Netvel: "Im Netz" - 43. Kapitel































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Mitte Mai waren Constri und ich bei Gesa, die Geburtstag hatte. Wir stießen mit Maibowle an. Gesa nimmt wieder einmal an einer Weiterbildungsmaßnahme des Arbeitsamts teil. Diese Maßnahmen scheinen vor allem den Zweck zu haben, die Arbeitslosenstatistik zu schönen. Aussicht, eine Stelle zu bekommen, hat Gesa durch diese Maßnahme nicht, auch wenn sie angeblich dazu dienen soll.
Später am Abend kam ich in den "Keller", wo Maylin und Kiran ihre Hochzeit feierten. Maylin erzählte von der Trauung im Standesamt. Sie hatte ein Kleid an, das war lang, schwarz und mit vielen kleinen Röschen benäht, und ein ähnliches Kleid trug Meryl, die Tochter von Maylin und Kiran. Maylins Haar war aufgesteckt, mit Korkenzieherlocken an den Seiten. Anstelle eines Schleiers trug sie ein Diadem. Kiran trug einen Gehrock aus schwarzem Samt, passend zu Maylins romantischem Stil. An Kirans Vorliebe fürs Militärische erinnerte nur seine ausrasierte Bürstenfrisur. Die Trauung soll recht förmlich verlaufen sein, eine zu Herzen gehende Rede habe der Standesbeamte nicht gehalten. Mittags bekam Maylin eine Magen-Darm-Grippe. Sie legte sich für einige Stunden hin und ging dann mit Kiran in den "Keller", nun in einem bequemeren Kleid. Sie fühlte sich schwach und sah durchsichtig aus. Meryl war bei Verwandten. Maylin und Kiran hatten für die Hochzeitsnacht eine Hotelsuite gemietet.
Die Familie ist umgezogen, in dörflich-ruhige Lage. Das Haus, wo sie bis vor Kurzem lebten, steht an einer vielbefahrenen Bundesstraße. Abgesehen davon, daß der Abriß des Hauses ohnehin geplant ist und auch schon feststand, als sie einzogen, wollten sie nicht, daß ihr Kind an einer Fernstraße aufwächst.
Im "Keller" gab es ein Wiedersehen mit vielen Bekannten, darunter auch Highscore und Ceno. Wo der Tunichtgut Sam sich aufhielt, wußten sie beide nicht; sie hatten lange nichts mehr von ihm gehört, vermuteten aber, daß er noch einsaß.
"Er wollte in den Knast, und er ist im Knast", meinte ich. "Wozu klaut man auch sonst einer alten Dame die Handtasche?"
Ceno ist aus seinem baufälligen Haus in eine kleine Wohnung umgezogen, wo es wenigstens eine Zentralheizung gibt. Das Haus läßt sich schlecht verkaufen, denn es liegt - wie die ehemalige Behausung von Maylins Familie - direkt an der Bundesstraße, und die einzige wirtschaftliche Möglichkeit, es zu renovieren, besteht darin, es abzureißen und ein anderes Haus zu bauen.
Cenos Hündin Pixie lebt jetzt bei Bibian. Er hatte sie ihr vorübergehend anvertraut, als er umzog. Bibian gewann das Tier so lieb, daß sie es behielt.
Bibian hat einen neuen Freund, einen nervösen blonden Mann, der heute auch im "Keller" war. Sie erzählte, sie sei mit ihm sehr glücklich. Kinder wolle sie nicht, aber sie habe ein Patenkind - Meryl. Und im Grunde sei der "Keller" ihr Kind.
Bibian trug ein neues Kleid, das ihr eine Freundin genäht hatte. Es war aus schwarzem Samt, und auf der Corsage ringelten sich orangefarbene Ranken, die im Schwarzlicht leuchteten. Bibian ist brünett und hat ein lebhaftes Temperament. Ich sagte ihr, daß ich finde, daß ihr das Kleid hervorragend steht.
Mit Tyra gab es endlich ein Wiedersehen. Sie bediente im "Keller", und zwischendurch, wenn sie einige Minuten Pause machte, konnten wir uns ein wenig unterhalten. Tyra berichtete, sie habe in den vergangenen acht Wochen sehr viel gearbeitet, so daß sie nun bereits die Hälfte der Studiengebühren für das kommende Studienjahr zusammen habe. Sie habe herausgefunden, daß sie sich mit ihrem bisherigen Ausbildungsstand ohne Prüfungen oder Numerus clausus in VEC. einschreiben könne. Sie wolle Soziale Arbeit studieren, mit dem Ziel, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu arbeiten.
"Das ist doch genau das, was du wolltest", freute ich mich. "Da nutzt du deine Begabungen und richtest dich nach deinen Neigungen."
Tyra jobbt bei der Lokalzeitung. Sie übernimmt vorwiegend Promotion-Aufgaben. Einmal gab es eine Aktion für Kinder, und mit dieser Aufgabe wurde sie auch betraut, passend zu ihrer Ausbildung als Erzieherin. Tyra ist dennoch der Ansicht, in ihrem Job keine Erfahrungen von nennenswerter Bedeutung zu sammeln und kein für sie wichtiges Wissen zu erlangen. Es sei ein Job, weiter nichts.
Tyra erkundigte sich, ob es Neues von Rafa gebe. Ich erzählte vom "Ferrum" und dem gespenstisch-erstarrten Paar Rafa und Darienne hinterm DJ-Pult.
"Da ist was im Busch", war Tyra sicher.
Darienne sei nicht mehr oft bei Rafa, und Rafa gehe immer öfter ohne sie aus.
Als ich Tyra erzählte, wie Rafa im "Daybreak" auf der Stelle gehüpft ist und in die Hände geklatscht hat, erzählte Tyra:
"Das macht er öfter, wenn er besoffen ist."
Über Darienne hatte Tyra eine Geschichte von einem gemeinsamen Bekannten namens Ascan gehört. Ascan soll aufgefallen sein, daß Darienne in einer geselligen Runde überhaupt nichts sagte. Schließlich wandte er sich an sie:
"Sag' du doch auch mal was."
Da entgegnete Darienne:
"Ich rede nur, wenn Rafa das sagt."
Und sie setzte hinzu:
"Wenn mich jemand anspricht und ich nicht weiß, was ich sagen soll, lächle ich nett."
"Am Ende hat die das sogar noch ernst gemeint", staunte ich. "Die ist am Ende echt so drauf und meint das ernst. Die glaubt, es ist das höchste Ziel auf Erden, für Rafa die perfekte Sklavin zu sein. Ou, das ist echt eine Geschichte zum Weitererzählen!"
Mervin traf ich auch im "Keller". Er berichtete, daß er nun doch nicht nach Afghanistan muß. Das bedeute weniger Geld für ihn.
"Weniger Geld, aber dafür mehr Leben", dachte ich.
Im "Keller" waren einige Polizeibeamte unter den Gästen. Einer von ihnen, Xander, kannte mich noch aus dem "Elizium". Seine Frau Avris konnte sich erinnern, wie sie mich in der "Halle" gesehen hat, als sie vierzehn war. Xander und Avris haben eine zweieinhalbjährige Tochter, Amyris. Sie soll ein wißbegieriges Kind sein, das schon einige Buchstaben kennt. Einmal hat sie ein "A" gesehen und gesagt:
"Das ist ein 'A' wie 'Mama'."
Da ihre Mama Avris heißt, war das richtig.
Xander fragte mich, was mich nach SHG. verschlug. Ich antwortete, daß ich hier einige Leute kenne, die ich auf den Parties im "Keller" wiedertreffe.
"Ein Kumpel von mir ist mit Rafa zur Schule gegangen", erzählte Xander.
"Rafa kenne ich ich aus dem 'Elizium'", erzählte ich. "Er hat sich damals schon einen Namen gemacht wegen seiner Frauengeschichten."
"Rafa und Frauen? Rafa hat doch nie was mit Frauen", sagte Xander ironisch.
Xander war einige Zeit bei der Autobahnpolizei, hat sich aber schon bald weggemeldet, weil er es gar zu furchtbar fand.
"Immer siehst du die Bilder vor dir", erzählte er, "immer siehst du die Toten. Echt, bei diesen Unfällen hast du nur noch Mett!"
Der erste schlimme Unfall, den er aufnahm, geschah, indem ein Pkw ungebremst mit hundert Stundenkilometern auf einen Tieflader auffuhr, an einem Stauende. In dem Pkw saßen zwei etwa siebzigjährige Schwestern. Die Fahrerin hatte einen Lkw überholt und dann wieder auf die rechte Spur einscheren wollen, doch hatte sie den Tieflader offenbar nicht bemerkt, ebensowenig wie das Stauende. Die beiden Frauen waren sofort tot, der obere Teil der Köpfe war nach hinten verschoben und fast abgetrennt. Das Bergen war dadurch erschwert, daß jede der Toten ungefähr hundertsechzig Kilo wog. Xander ließ die Autobahn sperren. Ein Kollege hatte Einwände:
"Weißt du, wie hoch der volkswirtschaftliche Schaden ist, wenn man für eine Stunde die A2 sperrt?"
"Das ist mein Unfall", entgegnete Xander. "Und ich lasse die Autobahn sperren."
Xander konnte als Polizist den Tod der Frauen feststellen, ein Arzt war dazu nicht nötig. Polizisten dürfen den Tod feststellen, wenn eindeutig mit dem Leben unvereinbare Verletzungen vorliegen, wenn also der Kopf abgetrennt ist, der Oberkörper auseinandergerissen ist und dergleichen.
Xander erzählte, wie er im gewöhnlichen Polizistenalltag mit aggressiven "Kunden" umgeht. Er habe sich als Kind schon gerne geprügelt, und es mache ihm nichts aus, wenn er in seinem Beruf blaue Flecken davontrage.
"Wahrscheinlich ist das die Voraussetzung, um diesen Job überhaupt machen zu können", meinte ich. "Nur wenn man sich sowieso gerne prügelt und es einen nicht belastet, wenn man eine gewischt kriegt, kann man als Polizist arbeiten und in dem Job zufrieden sein."
Xander hat schon den einen oder anderen betrunkenen Randalierer mit der einen oder anderen Kampfsportmethode niedergestreckt. Im städtischen Krankenhaus begegnete er einmal einer Ärztin im Nachtdienst, die einem Betrunkenen eine Blutprobe entnehmen sollte und Xander vorwarf, zu hart mit dem Betrunkenen umzugehen. Xander wies darauf hin, daß der Betrunkene soeben Gegenstände und Menschen demoliert hatte und daß zu erwarten war, daß er dieses Verhalten noch fortsetzte.
Jennice stellte sich mir vor, die Schwester von Magdalenas Bekanntem Malik, der zu Beginn des Sommersemesters in MZ. zu studieren begonnen hat. Seine Wahl fiel auf MZ., weil es dort keine Studiengebühren gibt. Jennice berichtete, nach dem Stimmungshoch am Anfang sei für Malik allmählich die Nüchternheit des Alltags eingekehrt. Grundsätzlich sei er aber mit dem Studium zufrieden. Er bekomme öfters Übernachtungsbesuch von Freunden.
Im "Keller" legten DJ's auf, die zur Hochzeitsgesellschaft gehörten. Sie spielten unter anderem "Strap me down" von Leæther Strip und "Devil Dancing" von den Invisible Limits.
Maylin und Kiran verließen die Feier gegen halb eins. Maylin fühlte sich zu schlecht, um weiterzufeiern. Sie grämte sich deshalb aber nicht:
"Wir haben noch so viele glückliche Tage."
Tyras Freundin Vivia war im "Keller" mit ihrem Onkel Bodo. Vivia verließ den "Keller" eher als Bodo; sie übernachtete in Tyras Wohnung, für die Tyra ihr einen Schlüssel gegeben hatte. Zu vorgerückter Stunde, als die meisten Gäste betrunken waren, war Bodo das in verstärkter Weise, und er begann zu lärmen und zu provozieren. Iro, der schon wegen im Suff begangener Gewaltdelikte eingesessen hat, war auch sehr betrunken. Iro verehrt Tyra und möchte sie immerzu beschützen. Als Bodo Tyra gegenüber zudringlich wurde, stürmte Iro auf Bodo zu und schlug Bodo mit seinem Kopf ins Gesicht. Das war das Signal für die gleichfalls betrunkenen Polizeibeamten, ihre im Dienst befindlichen Kollegen anzurufen und sich aus dem Staub zu machen ("Das sieht nicht so gut aus, wenn die kommen, und wir sind alle voll.").
Bodo soll im "Keller" schon mehrfach Hausverbot bekommen haben, womit es Bibian allerdings nicht genau nimmt. Zumindest für die heutige Nacht wurde er wieder des Hauses verwiesen. Iro durfte in der Gaststube Volksreden halten, wobei er sich allmählich beruhigte. Die Polizisten im Dienst nahmen weder Bodo noch Iro mit. Sie befragten die Zeugen und gingen wieder.
Bibian weinte, weil Iro gegen ihr Bein gestoßen war, als sie zu schlichten versucht hatte. Sie war betrunken und befürchtete einen Skandal. Außerdem befürchtete sie, durch den Bluterguß am Bein eine Lungenembolie zu bekommen. Sie ließ sich von ihrem nervösen Freund zum Krankenhaus fahren.
Tyra saß neben Iro auf einer Bank und hörte sich seine Volksreden an. Ich setzte mich neben Tyra und stellte fest, daß Iro immer wieder dasselbe erzählte, sich aber jedesmal so gebärdete, als hätte er es noch niemals erzählt. Als Iro fort war, weinte Tyra und sagte:
"Alles wegen mir! Ich bin schuld, daß die Stimmung hin ist!"
"Du bist an gar nichts schuld", entgegnete ich. "Schuld sind nur die Leute, die sich besaufen und dann anfangen, sich zu prügeln. Der Aufhänger dafür ist doch egal. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, sich zu prügeln. Die Verantwortung haben ausschließlich Bodo und Iro."
"In mir ist das so einprogrammiert, daß ich mich immer an allem schuldig fühle. Ich nehme mir immer alles zu Herzen."
Kurz nach vier Uhr morgens fuhr ich Tyra nach Hause, und wir unterhielten uns vor dem Haus auf dem Parkplatz weiter. Ich erzählte von meinen neuesten Kurzgeschichten und deren zynischem Inhalt. Über die noch nicht fertiggestellte Geschichte "Ein Toter beherrscht das Universum" sagte Tyra:
"Ja, die mußt du unbedingt fertigschreiben!"
"In den Geschichten muß ich dasselbe Thema immer wieder neu verarbeiten", erklärte ich. "In 'Der Tulpenstrauß' geht es darum, daß der Protagonist dreiundzwanzig Mädchen die Ehe verspricht und sie dann sitzenläßt."
"Dreiundzwanzig! Das mußte auch wieder diese Zahl sein!"
"Der Protagonist ist ein Heiratsschwindler, aber ihm geht es nicht um Geld, sondern um die Möglichkeit, andere Menschen zu demütigen und zu enttäuschen. So ist es bei Rafa ja auch. Ihm geht es nicht um Geld. Er will nur andere Menschen verletzen können. Wenn ich daran denke, was er mit Berenice und dir gemacht hat ... Unter der Woche hat er dir suggeriert, daß er dich heiraten will. Er hat dir eingehämmert, daß du seine einzig wahre Liebe bist. Und am Wochenende hat er übergangslos mit Berenice über die Zukunft geredet und Pläne geschmiedet, und er hat ihr gesagt, daß er sie heiraten will und daß sie seine einzig wahre Liebe ist. Diese Dreistigkeit! Das ist so unfaßbar, das kann man sich gar nicht vorstellen, wie ein Mensch so etwas bringt. Der lügt doch, sobald er den Mund aufmacht."
"Rafa konnte sich nie zwischen uns entscheiden. Er hat sogar den C64 befragt, wen er nehmen soll."
"Was?" staunte ich. "Den C64 hat er deswegen befragt?"
"Er hatte einen Fragebogen im C64, da mußte er verschiedene Sachen ankreuzen, auf einer Skala von 1 bis 10. Bei 'Aussehen' hat er Berenice 10 Punkte gegeben und mir nur 8, da war ich voll sauer. Und bei der Frage, ob er sich geliebt fühlt, hat er Berenice 5 Punkte gegeben und mir 10."
"Und was kam am Ende 'raus?"
"Am Ende stand da 'Tyra'."
"Und wie hat er reagiert?"
"Er hat nur 'hm' gemacht und den C64 ganz schnell abgeschaltet und nicht mehr darüber geredet."
"Er wollte sich ja auch gar nicht entscheiden", meinte ich. "Er wollte seinen Harem behalten."
Ich kam auf das W.E-Fanclubtreffen zu sprechen:
"Duncan will nur zum Fanclubtreffen, um seine Bekannten wiederzusehen. Er meint, daß das für die meisten Besucher zutrifft. Rafa würde denken, die Leute kämen wegen W.E, das sei aber nicht so.
Duncan ist sicher, daß Dolf ihn haßt. Das hat mit Eden zu tun. Eden ist eine Bekannte von Duncan. Auf dem Fanclubtreffen 2004 hat Duncan mit Eden getanzt. Dolf war damals schon nicht mehr mit Eden zusammen. Trotzdem ist er furchtbar eifersüchtig geworden und hat sich verhalten, als würde Eden ihm gehören. Dolf war auf der Bühne am Abräumen, und da hat er gesehen, daß Duncan mit llka tanzt. Und da ist Dolf von der Bühne gesprungen ... man muß sich das mal vorstellen, ein Gartenzwerg springt von der Bühne ... es hätte fast Scherben gegeben ..."
Tyra mußte lachen.
"Und diese Sprüche bringst du immer so nebenbei", merkte sie an. "Ich sehe das gerade vor mir ... Zwerg-Scherben ..."
"Dolf ist aber wohl aus Gummi und nicht aus Keramik, er kam jedenfalls sicher auf dem Boden an. Er rannte auf Duncan und Eden zu und riß Eden von Duncan weg."
"Und was hat Eden gemacht?"
"Sie hat sich von Dolf wegzerren lassen. Sie war wohl völlig baff."
Als ich Tyra erzählte, daß sie im 32. Kapitel von "Im Netz" bereits vorkommt, freute sie sich:
"Ich bin in der Geschichte!"
"Im 33. Kapitel kommst du auch vor."
Ich schilderte, wie ich im Sommer 2004 das Mädchen beobachtet habe, das mit Rafa im "Mute" war; das könne nur sie gewesen sein. Rafa habe im Foyer lange mit ihr geredet, dann habe er mit ihr das "Mute" verlassen, und weil er getrödelt habe, habe sie sich vor dem "Mute" auf einen Poller gesetzt und gewartet. Tyra bestätigte, daß nur sie das gewesen sein könne; sie erinnere sich noch an jene Nacht. Wenn sie müde sei, denke sie nur noch: "Jetzt bloß irgendwo hinsetzen!" - und wenn es ein Poller sei.
"Das war unsere Zeit", sagte sie über den Sommer 2004, "die beste Zeit von Rafa und mir."
"Ja, und parallel dazu hat Rafa immer wieder Berenice seine Liebe beteuert und außerdem Dessie angegraben, die damals mit Darius zusammen war."
"Ja, Darius war deshalb auch voll sauer. Das war im Juni im 'Read Only Memory' bei dem Festival."
"Das ging länger", ergänzte ich. "Rafa und Dessie haben E-Mails ausgetauscht."
"Was, die haben E-Mails ausgetauscht?"
"Ja, das weiß ich von Jay-Elle, Dessies Schwester, und die kenne ich von meiner Arbeit in Kingston."
Daß Darius die Annäherungsversuche von Rafa bei Dessie mitbekommen hat, dürfte ein Grund mehr für ihn gewesen sein, Rafa Anfang 2005 aus der Band Das P. hinauszuwerfen.
Darlin mailte:

Ich bleib immer noch der Meinung, daß Rafa dich nicht verdient hat und es genug andere Männer gibt, die besser für dich wären.
Aber was man braucht und will, ist ja immer was anderes.
Und wenn man einmal den "Richtigen" gefunden hat, egal ob er mit dir zusammen ist oder nicht, dann gibt es nun mal nur ihn und keinen anderen.

Ja, Rafa hat mich nicht verdient. Und daß er für mich der "Richtige" ist, stimmt insofern, als er der Mann ist, den ich liebe. Alle möglichen anderen Gründe, warum jemand der "Richtige" sein kann, treffen bei Rafa nicht zu.
Layana mailte:

Habe neulich eine lustige Erklärung gelesen, warum man sich (nicht) in Mülltonnen verliebt ;-)
Viel Spaß damit!

Sie schickte ein Foto von einem Ausschnitt aus einer Illustrierten ("Neon"). Darin stand zu lesen:

Was in uns verankert ist, ist nicht der Inhalt der Schönheit, sondern es ist eine Konstruktionsanleitung, weshalb und wie wir Schönheit wahrnehmen. Stünde diese Beurteilung nicht im Zusammenhang mit Sex und Fortpflanzung, würden wir vielleicht auch eine Mülltonne für unfaßbar attraktiv halten.

