergrund treten, zuungunsten oberflächlicher Zweckfreundschaften.
Vor einigen Tagen habe ich geträumt, ich würde eine Kassette hin- und herspulen und keine Stelle finden, an der die Sängerin nicht sang. Andauernd mußte ich sie hören.
Am Freitag war Rafa nicht im "Elizium". Es gab dort eine Industrial-Tanzveranstaltung. Xentrix hatte sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug ein weißes Rüschenhemd und einen langen schwarzen Mantel. Das erinnerte mich an Rafa. Es ist die Frage, ob Xentrix nur "trendy" sein wollte oder ob er Rafa nachahmte.
Am DJ-Pult standen der "schöne Gerrit" und einer seiner Freunde. Gerrit Al-Kher hat mit einigen Leuten eine Serie von elektronischen Avantgarde-Stücken ins "Elizium" gebracht. Er kennt die Sachen unter anderem aus Süddeutschland, wo es Industrial-Hochburgen geben soll.
Gerrit ist schick und hört rauhe, atonale, jenseitige Musik; das hilft, das Klischee vom uneitlen Industrial-Hörer zu widerlegen.
Im "Elizium" lief eine anspruchsvolle Auswahl von Industrial und Electro. Es kamen unter anderem "New Skin Grafting" von Haus Arafna und "Muerte al Escala Industrial" von Esplendor Geometrico. Diese Sachen sind schwer, rhythmisch und düster. Sie haben etwas Kühles, Abgehobenes und gleichzeitig Rituelles, Meditatives an sich. Eine Melodie fehlt fast immer oder wird nur angedeutet. Zu solchen Stücken tanze ich besonders gerne. Sie lassen mich die Welt nüchterner und hoffnungsvoller sehen.
Xentrix tanzte viel. Er schien das zu genießen. Er kann es ja sonst nicht, weil er am Pult stehen muß.
In einem Traum Ende Januar war ich mit Constri und Sadia auf einer Insel. Wir waren erstaunt, als wir auf einem Parkplatz vereiste Autos sahen, denn es war gar nicht kalt.
Die Lösung des Rätsels war ein blauer Kühlwagen mit offener Hecktür. Wo immer der parkte, überzogen sich die Autos neben ihm mit Eis. Wenn der Kühlwagen wegfuhr, schmolz das Eis.
Constri, Sadia und ich kamen an eine Kirche, die renoviert wurde. Ein Gerüst umgab den Turm. Man sah Steinmetze arbeiten. Der blaue Kühlwagen parkte für kurze Zeit auch bei ihnen im Hof.
Vor der Kirche standen ein Baum und ein Strauch, die beide die gleichen roten Rosen trugen. Der Baum und der Strauch waren über und über voll mit den tief gefärbten Blüten, jede so groß wie eine offene Hand. Die Pflanzen wuchsen kräftig. Sie standen so eng beisammen, daß ihre Zweige ineinanderragten. Es war eine einzige Wand aus Rosen. In dem Kirchturm läuteten die Glocken.
Der blaue Kühlwagen ähnelte einem kalten, starren, stets schweigenden Menschen, der seine Mitmenschen "einfror", wo er ging und stand. Die meist schweigende, unbewegt dasitzende Sängerin könnte damit gemeint sein.
Sollten die Pflanzen zwei verwünschte Menschen darstellen? Sollte die Kirche für diese Menschen instandgesetzt werden, um sie zu empfangen, wenn die Zeit käme?
Sollen Rafa und ich uns einst für immer aneinander binden dürfen? Sollen wir erlöst werden? Soll die Sängerin wirklich nur eine vorübergehende Störung bleiben?
Kappa legte am Samstag im "Elizium" auf, und ich war nicht da. Carl berichtete, daß Rafa wieder am Pult stand. Er hatte Dolf bei sich sitzen. Die Sängerin beschäftigte sich unten mit anderen Leuten; es sah nicht so aus, als wenn zwischen ihr und Rafa schon wieder etwas war.