Das paßt hervorragend zu den "Sulo"-Comics, die ich über das Schicksal einer promiskuitiven Mülltonne verfaßt habe und die schon für viel Heiterkeit gesorgt haben.
In der Samstagnacht waren Constri und ich im "Radiostern". Tanzflächen-Highlights waren "Lost" von Rotersand und mein Wunsch "Epoch" von This Morn' Omina.
Imo erzählte, Solvar habe sich auch heute von seiner Freundin daran hindern lassen, bis zum Schluß im "Radiostern" zu bleiben. Die Freundin sei krankhaft eifersüchtig und wolle Solvar am liebsten gar nicht aus der Tür lassen.
"Sag' ihm, er soll mit ihr Schluß machen", bat ich Imo. "Er macht sich mit der nur unglücklich."
"Er hatte so lange keine."
"Ja, aber besser allein als mit so einer! Das ist doch Terror."
"Hoffen wir, daß er das einsieht."
Morgens nahmen wir Timon und ein Mädchen mit zu "McGlutamat". Als ich mit meinem Tablett in den Café-Bereich ging, saßen dort vier Leute in Schwarz an einem Tisch und sagten zu mir:
"He, vor fünf Minuten haben wir dich noch auf der Tanzfläche gesehen! Setz' dich zu uns, hier ist noch genug Platz!"
Also setzte ich mich zu ihnen, Constri kam auch dazu. Timon und das Mädchen setzten sich weiter vorn an einen Tisch. Die vier Leute stellten sich vor als Miran, Ikor, Miko und Ilaria. Ilaria hat drei Kinder: zwei Töchter von siebzehn und dreizehn Jahren und einen Sohn von zwölf Jahren. Miko ist Ilarias Freund; er ist ungefähr zehn Jahre jünger als Ilaria und nicht der Vater ihrer Kinder. Für Ilarias Sohn bildet er aber eine wichtige Vaterfigur.
Heute war Muttertag, und wir unterhielten uns über den Muttertag. Ilaria hat es lieber, zwischendurch von ihren Kindern Anerkennung und Geschenke zu kriegen als nur an einem traditionell festgelegten Tag. Die Kinder schreiben ihr Briefe; in einem stand, es sei schön, daß sie nicht so normal und langweilig sei wie andere Mütter.
Miran erzählte, daß er den Muttertag immer boykottiert hat, bis seine Mutter an den Folgen ihres Alkoholkonsums starb. Jetzt hat er das Gefühl, etwas verpaßt zu haben. Sein Vater ist ebenfalls schon verstorben.
Nach dem Frühstück bei "McGlutamat" machten Constri, Ikor, Miran und ich einen Spaziergang in der Morgensonne. Wir gingen auf grün umwucherten Kieswegen und schmalen Asphaltstraßen, am Rande eines Gewerbegebiets, einer Kleingartenkolonie und einer Bahnstrecke.
Miran erzählte, SZ. sei ein heißes Pflaster. Zwielichtige Gestalten seien hier unterwegs.
"Um diese Zeit schlafen die aber", meinten Constri und ich.
Uns begegnete hier draußen niemand.
Ikor erzählte Constri von seinem schweren Autounfall. Er wurde von einem Drängler überholt, der seinen Wagen schnitt, so daß Ikor in ihn hineinfuhr. Ikor stieß gegen die Windschutzscheibe, die zerbrach. Beinahe wäre Ikor mit einem Lkw kollidiert, er konnte eben noch aus dem Auto springen.
Als Constri mir auf der Heimfahrt diese Geschichte erzählte, meinte ich:
"Wenn Drängler einen überholen, muß man immer Gas wegnehmen, denn die schneiden alle. Wenn man vom Gas geht, kann man die rückwärts ausbremsen."
Vormittags fuhr ich zu Kurt und Cecile. Kurt gab ein Geburtstagsfrühstück. Viele Kinder waren anwesend, im Alter zwischen sechs Wochen und drei Jahren. Dagni, die älteste Tochter von Kurt und Cecile, wird im Juli drei Jahre alt. Yvni, die Jüngere, ist neun Monate alt. Matthew, der Sohn von Sarolyn und Victor, ist vierzehn Monate alt.
Sarolyn und Victor richten nach und nach ihr neu erworbenes Haus ein. Dort ist genügend Platz für weitere Kinder.
Onno und Endera haben noch keine Pläne zur Familiengründung. Sie kümmern sich um ihre kranke Katze, die an einer Autoimmunvaskulitis leidet. Seit sie Cortison bekommt, geht es der Katze allmählich besser.
Onno überlegte, für seine Geburtstagsfeier einen Saal zu mieten. Ich meinte, persönlicher und stimmungsvoller sei es, in den eigenen vier Wänden zu feiern.
"Aber wo sollen die Raucher hin?" fragte Onno. "Wir haben eine Nichtraucherwohnung, wir haben keinen Balkon, und im Treppenhaus soll nicht geraucht werden."
"Ja, und?" erwiderte ich. "Sie können doch draußen vor der Haustür rauchen."
"Aber wir wohnen doch ganz oben."
"Das soll doch nicht dein Problem sein", meinte ich. "Das ist doch das Problem der Raucher."
"Eben", sagte Cecile. "Wenn die glauben, sie müssen unbedingt rauchen, können sie drunten vor die Tür gehen. Du bist nicht dafür verantwortlich, daß die irgendwo rauchen können."
"Aber dann kommen vielleicht einige Leute nicht."
"Auf die kannst du dann wohl auch verzichten", sagten Cecile und ich.
Nachmittags war ich bei meiner Mutter, dort aßen wir Rhabarberkuchen, und ich saugte das Untergeschoß. Meiner Mutter fällt das Staubsaugen zur Zeit schwer, weil sie eine schlimme Schulter hat. Sie hat sich wahrscheinlich bei der Pflege ihres Mannes überanstrengt. Meine Mutter bekam von Constri einen bunten Rosenstrauß und von mir Pralinen, eine neue Serie, die zu Kaffeespezialitäten paßt und Kaffee enthält.
Geschlafen hatte ich in der Nacht nur von dreiundzwanzig Uhr bis ein Uhr, danach war ich durchgehend auf den Beinen. Am Montagmorgen begann ein Zweiunddreißig-Stunden-Dienst. Den Abend nutzte ich, um "Ein Toter beherrscht das Universum" fertigzuschreiben.
Am Dienstag fuhr ich nach BS. zu meiner langjährig tumorkranken Kollegin Mina. Wir aßen in dem Ketten-Bistro "Always" zu Abend. Mina läuft mit einer behelfsmäßigen Beinprothese. Sie hofft, bald eine Prothese zu bekommen, die gut angepaßt ist. Ihr fehlt das rechte Bein, und das bedeutet, daß sie einen Automatik-Wagen umbauen lassen müßte, um wieder Auto fahren zu können. Das will sie bis August schaffen; dann will sie wieder arbeiten.
"Ich mache mir da keinen Streß", sagte Mina. "Ich sehe nicht ein, daß ich mich abrackere und nicht weiß, wofür. Ich lebe nur in Drei-Monats-Schritten, von Kontrolluntersuchung zu Kontrolluntersuchung. Wenn bei einer Kontrolle Metastasen gefunden werden, ist eh Schluß."
Sie habe im Leben alles geschafft, was ihr wichtig sei, sie habe alles mitgenommen, aber sie wolle noch nicht sterben.
Mina hat sich blondiert und trägt die Haare länger als früher. Sie bekam während unseres Abendessens viele SMS-Nachrichten. Zur Zeit sind das Handy und das Internet ihre Verbindung zur Außenwelt. Sie ist immer auf der Suche nach neuen Bekanntschaften, die jedoch meist nicht von Dauer sind.
"Ich bin anders, als ich aussehe", meinte sie. "Ich kann die Männer nicht mehr zählen, mit denen ich schon etwas hatte, und ich sehe aus wie das brave Mädchen. Andere sehen so aus, als hätten sie jeden Abend zehn, und was ist in Wirklichkeit? Nichts!"
Mina findet, zu einem schönen Abend genüge ein Mann, der gut aussieht und nett ist. Man könne miteinander Wein trinken und das Leben genießen. Sie riet mir, das auch auszuprobieren:
"Fang' endlich mal an, zu leben!"
"Für mich reicht es nicht, wenn ein Mann gut aussieht und nett ist", entgegnete ich. "Vieles wäre für mich einfacher, wenn es so wäre, aber so ist es nun einmal nicht."
Mina sagte, ihr gefalle es, daß ich so "verrückt" sei. Man sage etwas, irgendetwas, und ich hätte zu jedem Thema den passenden Vortrag parat. Das findet Mina wahrscheinlich "verrückt".
Als ich von meinen Zweiunddreißig-Stunden-Dienst erzählte, fragte Mina:
"Kannst du mir sagen, warum du dann so aussiehst, wie du aussiehst?"
"Weil ich heute Nacht sechs Stunden Schlaf hatte und weil ich jetzt nicht mehr auf der Arbeit bin."
Von Kingston erzählte Mina, daß der Ärztliche Direktor immer noch nicht in Pension gegangen sei und das auch so weit wie möglich hinauszögern wolle. Er wäre dann ja auch nicht mehr Ärztlicher Direktor, sondern "nur noch" Pensionär. Fanny, die Geliebte des Ärztlichen Direktors, sei übrigens von der Assistenzärztin direkt zur Fachbereitsleiterin befördert worden - und das mit einem Schmalspur-Facharzt für Psychiatrie. Sie hat nicht einmal den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, den ich anstrebe. In Kingston könnte man durchaus von einer "Besetzungscouch" reden, zumindest solange der Ärztliche Direktor nicht in Pension gegangen ist.
Fanny soll regelrecht getrieben sein von ihrem Wunsch nach Macht und Geld. Sie soll neuerdings einen Freund haben, der nicht mit dem Ärztlichen Direktor identisch ist. Man kann nur spekulieren, wie diese Verbindung zustandegekommen ist.
Mina ist auf Partnersuche, nicht nur für vorübergehende Liaisons, sondern auch für etwas Festeres.
Mina fragte nach unserem Kollegen Den, der vor Jahren Kingston verließ, um in der Neurologie zu arbeiten.
Was wir beide wissen, ist, daß Den schon nach etwa eineinhalb Jahren aus der Neurologie wegging und in die Psychiatrie in Lhg. bei H. wechselte. Mina hatte gehört, es gefalle ihm da, nur sei ihm das Geld nicht genug, das er dort verdiene.
"Den gehört zu den Menschen, die im Leben sehr viel Glück gehabt haben", meinte ich.
Mina erzählte:
"Ja, ich erinnere mich, wie ich zu ihm gesagt habe:
'Jeder hat seine Leiche im Keller.'
Da hat er etwas später gesagt:
'Ich suche immer wieder in meinem Keller, aber ich finde die Leiche nicht.'"
"Die gibt's auch nicht", meinte ich. "Wenn ich so denke ... Den ist ein superlieber Typ, nett und süß ... und er würde nicht zu mir passen."
"Nein, der paßt auch nicht zu dir!"
"Zu mir paßt nur einer, der schon die Abgründe des Lebens kennengelernt hat", war ich sicher. "Rafa hat die Abgründe des Lebens kennengelernt, aber er ist ungeeignet für eine Beziehung."
Kurz nach halb zwölf kamen wir zum Parkhaus, und das hatte seit wenigen Minuten geschlossen. Also übernachtete ich bei Mina im Gästezimmer. Sie führte ihre allabendlichen Telefonate, während ich einschlief. Morgens sollte ich sie nicht wecken. In der Küche fand ich alles fürs Frühstück. Zum Parkhaus nahm ich ein Taxi, und um sechs Uhr, als das Parkhaus öffnete, fuhr ich hinaus. Daheim konnte ich eben noch aufräumen, saubermachen und duschen, dann hatte ich es auch schon eilig, die Psychotherapie-Anträge für meine Weiterbildung zu schreiben, denn um zehn Uhr vormittags war Supervisionstermin. Danach war ich bis abends auf der Arbeit, kam spät nach Hause und konnte endlich ausschlafen.
Tyra erzählte in einer E-Mail von ihrer Freundin Pearl, die ein recht vereinnahmendes Wesen habe. Pearl leide an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung und suche nach Menschen, die ihr Leid mit ihr teilten.
Tyra kann sich schlecht abgrenzen und läßt sich denn auch stundenlang von Pearl "zutexten". Sie vermutete:

Im Grunde baut das alles auf meiner Verlustangst auf. Entstanden durch immer wieder Verlassenwerden, in frühkindlichen Erinnerungen. Hinzu kommt dann erschwerend mein ständiger Selbstwertkomplex, der dann wohl eine Folge davon war. Nicht nur das:
Durch meine kranke Mutter war ich ja schon in ganz jungen Jahren dazu verpflichtet, Verantwortung für kranke Menschen zu übernehmen. Ich kenne das nicht anders. Ich muss mich kümmern. Das wurde mir so anerzogen. Zudem der Drang, gebraucht werden zu wollen, was natürlich auch eine Spätfolge von irgendwas ist ...

Tyra erzählte, Pearl suche nach der Ursache ihres Leidens und sei auf Erinnerungen an sexuellen Mißbrauch durch ihren Stiefvater gestoßen. Zudem trinke Pearl Unmengen von Bier, wenn sie sich an ihre Kindheit erinnere.
Tyra habe vor zehn Jahren mit Pearl heimlich Zigaretten geraucht. Pearl habe ihr damals von sadomasochistischen Phantasien erzählt, für die sie sich geschämt habe, gegen die sie sich jedoch nicht wehren konnte. Pearl habe sich in der Rolle der Domina oder auch Täterin gesehen, die sexuelle Gewalt ausübt.
Als Pearl vor einigen Tagen ihre Mutter angerufen habe und von ihrer Vermutung erzählt habe, daß sie von ihrem Stiefvater mißbraucht worden sei, habe die Mutter beiläufig-gelangweilt geantwortet:
"Ja, das hab' ich auch immer gedacht! Aber hätte ich das gewusst, hätte ich mich natürlich sofort von Kuno getrennt."
Pearls Mutter habe mehrere Partner gehabt, die für Pearl die Rolle eines Stiefvaters übernommen hätten. Bezeichnenderweise sei die Mutter sofort auf Kuno als möglichen Vergewaltiger ihrer Tochter gekommen, obwohl Pearl dessen Namen in dem Telefonat nicht ausgesprochen habe.
Pearls Mutter scheint sich jeder Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Tochter entzogen zu haben. Offenbar übernahm sie die Rolle des "Silent Partners", indem sie die Gewalttätigkeit ihres Lebensgefährten gegenüber ihrer eigenen Tochter stillschweigend duldete. Leider werden solche Mütter, die Gewalt in der eigenen Familie dulden oder auch verleugnen, für dieses Verhalten so gut wie nie gerichtlich belangt. Dabei ermöglichen sie durch ihr Wegsehen oder schlichte Untätigkeit überhaupt erst das Ausmaß der Gewalt, die ihren Kindern zugefügt wird. Es gibt kaum einen Ort, an dem so viele Verbrechen geschehen wie innerhalb von Familien. Verschlimmernd kommt hinzu, daß häusliche Gewalt oft nach außen vertuscht oder verleugnet wird, so daß die Verbrechen häufig nicht aufgeklärt werden und die Opfer - vor allem sehr junge Opfer - den Tätern hilflos ausgeliefert sind und keinerlei Schutz erfahren.
Tyra erzählte, im Jugendalter habe es eine Zeit gegeben, in der sie Pearl nicht habe treffen wollen, weil Pearl immerzu "Vergewaltigung" spielen wollte. Das sei wohl die Zeit gewesen, in der Pearl wiederholt durch ihren Stiefvater Kuno mißbraucht worden sei. Ein Jahr später habe Pearl begonnen, sich selbst zu verletzen, Diebstähle zu begehen und Drogen zu nehmen. Pearl habe auch Tyra bestohlen.
Tyra bedauerte, daß sie Pearl zwar zuhören, aber ihr ansonsten nicht helfen konnte, schon gar nicht aus der Ferne, denn sie war gerade bei Berenice und Baryn in ER.
Ich mailte:

Ja, es könnte durchaus sein, daß Pearl als Kind mißbraucht wurde.
Du kannst ihr nicht helfen, nur professionelle Hilfe hat Sinn, und auch nur dann, wenn sie eben dieses einsieht, anstatt sich an dich zu klammern und dich ggf. auch zu idealisieren.
Ja, es stimmt, dein "Helfer-Syndrom" hat sehr wahrscheinlich mit der Rolle zu tun, die du als Kind in deiner Familie gespielt hast. Solche Menschen entwickeln sehr häufig Depressionen und Verlustängste.

Berenice mailte, Tyra sei für eine Woche bei ihr und Baryn in ER. geblieben und habe ein Lied eingesungen.
Ich mailte an Berenice:

Rafa hat schon mal versucht, eine Therapie zu machen, das hat Tyra erzählt. Oh, da ist er schon nach wenigen Malen wieder weg, mit der Begründung:
"Der Therapeut war zu gut, der hat sofort gemerkt, was mit mir nicht stimmt!"

Berenice mailte:

Tja, da ist er wohl doch leichter durchschaubar, als er es sich erhofft hatte!!! Wahrscheinlich ist er da mal auf jemanden gestoßen, der ihm etwas gegenhalten konnte, damit kann er natürlich nicht umgehen.

Beatrice hat berichtet, daß ihre Hochzeit mit Tagor erst am 20. Juli stattfinden kann, weil noch nicht alle Papiere vorliegen.
Am Donnerstag war Himmelfahrt. Mittags gab es Spargel bei meiner Mutter. Abends waren Constri und ich im "Mute", wo VNV Nation auftraten, mit anschließender Party. Wir trafen sehr viele Leute, darunter Highscore, Magenta, Regan, Evelyn, Terry, Linus und Birthe. Terry feierte im "Mute" in ihren Geburtstag hinein. Birthe übernachtete heute bei Terry und Linus. Terry will erst nächstes Jahr ihren Geburtstag wieder zu Hause feiern, sie wird dann fünfunddreißig. Birthe erzählte, daß sie inzwischen allein in einer Wohnung in HM. lebt und mehrere Putzstellen hat. Insgesamt kommt sie auf eine Arbeitszeit von dreißig Wochenstunden und kann von ihren Einkünften leben, wenn auch bescheiden. Ein Auto hat sie nicht, doch kommt sie gut ohne aus; in HM. ist sie mit dem Fahrrad unterwegs, und dort wohnen auch die meisten Leute, die ihr wichtig sind. Wenn sie in andere Städte fahren will, übernachtet sie bei Freunden. Sie fühlt sich in HM. sehr wohl. Neulich hat sie einen Hund angeschafft und ihren Freunden erzählt, sie habe jetzt einen Lebensgefährten. Alle hätten sich gleich gedacht, daß das ein Hund sei und kein Mann. Ein Mann, meinte sie, passe nicht zu ihr, "schon gar nicht ein reicher".
In der Damentoilette weinte Mavie, die ich vom Sommerfestival im "Read Only Memory" kenne und die verheiratet ist und mit ihrem Mann ein Kind hat.
Mavie erzählte, sie habe eine Zeitlang auf Thierry gestanden, der für das Independent-Label arbeitet, wo unter anderem W.E unter Vertrag sind. Eines Tages habe sie herausgefunden, daß Thierry sich in ihre beste Freundin Tanea verliebt habe. Sie wolle nichts mehr von Thierry, sie liebe ihren Mann, doch heute sei alles herausgekommen. Tanea habe weitererzählt, daß Mavie für einige Zeit auf Thierry gestanden habe, und das heute, ausgerechnet heute.
Thierry kam herein. Mavie wollte nicht mit ihm reden, doch er bestand darauf:
"Wir reden jetzt!"
Als sie einwandte, heute sei ein denkbar schlechter Zeitpunkt, die Wahrheit für alle erkennbar auf den Tisch zu legen, widersprach er:
"Es gibt keinen geeigneten Zeitpunkt! Trotzdem muß man irgendwann darüber reden."
Über seine Verliebtheit in Tanea sagte er:
"Du wußtest, daß ich mich in Tanea verliebt habe, als ich sie zum ersten Mal sah."
"Dann diskutiert mal friedlich weiter", sagte ich zu den beiden und schlüpfte hinaus.
VNV Nation spielten die bekannten und beliebten Hits, außerdem neuere Stücke. Als einige Fans eine irische Fahne in die Höhe hoben, ließ Hal sich die geben und bat die Roadies:
"Fix it somewhere, but be careful."
Sie klebten die Fahne mit Gafferband an die Seitenwand der Bühne.
"I'm very patriotic", erklärte Hal zwischen zwei Stücken.
Das war mir bekannt; bei unserem Gespräch im "Zone" hatte er immer wieder betont:
"I'm Irish!"
Er liebt seine Heimat, hat aber fern von ihr ein Zuhause gefunden. Vielleicht hat Irland für ihn eine ähnliche Bedeutung wie S. für mich.
Nach dem Konzert fuhren einige Gäste heim, andere kamen erst jetzt, unter ihnen Cyris. Sie berichtete, ihr gehe es gut, im Studium komme sie gut voran. Sie studiert in OL., wie Giulietta.
Cyris will zum W.E-Fanclubtreffen nach Thüringen. Sie erkundigte sich, ob ich wüßte, was aus dem W.E-Forummitglied RotWild geworden sei, der sei doch aus H. Ich erzählte, daß ich RotWild nur von dem mittlerweile geschlossenen W.E-Forum kenne, nicht persönlich, und daß ich auch gar nicht weiß, wie er aussieht. RotWild hatte nur ein Scherzbild als Avatar.
"Der war irgendwann einfach weg", klagte Cyris. "Einfach verschwunden."
"Es gibt viele W.E-Fans, die irgendwann einfach verschwinden", meinte ich. "Tron ist auch so einer, zu dem habe ich aber Kontakt, den kenne ich persönlich. Für viele Fans ist W.E eine Phase, die irgendwann zu Ende ist. Ich denke, auch die Schließung des Forums wird Rafa einige Fans kosten. Er hat damit eine wichtige Promotion-Plattform aufgegeben."
Cyris meinte, das sei Rafa sicher klar gewesen, und er habe diesen Umstand bedacht, als er das Forum schloß.
Mavie hatte ihre Tränen getrocknet. Sie berichtete, so langsam renke sich alles wieder ein. Ihr Mann schaute freundlich und nickte dazu.
Constri und ich aßen Brezeln und tranken Cola. Hal stellte sich im Tanzsaal für "Look whom I met"-Fotos zur Verfügung. Er berichtete, dieses Jahr werde er nicht zum Pfingstfestival nach L. fahren, sondern einen Freund in den USA besuchen, der an einem Hirntumor leide. Der Freund wisse, daß er sterben werde, doch er habe mit sich und der Welt seinen Frieden gemacht, das sei tröstlich. Hal war es nun wichtig, den todkranken Freund zu besuchen, um sich von ihm zu verabschieden.
Constri und ich beschlossen die Nacht mit schwarzem Tee im türkischen Imbiß gegenüber vom "Mute".
Am Sonntag habe ich Folgendes geträumt:

In einem Saal stand ich vor einer Bühne. Auf der Bühne stand ein Mann. Wir waren allein in dem Saal. Der Mann klagte, er sei so krank, er müsse gewiß sterben.
Ich sagte zu ihm, daß er psychisch krank sei, würde ich schon glauben, er solle mir allerdings seine körperlichen Krankheiten nennen, damit ich ihm sagen könne, ob er wirklich sterben müsse. Ihm fiel dazu aber nichts Besonderes ein.
Ich versicherte ihm, sterben müsse er nicht.