Carl ging hinauf zum DJ-Pult mit seinem Zettelchen für die "Elizium"-Wunschnacht in zwei Wochen. Rafa soll ihn gefragt haben:
"Na? Irgendwas zu bemängeln?"
"Nein", antwortete Carl. "Ich wollte nur meinen Zettel abgeben."
Rafa soll etwas wie "Moment!" gemurmelt haben, als er den Zettel fortlegte. Deshalb blieb Carl noch stehen und wartete.
"Ist noch irgendwas?" schnappte Rafa schließlich.
"Nein, nein", entgegnete Carl.
Rafa wandte sich wieder dem DJ-Pult zu. Er soll verschämt vor sich hingelächelt haben. In seinem Gesicht soll eine deutliche Röte zu sehen gewesen sein.
Carl hatte den Eindruck, daß Rafa mit ihm sprechen wollte, sich aber nicht traute. Stattdessen fing Rafa gegen zwei Uhr damit an, ein unbeliebtes Stück nach dem anderen zu spielen. Er sorgte dafür, daß viel zu bemängeln war. Er schien zu hoffen, daß Carl wieder hinaufkam, um ihn ins Gebet zu nehmen. Doch Carl ließ ihn gewähren.
Die Gäste wurden sehr wütend auf Rafa.
"Dem sollte man was an den Kopf schmeißen", sagte ein Mädchen namens Violet.
"Ein Bierglas", schlug Carl vor.
"Ach, das wäre doch viel zu schade", meinte Violet.
Gegen drei Uhr tanzte Rafa zu einem Stück. Dann hängte er seinen Rucksack über die Schulter und entschwand. Wahrscheinlich hat ihn die Sängerin gefahren. Als er fort war, ging ein Aufatmen durchs "Elizium". Die Musik besserte sich schlagartig.
Carl findet, daß Rafas Gesicht menschlicher wirkt, wenn er lächelt. Carl hat Rafa nie zuvor so verlegen über das ganze Gesicht lächeln sehen. Rafa scheint zu ahnen, daß Carl über ihn im Bilde ist. Meistens zeigt er Fluchtgebaren, wenn Carl ihm begegnet.
In der Herrentoilette des "Elizium" hat Carl mitbekommen, wie Dolf sich mit einem Jungen lautstark gestritten hat. Es soll um Frauen gegangen sein. Dolf soll wild auf den Jungen eingeschrien haben, und er soll dabei Sätze und Satzteile stur wiederholt haben.
"Fanatisch", beschrieb Carl dieses Verhalten.
Es erinnerte ihn an den Sockenschuß.
Rafa hat eine Art, Fanatiker wegzustoßen und sie gleichzeitig anzuziehen. Es ist, als würde er das umschmeicheln, was er verabscheut.
Was reizt ihn an den lauen und falschen Naturen? Sieht er Fähigkeiten bei ihnen, die er selbst gerne hätte? Wäre er gern oberflächlicher?
Ich sehe in Rafa einen Menschen mit Rückgrat, dem von seinem Wesen her das Hündische, Falsche zuwider sein muß. Ich glaube, Rafa ist imstande, etwas oder jemanden mutig zu verteidigen. Fühle ich mich deshalb bei ihm so sicher?
Zu meinem Geburtstag hat Constri mir ein kunstvolles Spiel gebastelt - "Schwarzer Peter". Die einzelnen Karten zeigen Dinge, die zu meinem täglichen Leben gehören - den Computer, Betonsteine, meine Tanzkleidung mit den vielen Haken ... Der Schwarze Peter selbst ist ein pechschwarzer Rafa, der vor einem grauen Hintergrund steht, ein Mikrophon in der Hand. Noten schwirren um ihn herum. Er singt "Ganz in Weiß". Rafa als Schwarzen Peter auszuwählen, ist nicht zuletzt deshalb passend, weil er viel Schwarz trägt und weil "Peter" sein zweiter Vorname ist. Wir spielten das Spiel, und es war wie im wirklichen Leben: Rafa ging reihum, keiner wollte ihn haben, und am Schluß landete er bei mir ... Pech im Spiel war gleichbedeutend mit Glück in der Liebe.