Am Montag starb der Hund Flex an Altersschwäche. Constri hatte ihn bis zuletzt liebevoll versorgt. Constri, Derek und mein Vater begruben Flex neben meinem Kater Bisat auf einer schönen Waldlichtung. Bisat ist Flex im vergangenen Jahr vorausgegangen. Constri gab dem Hund Blüten und ein Stöckchen mit ins Grab. Constri hatte der vierjährigen Denise schon seit einem Jahr immer wieder gesagt, daß der Hund alt war und bald sterben werde. So war das Kind vorbereitet und nahm den Tod des Hundes gefaßt auf. Constri beobachtete Denise am Tag danach, wie sie eine Puppe den Hund fragen ließ:
"Flex, was ist denn mit dir?"
Denise ließ das Plüschtier, das Flex verkörperte, sachlich antworten:
"Ich sterbe gerade."
Denise unterhält sich gerne vor dem Einschlafen mit ihren Puppen, und beim Zähneputzen unterhält sie sich mit den Aufklebern hinterm Waschbecken. Deren Stimmen werden gewöhnlich von Constri gesprochen, und wenn Constri noch nicht zur Stelle ist und die Aufkleber schweigen, kann es sein, daß Denise ihnen zuruft:
"Na, ihr Schlafmützen?"
Denise kann in Blockschrift ihren Namen schreiben. Sie malt gerne Ziffernblätter und hat Spaß am Zählen und Rechnen. Manchmal sagt sie nur "Eins ... drei ... viele".
Am Mittwoch war ich mit Elaine und Zoë in der Stadt. Elaine bekam von mir ein Röckchen und Ohrringe. Elaine sammelt Ohrringe und will zu jedem Fest welche haben. Sie mag besonders gern Creolen und Ohrgehänge, die leicht sind, aber groß. Ihr gefallen Naturstoffe wie Federn, Holz und Muscheln als Material für Ohrgehänge.
In der Kakaostube erzählte Elaine von ihrer Konfirmandenfreizeit - auch "Konferfahrt" genannt -, die Anfang Juni stattfinden soll. Für ein Wochenende geht es in die Heide. Elaine wird bereits im April 2008 konfirmiert, mit dreizehn Jahren. Sie ist die Jüngste in der Konfirmandengruppe. Als ich sie fragte, was sie sich zur Konfirmation wünscht, antwortete sie:
"Ohrringe."
Das ist ein so bescheidener Wunsch, daß es auch noch für einen Schmuckkasten reicht. Die meisten Ohrringe im Modeschmuck-Geschäft kosten nur wenige Euro, können sich aber sehen lassen. Elaine hat schon so viel Modeschmuck, daß ihr Schmuckkasten dafür zu klein geworden ist.
Elaine würde gerne das Musical "König der Löwen" sehen. Dieser recht kostspielige Wunsch kommt auf den Merkzettel für spätere Unternehmungen.
Henk hat ebenfalls einen Wunsch: wieder nach Helgoland zu kommen, wo er als Kind mit seiner Familie war. Auch dies kommt auf den Merkzettel für spätere Unternehmungen.
Carl hat erzählt, daß seine Eltern bei ihm zu Besuch waren. Seine Mutter habe mit ihrer Zuckerkrankheit zu tun, wie auch die Mutter von Henk.
Unsere Eltern kommen in die Jahre, und man kann froh sein, wenn man sie noch hat.



Am letzten Freitag im Mai fuhren Constri, Gesa und ich in der heißen Vormittagssonne nach L. Unterwegs machten wir einen Abstecher nach BTF., um das Ruinengelände wiederzufinden, das Len und ich im vergangenen November entdeckt haben. Nach zweistündiger "Sightseeing-Tour" durch den Chemiepark hatte ich es endlich wiedergefunden. Es befindet sich in der Nähe eines Bahndamms, abseits bewohnter und genutzter Gebäude. Die düsteren Backsteinmauern waren umgeben von weiß blühenden Heckenrosen und Holundersträuchern. Das helle Tageslicht schimmerte durch die glaslosen Fenstern einer weitläufigen Halle. Wir schauten uns auf dem verwilderten Gelände um, das uns als Filmlocation dienen sollte. Wir gingen durch verfallende Flachbauten und über hohes Gras. In den angrenzenden Gärten blühte der Jasmin.
Gegen halb sieben Uhr abends kam ich ins "Memento Mori". Rafa stand am DJ-Pult, in dem langärmeligen Batik-Oberteil und der schwarzen Weste. Ich trug die spitzenbesetzte pinkfarbene Trägercorsage und den Spitzenrock, der aus drei unterschiedlich langen Röcken besteht. In der Frisur trug ich blaue Leuchtstäbe. In der Hand trug ich meistens einen Fächer, einen wichtigen Gebrauchsgegenstand bei dem hochsommerlichen Wetter.
Gegenüber der Tanzfläche liefen Videos, die Rafa mitgebracht hatte. Es gab C64-Videospiel-Sequenzen zu sehen, W.E-Live-Mitschnitte und ein "Fotoalbum", in dem Bilder und Videos aus der Vergangenheit von Rafa, seinen Kumpanen und seinem jeweiligen Bandpersonal gezeigt wurden. Man sah Playlisten, Cover früherer Tonträger, Zeitungsartikel, Video-Szenenfotos und viele Privatfotos. Auch Bilder aus Rafas "Elizium"-Zeit waren dabei. Tessas hilflos-naives, zugleich ordinäres Gesicht war zu sehen und Berenice mit der von Rafa vorgeschriebenen Fünfziger-Jahre-Sonnenbrille.
Rafa sagte viel durchs Mikrophon und machte die gewohnten Sprüche ("Ist heute hundertprozentig hier!"). Er konnte mich schon bald auf der Tanzfläche sehen und sagte:
"Damit keiner denkt, daß wir hier nur Musik für Rentner machen ... Feindflug!"
Er spielte "Stukas im Visier" von Feindflug. Es war voll auf der Tanzfläche, aber noch nicht zu voll. Während ich tanzte, legte ich meinen Fächer auf einen Sektkühler, der auf dem DJ-Pult stand.
Rafa spielte noch mehr Titel, die mir gefielen, darunter "Wahre Arbeit, wahrer Lohn" von den Krupps.
Im hinteren Teil des "Memento Mori" - vor einem Verkaufsstand, wo es mystische Artikel gab - plauderte ich mit Artemis, Wave, einem Jungen namens Nick, Aramis, Saphira und Darlin. Darlin trug ein hübsches zweiteiliges Spitzenkleid, ausgeschnitten und mit feinen Rüschen und Bändern garniert. Sie erzählte, es sei schwer gewesen, es zu finden. Sie habe nicht "wie jeder" aussehen wollen.
Darlin erkundigte sich, wann das 33. Kapitel von "Im Netz" fertig ist. Ich antwortete, daß ich das in den Tagen nach Pfingsten schaffen will. Darlin erzählte, sie habe "Im Netz" regelrecht verschlungen. Erst habe sie gescrollt und festgestellt, daß der Text sehr lang ist, und sie habe sich gedacht:
"Na ja."
Dann habe sie begonnen, den Roman zu lesen, und sie sei regelrecht "am Internet klebengeblieben".
"Das erleichtert mich, daß der Roman trotz der Länge noch unterhaltsam ist", meinte ich. "Schreiben muß ich ihn ja sowieso - die Gefühle müssen ja irgendwo hin -, und mir war es wichtig, zu erreichen, daß sich die Leser nicht langweilen."
Darlin meinte, der Stil, in dem "Im Netz" geschrieben sei, sei sehr plastisch, man könne sich alles sehr gut vorstellen, fast als wäre man selbst dabei.
Wave wirkte sowohl heiter als auch traurig. Als ich mich erkundigte, wie es ihm ging, antwortete er:
"Frag' nicht!"
Aramis hatte sich fürs Pfingstfestival eine interessante Frisur machen lassen. Auf die weiß blondierten, millimeterkurz rasierten Haare hatte er sich ein Leopardenmuster malen lassen, das Saphira noch einmal nachgemalt hatte.
Nick machte Fotos, auch von Artemis, Darlin und mir; Aramis machte ebenfalls Fotos.
Rafa hatte am DJ-Pult Unterstützung durch den Resident DJ. Also konnte er zwischendurch herunterkommen. Rafa schaute in die Ecke, wo ich mit den anderen stand. Er ließ sich mit einigen Leuten aus der Gruppe fotografieren und vergaß dabei nie die ausgestreckte Linke mit den Daumen nach oben als Pose. Ich sah Rafas Rechte vor mir auf dem Arm eines seiner Foto-Partner liegen, und ich legte meine Hand auf Rafas Hand. Kurz danach rannte er weg.
"Wie der weggerannt ist!" staunte Darlin.
Sie meinte, ein so krasser Mensch wie Rafa sei ihr noch nie begegnet.
Nick erzählte, wie er im vergangenen Herbst in H. bei dem W.E-Konzert im "Mute" mit den anderen "beinharten" Fans Pogo tanzen wollte und die Saalordner das verboten. So etwas gebe es hier im Osten nicht, hier dürfe man ruhig Pogo tanzen. In Wien hingegen dürften W.E nicht mehr auftreten, wegen der Pogo tanzenden Fans.
"Zu Punk habe ich früher sehr gern Pogo getanzt, zu Slime oder den U.K. Subs", erzählte ich. "Wie man zu W.E Pogo tanzen kann, habe ich nie verstanden."
Nick meinte, das habe er erst auch nicht gedacht, doch als er es gemacht habe, gemeinsam mit den anderen, sei es unglaublich gewesen, "wirklich, das muß man erlebt haben".
Nick gab eine Runde Pfefferminzlikör aus, eine lokale Spezialität, hier "Pfeffi" genannt. Wir stießen mit der hellgrünen Flüssigkeit an.
Ein Mädchen gesellte sich hinzu, das war Lucy, schön und aufwendig zurechtgemacht, in einem Kleid im Stil der fünfziger Jahre, mit schmal geschnittenem, dekolletiertem Oberteil und weitem, überknielangem Rock, schwarz mit weißen Pünktchen. Um die Taille trug sie ein schwarzes Korsett, stramm geschnürt. Ihr Haar trug sie offen und leicht antoupiert, was ihr weit besser steht als der strenge Knoten, den Rafa ihr auf der Bühne vorschreibt. Sie war geschminkt im Stil der fünfziger Jahre, mit rotem Lippenstift. Sie schien gute Laune zu haben; sie lächelte viel.
Wenig später sah ich Lucy neben Rafa hinterm DJ-Pult stehen, das frei zugänglich ist; man kann von hinten über ein Treppchen dort hinaufkommen, ohne Barriere.
Rafa erklärte durchs Mikrophon, alle sollten sich ein Zettelchen für die heutige Verlosung von der Kasse holen, falls sie nicht schon eines hätten, und dieses Zettelchen sollte in einen Sektkühler geworfen werden, der - erreichbar für jeden - vorne auf dem DJ-Pult stand. Rafa hob den Sektkühler hoch und sagte, das sei ein "wunderschöner" Kübel. Und die "wunderschöne Lucy" neben ihm werde als Glücksfee die Lose ziehen.
"Rafa hat immer über Lucy gelästert", sagte ich zu Darlin. "Er hat immer hinter ihrem Rücken gesagt, sie wäre so häßlich. Und jetzt sagt er, sie ist 'wunderschön'."
"Wie's grad' paßt", meinte Darlin.
"Rafa ist ohne Darienne da", merkte ich an. "Und Lucy steht neben ihn hinterm DJ-Pult, lächelnd und schick gestylt, und er bezeichnet sie als 'wunderschön'. Den Rest können wir uns denken. Da hat er mal wieder jemanden gefunden, mit dem er Darienne betrügen kann. Jetzt gaukelt er Lucy vor, sie sei seine wahre Auserwählte, und nach Pfingsten ist sie wieder abgemeldet ..."
Nick fragte mich nach meinem Alter. Er wollte es erst nicht glauben und fotografierte mich noch einmal, um sich zu vergegenwärtigen, daß so etwas tatsächlich möglich sei. Dann führte er mich seinen Kumpels vor und ließ sie schätzen. Die Herren schätzen mich zwischen achtundzwanzig und dreißig, die Damen schätzen mich auf etwa dreiunddreißig. Nick hätte mich auf Ende zwanzig geschätzt.
Darlin, Wave, Artemis und die anderen Fans versammelten sich gelegentlich bei Rafa hinterm DJ-Pult. Einige Fans ließen sich dort mit ihm fotografieren. Ich stand auf dem Treppchen und unterhielt mich mit Darlin, als Rafa neben mir mit einem Fan posierte, die Linke nach vorn gereckt mit dem Daumen nach oben. Ich strich Rafa mit einem Finger über den Rücken und sagte zu Darlin:
"Er macht immer diese Pose. Das liegt wahrscheinlich daran, daß er nicht weiß, wo er seine Arme sonst lassen soll."
Ich strich Rafa noch einmal mit einem Finger über den Rücken und setzte hinzu:
"Mit der Pose kann er Unsicherheit überspielen."
Darlin erzählte von ihren Erlebnissen hinterm DJ-Pult. Rafa habe ihr einen Pfeffi ausgegeben und mit ihr angestoßen, und sie habe in sich hineingehorcht und sich gefragt:
"Wachsen mir schon Fäden am Rücken?"
Dann habe sie ihre Frage beantwortet:
"Nein! Rafa hat mir einen ausgegeben, ich habe mit ihm angestoßen, und gut, mehr ist da nicht."
Sie wolle auf keinen Fall eine seiner Marionetten werden, und sie könne zum Glück von sich sagen, daß sie ihn ihrem Leben nie ein Groupie gewesen sei. Ihr sei aufgefallen, wie manche Fans Rafa anbeteten; sie könne nicht nachvollziehen, wie man ihn anbeten könne, und sie finde in sich keine Verehrung für ihn, sehe auch keinen Grund dafür.
Verlost wurden vor allem T-Shirts mit W.E-Aufdruck, im Laufe des Abends mindestens fünf. Mehrfach sagte Rafa durchs Mikrophon, er habe heute so viele "Pfeffis" getrunken wie nie zuvor. Als es neun Uhr war und Rafas DJ-Set offiziell endete, bedankte er sich durchs Mikrophon beim Publikum und kündigte an, noch so lange weiterzumachen, bis er weggeschickt werde. Das war gegen halb zehn der Fall. Rafa kam herunter und unterhielt sich vor dem Verkaufsstand mit einem Jungen, daneben stand Artemis. Rafa blieb stehen, wo er war, während ich noch ein wenig mit Artemis plauderte, ehe ich fortmußte, um Constri in der Pension abzuholen. Ich lehnte meinen Handrücken an Rafas Rücken, immer wieder, ohne daß er sich umdrehte oder sich wehrte.
Während ich Artemis zum Abschied umarmte, entfernte sich Rafa.
Mit Constri fuhr ich zu einem - wenn nicht dem Highlight des diesjährigen Festivals. Es handelte sich um eine Illumination des Völkerschlachtdenkmals kurz vor Mitternacht. Die Lichtkunst war untermalt durch die monumentale Musik der Neoklassik-Elektroniker In the Nursery, die unter anderem Elemente von Wagner, Mahler und Liszt verarbeiteten. Im strömenden Regen liefen Constri und ich auf das Völkerschlachtdenkmal zu, ich mit Gummistiefeln. Vor uns erhob sich ein Lichtdom, hinter dem Fenster der Krypta glomm es in verschiedenen Farben, die im Kreis aufgestellten Figuren am oberen Teil des Denkmals erschienen als heller Ring. Rechts und links vorm Völkerschlachtdenkmal stand je einer der beiden Musiker in einer Nische, davor brannte jeweils eine Flamme in einer Schale.
Es gab ein Programm mit CD, das Constri kaufte. Es ist gestaltet wie ein Reisepaß aus der Zeit, als Pässe noch Bücher waren, und es heißt "Monumentum-Lichtpass". Das Völkerschlachtdenkmal wird darin beschrieben, wie Menschen in Pässen beschrieben werden. Außerdem gab es Bilder und kurze Texte zu den einzelnen Stücken, die gespielt wurden. Die Stücke befinden sich auf der CD.
Die Vorstellung dauerte nicht einmal eine Dreiviertelstunde, und als Constri und ich uns endlich durch Stau und Regen hergekämpft hatten, bekamen wir wenigstens noch ein Drittel davon mit. Aramis und Saphira hatten weniger Glück und kamen erst an, als die Vorstellung zu Ende war.
Azura und ich riefen einander über unsere Handies an und trafen uns jetzt endlich wieder, rechts vom Völkerschlachtdenkmal auf dem Höhenweg. Azura trug prachtvolle blau-türkise Haarteile und war von der Frisur bis zu den Plateaustiefeln im Cyber-Look gestylt. Sie erzählte Constri, daß sie ihre meterlangen blonden Haare kompliziert aufstecken muß, damit sie rechts und links die Haarteile über die Knoten ziehen kann. Constri möchte auch gerne Haarteile tragen und erkundigte sich, wie sie angefertigt und festgesteckt werden.
Azuras Freund Antoine und ein gemeinsamer Freund von Azura und Antoine meinten, das seien die Gespräche, wo sie nicht mitreden könnten. Die Herren trugen schlichtes Schwarz, ihr Äußeres war zurückhaltend. Azura erzählte, sie langweile sich bei Männergesprächen über Technik. Constri begann mit den Herren ein angeregtes Gespräch über Technik, und ich unterhielt mich mit Azura über Männer, Kostüme und Discotheken.
Von Sidon berichtete Azura, daß es ihm gut geht und daß er seit Kurzem eine Freundin hat, die Azura gegenüber von Anfang an freundlich war und keine Zeichen eines Rivalentums erkennen ließ. Sie soll Azura überschwenglich gelobt haben:
"Du bist so schön, so toll!"
Die Freundschaft zwischen Azura und Sidon, schon immer erotisch getönt, soll nun in den Grenzen einer gewöhnlichen Freundschaft fortdauern.
Nach dem Auftritt von In the Nursery hatten Azura und ihre Begleiter unterschiedliche Pläne fürs Nachtprogramm. Wir brachten Azura zum Konzert von Retrosic. Constri und ich fuhren zur Pension; wir waren zu müde, um heute noch etwas zu unternehmen.
Am Samstagvormittag filmten Constri und ich auf dem Ruinengelände in BTF., das Len und ich im vergangenen November aufgetan hatten. Constri machte Aufnahmen für Musikvideos und eine Multimedia-Performance. Wir steckten zwanzig bis dreißig silbrigweiße Windräder in die verwilderte Landschaft um die verfallenen Backsteingebäude ehemaliger Bahnanlagen. Die Windräder erinnerten an Blumen im hohen Gras. Hell wie die Windräder blühten die Holundersträucher und die Jasminbüsche entlang der rußgeschwärzten Mauern, neben eingeschlagenen Fensterscheiben. Zwischen den Grashalmen leuchteten weiße Blümchen. Die Sonne schien silbrigweiß. Wir holten uns einen Sonnenbrand; es war wie im Hochsommer.
Den Rest des Tages und den Abend verbrachte Constri in der Pension am Laptop, wo sie ihre Aufnahmen sortierte und an ihrem Konzept arbeitete. Ich schaute mir die Konzerte von Rotersand und Front 242 an. In der Halle, wo sich die Verkaufsstände befinden, kaufte ich ein Korsett in Rosé-Violett als feiner Changeant. Der Stoff ist Ton in Ton bestickt mit Blütenranken im chinesischen Stil. Wie andere Korsetts dieser Firma hat es Lack-Einfassungen und einen straßbesetzten Reißverschluß. An einem anderen Stand kaufte ich ein Halsband mit Lackbesatz und Straß-Steinen. Die Sachen ließ ich gleich an und verstaute die, die ich vorher getragen hatte, in meiner Tasche.
Wenn ich all die anderen prachtvollen Kleidungsstücke gekauft hätte, die mir sonst noch gefielen, hätte das mein Budget gesprengt. Es gab golddurchwirkte Spitzen, Brokat-Korsetts, gläserne Broschen, schattendunkle Reifrock-Kleider aus seltsamen Geweben, raffinierte Decolltés, Röcke aus Tüll-Fetzen, Ensembles in schwarzweißem Schottenkaro-Muster mit passendem Halsschmuck und ... und ...
Die Verkaufshalle ist eine Messe und sorgt für Umsatz und Werbung. Fast jedes der ausstellenden Unternehmen hat mittlerweile einen Webshop, und dafür werden reichlich Flyer verteilt, so daß der Umsatz nach dem Festival weitergeht. Daß auch teure Kostüme und teure künstliche Haarmähnen verkauft werden, zeugt davon, daß die Festivalgäste entweder viel Geld zur Verfügung haben oder viel für das Festival zurücklegen.
Als Rotersand auftraten, war die Luft in der großen Konzerthalle auf dem Hauptgelände noch erträglich. Die Akustik war klar, und die Musik fand ich zum Tanzen sehr geeignet. "Lost", eines der neuesten Stücke von Rotersand, gefällt mir besonders.
Als Front 242 auftraten, hatte sich die Luft in der Halle auf etwa dreißig Grad erhitzt, es herrschte eine Luftfeuchtigkeit von hundert Prozent, und die Akustik machte aus der Musik einen amorphen Klangbrei. Die Stücke, die Front 242 spielten - darunter "Neurobashing", "Body to body" und "Religion" - waren kaum zu erkennen. Aramis, Saphira und ich blieben nur zwanzig Minuten auf diesem Konzert und setzten uns dann in das Wohnmobil, wo Aramis und Saphira nächtigten. Wir aßen Chips, und Aramis verteilte kalte Getränke. Aramis gab mir das Kleid und die Leggins, die ich in seinem Elternhaus in E. vergessen hatte. Aramis' Oma hatte die Sachen gewaschen und schön gebügelt.
"Ist was mit Rafa und Darienne?" erkundigte sich Aramis. "Weil die nicht zusammen hier sind."
"Rafa geht immer öfter ohne Darienne weg", wußte ich. "Aber ich denke nicht, daß er sich von Darienne getrennt hat."
"Wenn zwischen denen Schluß wäre, müßten wir uns ja wieder auf eine neue Sängerin einstellen."
"Das ist richtig."
Am Sonntagmorgen brauchte ich eine Stunde, um aus dem Bett zu gelangen, weil alle Gelenke entzündet waren, mit Ausnahme von Kopf und Wirbelsäule. Dieses gespenstische Phänomen kann nur durch eine Autoimmun-Erkrankung namens Rheuma hervorgerufen werden. Es gibt keine andere Erkrankung, die solche Symptome macht. Ich erinnerte mich an die Influenza vor etwa vier Wochen, die den Anstoß zu dieser Rheuma-Krankheit gegeben haben konnte. Hinzu kam chronischer Streß durch vom Arbeitgeber erzwungene überlange Arbeitszeiten. Zwar war ich nicht allein damit, denn meine Kollegen litten alle darunter, doch änderte diese Tatsache nichts an der chronischen Überlastung meines Abwehrsystems. Ibuprofen half rasch, immerhin - aber es wirkte nur für vier Stunden, so daß wiederholtes "Nachlegen" erforderlich war.
Am Vormittag fuhren Constri und ich wieder nach BTF., um die Aufnahmen vom Vortag zu ergänzen. Es herrschten zu der früheren Stunde andere Lichtverhältnisse, die Constri ausnutzen wollte. Constri mußte ans Steuer, weil auch meine Fingergelenke entzündet waren. Während Constri filmte, blieb ich im Auto.








Für die Filmaufnahmen steckte Constri wieder weiße Windräder ins hohe Gras, so daß sie wie Blumen aussahen.
Am Nachmittag waren Constri und ich im "Gothic Christ"-Pfingstgottesdienst. Das Thema war dieses Mal das hohe Lied der Liebe. Wir fanden es wieder sehr stimmungsvoll.
Nach dem Gottesdienst sagte im Eingangsbereich ein olivgrün gekleideter Mann mit Kamera:
"Elektro-Betty!"
Er behauptete, Kevin zu heißen, doch das glaubte ich nicht so recht. "Kevin" zeigte auf Bruno K., der mit einer Kamera neben ihm stand, und sagte:
"Das ist Bruno."
"Dich kenne ich doch", sagte Bruno zu mir.
Ich musterte Bruno, der einen schwarzen Hut trug, und ich sah rechts und links pinkfarbene Haarsträhnen.
"Du machst dir sonst immer pinkfarbene Teufelshörner, nicht?"
"Ja."
"Du warst damals auch im 'Elizium', nicht?"
"Klar!"
"Und dann ist er der Sten, nicht?" sagte ich und zeigte auf "Kevin".
"Ja."
"Also bist du Sten!" sagte ich "Kevin" auf den Kopf zu, und er bestätigte dies.
"Kevin" sei nur sein Künstlername.
"Rafa ist schon weg", erzählte Sten.
"Den habe ich am Freitag im 'Memento Mori' gesehen", erzählte ich.
Sten berichtete, in den letzten drei Wochen habe er mit Rafa einen neuen Film gedreht. Den etwa drei Jahre alten Film "Out of Body Experience" gebe es bei Youtube zum Herunterladen. Da spiele Rafa die Hauptrolle.
"Er spielt sich selbst", meinte ich.
Dem pflichtete Sten bei.
Als ich meine Vermutung äußerte, daß Rafa Darienne mit Lucy betrügt, bestritt Sten dieses nicht, bestätigte es aber auch nicht.
Sten und Bruno waren beim diesjährigen Pfingstfestival gemeinsam mit Ace als Journalisten unterwegs. Ace war schon weggefahren, und die beiden folgten ihm. Bruno interviewte vorher noch einen mir unbekannten blonden Herrn auf dem Kirchenvorplatz.
Im hinteren Teil des Kirchenschiffs war - wie im Jahr zuvor - eine Ecke mit weißen Schleiern verhängt, die die Säulen zum Teil verdeckten. Es gab Kübel mit roten Rosen, an denen hingen weiße Papierbänder mit dem Bibelzitat:

Ich hab Euch immer geliebt.
Maleachi 1, Vers 2

Jeder bekam am Ausgang eine dieser Rosen. Constri und ich fotografierten uns mit den Schleiern und den Rosen.
Die Kollekte kam der Organisation von Christen aus der Gothic-Szene zugute, die die Gottesdienste beim Pfingstfestival veranstalten und viele ähnliche Aktionen.
Am Spätnachmittag bummelte ich mit Constri durch die Verkaufsstände in der Messehalle. Constri kaufte ein Armband, das ist aus Edelstahl und wird mit Kunstlederschnallen zusammengehalten.
Unter den auffallendsten Kostümen, die die Festival-Gäste trugen, waren Reifrock-Kleider im Stil von Elizabeth I., wie ich sie schon seit Jahren auf dem Festival sehe. Ein Mädchen war gekleidet im Kaiserin-Sissi-Stil; ihre angeschnittene Schleppe aus dunkelrot-schwarz changierendem Taft ragte weit über den Boden. Ein Mädchen war so ähnlich zurechtgemacht wie eine Fee aus dem Barbie-Film "Fairytopia". Sie trug durchsichtige türkis-blaue Flügel, ein türkis-blaues Korsett mit Tutu und türkis-blauen Blumenschmuck im Haar. Der Schmuck hielt einen feinen türkis-blauen Schleier, der über das lange Haar fiel.
Korsetts sind in der Wave- und Gothic-Szene mittlerweile sehr angesagt. Etwa die Hälfte der weiblichen Gäste trug eines und auch nicht wenige männliche. Constri und mir gefallen Korsetts sehr, weil sie figurbetonend sind und vielfältig geschnitten und geschmückt sein können.
Zwei Herren liefen herum, düster-martialisch gekleidet, die trugen Engelsflügel aus rosa Federchen auf dem Rücken. Zwei Herren liefen herum, ebenfalls düster-martialisch gekleidet, die trugen Mützen auf den Köpfen, das waren Schweinchen aus rosa Plüsch.
Ein Mädchen, ganz in Gelb und Orange gekleidet, mit langen Kunsthaaren in Gelb und Orange und kurzem Manga-Kleidchen in Gelb und Orange, ließ sich auf einem Sessel fotografieren. Das schrille Outfit wirkte umso mehr, als es sich von den üblichen schwarzgrundigen Szene-Outfits abhob.
Jason traf ich an einem Plattenstand, er erkannte mich sofort. Jason und Charlene waren früher im "Elizium" eines der Pärchen schlechthin. Jason berichtete, daß er Charlene zum letzten Mal vor sechseinhalb Jahren gesehen hat. Vor sieben Jahren hätten Charlene und Jason sich getrennt. Sie hätten sich auseinanderentwickelt. Charlene sei inzwischen verheiratet und habe Kinder. Jason erzählte, er arbeite im Musikbusiness und habe eine Sechzig-Stunden-Woche. Er scheint diese Arbeitsbelastung zu vertragen, während mich solche Arbeitzeiten krank machen.
Die Altersspanne auf dem Festival reichte vom Säuglingsalter bis zu etwa sechzig Jahren. Eltern fuhren ihre Kinder in weißen Sommerkleidchen in der überdachten Karre. Damen im mittleren Alter gingen als elegante Hexen in schwarzem Samt mit Onyx-Schmuck. Gesetzte Herren gingen grauhaarig, mit schwarzem Ledermantel oder mittelalterlich kostümiert.
Rollstuhlfahrer in Ganzkörper-Lackanzügen gab es zu sehen und einen farbigen Herrn um die Vierzig, der trug ein romantisches Ritterfräulein-Kleid in Dunkelrot. Ein Mann in Ritterrüstung lief in der Nähe des Hauptgeländes barfuß über die Straße, und Constri meinte:
"Das ist das Geile am Pfingstfestival - man kann barfuß in Ritterrüstung über die Straße laufen, und keiner wundert sich!"
Am Sonntagabend waren Constri und ich acht Stunden lang im "Blendwerk". Ich lockte Constri an einen Verkaufsstand, wo es handgearbeiteten Schmuck gab. Constri kaufte ein dunkelrotes Samthalsband, das vorne mit einer dunkelroten Taftrose besetzt war, und ein rotes Perlenarmband, das durchzogen war mit zwei schwarzen Organzabändchen, die am Ende zu einer Schleife gebunden waren. Im Innenhof des "Blendwerk" aßen wir zu Abend; es gab Gegrilltes, wie jedesmal beim Pfingstfestival. Und wie gewohnt war die Konzerthalle sinnlos überfüllt und stickig. Die Konzerte gefielen uns aber sehr - Warren Suicide mit einer überzeugenden Bühnenpräsenz und hinreißend trashig-genial-dilettantischen Videos, This Morn' Omina mit elektronischen Urwaldrhythmen, die einen über die Tanzfäche schleudern - wenn man den Platz dazu hat -, und KiEw mit vielen Clubhits und einem irre blickenden T.D. in Zwangsjacke. Die Musik von Soman lieben wir sehr, die Bühnenshow fanden wir aber schwach. Die Band pflegt Gogo-Girls zu verwenden, und in unseren Augen wirkt das armselig, weil Soman damit den Eindruck erwecken, es nötig zu haben. Wir finden, weniger ist in einem solchen Falle mehr. Ohne die Gogo-Girls und mit einer schlichten Show hätten wir sie weitaus überzeugender gefunden.
Constri unterhielt sich mit Udo W. von Winterkälte. Er hat zwei Töchter, zehn und zwölf Jahre alt. Die ältere hat neulich ihr erstes Winterkälte-Konzert gesehen. Als Constri sich erkundigte, wie es ihr gefallen habe, antwortete Udo, sie müsse es erstmal verarbeiten.
Für die, die nach den Konzerten im "Blendwerk" blieben, gab es endlich Platz zum Tanzen und ein DJ-Set mit T.D. und zwei anderen Herren. Alle spielten eine Mischung aus Elektro, Techno und Industrial, so daß ich nun die Möglichkeit hatte, mich zu elektronischen Urwaldrhythmen über die Tanzfläche schleudern zu lassen. Jas war betrunken und trank immer mehr, und als Constri und ich kein Geld mehr für Afri-Cola hatten, gab er uns welche aus.
Nachts um drei fuhren Constri und ich zurück zur Pension. Am frühen Montagabend schauten wir uns Dive im "BD" an. Das "BD" ist eine bizarr geformte Location, die aus zwei Kuppeln besteht. Das Gebäude erinnert an einen überdimensionalen BH. In einer der Kuppeln befindet sich die Konzerthalle. Drinnen war es voll, aber es gab noch genügend Platz zum Tanzen. Dirk I. erhielt nun den großen Applaus, den er im "Endstation" vermißt hatte.
Als Constri und ich aus dem "BD" kamen, sahen wir eine mehrere hundert Meter lange Schlange, und wir waren froh, daß wir nicht hatten anstehen müssen. Auf dem Parkplatz machte Constri ein Handy-Erinnerungsfoto nach dem anderen.
In der "Bastei" tranken wir Milchkaffee. Wir luden Revil an unseren Tisch. Er trug einen schwarzen Cowboyhut und berichtete, daß er als Lonesome Cowboy übers Festival gezogen war. Eine Frau hatte er kennengelernt, die wie er gleich nach dem Festival nach Mallorca fliegen wollte. Mit ihr hatte er sich schon auf Mallorca verabredet.
Am späteren Abend besuchten wir Hendrik in dem schmucken Wohnhaus, das er aus einer ehemaligen Landgaststätte gemacht hat, in einem winzigen Dorf westlich von L. Hendrik ist damit beschäftigt, ein neues Badezimmer herzurichten, mit mediterranen Fliesen, die er gemeinsam mit seiner Freundin ausgesucht hat.
Hendrik brannte sich die CD von In the Nursery, die Constri gekauft hatte. Wir hörten die CD als Endlosschleife. Dann schliefen Constri und ich auf Hendriks Sofas ein. Das Kaminfeuer brauchten wir nicht, wegen des warmen Wetters.
Morgens frühstückten wir alle gemeinsam. Danach fuhren Constri und ich heim, und Hendrik fuhr zu seinen Kunden.
Darlin mailte:

Wie lief es denn mit den Aufnahmen?
Schade, dass ich nicht das ganze Festival da war.
Habe bestimmt viel verpaßt.
So, nun kann ich nur noch sagen, schreib schön weiter an deinem nächstem
Kapitel!!!
Und bitte beeil dich etwas ;)
Bin schon ganz gespannt darauf.

Am Mittwoch nach Pfingsten verschwand die Gelenkentzündung wie durch Geisterhand, und mir ging es wieder gut. Abends hütete ich Denise, damit Constri zum Elternstammtisch für Kindergarten-Eltern gehen konnte. Denise bekam von mir alle gewünschten Bilderbücher vorgelesen und die Lieder aus dem gewünschten Liederbuch vorgesungen, alles im Schnelldurchlauf. Dann holte Denise die Spieluhr, und ich zog sie immer wieder von Neuem auf. Mit dem Laptop setzte ich mich neben Constris Bett, auf dem Denise sich zusammenrollte und nach kurzer Zeit einschlief.
Inzwischen wurden meine Katzen Bastet und Domino kastriert. Das war auch höchste Zeit, denn die Tiere hatten mich mit ihrer Unsauberkeit an den Rand der Verzweiflung getrieben. Sie überstanden die Operation gut und wurden danach wesentlich artiger.



Am Freitagnachmittag fuhren Constri und ich zum Landschaftspark DU., wo ich am Ostersonntag mit Aramis gewesen war. Constri filmte auf dem begrünten Ruinengelände Ventilatoren an der Rückseite eines ehemaligen Kühlwerks, die nicht mehr von einem Motor angetrieben, sondern nur noch vom Wind bewegt wurden. Auf einer stählernen Galerie schauten wir von oben in die Sintergärten, jene Aneinanderreihung von Gärten, die sich im Inneren dachloser Bunker befinden. In einigen Gärten gibt es Anordnungen verschiedenfarbig blühender Pflanzen zu sehen, die mich an Pullover-Strickmuster erinnerten. Ein Garten ist gestaltet mit wellenfömig verlaufenden Buchsbaumhecken, ähnlich wie ein Barock-Garten. Zwei hintereinanderliegende Gärten sind mit Efeu überwachsen und umwachsen. Ein Garten hat in der Mitte eine Rasenfläche und in einer Ecke einen Betonsockel zum Sitzen. Es gibt auch Sitzbänke in einigen Gärten. In einem der dachlosen Bunker befindet sich ein Regenwasser-Sammelbecken.
Am Abend fuhren wir nach Ht. zu Ted, der uns seine neue Wohnung zeigte. Sie befindet sich über seiner bisherigen Wohnung und ist mehr als doppelt so groß. Es ist ein Penthouse mit Dachterrasse. Ted hat die Wohnung sehr schick in Schwarzweiß und Grau eingerichtet, mit beleuchteten Sideboards, Glastischen und einer grauen Einbauküche. Die Bäder sind neu gefliest. Auf der Dachterrasse steht ein gewaltiger Sonnenschirm, der von einem Biergarten stammt. Der Schirm ist eingepflanzt in einen Blumenkübel. Als der Schirm noch nicht so gut befestigt war, erhob er sich aus seiner Verankerung und schwebte davon, so wie letztes Jahr schon ein anderer von Teds Schirmen von seinem damaligen Balkon geschwebt ist. Für Ted war es dieses Mal viel mühseliger, den Schirm wiederzufinden, obwohl er wesentlich größer ist als der andere.
In Teds ehemaliger Wohnung befindet sich jetzt das Büro seiner Firma. Zwei Schreibtische stehen darin, Teds Schreibtisch und der Schreibtisch von Teds Nachbarin Agnes, die seine Sekretärin ist, seit Marvin die Firma verlassen hat. Ted beschäftigt außer ihr noch vier festangestellte, in Vollzeit tätige Mitarbeiter. Er gehört zu denen, die in der Region Arbeitsplätze schaffen und das am Laufen halten, was von der Industrie im Ruhrgebiet übriggeblieben ist.
Constri und ich sind uns einig: Kurzurlaub - das ist, in Ht. auf Teds Dachterrasse zu stehen und in die Abenddämmerung zu blicken, nach einem langen Ruinen-Dreh. Bewaldete Hänge erheben sich ringsherum. Das Ruhrgebiet ist heutzutage grün - nicht mehr grau, wie vor dreißig Jahren.
Gegen elf Uhr nachts erschienen Teds alte Freunde Lev und Halvert. Sie wollten mit Ted ins "Pulsar" in DO. Sie berichteten, im Ruhrgebiet sei an jedem ersten und dritten Freitag im Monat das "Pulsar" überfüllt, und an jedem zweiten und vierten Freitag im Monat sei die "Unterwelt" überfüllt. Wenn es am ersten oder dritten Freitag in der "Unterwelt" eine Veranstaltung gebe, sei diese nur schwach besucht, auch wenn bekanntere DJ's dort seien.
Constri blieb in Teds Wohnung und legte sich schlafen. Ich machte mich auf den Weg nach BO. in die "Unterwelt". Ich trug das neue rosé-violette Korsett, Lack-Puffärmel, das Lack-Halsband mit der Straß-Verzierung, rosa und schwarze Organzabänder in der Zöpfchenfrisur und als Knotennadeln zwei rosa Leuchtstäbchen. Dazu trug ich die unterschiedlich langen durchsichtigen Röcke.








In der "Unterwelt" waren immerhin etwa zweihundert Gäste. Die Industrial-Area war winzig, aber ich kam musikalisch auf meine Kosten. Ein Musiker der Band Xotox legte auf.
In der Hauptarea legten Rafa und Miles auf. Das DJ-Pult befand sich hoch oben unter der Saaldecke und war über eine schmale Treppe erreichbar. Ich ging jedoch nicht hinauf, weil ich Rafa nicht den Eindruck vermitteln wollte, ihn zu verfolgen.
Rafa war ohne weibliche Begleitung da. Er stand mit Miles und ein bis zwei anderen Herren oben hinterm DJ-Pult und rauchte ununterbrochen. Er trug das langärmelige Batik-Oberteil, die schwarze Weste und die Sonnenbrille.
Rafa und Miles spielten vorwiegend Achtziger und gemäßigten Elektro. Rafa spielte auch Musik von sich selbst, "Das Alpha-Tier". In dem Stück behauptet er, Beziehungen könnten nur unter der Voraussetzung bestehen, daß einer alles bestimmt und der andere oder die anderen sich unterordnen. Anscheinend kann Rafa sich nicht vorstellen, daß es Beziehungen gibt, in denen die Beteiligten gleichberechtigt sind.
Als ich im Industrial-Bereich auf der Tanzfläche war, sah ich Rafa mit einem anderen Herrn; sie standen am Rand der Tanzfläche und schauten her. Ansonsten sah ich Rafa immer nur kurz unten, er lief durch die Flure; ansonsten war er fast nur bei Miles hinterm DJ-Pult zu finden.
Als gegen vier Uhr morgens im Industrial-Bereich der Betrieb vorbei war, stand ich in der Hauptarea. Xenon begrüßte mich und bedauerte, daß hier heute so wenig los sei und so wenig Stimmung. Ich erzählte, daß Constri und ich vor allem wegen unserer Drehabeiten ins Ruhrgebiet gekommen waren, und ich erkundigte mich, ob er nur zu dieser Veranstaltung in der "Unterwelt" war oder auch noch etwas anderes vorhatte. Er antwortete, daß er nur gezielt zu dieser Veranstaltung ins Ruhrgebiet gefahren sei. Ich vermutete, daß Rafa ihn als Fahrer eingespannt hatte.
Als ich erzählte, daß Icon das W.E-Forum nicht mehr weiterführen möchte, merkte Xenon an:
"Ja, ich weiß, er sagt immer, er kann das nicht mehr."
Über die Zukunft des Forums sagte Xenon:
"Das Forum ist Geschichte."
Er war überzeugt, daß es nie wieder ein W.E-Forum geben wird.
"An Rafas Stelle wäre es mir wichtig, daß es ein Forum gibt", meinte ich. "Es ist eine wichtige Promotion-Plattform. Wenn ich Rafa wäre, würde ich das Forum notfalls selber hosten."
Die meiste Zeit stand Xenon oben bei Rafa hinterm DJ-Pult. Ich wurde müde und wollte weg, da spielte Rafa "This shit will fuck you up" von Combichrist und im Anschluß "Träume mit mir" von Grauzone. Zu den Stücken tanzte ich und auch noch zu "Warm Leatherette" von The Normal. Dann ging ich aber, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, als würde ich darauf lauern, daß Rafa von DJ-Pult herunterstieg.
Am Samstagvormittag lieh Constri bei einem Kostümverleih ein schlichtes, hochgeschlossenes Brautkleid und weiße Haarbänder aus. Das Kleid ist handgearbeitet und kann über dreißig Jahre alt sein, dem Schnitt und dem schnörkelig gewebten Jacquard-Stoff nach zu urteilen. Es ist langärmelig, schmal geschnitten und hat einen langen, leicht ausgestellten Rock. Es ist schon für Größe 36 recht knapp, und Constri paßte eben noch hinein.
Die Kostümverleiherin erzählte Constri, daß ihr Sohn unlängst von Ted zu einem Karate-Jugendcamp mitgenommen wurde und daß sein Gepäck kaum noch ins Auto paßte, weil Ted so viel Bier hineingeladen hatte.
"Das Bier ist wichtig!" betonte Ted. "Das Bier muß sein!"
Auf Teds Dachterrasse gab es Frühstück unterm Biergarten-Sonnenschirm. Ted trank Kaffee zum Frühstück, kein Bier. In seinem Kühlschrank befand sich aber vorwiegend Bier.
"Ein Ruhrpott-Junggeselle eben", sagte ich zu Constri.
Die Dachterrasse ist möbliert mit einer graumetallenen Garnitur, passend zu Teds futuristischem Stil. Die Steinplatten auf der Terrasse leuchteten weiß in der Vormittagssonne. Für eine gediegene Atmosphäre sorgte das neue Album von VNV Nation, "Judgement". Vor allen das Intro gefällt mir, es klingt nostalgisch-traumverloren.
Im Landschaftspark DU. wollte Constri in einem der efeuüberwachsenen Sintergärten filmen, die waren jedoch mit Gittern von den anderen Gärten abgetrennt. Also wurde der mit Buchsbaumhecken gestaltete, dem Barock nachempfundene Garten als Kulisse verwendet. Aus der Obersicht schaute die Kamera auf den sonnendurchfluteten Garten, und Constri schwebte barfuß im weißen Kleid zwischen den Buchsbaumhecken hindurch, als zierliches, elfenhaftes Wesen, die Haare umwunden mit den schleierähnlichen weißen Bändern.
Wir filmten danach am Flußufer. Constri lief auf einem Betonweg zwischen hellviolett blühenden Hecken hin und her. Dann wurde das Brautkleid an verschiedenen Stellen über das Eisengeländer einer Brücke gehängt und gefilmt. Die Aufnahmen sollen übereinandergelegt werden, so daß es wirkt, als würden mehrere Kleider dort hängen. Constri filmte außerdem auf der Wasseroberfläche Seerosen und bewegte Spiegelungen.
Abends brachten wir Ted zu einer Kneipe in seinem Viertel, wo er sich regelmäßig mit einem Club älterer Herren zum Knobeln trifft. Danach holten Constri und ich bei "McGlutamat" unser Abendbrot und aßen in Teds Wohnung. Unsere Heimfahrt fand nachts statt, mit längerer Unterbrechung auf einer Raststätte.
Am Dienstagabend wurde für Constri der Geburtstagstisch hergerichtet. Carl, Merle, Elaine, Zoë und ich waren die Gäste. Constri bekam zwei Sahnetorten, eine mit Baileys und eine mit Amarena-Kirschen. Die Tischdekoration paßte sich farblich an. Es gab Servietten in Beige und Rot, Süßes in Rosa und Rot und eine rosa Kerze und eine rosa Pfingstrose von Carl. Elaine, Merle und Zoë brachten original englische Crisps und englischen Tee mit. Elaine hatte für Constri einen Geburtstagsgruß geschrieben und mit Pailletten verziert, außerdem auf ein Holzstückchen "Constri" gebrannt und dieses an einem Lederbändchen befestigt. Von Carl gab es Geld, von mir auch. Auf einer Torte stand eine 4, auf der anderen eine 0, und die 40 fand sich auch aus Lakritzfischen gelegt auf einem Teller und geklebt auf meinen Brief.
"Diese schreckliche Zahl!" stöhnte Constri.
"Die habe ich dir extra mehrmals auf den Brief geklebt", sagte ich, "damit du weißt, wie alt du bist."
"Und dir klebe ich die 41 ins Gesicht", entgegnete Constri, "oder bist du schon 42? In dem Alter weiß man das ja nicht mehr so genau."
Als ich Tyra am Telefon erzählte, daß Rafa mit Lucy im "Memento Mori" war, meinte sie, sie vermute schon lange, daß etwas läuft zwischen Rafa und Lucy. Es sei zu verdächtig, wie abrupt Lucy nach ihrer Rückkehr in die Band W.E den Kontakt sowohl zu Tyra als auch zu Berenice abgebrochen habe.
Tyra hat herausbekommen, daß Darienne am Pfingstsamstag nach L. zum Festival gefahren ist und bereits am Sonntagmittag wieder nach Hause zurückgekehrt ist, also im Grunde nur für eine Nacht auf dem Festival war. In der Nacht zum Samstag blieb für Rafa genügend Zeit für ein Stelldichein mit Lucy - wenn es denn stattgefunden hat.
Tyra arbeitet zur Zeit mit Sten an einem neuen Video und ist deswegen ab und zu in H. Sten arbeitet außerdem an einem neuen W.E-Video und wurde von Tyra gefragt, ob er sich auch dieses Mal wieder ausnutzen lasse. Sie spielte darauf an, daß Sten fast umsonst für Rafa zu arbeiten pflegt. Zerknirscht gestand Sten zu, sich auch dieses Mal wieder ausnutzen zu lassen. Tyra wusch ihm den Kopf, hat jedoch nicht den Eindruck, damit etwas bewirkt zu haben.
Tyra sieht Darienne öfters vom Bahnhof zu Rafa laufen und zurück. Darienne soll aussehen wie eine lebende Tote - eingefallen, mit starrem Gesichtsausdruck, verhärmt und übellaunig.
Rafa verwendet Darienne unter anderem zum Einkaufen. Tyra hatte vor Darienne diese Aufgabe inne. Damals wachten Rafa und Tyra morgens oder auch erst mittags auf seinem Sofa auf, und er bestimmte:
"Du kaufst ein, und ich bezahle. Siehst du, so bin ich zu dir!"
Bereitwillig schleppte die zierliche Tyra die schweren Tüten für den kräftigen Rafa.
Neulich hat Tyra Darienne aus dem Supermarkt kommen sehen, schwer bepackt mit Einkäufen. Darienne war brav gekleidet mit tailliertem Pepita-Jäckchen, enger schwarzer Hose und Fünfziger-Jahre-Brille. Tyra fotografierte die tütenschleppende Darienne mit ihrem Handy und schickte das Bild als MMS an Rafa mit dem Begleittext:
"Siehst du, da hast du wieder eine Dumme gefunden."
Rafa erhält nur am Wochenende Besuch von Darienne. Innerhalb der Woche umwirbt er Tyra.
"Ohne deine Liebe kann ich nicht leben!" jammerte er neulich.
"Wieso, du hast doch deine Dari", entgegnete Tyra.
"Aber die liebt mich doch nicht", klagte Rafa.
Tyra forschte nach:
"Und warum bist du dann mit ihr zusammen?"
"Ist doch egal."
"Das ist keine Antwort."
"Es geht dich nichts an."
Tyra hat in letzter Zeit keine Alpträume mehr gehabt, keine Träume mehr von der ekligen kaugummiähnlichen Masse, die ihr den Mund verstopft.
"Also machst du alles richtig", meinte ich. "Du kannst nichts falsch machen, solange du diese Träume nicht mehr hast."
Tyra erzählte, sie wolle in den nächsten Tagen wieder Berenice und Baryn in ER. besuchen.
In E-Mails unterhielt ich mich mit Berenice über das Schicksal meiner Kollegin Mina, die an einer unheilbaren Krankheit leidet. Ich schrieb:

Für Mina ist es schrecklich, daß ihr ein Bein fehlt, aber noch viel schrecklicher ist es für sie, nicht zu wissen, wie lange sie noch leben wird. Sie meint, sie habe alles im Leben geschafft, was ihr wichtig ist, doch will sie noch nicht sterben, dafür lebt sie zu gerne. Sie hat viele Kontakte über SMS, Telefon und Internet, damit kann sie sich etwas ablenken, aber sie weiß letztlich nicht, wie sie mit ihren Sorgen umgehen soll. In der Reha hat sie sich bei einer Therapeutin ein wenig ausgeweint, aber das ist nur der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.

Berenice schrieb:

Was für ein Alptraum muss das sein. Es ist so unvorstellbar schrecklich, wenn die Seele, das Bewusstsein, in einem kranken, sterbenden Körper gefangen ist :( Es ist so schrecklich, dass mir der Hals eng wird ...

Der Tod ist es, um dessentwillen sehr wahrscheinlich die Religionen entstanden sind. Das Bewußtsein der Endlichkeit, das unabwendbare Ungewisse, das letztlich niemand und nichts zu bezwingen vermag, es läßt die Menschen von jeher nach Antworten auf Fragen suchen, auf die es keine Antwort gibt. In den Religionen finden Menschen die Möglichkeit, angesichts des nebulösen Grauens in der Gemeinschaft Geborgenheit und Kraft zu erleben, sofern denn tatsächlich die Religion im Mittelpunkt steht. In der Geschichte der Menschheit sind Religionen immer wieder zweckentfremdet worden.
Meine Cousine Vivien erzählte in einer E-Mail begeistert von dem Frühlings-Urlaub, den sie mit ihrer Familie auf einem Bauernhof gemacht hat. Ich mailte:

Hoffentlich klappt es mit meinem Urlaub im August, hoffentlich zickt mein Vorgesetzter nicht wieder bzw. wird hysterisch, weil er mal eine Woche lang auf mich verzichten muß.
Na ja, solche Sorgen sind dir ja nicht fremd (viel zu wenig Geld für hochqualifizierte Arbeit, Willkür von Vorgesetzten, organisatorischer Hickhack etc. etc.)
Heute waren Constri, Denise und ich wieder beim Krabbelgottesdienst, ein Gottesdienst für Kleinkinder, der drei- bis viermal im Jahr stattfindet. Dieses Mal war es zugleich der Taufgottesdienst für ein zweijähriges Mädchen, sicher einer der kindgerechtesten Taufgottesdienste, die man sich vorstellen kann. Auf Sitzkissen saß man im Kreis, eine Handpuppe (die "Kirchenmaus") hielt die Predigt etc. Getauft hat aber die Pastorin, mit Jordanwasser, das Verwandte von einer Israelreise mitgebracht hatten.

In der Samstagnacht war ich im "Radiostern". Danach war ich mit einigen Leuten bei "McGlutamat", wo ich Eiskaffee trank, der dort aber nicht mit Vanilleeis, sondern mit Eiswürfeln gemacht wird. Die Kellnerin an der Kaffeetheke erinnerte sich an uns und sagte:
"Ich warte schon immer, und ich habe schon gedacht, kommen die am Ende gar nicht mehr?"
"Oh doch", entgegnete ich, "fünf Uhr, das ist so ungefähr unsere Zeit."
Sie war noch nie im "Radiostern", ihr ist aber seit Längerem aufgefallen, daß an bestimmten Sonntagen frühmorgens schwarzgewandete Scharen das Lokal bevölkern.
Am Frühstückstisch redeten wir über Gott und die Welt. Als wir hinauskamen in den Sonnenschein, schmetterte der betrunkene Timon Nazi-Parolen und wurde von mir und mehreren anderen Leuten zurechtgewiesen. Timon wollte sich sogar mit südländisch aussehenden Menschen anlegen, dies wurde jedoch durch starken Gegenwind von mehreren Leuten - auch mir - verhindert. Immerhin erkannte Timon nach einer Weile an, sich mit seinen Sprüchen auf einem "unterirdischen" Niveau zu bewegen.
An Len mailte ich:

Von L. aus haben Constri und ich mehrere Drehtermine in BTF. absolviert. Constri hat die verwilderte Industrielandschaft - ehemalige Bahnanlagen vor dem Getreidespeicher eines Agrarbetriebs - mit Windrädern dekoriert, die im Gras standen wie Blumen auf einer Wiese. Es ist ein verwunschen wirkendes Areal, diese fast schwarzen Backsteingebäude mit eingeschlagenen Fensterscheiben, drumherum hohes Gras und blühende Holunder- und Jasminbüsche.
Anfang Juni waren wir zu einem stressigen Ruinenausflug in Ht. Im Landschaftspark DU. haben wir experimentelle Filmaufnahmen gemacht, auch für das VJing. Man sieht Constri in einem (von einem Kostümverleih besorgten) Brautkleid durch eine Mischung aus Industrie-Ruine, Monet-Landschaft und Barock-Garten wandeln. Die Aufnahmen sollen an Traumszenen erinnern. Constri bearbeitet sie nach, mit Übereinanderlegen von Bildern etc.
Im Landschaftspark DU. sind die Sintergärten das Highlight, eine Reihe von Bunkern ohne Dach, in denen Gärten angelegt wurden. Von einer Fußgängerbrücke aus kann man aus der Obersicht in diese Gärten filmen.
Viel Nervenkraft und Zeit geht drauf für meine Psychotherapieweiterbildung, zum Einen, weil sie so teuer ist, daß ich sie mir eigentlich überhaupt nicht leisten kann, zum Anderen, weil ich immer wieder darum kämpfen muß, daß ich meine Supervisionstermine wahrnehmen kann. Supervisions-Stunden sind vormittags um zehn Uhr, und ich muß an einem Supervisions-Tag meine Arbeitszeit nach hinten verschieben, und da zickt mein Chef, weil er ein Besetzungsloch fürchtet.
Und, wie läufts bei dir im Job?
Wir können ja mal wieder einen Ruinentermin anvisieren.

Len mailte:

Das mit den Ruinen-Terminen können wir gerne mal wieder ins Auge fassen.
Bei mir ist es auch wieder stressiger geworden.
Mehr Arbeit, neue Projekte usw.

Len plant neben seinem Tagwerk fotografische Projekte.
Azura mailte, nach jedem Pfingstfestival leide sie an einem Stimmungstief, weil sie wieder in den Alltag zurückmüsse. Sie erinnerte sich an den Pfingstmontag:

Wir sind mit den Mitbewohnern auf das Völkerschlachtdenkmal gestiegen und haben L. von oben bewundert und auch mal das Innere des Denkmals gesehen, das ich noch nicht kannte. Ich fand es auch so total beeindruckend.

Abends habe sie mit ihrem Lebensgefährten Antoine eine Location besucht, wo sie in ihrem blau-glitzernden Cyber-Look sehr aufgefallen sei. Die Bands, die hier spielten, hätten eher Leute im Uniform-Look angezogen. Über eines der Konzerte schrieb Azura:

Lustig war, daß ich von all den Songs gerade mal zwei oder drei Zeilen mitsingen kann, und ausgerechnet diese ließ der Sänger mich dann ins vorgehaltene Mikrofon trällern ... :D

Nachts in der "Bastei" sei es ungemütlich voll gewesen. Die Leute, die sie dort treffen wollte, seien woanders gewesen und hätten sie hersimsen wollen, jedoch habe sie um die späte Stunde nicht mehr die Location wechseln wollen:

Ich kann mich leider nicht zerreißen und tanze auch gerne auf der Techno-Bühne mit all den Cybergoten, wo Du ja auch mal dabei warst.

Sie bestelle leuchtende Mode-Artikel im Cyber-Stil und frage sich, ob es sich um Frust-Shoppen handelte. Eigentlich gehe es ihr gut, und ihr Job mache ihr Spaß.
Ein alter Bekannter aus frühen "Radiostern"-Tagen - Tarek - rief mich an und erzählte, wie es ihm in letzter Zeit ergangen ist. Tarek lebt in HI. und kommt aus dieser Stadt seit Jahren kaum noch hinaus. Er erzählte, daß vor Kurzem sein Stiefvater verstorben ist. Seinen leiblichen Vater habe er nicht kennengelernt, der soll mit Tareks Mutter nur eine kurze Affäre gehabt haben und sich dann aus dem Staub gemacht haben. Sein leiblicher Vater habe nichts von ihm wissen wollen. Als die Mutter den Stiefvater heiratete, habe Tarek das Gefühl bekommen, eine Familie zu haben. Er habe den Nachnamen seines Stiefvaters angenommen, weil der für ihn die Vaterrolle innehatte. Tarek hat mehrere Halbgeschwister. Besonders nahe steht ihm ein Kind, mit dem er nicht blutsverwandt ist. Es ist der fünfzehnjährige Sohn aus einer Verbindung, die der Stiefvater nach seiner Trennung von Tareks Mutter eingegangen ist. Die Mutter dieses Jungen ist Adelia, in die Tarek sich verliebt hat, ehe er erfuhr, daß sie die neue Freundin seines Stiefvaters war.
Der Stiefvater soll ein sehr freundlicher, hilfsbereiter Mensch gewesen sein, der viele Freunde hatte und sehr beliebt war bei seinen Kollegen. Mit Tareks Chef war er eng befreundet. Zum Verhängnis wurde dem Stiefvater seine Alkoholkrankheit. Er fuhr trotz seines gebrechlichen Zustands noch Auto, und vor wenigen Tagen verunfallte er tödlich. Tareks Chef fiel die Aufgabe zu, Tarek die traurige Nachricht mitzuteilen. Er nahm Tarek in den Arm und war selbst den Tränen nahe.
Tarek steht in keiner finanziellen Verbindung zu seinem Stiefvater, er ist nicht erbberechtigt, und das beruhigt ihn. Der Verstorbene soll nämlich ein finanzielles Chaos hinterlassen haben. Tarek möchte nun Adelia helfen, dieses Chaos zu ordnen, und er möchte versuchen, Adelias Sohn wenigstens teilweise den Vater zu ersetzen. Der Fünfzehnjährige habe ein enges, vertrautes Verhältnis zu Tarek.
Tarek meinte, im Grunde sei sein Stiefvater nun erlöst; ohnehin habe er wohl bald sterben müssen, denn der Alkohol habe seine Leber zerstört.
Mitte Juni aßen Beatrice, Tagor und ich im "Labyrinth" zu Abend. Beatrice und Tagor stecken in den Hochzeitsvorbereitungen. Beatrice hat nach langer Suche endlich ein Brautkleid gefunden, das ihr gefällt. Es sei wie für sie gemacht.
Beatrice erinnerte sich an ihre Hochzeit mit Miles, die wenig feierlich gewesen sei. Beatrice habe damals ein helles Oberteil und eine schwarze Hose getragen; ein Brautkleid sei ihr damals nicht wichtig gewesen.
Als ich von dem DJ-Set von Miles und Rafa in der "Unterwelt" erzählte, setzte Beatrice hinzu, es sei ihre Idee gewesen, die unteren Räume der Location als Szene-Discothek auszubauen. Ursprünglich habe es nur vorne in dem Gebäude eine kleinere Discothek gegeben, die damals wie heute eine Rock-Location sei.
Am Freitagabend kam ich sehr spät ins "Nachtbarhaus", weil ich nach der Arbeit noch im Lehrinstitut in Bad S. für meine Weiterbildung Daten eingeben mußte. Ich hätte die heutige Travestie-Show gerne gesehen, das hätte ich jedoch wegen der Dateneingabe nicht schaffen können. Indes - mir war heute vor allem wichtig, im "Nachtbarhaus" Leute zu treffen. Sylvie hatte wieder ihre Familie mitgebracht. Ein Travestie-Künstler erzählte beim geselligen Beisammensein, er habe ebenso wie ich auch nie Zeit und sei immer unterwegs, das sei aber doch eigentlich schön - viel schöner als umgekehrt. Ich erinnerte mich, daß ich erst im Alter von zwanzig Jahren einen Terminkalender brauchte. Vorher gab es nichts, was ich mir hätte merken müssen. Mein Adressbuch war fast leer, weil ich fast niemanden kannte. Inzwischen kracht mein Adressarium aus allen Nähten, ebenso wie der Terminkalender.
Drag-Queen Carla aka Karel trug ein Kleines Schwarzes und High Heels. Er kam mir unglaublich groß vor, erzählte aber auf meine Nachfrage, daß er "nur" 1,82 Meter groß ist und wegen der High Heels so riesig wirkt.
Karel ist in HH. mit seinem Freund Rico zusammengezogen; die beiden scheinen sehr glücklich miteinander zu sein, und das schon seit anderthalb Jahren.
Rico erzählte, daß er sein Coming Out erst mit fünfundzwanzig Jahren hatte. Vorher habe er sich zwar auch schon fürs gleiche Geschlecht interessiert, das jedoch nicht wahrhaben wollen, da es bedeutete, anders zu sein als die anderen und dadurch ins Kreuzfeuer geraten zu können. Letztlich aber sei er den ehrlichen Weg gegangen.
Am Samstagabend war ich auf Rikkas Geburtstagsfeier, die im Kleingarten ihrer Eltern stattfand. Rikka bezeichnet ihre Mutter und ihren Stiefvater inzwischen als ihre Eltern. Von ihrem leiblichen Vater ist sie enttäuscht; er sei so lieblos und desinteressiert an ihr, daß sie ihn nicht als Vaterfigur betrachten könne.
Rikkas Mutter erinnerte sich an den märchenhaften Kurzfilm "Verloorn", den Constri und ich vor zwanzig Jahren mit ihr, Rikka und deren damaligem Lebensgefährten Talis gedreht haben. Erst kürzlich habe sie den Film wieder angeschaut; sie finde ihn sehr schön.
Der Kurzfilm bekommt seine melancholische Stimmung nicht nur durch die trostlose Kulisse eines verwilderten ehemaligen Ziegelei-Geländes, sondern auch durch die atonale Ambient-Musik, mit der wir ihn unterlegt haben. Allerdings dürften wir den Film mit dieser Musik nie öffentlich zeigen, weil wir damals nichts von der GEMA wußten und keine Genehmigung zur Verwendung der Musikstücke besaßen. In den Film-Kursen, an denen wir damals teilnahmen, wurde uns auch nicht beigebracht, daß man auf Urheberrechte achten muß, wenn man in den eigenen Filmen fremde Musik verwendet.
"Verloorn" ist ein Kunstwort, das das Gefühl der Verlorenheit ins Endlose ausdehnt. Das tut auch der Film, der sich des Grimmschen Märchens "Hänsel und Gretel" bedient und von einem Pärchen handelt, das nirgendwo zu Hause ist.
Spätabends holte ich Berit ab und fuhr mit ihr zu Ferrys Geburtstagsfeier nach Awb. Berit wohnt im Dachgeschoß ihres Elternhauses. Sie erzählte von ihrer Arbeit als Floristin.
Bei Ferry gab es ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Schon etliche Parties haben wir in der Küche von Ferrys Partykeller verbracht. Die Musik im Wohnzimmer des Partykellers ist immer sehr laut; man kann sich dabei nur schreiend unterhalten. In der Küche, die noch original als den Siebzigern stammt, ist es gemütlich, und man kann sich heiße Bockwürste vom Herd herüberreichen lassen.
Sarolyns ehemaliger Lebensgefährte Teddy war auch auf der Party, mit seiner Ehefrau. Er erzählte von Horrorfilmen. Er schaue sich gerne Splatterfilme an.
Constri hatte viele Helfer bei der Vorbereitung ihrer Video-Performance in der "Neuen Sachlichkeit", die im Rahmen von Kappas diesjährigem Sommer-Festival stattfinden soll. Einige Helfer kamen auch aus dem Freundeskreis und der Familie. Auf der Bühne mußte eine Leinwand angebracht werden, außerdem wurden zwei der hohen Fenster des ehemaligen Fabrikgebäudes mit Leinwänden verhängt. Beamer sollen Videosequenzen an die Leinwände projizieren, wodurch der Eindruck entsteht, man würde durch die Fenster in eine andere Welt blicken. Constri hatte es so eingerichtet, daß das Format der Videos genau dem Hochformat der Fenster entsprach.
Freilich wird Constri mit der Performance nicht viel verdienen; die Veranstaltung hat für sie vor allem Promotion-Charakter. Constri mußte feststellen, daß VJing allgemein nicht gut bezahlt wird und eher einem Hobby entspricht als einem Beruf, von dem man leben kann.



Am Samstag kamen wir nachmittags um halb sechs in die "Neue Sachlichkeit". Constri hatte für Derek aka Missratener Sohn das Konzertvideo erstellt, das ebenfalls in Form einer VJ-Performance laufen sollte, jedoch auf einer kleineren Leinwand, die sich leicht auf- und abbauen ließ. Constri hatte mit Giulietta und Folter vor drei Wochen in den "Parzellen" gefilmt, wie eine verlassene Kleingartenanlage in HB. bezeichnet wurde. Giulietta und Folter verkleideten sich als "Spießer-Pärchen" mit allen Klischees der "Wir sind wieder wer"-Zeit - Giulietta mit Haarnetz und Küchenschürze, Folter mit weißem Hemd und Hosenträgern. Giulietta putzte die zerbrochenen Fensterscheiben einer verfallenen Gartenlaube, Folter jätete Unkraut und rechte den Rasen. In einer Sequenz sah man die beiden im verwilderten Grün an einem Kaffeetischchen sitzen und entrückt vor sich hinblicken.
Derek kannte das Video noch nicht, und er kennt es noch immer nicht, denn während seines Auftritts konnte er es nicht sehen, er blickte ja ins Publikum und nicht auf die Leinwand. Constri hatte an die Gartenlaube mit Kreide "Missratener Sohn" geschrieben, dieses Bild war das Intro, und nun folgten die wild gemixten Kleingartensequenzen, wo Giulietta mit stakkatoartigen Bewegungen putzte und Folter emsig rechte. Derek war auf der Bühne in seinem Element. Das Publikum lobte nicht nur die rhythmische, tanzbare Musik, sondern auch Dereks Bühnenpräsenz.
FabrikC traten ebenfalls auf und kamen sehr gut an.