Anfang Februar sah ich im Traum zwei Bilder. Auf dem ersten war der Rafa aus dem Kartenspiel zu sehen, der "Schwarze Peter". Er nahm sein Mikrophon in den Mund und leckte es ab. Als er es wieder herauszog, hatte es sich in einen Löffel verwandelt, den er fortwarf. Auf dem zweiten Bild war eine Frau, ebenso mit groben Strichen gemalt und ebenso eingerahmt wie Rafa. Sie trug Trauer.
Soll das heißen, daß Rafa den Löffel fortwirft und ich zurückbleibe?
In einem anderem Traum nahm Rafa an meinem mitternächtlichen Geburtstagskaffee teil. Außerdem war er Mitglied der Industrial-Band Haus Arafna.
In noch einem anderen Traum saß ich am Computer und lud Systemsoftware. Gleichzeitig lag ich mit Rafa in meinem Bett, und er versuchte, ein Programm in meinem Kopf abzuändern. Schließlich hatte er mich so weit, daß ich mehr wollte, als es seinen Plänen entsprach, und er bremste mich. Er wollte nichts überstürzen. Er war der Ansicht, daß mir das nicht bekam und daß ich das nicht wußte. Meine Bedürfnisse und mein Verhältnis zu mir selbst waren für Rafa ausschlaggebend. Seine eigenen Bedürfnisse hatte er in den Hintergrund gestellt.
Einen Tag vor meiner Geburtstagsfeier fuhr ich nach Ht., um Ted zu besuchen. Ted konnte nicht zu der Party kommen. Er lud mich zum Essen ein, als Geburtstagsgeschenk. Er schien sich über meine Anwesenheit sehr zu freuen. Er konnte mit mir sprechen über seinen Freund Marvin. Ich vermute, daß Marvin für ihn mehr ist als ein Freund. Ich vermute, daß es Liebe ist und daß die beiden Herren "andersrum" sind.
Ich freute mich auch sehr, Ted zu treffen. Er brachte mich auf andere Gedanken, indem er kurzweilige Geschichtlein erzählte. Mir gefielen besonders seine Erlebnisse mit Finanzmaklern.
"Das sind diese Leute, die nichts erreicht haben und dann auf einmal mit Kravatte, Köfferchen und Visitenkarte herumlaufen und behaupten, selbständig zu sein", sagte Ted. "Die wohnen vielleicht in der Bachstraße, und da stehen drei Häuser, und dann bekommen die noch die Brahmsstraße und die Beethovenaße dazu, und dann werden sie zum Bezirksleiter ernannt, und das ist dann deren Bezirk."
Ein alter Klassenkamerad von ihm hat sich nur deswegen wieder bei ihm gemeldet, um ihn zu einer "Schulung" bei einer Maklerfirma mitzuschleppen.
"Die Vorstellung ist Formsache", erzählte Ted. "Da bekommt man einen Fragebogen, auf dem steht:
'Wollen Sie selbständig sein?'
Riesengroß zum Ankreuzen:
'Ja.'
Dann:
'Wollen Sie in fünf Jahren ein Jahreseinkommen von mindestens 100.000,- haben?'
Riesengroß:
'Ja.'
Dann:
'Wollen Sie in zehn Jahren ein eigenes Haus haben?'
Riesengroß:
'Ja.'
Und in der 'Schulung' sitzen die da alle mit Kravatte und mit offenem Mund; die Intelligenz steht ihnen im Gesicht geschrieben. Dann sollte es noch einen Cocktail geben, und da saßen dann auch alle wieder mit Kravatte - nur Männer; Frauen sind wohl nicht dumm genug für den Job."
Bei dem Cocktail trug nur einer keine Kravatte. Ted freute sich schon; da kam der aber auf ihn zu und sagte:
"Entschuldigen Sie, daß ich keine Kravatte umhabe, aber ich hatte keine Zeit, mich umzuziehen."
Ted trug wie sonst seine Lederkluft und dachte gar nicht daran, sich unter die Kravattenträger zu mischen.
Nachts waren wir in BO. im "Fall". Ich fragte Ted und seinen Freund Lev, ob sie wüßten, aus welchen Gründen man sich Kinder wünschen kann. Lev mag kleine Kinder, konnte mir aber nicht erklären, weshalb. Ted redete davon, daß neuerdings überlegt wird, ob man Schwulen gestattet, Kinder zu adoptieren. Ich meinte schließlich, ich würde es dem Mann, der mich liebt, überlassen, mir bewußt zu machen, weshalb mir Kinder wichtig sein könnten.
Ich kaufte im "Fall" eine Musikzeitschrift, in der Rafas MaxiCD in der Luft zerrissen wird:
"Laut Presseinfo ist W.E die Entdeckung nach der NDW-Zeit. Von der einfachen Genialität der frühen Krupps oder Grauzone haben W.E nichts geerbt. Simple, monotone Musik kann äußerst hübsch sein, W.E muß nicht sein. Ödes, fades Geklimper belästigt mich über 20 Minuten, reine Zeit- und Geldverschwendung. Hier gibt's rosa Zeiten und Telefonsex, getreu der schlechten Texte der NDW-Zeit. Nichts Wichtiges! Wird bestimmt der neue Renner in uns allen bekannten 80er-Jahre-NDW-Parties. Sorry. War nicht so gemeint. Nehm's zurück. Jetzt habe ich keine Lust mehr."
"Rafa hat selbst schuld", dachte ich. "Warum macht er auch sowas Albernes?"
Als ich meine Geburtstagsfeier gab, bekam ich viele schöne, persönliche Geschenke. Steini hatte mir ein Brettspiel aus Beton gemacht. Philipp schenkte mir eine CD von den Hybryds; sie steckte in einer selbstgebastelten Hülle aus Rauhfasertapete, die verziert war mit roten Papierstreifen, Kerzenwachs und trockenem Laub. Rikka hatte ein großformatiges Bild im Comic-Stil gemalt. Es zeigt mich im Ausgehgewand und Rafa als Ninjakrieger mit roter Schärpe. "Spirit of Kombat" ist das Bild betitelt, und der Untertitel lautet "Elektro Betty vs. Black Nasty Ninja".
"This time you will hate me!" schleudert der Krieger Rafa mir entgegen, und ich erwidere kühl:
"No way man."
Links oben ist ein kleines Bild, darin sieht man die Blicke von Rafa und mir ineinandertauchen, und Blitze zucken von Gesicht zu Gesicht.
Rafas und meine Geschichte hat tatsächlich etwas Comichaftes an sich: es gibt zwei Hauptfiguren, die sich auf immer gleiche Art bekämpfen und die beide ein ausgefallenes Wesen haben. Vielleicht kommt eines Tages jemand auf die Idee, Rafa und mich als Plastikfigürchen herauszubringen. Eine Verfilmung der Geschichte müßte wohl als Serie laufen.
Derek hat sich von mir eine Niere zum Geburtstag gewünscht, weil seine Nieren nicht mehr ganz heile sind. Ich habe ihm eine Niere genäht, eine schöne dunkelrote Plüschniere. An der Stelle, wo der Harnleiter abgeht, ist eine Schnur. Wenn man daran zieht, erklingt "Schlaf, Kindchen, schlaf". Ich habe eine Spieluhr in die Niere eingebaut, weil Derek so gerne schläft, besonders im "Elizium".
An dem Tag meiner Geburtstagsfeier hat Till im "Elizium" Dolf gesehen und mit ihm ein paar Worte gewechselt. Rafa soll nicht da gewesen sein.
Till kann sich nicht vorstellen, sich endgültig für einen Menschen zu entscheiden. Er glaubt, daß einem ein Mensch mit den Jahren langweilig wird. Ich hielt dagegen, daß man in einem Geschöpf, zu dem man eine wirklich innige Beziehung hat, alle Tage etwas Neues entdeckt.