Die Bilder an den Fenstern fanden großen Anklang, auch bei Derek. Constri ließ die Fenster mit Paarsequenzen bebeamen, so daß der Eindruck entstand, ein einziges Bild verteilte sich über beide Fenster, als wenn man durch zwei Fenster in eine Landschaft guckt. Man sah Stroh-Rundballen in Schwarzweiß, man sah eine bewegte Wasseroberfläche, eine blaugrüne Traumwelt, durch die eine weiße Gestalt lief, und Constri im Brautkleid, wie sie durch die Sintergärten wandelte. Gleich mehrfach erschien sie in der Szene, vervielfältigt, oben kleiner, unten größer, so daß der Eindruck von Weite entstand. Man sah in einem Gitter viele kleine Videosequenzen, die bildeten ein blaugrünes Muster und ließen die hohen Fenster wie Kirchenfenster aussehen. Und man sah das Ruinengelände in BTF., wo sich in dem hohen Gras Windräder drehten.








Rufus und Geneviève hatten im Vorraum der "Neuen Sachlichkeit" den Stand von Rufus' Label aufgebaut. Geneviève konnte nicht aufhören, mich zu fotografieren. Sie sagte immer wieder, ich sei so fotogen. Ich war ähnlich kostümiert wie in der "Unterwelt".
Donar und Sasso waren müde von der Arbeitswoche und deshalb erst etwas später in der "Neuen Sachlichkeit". Donar erzählte, daß er Angestellter einer Bank ist, die Handelsschiffe finanziert, da gehe es um viel Geld, und kleine Fehler könnten schwerwiegende Folgen haben. Fristen und Termine müßten eingehalten werden, Berechnungen müßten bis auf die Kommastellen stimmen. Die Verantwortung und die anspruchsvolle Arbeit werde jedoch nicht angemessen honoriert. Es werde rationalisiert und gespart.
Sehr viele von unseren Freunden und Bekannten waren in der "Neuen Sachlichkeit"; man konnte beinahe von einem Familientreffen sprechen.
Zoë hatte es geschafft, Merle zum Mitkommen zu bewegen, die seit Jahren kaum noch ausgeht. Merle hatte sich schick gemacht, mit schwarzem Blazer und Löckchen, und amüsierte sich offensichtlich.
Kappa war erst sehr angespannt. Später aber, als alles funktionierte, wie es geplant war, wurde er immer gelöster. Edaín war heute nicht dabei.
Im Vorraum der Damentoilette unterhielt ich mich lange mit Mavie. Sie erzählte, sie habe ihren Tiefpunkt überwunden. Letztes Mal im "Mute", als sie so lange weinte, habe sie nicht in erster Linie wegen ihres Beziehungswirrwarrs eine Krise gehabt. Sie sei ohnehin seelisch belastet, und es brauche nicht viel, um ihr inneres Gleichgewicht kippen zu lassen. Am schwersten sei sie belastet durch ihre Kindheit. Sie habe nie verstanden, weshalb sie für etwas geschlagen worden sei, das sie nicht gemacht habe. Als sie im Alter von siebzehn Jahren zum ersten Mal versucht habe, sich umzubringen, sei ihre mitmenschliche Umwelt darüber hinweggegangen wie über eine Belanglosigkeit. Niemand habe sich betroffen gefühlt, niemand habe sich Sorgen um sie gemacht. Erst vor Kurzem habe sie sich von ihrem Elternhaus abgewendet. Lange noch habe sie gehofft, dort Liebe und Verständnis zu finden.
Isis war mit ihrem jetzigen Lebensgefährten Aeneas in der "Neuen Sachlichkeit". Isis ist nach der Trennung von ihrem Ehemann Kiron vorerst zu ihrem alten Freund Siro gezogen, in ein Zimmerchen, das Siro bisher als "Rumpelkammer" verwendet hat. Demnächst will Isis zu Aeneas ziehen, in die Nähe von AC.
Weil ich Constri zur Hand ging, trug ich ein Backstage-Bändchen. Die Galerie war für die Dauer der Konzerte das Backstage, danach wurde sie für das Publikum freigegeben. Vor dem Geländer der Galerie befindet sich das DJ-Pult auf einem eigens dafür angefertigten Balkon. Das Geländer hat ein Türlein, durch das man auf diesen Balkon gelangt. Constri hatte ihr Laptop zwischen dem Mischpult und den CD-Playern aufgestellt, und sie hatte einen Blick wie vom ersten Rang auf die Bühne; das war auch erforderlich für das Gelingen einer VJ-Show.
Constri trug ein ärmelloses militärgrünes Cargo-Kleidchen und ein militärgrünes Kopftüchlein im Haar. Sie donnert sich beim Weggehen nicht so auf wie ich.
Kurz vor dem Beginn des Konzerts der Armageddon Dildos erschienen Rafa, Darienne und Dolf und nahmen auf den Sofas im Backstage Platz. Ich saß mit Heloise und Barnet auf dem benachbarten Sofa. Rafa und Darienne wirkten auf mich unterkühlt und mißlaunig.
DJane Cyra erschien ebenfalls, begrüßte mich und ging zu Constri ans DJ-Pult
Rafa ging mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter an mir vorbei zur Treppe nach unten. Darienne blieb mit zusammengekniffenen Lippen oben bei Dolf sitzen, die Haltung erstarrt, die Augen hinter Ponysträhnen und Brillengläsern versteckt. Sie trug ein gepunktetes Blüschen und eine enge schwarze Hose, die Haare hingen lose herunter. Sie wirkte auf mich wie jemand, der nicht gesehen werden will.
Rafa hatte seine schwarze Weste mit den Silberknöpfen an und darunter ein enges langärmeliges Oberteil im Leopardenmuster. Fast immer trug er seine Sonnenbrille.
In der "Neuen Sachlichkeit" traf ich auch Cyris und Xenon. Xenon erzählte, daß er sich vor einigen Monaten von Luna getrennt hat. Inzwischen hat er eine neue Freundin namens Sanri, die er mir vorstellte. Er habe sich von Luna nicht im Bösen trennen wollen, dennoch sei es zum Streit gekommen.
Die Armageddon Dildos brachten ihr Konzert so, wie ich sie schon vor vierzehn Jahren erlebt habe. Sie spielten ihre nostalgischen EBM-Klassiker und feierten mit dem Publikum. Der Sänger sprang immer wieder von der Bühne, um Konzertgäste zu umarmen. Als Isis und ich miteinander wisperten, umarmte er uns beide.
Ich konnte wieder zu Stücken tanzen, die ich lange nicht gehört hatte und zu denen ich um 1990 in Discotheken getanzt habe, die es längst nicht mehr gibt. Ich fühlte mich in die Zeit zurückversetzt, als ich Rafa noch nicht kannte und überall vergeblich nach dem Mann suchte, den ich liebte.
Nach dem Konzert der Armageddon Dildos begann sogleich das DJ-VJ-Programm. Constri, Rafa und Cyra waren auf dem Balkon am DJ-Pult. Rafa kümmerte sich während der gesamten Nacht nicht mehr um Darienne, die ihrerseits nicht in die Nähe des DJ-Pults kam.
Als die Armageddon Dildos die Bühne freigeräumt hatten, ging ich gemeinsam mit einigen Helfern und den Technikern der "Neuen Sachlichkeit" auf die Bühne, wo die Großleinwand heruntergelassen wurde. Danach ging ich auf die Galerie, wo ich mich während der Nacht meistens aufhielt. Neben Constris Laptop baute Rafa sein Laptop auf. Als er es anschaltete, sah man auf dem Monitor einen offenen Kußmund, darunter stand:
"Sex sells!"
Während Cyra ihr technisches Equipment herrichtete, stand Rafa daneben am Ende des DJ-Balkons, rauchte und schleuderte seine Ponysträhnen aus dem Gesicht. Dann schien ihm eine Idee zu kommen. Er unterhielt sich kurz mit Cyra. Schließlich lächelte Cyra und klopfte Rafa auf die Schulter. Sie hätte eigentlich beginnen sollen mit dem DJ-Programm, doch sie ließ ihm den Vortritt.
Kappa sagte durchs Mikrophon, nun werde das DJ-Set mit Cyra und Rafa beginnen, außerdem die VJ-Performance "Licht in Wind" von Constri aka Lichtwind.
Lange Zeit standen Rafa und Constri nebeneinander, Constri konzentriert an ihrem Laptop, Rafa mit Zigarette in der Hand an seinem Laptop. Ich sah Rafa fast nur mit Zigarette in der Hand.








Constri bebeamte die Großleinwand auf der Bühne mit traumähnlichen Videosequenzen und baute Effekte ein, die kaleidoskopartig oder tunnelartig wirkten. Aufnahmen von der Wäscherei-Szene im asbestverseuchten Kesselhaus des aufgegebenen Hüttenwerks in Ht. waren zu sehen, außerdem Blanca und Ted als Schattenrisse im meditativen Ausdruckstanz vor einer Glaswand in Teds Fabrikhalle.
Cyra bat mich, auf den DJ-Balkon zu kommen und Constris Sachen auf einem Tisch vor dem Geländer der Galerie so übereinanderzustapeln, daß Cyra genügend Platz für ihre CD's hatte. Ich stapelte alles ordentlich übereinander, und währenddessen stellte Rafa sich zwischen mich und das Mischpult, wobei Berührungen unvermeidlich waren; ich nutze die Möglichkeit außerdem, ihn am Arm und im Rücken zu kraulen.
Als ich zurück auf die Galerie kam, wisperte Heloise:
"Jetzt warst du ihm ganz nahe!"
"Er hat sich da hingestellt, er wollte es so", meinte ich achselzuckend.
Rafa sagte durchs Mikrophon, wer nur hier sei, um herumzusitzen, der könne auch wieder gehen. Dann spielte er "This shit will fuck you up" von Combichrist. Ich lief auf die Tanzfläche. Rafa legte nach mit "Stukas im Visier" von Feindflug. Sein DJ-Programm war geeignet, die Gäste auf der Tanzfläche zu halten.
"Sooo", sagte Rafa nach einer Weile durchs Mikrophon, bewillkommnete das Publikum und kündigte an, beim heutigen Gewinnspiel gebe es zwei Karten für das große Sommerfestival in HI. zu gewinnen.
"Eigentlich wollte ich mir ein paar Fragen ausdenken", erzählte Rafa, "aber das war mir dann nicht anspruchsvoll genug. Deshalb geht es heute so: Wer mitten auf der Bühne seinen A... blankzieht, kriegt eine Karte für das Festival!"
Etwa zehn Minuten später stellte sich ein Junge vor die Großleinwand auf die Bühne und entblößte sein Hinterteil. Rafa lobte ihn durchs Mikrophon und ließ ihn heraufkommen.
Während Cyra auflegte, blieb Rafa die meiste Zeit hinterm DJ-Pult. Cyra und Rafa wechselten sich öfters ab. Cyra spielte unter anderem "The farthest Star", einen romantischen Clubhit von dem neuen Album "Judgement" von VNV Nation. Das freute auch Constri, denn ihre VJ-Sequenzen hat sie vor allem für eine Musik wie diese geschaffen.
Rafa meldete sich noch einmal mit "Sooo ..." zu Wort und erklärte, es gebe ja noch eine zweite Karte für das Sommerfestival in HI. zu gewinnen, doch dafür "will ich ein paar Titten sehen".
Dieses Mal dauerte es etwas länger, bis sich jemand fand, der diese Bedingung erfüllte. Isis stieg am Ende auf die Bühne und vollführte einen Strip-Tanz. Sie zog sich das Oberteil aus und anschließend den BH. Wieder bekleidet, stieg sie zur Galerie hinauf und bekam von Rafa eine Filtertüte gereicht, auf die sie ihre Adresse schreiben sollte. Die Karten sollen an die Gewinner verschickt werden.
"Anders hätte ich nicht zu dem Festival gekonnt", erklärte Isis den Umstehenden. "Ich will hin, aber ich kann mir die Karte nicht leisten. Außerdem sind jetzt eh alle besoffen, da ist sowieso alles egal."
Erst gegen zwei Uhr nachts sprach Rafa Constri an und redete kurz mit ihr. Constri erzählte mir später, daß er sie fragte, ob die Videosequenzen von dem Programm automatisch gemischt und mit Effekten ausgestattet wurden oder ob Constri das von Hand machte. Constri erklärte ihm, daß sie die Sequenzen von Hand mischte. Außerdem fragte Rafa, ob sie alle drei Leinwände mit dem Programm bebeamte oder nur die Großleinwand auf der Bühne. Constri erklärte ihm, daß die beiden Leinwände vor den Fenstern als Installation bebeamt wurden und daß sie nur die Videosequenzen auf der Großleinwand über das VJ-Programm steuerte.
Die Armageddon Dildos blieben lange da. Als sie aufbrachen, umarmte der Sänger auf der Galerie noch einmal alle, die ihm begegneten, auch mich.
"Tschüß, schöne Frau", sagte er, der meinen Namen nicht weiß.








Constris VJ-Programm sollte anderthalb Stunden dauern, Constri dehnte es jedoch auf fast drei Stunden aus und hatte sehr viel Spaß daran.
"Dabei habe ich gemerkt, wozu ich wirklich Lust habe und was ich wirklich beruflich machen will", sagte sie. "VJ, das ist mein Ding. Erst habe ich nicht nach rechts und links geguckt, mich nur auf das Programm konzentriert. Und als ich gemerkt habe, es läuft alles, es funktioniert alles, da habe ich mehr in die Runde geguckt und habe richtig mitgeschwungen und bin immer ausgelassener geworden."
Kappa umarmte Constri stürmisch, bedankte sich viele Male und sagte zu ihr, so ein VJ-Programm solle sie jetzt immer auf seinem Sommerfestival machen und auch bei anderen Veranstaltungen.
Nach dem VJ-Set ließ Constri mich auf das Laptop aufpassen und ging nach unten ins Bad. Cyra legte gerade auf. Rafa kam zum DJ-Pult zurück, während ich auf dem DJ-Balkon zu "Folge mir ins Licht" von Melotron tanzte. Rafa mußte an mir vorbei, und ich konnte ihn streicheln und kraulen. Er stand eine Weile mucksmäuschenstill neben mir.
Constri kam zurück und teilte mit, daß sie sich noch etwas zu trinken holen wollte. Sie ging wieder nach unten, und ich paßte weiter auf ihr Laptop auf.
Darienne kam zu dem Türlein, das von der Galerie auf den DJ-Balkon führt. Dolf war bei ihr. Anscheinend wollten sie aufbrechen. Rafa redete kurz mit ihnen und begann, sein Equipment zusammenzuräumen. Eine Plastiktüte mit "Hello Kitty"-Aufdruck stand bei seinen Sachen unterm Tisch. Rafa zog sich die Lederjacke mit dem Gummizug in der Taille über, die er vor zwei Jahren in der "Bastei" auch anhatte.
"Eigentlich ist es viel zu warm für eine Lederjacke", dachte ich.
Darienne kam auf den DJ-Balkon und wollte etwas holen. Ich stand ihr im Weg.
"Kann ich mal kurz ...?" quetschte sie hervor, und ich ließ sie vorbei zu Rafa, der ihr ein Täschchen reichte.
Dann ging sie wieder auf die Galerie. Rafa packte sein Laptop ein und verließ mit all seinen Sachen den DJ-Balkon. Ich sah ihm nicht hinterher.
Constri wurde unten von einem Verehrer angesprochen. Verehrer gibt es viele, doch kaum jemanden, der sich für sie interessiert, ohne sie anzuhimmeln.
Auf dem Heimweg nahm Constri Merle und Ray mit, und ich nahm Ferry, Berit und Yasmin mit.
Am Sonntagnachmittag kam ich mit Merle, Elaine, Tanee und Zoë zum "Read Only Memory", wo der zweite Teil von Kappas Festival stattfand. Etwas später kam Constri mit Denise dorthin. Elaine modelte für Zoë auf dem Gelände des Heidnischen Dorfs, das zu dem Festival gehörte. Die Bilder sollen verwendet werden für Merles Geburtstagsgeschenk, eine Foto-CD.
Es gab in diesem Jahr keine mittelalterlichen Schaukämpfe, keine Waffeln und keine Verkaufsstände, aber es gab Würstchen vom Grill, und drinnen gab es Streuselkuchen und Kaffee. Auf dem mit Betonplatten gepflasterten Platz zwischen der Indoor-Location und dem ehemaligen Schwimmbecken war ein Zelt aufgebaut, in dem Sofas und Couchtische standen, dort konnten die Kinder malen, und es gab reichlich Pflasterkreide, einen Ball und ein Bobbycar. Viele Gäste hatten ihre Kinder mitgebracht, die meisten im Kindergartenalter.
Drinnen auf der Bühne eröffnete Ace das heutige Abendprogramm mit einer Lesung. Es gab die bekannten, beliebten und berüchtigten Essays zu hören wie "Patchouli" und "Die Zugabe". Als Ace sich über schwergewichtige Menschen lustig machte, fragte der Szene-Fotograf Percy:
"Und du?"
"Wer in einem Schlachthaus sitzt, sollte nicht mit Schweinen werfen!" gab Ace zurück. "Neunundachtzig Kilo, heute gewogen."
Percy, sichtlich schwerer als hundert Kilo, nickte nur.
Elaine und Tanee - zu alt für das Kinderprogramm - suchten und fanden eine Beschäftigung. Sie schauten sich die Konzerte an, die auf Aces Lesung folgten. Mehrere Gitarrenbands traten auf, und die Mädchen waren fasziniert, vor allem von den schmucken Jungs auf der Bühne, die zum Greifen nah waren, nicht getrennt durch einen Graben, nicht abgeschirmt durch Security. Zoë fotografierte Elaine und Tanee, wie sie auf Barhockern an einem Stehtischchen saßen. Für die beiden Mädchen waren es die ersten Konzerte, die sie in ihrem Leben sahen.
Draußen vor dem Grill plauderte ich mit Aces Frau Zara. Zara bedauerte ebenso wie ich, daß ich noch immer für keinen anderen Mann als Rafa Gefühle entwickelt habe.
"Der sieht ja noch nicht einmal gut aus", meinte Zara. "Also, ich zumindest finde nicht, daß er besonders gut aussieht."
"Er sieht ja auch nicht aus wie ein Dressman", meinte ich, "aber ich mag sein Aussehen trotzdem. Wirklich begründen kann man das natürlich nicht. Und vom Charakter her ist Rafa indiskutabel und für eine Beziehung schlicht ungeeignet. Es wäre halt schön, wenn ich endlich jemand anderen finden würde, in den ich mich verliebe. Rafa wäre dann jedenfalls abgemeldet."
"Aber so einen muß man erstmal wieder finden", sagte Zara nachdenklich. "Ich meine, er ist ja schon was Außergewöhnliches."
"Ja, und ich brauche jemanden, der außergewöhnlich ist. Ein anderer paßt zu mir nicht."
Mavie war mit ihrer Familie im "Read Only Memory". Die meiste Zeit war sie im Kinder-Zelt. Auch Xentrix und Lego hatten ihre Familien mitgebracht.
Kappa war mit Edaín und Maya da und einer Freundin von Maya, Alea. Maya und Alea trugen helle Kleidchen, Alea ein weißes, Maya ein rosafarbenes mit Volants. Alea hat lange blonde Haare, Maya hat lange dunkelblonde Locken. Beide sind fünf Jahre alt und gehen in denselben Kindergarten. Maya kommt bereits in diesem Sommer zur Schule. Sie ist sehr wißbegierig und scheint auch schon die erforderliche Reife zu besitzen.
Elaine kam zwischendurch nach draußen und tobte mit Denise auf der leeren Freilichtbühne an der Stirnseite des ehemaligen Schwimmer-Beckens herum. Elaine trug ein hellblaues Oberteil und ein hellblaues Röckchen. Denise war auch ganz in Hellblau, ihr Oberteil und ihre Hose waren mit Blümchen verziert. Constri hatte ein scharfes Auge auf Denise, Edaín hatte ein scharfes Auge auf Maya und Alea, die auf der ehemaligen Liegewiese durchs hohe Gras liefen.
"Wenn ich die kleinen Mädchen so sehe mit ihren wehenden Kleidchen, dann denke ich, wie kann es Menschen geben, die Kinder mißbrauchen?" sagte Edaín. "Ich komme mit der Vorstellung nicht klar, ich ertrage das nicht."
Edaín fragte mich, ob man Pädophilie durch Kastration kurieren könne.
"Das ist immer wieder Thema in der Wissenschaft", antwortete ich, "aber bisher ist nicht sicher, daß das etwas bringt."
Lilith war mit ihrem fünfjährigen Sohn Finley da. Er lenkte das Bobbycar immer wieder über eine Rampe ins ehemalige Schwimmer-Becken und bremste gekonnt ab. Edaín ging mit Maya, Alea, Denise und Finley zum Kopf der Rampe und ließ sie reihum mit dem Bobbycar die Rampe hinunterfahren. Auf dem geplasterten Platz stellte Edaín die Kinder im Kreis auf und ließ sie den Ball einander zuwerfen. Denise malte nicht nur die Betonplatten mit der Pflasterkreide an, sondern auch ihre Kleider bekamen nach und nach die Farbe der Pflasterkreide. Elaine malte eine seltsame Comicfigur auf die Betonplatten. Merle, im schwarzen Chiffongewand, trank Kaffee.
Weil Tanee sich nicht traute, einen der Musiker, der ihr besonders gefiel, um ein Autogramm zu bitten, holte Elaine für sich und Tanee Autogramme.
Kappa hielt Maya und Alea an je einer Hand und drehte sich mit ihnen im Kreis, er spielte sozusagen Karussell.
"Ist er selber schuld", meinte Edaín. "Jetzt hat er einmal damit angefangen, und jetzt wollen sie das immer wieder."
Edaín erzählte, daß sie seit fast zwei Jahren bei einem Finanzdienstleister arbeitet und von ihrem Chef schon nach drei Tagen das Angebot bekam, sein Büro zu leiten.
"Darüber muß ich erstmal nachdenken", antwortete sie.
Er wunderte sich darüber, daß sie nicht sofort zusagte.
Als Leiterin des Büros hat Edaín überlange Arbeitszeiten und schafft es daher kaum noch, ins "Mute" zu gehen. Die Bezahlung soll aber gut sein.
Neulich spendierte der Chef seinen Mitarbeitern ein Squad-Wochenende in der Gegend um die ehemalige Zonengrenze. Auf dem abenteuerlichen Squad-Gelände soll es mit NVA-Panzern zusammengeschobene Hügel und einen alten NVA-Wachturm geben, außerdem soll sich in der Nähe ein Museum mit historischen Gerätschaften und Fahrzeugen befinden.
Kappa baut mit seinem Freund Lexx eine Firma auf im Bereich Elektronik, entsprechend seinem Ausbildungsberuf. Auf diese Weise sorgt er vor für den Fall, daß sich mit Veranstaltungen nicht mehr genügend Geld verdienen läßt.
Edaín erzählte, für sie sei es nicht auszuhalten, im Berufsleben eine untergeordnete Rolle zu spielen. Sie komme in ihrem Job nur zurecht, weil ihr Chef ihr viele Freiheiten lasse und ihr viel Verantwortung übertrage, ihr gegenüber außerdem viel Respekt und Wertschätzung bezeuge.
"Er weiß zu würdigen, daß du viel Erfahrung im Berufsleben hast und dir viele Kenntnisse erworben hast", meinte ich. "Du bist ja schon in sehr jungem Alter ins Berufsleben eingestiegen."
"Ja, aber dafür habe ich teuer bezahlt. Das war der Preis der Freiheit."
Edaín hat damals, als sie im Streit zu Hause auszog, die Möglichkeit geopfert, eine Ausbildung zu machen. Inzwischen bewirbt sie sich nicht mehr mit Zeugnissen, sondern nur noch mit sich selbst. Was ihre jetzige Stelle betrifft, hat ihr bisheriges Berufsleben ihr den Weg in eine Karriere eröffnet.
Isis gesellte sich zu uns, an der Seite von Aeneas. Sie erzählte von ihrem Strip in der "Neuen Sachlichkeit".
"Man kann das sehen, wie man will", meinte ich.
"Wobei wir beide wahrscheinlich einer Meinung sind", sagte Edaín zu mir.
Isis erzählte von ihrer Trennung von Kiron. Edaín erkundigte sich, wie oft Isis ihren Sohn Gahan sieht. Isis berichtete, daß sie ihn zur Zeit an jedem Wochenende sieht. Gahan werde in einem Internat für schwer erziehbare Kinder unterrichtet; in einer anderen Schulform komme er nicht zurecht.
Als Ace und Zara herankamen und sich verabschiedeten, erzählte ich Ace, daß ich seine ehemalige Lebensgefährtin Lysanne kürzlich in HH. getroffen habe.
"So", sagte Ace.
"Sie hat erzählt, sie hat einen neuen Lover", sagte ich.
"So", sagte Ace.
"Wer?" fragte Edaín.
"Lysanne", sagte ich.
"Wer?" fragte Edaín mit dramatischer Mimik.
"Ihr müßt euch ja fürchterlich in den Flicken gehabt haben", meinte ich.
Als Ace und Zara fort waren, ergänzte Edaín, Lysanne sei die falscheste Schlange, der sie je begegnet sei.
Zara mailte am Montag:

Ich finde es ja schade, dass wir so strikt von Edaín unterbrochen wurden - die hatten eben kein gutes Verhältnis, ich auch nicht -, aber mich würde schon interessieren, wie es Lysanne so geht!
Also schreib es mir doch einfach mal, würde mich freuen.

Shara mailte zu meinen Berichten von Rafas promiskuitivem Liebesleben:

Ich lebe ein richtig langweiliges Leben im Vergleich, merke ich. War am Wochenende bei einer deutsch-türkischen Hochzeit ;-) Lauter normale, interessante Menschen, eine Band, die "21st Century Schizoid Man" von King Crimson spielt, Türken, Deutsche, Berber und Israelis, alle zusammen beim Quatschen und Mampfen. Keine Psychogrufties und Problemmenschen. Dat Leben is so schön :-)

Zu meinen Berichten von der Psychotherapie-Weiterbildung schrieb Shara:

Der Freund der Freundin meiner Freundin macht das auch, hammerhart.

Dazu, daß die Weiterbildung sehr teuer ist, schrieb Shara:

Da ist noch die Mentalität, daß man danach so viel verdiene, daß. Aber das entspricht ja mittlerweile auch nicht mehr der Realität :-/ Ein Bekannter von mir ist Psychotherapeut und zeichnet ein recht düsteres Bild über die Zukunft dieses Genres. Und der ist sogar noch privat, nicht mal Kasse.

Shara erzählte, daß er dabei ist, zu promovieren.
Wave rief an und erzählte von einer geheimnisvollen Rundmail. Um Genaueres zu erfahren, mailte ich an Artemis:

Wave rief mich gestern an und berichtete, Valerien habe eine Rundmail versandt, freilich weder an Wave noch an mich, wohl nur an alle anderen. In dieser Rundmail soll gestanden haben, beim W.E-Fanclubtreffen wolle man keine "Forum-Verhältnisse", daher seien gewisse Personen wie Wave, Fractal und Nightshade unerwünscht, täten aber an der Kasse ihr Eintrittsgeld zurückerhalten.
Hast du diese ominöse Mail eigentlich auch gekriegt? Wär mal neugierig, was genau da drinsteht und an wen genau die alles gegangen ist.

Artemis antwortete, die Rundmail, von der Wave gesprochen hat, habe es nie gegeben und werde es auch nicht geben.
Ich schrieb:

Muss jetzt gleich zur Arbeit, hab Nachtdienst (32-Std.-Dienst). Kann aber schon mitteilen, daß Valerien mir gemailt hat, daß es eine Rundmail wie die, von der Wave erzählt hat, nie gegeben hat und daß es ihm beim W.E-Fanclubtreffen vor allem darum geht, betrunkene Randalierer fernzuhalten. Nun, ich hab ihm empfohlen, den Leuten, von denen er weiß, daß er die beim Fanclubtreffen nicht sehen will, persönlich bescheidzugeben, dadurch kann er sicher einigen Ärger abwenden.
Klang ganz ehrlich, was Valerien erzählt hat. Er hat wohl als Veranstalter bei einigen Fanclubtreffen schon einigen Streß mit Störenfrieden gehabt.

Im Internet gab es schon bald Fotos zum Download, die von dem Festival in der "Neuen Sachlichkeit" und im "Read Only Memory" gemacht wurden. Auf einem Foto sieht man Rafa, der von dem Sänger der Armageddon Dildos umarmt wird und sich das mit leichtem Widerstreben gefallen läßt. Mir fällt dazu ein, daß Rafa einmal gesagt hat, er könne die Armageddon Dildos nicht leiden.
Tyra berichtete, sie wäre gern zu dem Festival gekommen, habe jedoch mit einer Lungenentzündung im Bett gelegen. Sie habe fast nur geschlafen, Wasser getrunken und Antibiotika genommen. Inzwischen gehe es ihr wieder besser.
Ende Juni besuchte ich Mina in der Hochschule, wo ihr die Schilddrüse entfernt worden war. Ihr ging es schon wieder recht gut, obwohl die Operation erst einen Tag zurücklag. Wir aßen in einem Seitengang zu Abend, wo Automaten mit Lebensmitteln und Getränken stehen. Für verhältnismäßig freundliche Preise bekommt man tagesfrische belegte Brötchen, Kaffeespezialitäten, Süßigkeiten und anderes. Es gibt Stühle mit Tischchen dort. Mina meinte, so gutes Essen wie das aus den Automaten gebe es auf Station nicht. Das Patientenessen sei fürchterlich. Ich erzählte, daß ich oft mein Abendessen aus dem Automaten geholt habe, als ich im Institut gejobbt habe. Früher, als ich in der Pflege gearbeitet habe, habe ich auf Station Brot gegessen und "Nimm 2"-Bonbons und Chips aus dem Automaten geholt.
Als ich Mina erzählte, daß ich überlege, eine Zeitlang in der forensischen Psychiatrie in Mrg. zu arbeiten, erwiderte Mina, das sei ganz unmöglich. Niemals sei ich in der Lage, dort zu arbeiten. Die Kollegen dort seien nett und bodenständig, aber sie würden mich niemals akzeptieren. Ich erkundigte mich, weshalb sie diesbezüglich so sicher sei. Darauf wollte Mina mir aber partout keine Antwort geben.
In Mrg. befindet sich die wichtigste und größte forensisch-psychiatrische Klinik des Bundeslandes.
Als ich in der Kantine zu Kollege Rainy sagte, ich hätte den Verdacht, daß Mina selbst es war, die während ihrer Zeit in Mrg. dort nicht zurechtgekommen ist, und daß sie das Gefühl eigener Unzulänglichkeit auf mich überträgt, sagte Rainy sofort und sehr bestimmt:
"Ja, das kann sein!"
Ich äußerte die Vermutung, daß Mina von ihren Eltern oft gehört hat, sie könne dies und das nicht, ohne daß sie diese Ansicht begründen konnten oder wollten; sie schienen es als Gesetz zu betrachten, daß Mina zu vielen Dingen unfähig war, ohne je auszuprobieren, ob Mina diese Dinge nicht doch konnte. Ein solches Verhalten der Eltern würde dazu passen, daß Mina ihr abgeschlossenes Studium als einen wichtigen, einschneidenden Erfolg bewertet und nicht als banalen Teil ihres Lebenslaufs. Es würde auch dazu passen, daß Mina zunächst Krankenschwester wurde und erst danach mit dem Medizinstudium begann. Wahrscheinlich traute sie sich selbst nicht viel zu, weil die Eltern ihr nicht viel zutrauten. Minas Verhältnis zu ihren Eltern ist heute recht distanziert.
Vielleicht spielt bei Minas Ansichten auch der Faktor Neid eine Rolle. Vielleicht kann Mina es schwer ertragen, wenn jemand sich etwas zutraut oder etwas plant, das sie selbst sich nicht zutraut oder an dem sie bereits gescheitert ist.
Mina will für zwei Wochen nach Wien und bei Bekannten übernachten. Mit ihrer Beinprothese komme sie in einer Stadt besser zurecht als auf unebenem Boden wie etwa am Strand.
Carl fliegt manchmal mit Hinnerk nach Wien. Die beiden sind seit vielen Jahren befreundet, aber nicht liiert. Für sie geht es in Wien um Sextourismus. Sie kennen schon fast alle promiskuitiven Homosexuellen aus der Umgegend von H. und suchen nach Abwechslung. Der HIV-infizierte Hinnerk verwendet nur ein Kondom, wenn der Sexualpartner das wünscht, ansonsten setzt er ohne Gewissensbisse die Sexualpartner dem Ansteckungsrisiko aus. Carl tut wenig, um ihn daran zu hindern.
Anfang Juli war Hendrik zu Besuch und erzählte von Eline, mit der er liiert ist. Wenn sie bei ihm sei, verhalte sie sich sehr anhänglich und betone, wie sehr ihr es bei ihm gefalle und daß sie gerne zu ihm ziehen würde. Sie habe sich aber noch nicht endgültig von ihrem vorherigen Partner getrennt, so daß Hendrik sich auf die Beziehung mit Eline nicht verlassen könne. Das mache ihm sehr zu schaffen.
Am Freitag war ich abends bei Merle, die ihren Geburtstag feierte. Zoë und Elaine schenkten Merle eine Fotoserie auf CD, die lief auf dem Monitor als Diashow ab. Es gab viele Bilder von Kappas Festival und dessen Vorbereitung zu sehen, darunter Bilder aus der "Neuen Sachlichkeit", wo Denise und Elaine oben auf der Galerie spielen und wo meine Eltern beim Aufbauen von Constris Installation helfen, und es gab Bilder vom Sonntag im "Read Only Memory", wo Elaine in dem ehemaligen mittelalterlichen Dorf posiert und wo man die Kinder auf den Betonplatten malen sieht.
Nachts war ich im "Roundhouse". Marvel spielte unter anderem die "Roundhouse"-Hymne "Bring on the Dying" von Aslan Faction, außerdem "Misanthropy" von Dulce Liquido, "One Night in New York City (Chris Liebing Remix)" von The Horrorist und "Gnorp" von MS Mono von dem Sampler "Forms of Hands 07". "Misanthropy" inspirierte mich dazu, in Pirouetten über die Tanzfläche zu laufen, bei denen ich mit jedem Schritt eine halbe Drehung machte. Anhalten war nur mit einem Sprung möglich.
Joujou berichtete, daß sie ihre Stelle gekündigt hat. Sie habe zuletzt kaum noch Zeit für Jeanne und Marvel gehabt, und sie wolle nicht ausschließlich für ihre Arbeit leben, die Familie sei ihr wichtiger.
Am Samstag fuhren Constri und ich abends nach HH. und besuchten Karel und Rico. Karel hatte angekündigt, vom Umzug herrsche bei ihnen noch Chaos, uns empfing aber mustergültige Ordnung. Rico holte Streuselkuchen vom Bäcker, Karel sorgte für die Getränke. Auf dem Sofa räkelte sich eine winzige Hündin, die sich hingebungsvoll kraulen ließ.
Karel erzählte, daß seine Mutter seinen Vater an der Breslauer Universität kennenlernte, wo beide studierten, er als Austauschstudent. Er wohnte in Paris, und dort zogen beide hin, als Karel zur Welt kam. Die Beziehung kriselte und zerbrach schließlich trotz aller Versuche, sie zu kitten. Karel war im Kindergartenalter, als seine Mutter sich von seinem Vater trennte und mit dem Sohn nach Breslau zurückkehrte. Karel begann ein Musical-Studium, mußte es jedoch aus Geldmangel abbrechen. Er zog nach Paris zu seinem Vater, in der Hoffnung, hier genügend Geld zu verdienen, um das Studium fortsetzen zu können. Er wollte aber nicht bei seinem Vater wohnen bleiben, ein eigenständiges Leben war ihm wichtig, also mietete er eine eigene Behausung. Er verdiente jedoch gerade genug zum Leben; es blieb nichts übrig, um ein Studium zu finanzieren. Ein Jahr lebte Karel in Paris, dann lernte er einen Deutschen kennen, in den er sich verliebte und dem er nach Deutschland folgte. So kam Karel in die Travestie-Szene von K. Er heiratete seinen Freund und etablierte sich als Travestie-Künstler.
Über das Echthaar-Teil, das ich Constri zu Weihnachten geschenkt habe, hatte Henk gesagt, das sei nicht geeignet, um einen voluminösen Pferdeschwanz daraus zu machen, man könne nur Strähnchen daraus machen. Nun hatte ich Constri geraten, das Haarteil zu Karel mitzunehmen. Karel lobte, das Haarteil sei sorgsam ausgesucht, die Farbe passe genau, und weil es Echthaar sei, sei es robuster und halte länger, es lasse sich auch besser frisieren. Karel holte zwei große Haarnadeln, ließ Constri ihre Haare mit einem Gummi zusammenbinden und steckte ihr in wenigen Minuten das Haarteil so fest, daß es hielt und einen voluminösen Pferdeschwanz ergab. Das militärgraue Kopftüchlein, das Constri im Haar trug, wickelte Karel als Zopfband um den Ansatz des Pferdeschwanzes. Dann toupierte er den Pferdeschwanz und Constris Pony auf und fixierte die Frisur mit Sprühkleber.
"Mit solchen Haarteilen arbeite ich oft", erzählte Karel.
Er zeigte uns Artikel und Bilder aus Zeitschriften, die in einem Ordner sortiert sind. Man sieht raffinierte Frisuren und Kopf-Aufbauten, man sieht ausladende Kostüme - einige aus Metall -, man sieht Drag-Queen-Star Olivia J., gekürt als "New Style des Jahres", und auf derselben Seite Karel als "Drag Queen des Jahres". Karel und Olivia J. sind schon öfter zusammen aufgetreten, auch in HH. Sie verstehen sich gut. Olivia J. sei sehr nett, ein guter Kumpel. Constri und ich kennen ihn vom Sehen aus dem "Base" in H., wo er 1986 als Siebzehnjähriger an den Wochenenden mitten in der Nacht erschien, glitzernd, schillernd, ein Hingucker. Das "Base" war damals ein ausgesprochener Nacht-Laden, Hochbetrieb gab es erst ab drei Uhr früh. Leider schloß das "Base" 1988 für immer.
Karel hat sein Berufsleben als Travestie-Künstler schrittweise aufgebaut, zuerst mit "Klinkenputzen", später durch Mundpropaganda. Mit Rico betreibt er ein Entertainment-Unternehmen. Karel erzählte, er verhandele mit Geschäftspartnern sachlich und setze auf Überzeugung. Wenn ein Auftraggeber argumentiere, für eine Show von zehn Minuten in DD. seien fünfhundert Euro zuviel, halte er dagegen, für ihn sei der Aufwand höher, denn man bedenke die weite Anreise, und wegen der großen Entfernung könne er auch nicht gleich nach dem Auftritt nach Hause fahren, sondern erst am nächsten Tag, und den gesamten Zeitaufwand müsse man auf einen passablen Stundenlohn hochrechnen, dann ergebe sich dieser Betrag.
Um elf Uhr nachts fuhren Karel und Rico zu einer Party, wo sie Geschäftspartner trafen, "eine Party, wo man hinmuß". Constri und ich fuhren zu "Stahlwerk". Dort trafen wir unter anderem Darien, Mal und Dedis. Mal klagte, hierzulande könne man mit Kreativität kein Geld verdienen, daher überlege er, auszuwandern.
Einer von Sofies Ex-Freunden - Rokey - erzählte, er habe seine Stelle in K. gekündigt, um nach HH. zurückkehren zu können. Jedoch habe er sich in HH. noch keine neue Stelle gesucht; die Zeit dränge auch nicht, denn durch die Abfindung und die Gehaltsfortzahlung sei er für die nächsten zwei Jahre abgesichert. Ich riet ihm, sich mit der Jobsuche zu beeilen. Es gebe sonst eine Lücke im Lebenslauf. Rokey entgegnete, das sei ihm klar; andererseits sei das Nichtstun auch etwas Schönes.
"Das kann ich nachvollziehen", meinte ich. "Ich hätte auch gerne mal zwei Jahre Zeit, um ausschließlich kreativ arbeiten zu können. Aber dann müßte von vornherein feststehen, daß ich zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Beruf zurückkehre, alles müßte festgelegt, abgesegnet und abgesichert sein."
"Wenn man abgesichert ist, kann man keine Kunst machen."
"Ich muß abgesichert sein, um Kunst machen zu können."
"Aber dann kannst du nicht die Kunst machen, die du machen willst", war Rokey überzeugt. "Sicherheit steht der Kunst entgegen."
"Meine Kunst soll positiv und optimistisch sein, und wenn ich abgesichert bin, wird sie positiv und optimistisch."
"So kann man es auch sehen."








Raoul R. saß auf der Treppe zum DJ-Pult und erzählte, daß viele der besonders tanzbaren Titel, die er heute gespielt hatte, von seinem nächsten Noisex-Album stammen, das im Herbst erscheinen soll.
DJ Davis und seine Kollegen spielten unter anderem "Radio Frequencies" von Sonar, "My Distance" von Synapscape, "Pusher" von Soman und "Humid Dreams" von Dulce Liquido.
Als ich Darien fragte, wie es seiner Familie gehe, erzählte er, eigentlich gut; was jedoch Dera betreffe, wisse er das nicht so genau, er sehe sie kaum noch.
"Aber ihr lebt doch zusammen", wandte ich ein.
"Na, ob man das Zusammenleben nennen kann, wenn man fünf Minuten miteinander frühstückt und sie dann weggeht?"
"Aber sie kommt doch abends nach Hause."
"Sie ist fast gar nicht mehr zu Hause."
"Wo ist sie denn?"
"Sie macht Karate."
"Ach, ist sie jetzt auf dem Karate-Trip?"
"Nein, ich glaube, das liegt mehr am Karate-Lehrer."
"Ach, so! Oh je."
"Irgendwie haben wir uns nicht mehr viel zu sagen", meinte Darien. "Der Karate-Lehrer liegt ihr wohl mehr. Ich bin jemand, der sich Gedanken macht, der die Hintergründe wissen will, der über etwas nachdenken will, und das ist ihr wohl zu nervig."
"Ach, so - Karate statt Hölderlin."
"Ja, so ungefähr."
Sirio machte Party-Fotos. Darien und Constri unterhielten sich stundenlang. Im Foyer des weitläufigen Gebäudes war inzwischen das Sandmännchen dagewesen. Mehrere schwarzgewandete "Stahlwerk"-Gäste mit Netzhemden und schweren Stiefeln lagen in einer bonbonbunten Hüpfburg und schliefen. Sie waren so wohlerzogen, daß sie ihre stiefelbewehrten Füße aus der Hüpfburg hängen ließen, um die Burg nicht zu beschädigen. Ich holte Sirio her, damit er Fotos davon machte.
"Ein Bild für die Götter", meinte ich. "Die Aufnahmen müßte man denen mal zeigen, wenn sie wieder nüchtern sind."
Als mir "Stahlwerk"-Organisator Delan neben der Hüpfburg begegnete, sagte ich zu ihm, die Idee mit der Hüpfburg sei fantastisch. Delan erzählte, es sei seine Hüpfburg. Er habe sie neulich bei einer Party im Freien verwendet und beschlossen, sie auch bei "Stahlwerk" aufzubauen.
Auf der Rückfahrt nahmen wir Saverio und seine neue Freundin mit nach H. Carl war zu "Elizium"-Zeiten in Saverio verliebt. Heutzutage scheint Saverio für Carl keine allzu große Bedeutung mehr zu haben.
Mitte Juli war ich bei Henk im Frisiersalon. Er erzählte, daß seine Mutter sich von einem Schlaganfall erholt. Sie ist 76 Jahre alt und legt Wert darauf, weiterhin Auto zu fahren. Zur Zeit ist sie in einer neurologischen Reha-Klinik in dem beschaulichen H. O. Vor dem Antritt der Reha ließ sie sich von Henk die Haare nachfärben. Henk erzählte, seine Mutter habe seit dem Schlaganfall Gedächtnisprobleme.
"Aber die Giftdrüsen funktionieren schon wieder", setzte Henk hinzu. "Über die Reha hat sie gesagt:
'Hoffentlich komme ich da nicht mit so einer Alten aufs Zimmer!'
Da habe ich gesagt:
'Also, Mutti, die Jüngste bist du aber auch nicht mehr!'"
Sie kann sehr charmant sein, aber ihr Sohn kennt sie auch anders.
In einer E-Mail erzählte ich Berenice von Kappas Sommerfestival. Als ich auf Geburtstage zu sprechen kam - Berenice hat im Juli Geburtstag -, fielen mir die Geburtsjahre von Tyra - 1983 - und Darienne - 1986 - ins Auge. Ich schrieb:

Da fällt wieder mal auf, daß Rafa sich bei der Wahl seiner Haremsdamen seit einigen Jahren in eine andere Generation verirrt. Das Phänomen ist bekannt - je älter ein narzißtisch gestörter Mann ist, desto jünger müssen die Gespielinnen sein, das war auch schon bei dem suchtkranken Narzißten Errol Flynn so, dessen Freundinnen waren kurz vor seinem (u.a. suchtmittelbedingten) Tod so jung, daß sie seine Enkelinnen hätten sein können. Frührentner und Schulmädchen, so ungefähr sah das aus.