Zwischen Lebewesen läuft viel unbewußte Übermittlung ab. Es gibt das "schlechte Gefühl" oder das "gute Gefühl", das man hat, wenn man jemanden kennenlernt, und entsprechend wird Vertrauen oder Mißtrauen entwickelt. Schwache Reize, die vom anderen ausgehen, werden unbewußt wahrgenommen - feine Bewegungen, kurze Blicke -, und diese Reize verrechnen wir, ohne es zu merken. Wir empfinden die Zuneigung des anderen, ohne das erklären zu können. Vielleicht hängt mein Gefühl der Verbundenheit mit Rafa auch damit zusammen.
Carl glaubt, daß es für Rafa und mich durchaus eine gemeinsame Zukunft geben kann.
"Du kannst ihn nicht in die Tasche stecken, und er kann dich nicht in die Tasche stecken", begründet er seine Ansicht.
Mitte Februar war ich mit Telgart im "Trash", wo Joël jetzt auflegt. Joël spielte einige von den gnadenlos harten Stücken, die er im "Trauma" immer gespielt hat. Darunter war auch "20 hz" von Capricorn.
Ich vermisse das "Trauma". Wird es je wieder einen Laden geben, wo ich mich so austoben kann? Massen-Techno ist nichts für mich, und Großveranstaltungen sind auch nichts für mich. Ich suche das Besondere, Persönliche.
Samstags ging ich mit Carl ins "Elizium" zur Wunschnacht. Ich hatte mir die Taille geschnürt, und Carl meinte:
"Ich warte immer noch darauf, daß du dich durchsägst."
Dolf erzählte im Vorflur des "Elizium" von Rafas neuem Album.
"Unsere LP", sagte er, obwohl er die Musik gar nicht macht, sondern Rafa.
Rafa war nicht da. Es kann daran liegen, daß er wieder mit der Sängerin zusammen ist und mir nicht begegnen möchte.
In der "Elizium"-Top 50 ist "Bloodmoney" von Dive auf Platz fünf. Auch das schnelle, betonharte Industrial-Stück "Slogun" von SPK ist unter den Hits. Ich kenne "Slogun" seit den späten Achtzigern und hätte mir nicht träumen lassen, je in einer Discothek dazu tanzen zu können.
Dolf lief viel durch die Gegend und tanzte viel in meiner Nähe. Ich frage mich, ob Rafa ihn beauftragt hat, mich zu überwachen. Ich frage mich auch, ob Dolf sich erhofft, von mir angesprochen zu werden. Es könnte sein, daß ich ihm unheimlich bin und daß er es nicht wagt, mit mir zu reden.
Xentrix hatte ungefähr die Hälfte der Top 50 gespielt, da sagte er durchs Mikrophon:
"So, und für das nächste Stück entschuldige ich mich im Voraus."
Rafas Clubhit gegen Videospiele ... ist auch ein Hit im "Elizium". Ich hatte es kommen sehen, daß ich dieses Stück würde hören müssen. An das Ende fügte Xentrix Babygeschrei vom Band. Wie dies? Ich habe kürzlich am Telefon mit Rafa zuerst über seinen Clubhit und dann über Kinder gesprochen. Und jetzt kam im "Elizium" erst dieses Stück und dann Kindergeschrei.
Ist das ein Zufall und keine Provokation von Rafa?
Xentrix hat Dolf zweimal durchs Mikrophon zu sich hochgerufen, bevor Rafas Stück kam, einmal auch danach. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Dolf der Überbringer jenes Samples war, das Xentrix nach Rafas Stück abspielte.
Wie die Hintergründe tatsächlich aussehen, werde ich wohl nie erfahren. Ich fühlte mich aber sehr, sehr angesprochen.
Im Gegensatz zu Rafa machte Xentrix ein Programm fürs Publikum. Es gab eine Verlosung und viele Preise.
Nach der Hitvorstellung spielte Xentrix unter anderem noch "Sacrosancts Bleed" von In Slaughter Natives und "Knights" von Mental Measuretech. Diese Bands machen rhythmisch-kulthafte Musik, orchestralen Bombast.
"Es war doch gut heute, nicht?" fragte Xentrix mich am Schluß.
Er bekam von mir sein verdientes Lob. Ich bekam von ihm einen Preis, der noch übriggeblieben war - eine Kassette mit den "Elizium"-Tophits.
Beim Frühstück unterhielten Carl und ich uns über Rafas Verhältnis zu Luisa. Schon am Anfang seiner Beziehung mit Luisa hat Rafa für sie ein Gedicht namens "Sinnlos" verfaßt und damit die Beziehung in Frage gestellt. Nachher war er noch jahrelang mit ihr zusammen und betrog sie immer wieder.
Luisa scheint Rafa gegenüber hilflos gewesen zu sein; sie konnte ihn wohl auch nicht durchschauen. Er konnte mit ihr sein Spiel treiben, sie konnte dem nichts entgegensetzen und ihm keinen ausreichenden Halt bieten. Carl glaubt, daß beide gewissermaßen voneinander abhängig waren. Rafa brauchte jemanden, den er zurückweisen konnte, sie suchte jemanden, an den sie sich anlehnen konnte. Rafa band sie an sich, indem er zwischen den Seitensprüngen seine Liebe zu ihr beteuerte, sie band ihn an sich, indem sie durch Tränen sein Mitleid erregte.
Sator hat Rafa schon gekannt, als dieser noch mit Luisa zusammen war. 1992 ist ihm Rafa im "Read Only Memory" aufgefallen. Einmal soll Rafa sein Haar offen getragen haben, und er soll einen langen Mantel angehabt haben.
Ich war 1991 und 1992 auch viel im "Read Only Memory", auf denselben Veranstaltungen, die Rafa besuchte. Aber er fiel mir nie auf. Weshalb nur nicht?
Immer hielt ich Ausschau nach dem Mann meines Lebens, und er war ganz dicht bei mir, und ich konnte ihn nicht sehen.
Carl weiß auch noch, daß Rafa 1992 häufig im "Read Only Memory" war. Luisa kam gelegentlich mit. Nach ihrer Trennung von Rafa hat Carl Luisa einige Male im "Trauma" getroffen. Luisa war auf der Suche nach Männern und fand Carl recht anziehend. Sie küßte ihn auf die Wange und verabredete sich mit ihm fürs "Elizium". Carl kam aber nicht, und als Luisa ihn später im "Read Only Memory" wiedersah, war sie recht ungehalten. Sie wandte sich dem Sonnengott zu, dem Kellner vom "Trauma".
Für Luisa gibt es auch andere Männer als Rafa, für mich nicht.
In einem Traum bin ich mit Rafa gemeinsam aufgetreten - in einer großen Bodenkammer, ähnlich wie die, in welcher Rafa und ich uns in einem Traum im letzten Frühjahr gestreichelt und umarmt haben. Auch auf diesem Dachboden waren die Leute aus dem "Elizium". Der Dachboden hatte jetzt eine hölzerne Bühne. Ich mußte während des Auftritts heruntersteigen und unters Publikum gehen; so war das festgelegt und eingeübt. Es machte mir Spaß. Es beruhigte mich, schon mit Rafa aufgetreten zu sein.
In einem weiteren Traum erschossen sich zwei Eheleute. Sie verwandelten sich in zwei gleiche Stahlpuppen und fielen übereinander. Das Schicksal des einen war das Schicksal des anderen. Das Wesen des einen war das Wesen des anderen.
Sator hat sich eine neue Freundin gesucht, Janine.
"Ihr Aussehen ... na, das Absolute ist es nicht, aber es kommt auf den Charakter an", meinte er.
"Ich fühle anders", entgegnete ich. "Wenn ich einen Menschen liebe, liebe ich den ganzen Menschen. Ich liebe alles an Rafa, sein Wesen und sein Aussehen."
"Vielleicht ... vielleicht kommt das ja auch noch."
"Ich glaube nicht, daß es bei dir und Janine die große Leidenschaft ist. Die Verliebtheit ist ein wildes Tier. Sie ist grausam und unerbittlich. Sie überfällt einen. Man muß stark sein, um große Gefühle zu ertragen. Sie sind schwer. Ich glaube eher, daß du bei Janine Erholung suchst und auch findest. Du brauchst Janine, so lange du Erholung brauchst."
|
|