Berenice schrieb:

Oh :( Errol Flynn mochte ich immer sehr gern - wollte mich immer mal über ihn an sich informieren, habe ich aber die ganzen Jahre über nie getan ... Was für eine Enttäuschung!!!

Zu meiner Schilderung von Darienne, um die Dolf sich in der "Neuen Sachlichkeit" kümmerte, schrieb Berenice:

Mir fällt dazu nur ein, dass Rafa mir erzählte, dass Alf sich immer um die Mädels kümmerte, mit denen Rafa nicht mehr zusammen war. Alf hat ja wohl auch Tyra angebaggert - ist jetzt Darienne dran (und: nein, mich hat er nie angemacht - ich hätte ihm ein Glas Bier ins Gesicht geschüttet).







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Am heutigen Samstagabend feierte Beatrice ihren Junggesellinnenabschied. Zu zwölft trafen wir uns um sieben Uhr am CITICEN. Wir gingen durch die Fußgängerzone und setzten uns in den Außenbereich eines großen Cafés, unter Biergarten-Sonnenschirme. Im Laufe des Abends begegneten uns mindestens acht Gruppen von Junggesellen oder Junggesellinnen, meistens in abenteuerlichen Verkleidungen.
"Immer wieder überlege ich, ob wir uns nicht auch hätten verkleiden sollen", meinte Beatrice. "Aber eigentlich finde ich es gut so, wie es ist."
Weil der Kellner mit jedem Drink Leuchtstäbchen brachte, wurde die Runde immer bunter und leuchtender, das war auch ein bißchen wie eine Verkleidung. Die Damen verwendeten die Stäbchen als Armreifen, Ketten, Ohrringe. Ich steckte mir zwei - eins rosa, eins blau - wie japanische Knotennadeln ins Haar und legte mir zwei rote als Armreifen um. Ich hatte mich schon zum Ausgehen gekleidet, mit dem Nadelstreifen-Korsett, das rechts und links geschnürt wird, den Lack-Puffärmeln und dem Aluminium-Halsband.
Eine Gruppe von Junggesellinnen zog einen Bollerwagen und war gekleidet mit weißen T-Shirts, auf die war das Konterfei des Bräutigams gedruckt mit dem Spruch darunter:
"Liebe ist ... diesen Mann zu heiraten!"
Eine Gruppe von Junggesellen trug weiße Kittel, um den Bräutigam zu feiern, der sein Chemie-Diplom gerade bestanden hatte. Auf den Rücken des Kittels vom Bräutigam war ein Reaganzglas gemalt, und dazu stand geschrieben:
"Experiment: Ehe, Versuch: 1"
Der Bräutigam verkaufte aus einem Bauchladen mit Wodka versetzte Götterspeise und Reagenzgläser, gefüllt mit Süßigkeiten.
Ein anderer Bräutigam verkaufte aus einem Bauchladen Likörfläschchen. Eine Braut ging im Bunny-Kostüm. Ein Rudel Junggesellen trug Hawaiihemden. Der Bräutigam mußte auf einen Tisch klettern und eine Rede halten, in der ging es vor allem um Frauen und das Trinken.
Gwynda, mit dreiundzwanzig Jahren eine der Jüngsten in Beatrices Runde, hat vor einigen Wochen geheiratet. Sie ist sicher, daß ihre Ehe ewig halten wird. Als sie von ihrer ersten großen Liebe verlassen worden sei, sei ihr zumute gewesen, als wenn er ihr Herz mitgenommen hätte. Es sei ein doppelter Verlust gewesen, denn er verließ sie um ihrer besten Freundin willen. Gwynda war danach einige Jahre mit einem Mann zusammen, von dem sie im Nachhinein sagt, sie habe ihn nicht wirklich geliebt. Sie habe Schluß machen wollen, ihn aber nicht verletzen wollen, und also abgewartet, bis er von selber ging. Sie kannte ihren jetzigen Ehemann schon, als sie mit ihrem vorherigen Freund noch zusammen war, doch erst, als beide wieder frei waren, fanden sie sich.
Es wurde elf Uhr, als wir aufbrachen. Wir machten vorher noch ein Gruppenbild mit Kellner. Einer der Jungesellen-Trupps marschierte über den Platz. Der Bräutigam hatte einen Bauchladen mit CD-Player umgehängt und sang für Geld Karaoke. Auf einer Liste konnte man einen Titel aussuchen. Beatrice suchte "Biene Maja" aus. Während der Bräutigam das Lied sang, sangen wir alle mit.
Zwei aus unserer Gesellschaft fuhren nach Hause, neun gingen auf eine Ü-30-Party, und ich ging ins "Nachtbarhaus". Dort fand ich an einem Tisch auf dem Podest Cyris, Xenon und Sanri. Ich setzte mich zu ihnen, da tauchte Anwar auf und begrüßte mich freundlich.
Sanri erzählte von ihrer früheren Beziehung, aus der ihre Kinder stammen. Sie sei mit ihrem Partner viel zu lange zusammen gewesen, bis sie den Absprung geschafft habe. Für ihre Kinder sei Xenon mehr ein Freund als eine Vaterfigur, das tue dem familiären Gefüge durchaus gut. Ihr Ältester habe heute auch ins "Nachtbarhaus" kommen wollen, doch habe er am Abend noch etwas anderes vorgehabt, was für ihn letztlich wichtiger gewesen sei.
Darienne war nicht im "Nachtbarhaus". Rafa legte auf, und in einer Endlosschleife lief das Video zur W.E-Bandgeschichte, das auch zu Pfingsten im "Memento Mori" gelaufen war. Rafa trug seine schwarze Weste und meistens seine Sonnenbrille, nur zwischendurch setzte er sie kurz ab. Mit "Sex, Drugs & Industrial" von Combichrist lockte Rafa mich auf die Tanzfläche, etwas später folgten "This shit will fuck you up" von Combichrist und ein Stück von Haus Arafna. Nach dem Stück von Haus Arafna sagte Rafa in die Runde, dies sei Haus Arafna, und jetzt sollten sich alle melden, die noch mehr Industrial wollten. Ich meldete mich auch.
"Oder wollt ihr Musik?" fragte Rafa. "Ich sehe, ihr wollt lieber Musik."
Er ging zu Suicide Commando über.
Während ich auf der Tanzfläche war oder daneben stand, schaute ich das W.E-Video an. Es gab viel Bandwerbung und viele Fotos aus der Bandgeschichte zu sehen. Konzert- und Privataufnahmen waren dabei, die den Eindruck erweckten, als sei die Geschichte von W.E eine einzige Party gewesen. Daß die Sängerinnen dauernd wechselten, dürfte nur den aufmerksamen Betrachter zum Nachdenken anregen; geschickt wurden Ungereimtheiten durch zur Schau gestellten Frohsinn übertüncht.
Beeindruckend fand ich lediglich den Film "Out of Body Experience", der bereits in der stummen Fassung gut nachzuvollziehen war. Sten hat ihn mit Rafa in der Hauptrolle gedreht. Berenice spielt die Angestellte eines Reisebüros. Für die Szene dort wurde das Reisebüro in SHG. verwendet, in dem Rafas Mutter gearbeitet hat. Rafa wird als gestreßter Manager gezeigt, der andauernd Tabletten nimmt. Diese Tabletten legt er in dem Reisebüro auf den Tisch, als er dort nach dem "absoluten Urlaub" fragt. Während Berenice ihm Kataloge zeigt, fährt Rafa mit der Tabletteneinnahme fort, was seine Bewußtlosigkeit zur Folge hat. Er findet sich in einer Art Mondlandschaft wieder und sucht nach Wasser. Das verwandelt sich aber in Sand, als er es trinken will. Er wirft immer mehr Kleidungsstücke ab und schwimmt durch einen See. Unterdessen versuchen Rettungskräfte, ihn auf dem Fußboden des Reisebüros zu reanimieren. Er liegt so da, wie vermutlich sein Vater zwanzig Jahre zuvor im Wohnzimmer lag. In der Mondlandschaft ist Rafa am anderen Ufer des Sees angekommen, seine Kleider hängen in Fetzen herunter, man sieht viel Haut. Diese Kostümierung finde ich wirklich sexy - bei aller Tragik des Films gibt es auch etwas fürs Auge. Verzweifelt steht Rafa im Sand, zieht eine Pistole hervor, hält sie sich an die Schläfe und drückt ab. Nichts passiert, und Rafa wirft die Pistole weg. Er weiß nun, daß er tot ist. Man sieht das Ende der Reanimationsversuche - die bei seinem Vater ja auch erfolglos waren -, und auf dem EKG-Monitor erscheint die Meldung "0 Schläge pro Minute". Allerdings sah ich als Fachfrau oben auf dem Monitor den Text "Elektrodenfehler".
Zu Cyris sagte ich, mir gefällt der Film unter anderem, weil er ehrlich ist. Er sei bewegend, weil er der Realität nachempfunden sei.
Ein langjähriger Szenegänger sprach mich an, der Coy heißt und im Gothic-Stil zurechtgemacht war, mit schwarz gefärbten Wuselhaaren und schwarz-romantischer Gewandung. Coy und ich unterhielten uns über die Menschen in der Szene, die wir beide kennen, und über die Entwicklung der Szene in H.
Rafa machte viele Durchsagen, erst ohne Mikrophon, dann mit, weil er eines bekam. Als er noch kein Mikrophon hatte, rief er in die Runde:
"Und die Frau, die mir ein Mikrophon bringt, wird von mir unten geleckt."
Der Inhaber des "Nachtbarhaus" - Vitus - brachte Rafa schließlich das Mikrophon.
Rafa tönte durchs Mikrophon, Vitus sei "der Chef, der Größte". Und er könne jedem Hausverbot geben.
Rafa veranstaltete ein Gewinnspiel. Dieses Mal gab es Sekt zu gewinnen. Rafa verlangte dafür, daß "eine Frau auf der Bühne ihre blanken Titten zeigt". Das machte dieses Mal aber keine. Also entschied sich Rafa für das Erraten von Songtiteln.
"Jetzt will ich die Alten aus der Szene sehen", verlangte er, "die Rentner unter euch, die mindestens achtzig Jahre alt sind."
Er spielte ein Lied der Fraggles, und das erriet Sazar sofort.
Rafa kündigte an, das nächste Rätsel lasse erkennen, wer ein besonders großes Gehirn habe. Er spielte die Titelmelodie von "Miss Marple", die erkannte ein anderer Gast sofort.
Rafa meinte, eigentlich könnten die Leute hier nicht aus H. stammen, die Stimmung sei so gut.
"Ich stamme nicht aus H.", rief jemand.
"Ich stamme auch nicht aus H.", rief ich.
"Ich sehe, keiner stammt hier aus H.", sagte Rafa.
Durchs Mikrophon erzählte er, mit achtzehn Jahren sei er schon ins "Elizium" gegangen und habe "hier, genau hier" - er zeigte auf die Tanzfläche - "Salat gegessen".
Coy ist dreiundfünfzig Jahre alt und kam 1974 nach H., während seiner Bundeswehrzeit. Ich erzählte, daß ich kurz vor meiner Einschulung nach H. gekommen bin.
Coy erzählte von seinem Asthma, das ihn zum Frührentner gemacht hat. Durch das Cortison, das ihn vor dem Ersticken bewahrt, bekam er Osteoporose und mußte sich ein neues Hüftgelenk einbauen lassen.
Während ich gegenüber vom DJ-Pult stand und mich mit Coy unterhielt, guckte Rafa über seine Sonnenbrille hinweg in meine Augen und hielt mir die ausgestreckte Handfläche entgegen. Ich ging auf ihn zu und griff nach seiner Hand, er zog sie zurück, streckte sie mir aber ein zweites Mal hin, jetzt nach oben geöffnet, und ich konnte meine Hand in seine legen, ehe er sie wieder zurückzog. Während Rafa mit einem der Gäste redete, legte er seine Hand über die Brüstung des DJ-Pults. Die Hand war geschmückt mit verschiedenen Ringen. Ich legte meine Hand um seine Finger, und er zog seine Hand abermals zurück.
An der Wand unterhalb des DJ-Pults räkelte sich ein Mädchen in aufreizenden Posen. Es war klein, pummelig, hatte lange schwarz gefärbte Haare und trug Strapse, dazu ein Höschen im Leopardenmuster. Es war häufig auf der Tanzfläche und schien auf sich aufmerksam machen zu wollen. So verhielt sich dieses Mädchen auch schon Anfang Mai im "Daybreak"; sie scheint ein Fan von Rafa zu sein. Coy sagte zu ihr, die Kleidung, die sie trage, sei mehr Unterwäsche als eine Garderobe, das Outfit wirke peinlich. Er fragte sie, ob sie so etwas nötig habe. Sie berichtete, gegenwärtig keinen Freund zu haben. Sie konnte ungefähr zwanzig Jahre alt sein.
Coy und ich tauschten uns über gemeinsame Bekannte aus, zu denen auch Inya gehört. Vor fünfzehn Jahren soll Inya mit Rafa liiert gewesen sein. Coy erzählte, vor vielen Jahren habe auch er mit Inya ein Verhältnis gehabt, das allerdings von kurzer Dauer gewesen sei. Als er zu Inya ins Auto gestiegen sei, habe sie ihn angeherrscht:
"Anschnallen!"
Er habe entgegnet, in einem solchen Tonfall wolle er nicht mit sich reden lassen. Inya habe entgegnet, wer mit ihr zusammen sei, müsse sich an diesen Tonfall gewöhnen. Da habe er verlangt, sie solle anhalten. Er sei ausgestiegen und weggegangen. Nie mehr habe Inya seitdem mit ihm geredet, all die Jahre nicht.
"Da war sie wohl ganz schön beleidigt", meinte ich.
"Was Dominantes brauche ich nicht", sagte Coy. "Dominant bin ich selber."
Rafa bekam am DJ-Pult sehr viel Besuch. Die Leute redeten über die Brüstung hinweg mit ihm, die kleineren kletterten dazu auf einen Barhocker. Rafa unterhielt sich ausgiebig mit ihnen. "Elizium"-Urgestein Luca umarmte mich zur Begrüßung und meinte, er freue sich, daß es mich immer noch gibt. Dann begrüßte er Rafa, und der rief:
"Mensch, ich dachte, du bist längst tot!"
Luca erkundigte sich, ob Rafa vom Laptop oder vom CD-Player auflegte, und Rafa antwortete:
"Beides."
Luca gab ihm eine CD und bat ihn, davon zwei Stücke zu spielen. Rafa meinte, das werde sich wohl unterbringen lassen.
Luca erzählte mir, er habe sich schon immer gut mit Rafa verstanden. Eine Zeitlang sei er wiederholt mit Rafa verwechselt worden. Auf einer Gruppenreise habe Rafa quer durch den Reisebus ins Mikrophon gesagt:
"Also, ich bin Rafa, und der da ist Luca."
Einmal, als ich gerade tanzte, lief Rafa über die Tanzfläche auf einen angetrunkenen Jungen zu und umarmte diesen, knutschte ihn beinahe ab. Dann rannte er zurück hinters DJ-Pult.
Coy meinte, Rafa habe noch andere Sachen zu sich genommen als Alkohol; er kenne sich damit aus.
Zwei Herren stellten sich mir vor, die mich schon lange vom Sehen kennen. Sie gaben mir Tequila aus. Sie nahmen Tequila Gold, ich nahm Tequila Silber. Das konnte Rafa vom DJ-Pult aus alles gut beobachten ... und tat es auch.
Einmal lobte Rafa durchs Mikrophon ein Mädchen, das zu einem Stück auf der Bühne tanzte. Er redete von einer "wunderschönen Frau", ihre Vorstellung sei "perfekt" und "hundertprozentig" gewesen. Einen Strip bekam er von ihr allerdings nicht zu sehen.
Cyris erzählte, daß um zwanzig nach vier Uhr in der Frühe ein Zug direkt zu ihr nach Hause fuhr, nach OL. Sie gehe gern in H. aus. In OL. gebe es nur eine Location, deren Treppe von Exkrementen verunreinigt sei. In HB. sei das Pflaster gefährlich. In H. komme sie schnell an jeden gewünschten Ort, auch weil die Lage des Bahnhofs und der Locations zentral sei. Cyris trägt beim Ausgehen meistens Hosen, weil sie sich darin geschützter fühlt vor nächtlichen Übergriffen. Ich erzählte, daß ich draußen über meine Decolletés und Tüllröcke einen langen schwarzen Mantel ziehe, der sich gut zur Tarnung eignet. Im Nachtleben ist Schwarz die beste Tarnfarbe - wenn es denn dunkel ist.
Heute Nacht wurde es gegen fünf Uhr hell, was durch die Fenster zur Straße hin gut zu sehen war. Eigentlich - nach der Normalzeit - wäre es erst vier Uhr gewesen.
Rafa kam vors DJ-Pult und stellte sich in einen Haufen von Leuten. Er kam mehrmals so nahe an mich heran und blieb so lange dort stehen, daß ich ihn immer wieder streicheln konnte. Meistens legte ich einen Arm auf seinen Rücken oder an seine Taille, oder ich strich über seinen Arm. Rafa war aufgekratzt, hektisch und sichtlich betrunken. Sein Rauschzustand hatte etwas Geplantes, Zielgerichtetes, Berechnetes; er schien die Substanzen, die er zu sich genommen hatte, nach Erfahrungswerten so dosiert zu haben, daß er damit eine bestimmte Wirkung auf seinen Gemütszustand und sein Verhalten erreichte. Obwohl torkelnd und schwankend, schien er sich exakt zu kontrollieren. Das heutige Programm schien zu lauten:
"Ich saufe mich voll, dann grabe ich irgendeine an und schleppe die ab, so ist mein Nachtquartier gesichert."
Rafa spielte viele der tausendmal gehörten Stücke aus "Elizium"-Zeiten, die ich mir überhört habe, obwohl ich sie eigentlich mag, wie "No Tears" von Tuxedomoon und "Massaker" von Tommi Stumpff.
Irgendwann meinte Rafa, so gut, wie die Stimmung sei, könnten eigentlich keine Leute aus H. mehr hier sein. Er habe sich lange überlegt, mit welchem Stück er wirklich allen gerecht werden könne, und wenn jemand zu dem nun folgenden Stück nicht tanze, bekomme er Hausverbot. Rafa spielte "Bela Lugosi's dead" von Bauhaus, und fast keiner tanzte - ich auch nicht -, Hausverbot bekam aber auch keiner.
Als letztes Stück spielte Rafa "Second Skin" von den Chameleons. Er sagte vorher an, dieses Stück spiele er, weil er auch einmal tanzen wolle. Ich tanzte ebenfalls, und es tanzten noch mehrere andere. Rafa stellte sich zuerst diagonal entfernt von mir auf, geriet dann aber mehr wie zufällig näher und näher an mich heran. Nach dem Stück rannte er weg, hinters DJ-Pult. Er forderte die noch verbliebenen Gäste auf, die letzten beiden Euros, die sie in der Tasche hätten, folgendermaßen auszugeben:
"Für den einen Euro trinken und mit dem anderen Euro das machen, was ich heute auch tue, nämlich zu spenden ... an den Tierschutzverein, an den Kinderschutzverein oder an den Männer-die-keinen-Schwanz-in-der-Hose-haben-Schutzverein!"
Als die Musik aus war, sagte Rafa:
"So, Rafa ist vorbei. Fertig."
Er kam in den Gang vor der Bar, wo ich mit einigen Leuten stand, und sagte:
"Wie komme ich jetzt durch zu dieser wunderhübschen Frau?"
Er deutete auf ein Mädchen im modischen Punk-Stil, das sich mit ihm häufig unterhalten hatte. Zu diesem Mädchen kam er gar nicht durch, geriet aber so zwischen die Leute, daß ich den Arm um seine Taille legen konnte und ihn mehrmals streicheln konnte. Das Mädchen hatte einen Freund, der wurde von Rafa abgeknutscht und mit Komplimenten überhäuft. Danach ging Rafa aufs Podest. Dort schaute er der pummeligen Strapsmaus mit seinem Hundeblick in die Augen und sagte einige Worte mit künstlich belegter Stimme zu ihr. Es könnte sich um "Abschlepp-Sprüche" gehandelt haben, im Stile von:
"Ich mag dich. Magst du mich auch?"
oder:
"Ich glaube, ich muß heute unbedingt mit dir schlafen."
Das Mädchen nickte zu allem, was er sagte, und er konnte beruhigt von dannen ziehen. Nun schien sein Problem zu sein, daß er nicht wollte, daß ich bei seiner "Abschlepp-Aktion" zusah. Es war ihm vielleicht peinlich, daß ich mitbekam, was er da "klargemacht" hatte - ein einfältig wirkendes, pummeliges Mädchen in Reizwäsche. Rafa dehnte also die Zeit bis zum Verlassen des "Nachtbarhaus" so lange aus, wie es ihm möglich war, indem er vor den Zechbrüdern am Ende des Tresens große Reden schwang und Banalitäten in dramatische Worte kleidete. Zwischendurch lief er immer wieder zum DJ-Pult hinauf. Luca sprach über den Tresen hinweg mit Rafa; es ging anscheinend um die Musiktitel, die Luca sich gewünscht und die Rafa gespielt hatte. Nach dem Gespräch fragte ich Luca:
"Hat er gesagt:
'So bin ich zu dir!'?"
"Ja."
"Das ist ein typischer Spruch von ihm!" erklärte ich Luca. "Er betrügt die Frauen, und dann schickt er sie auf seine Rechnung zum Einkaufen, damit sie ihm die schweren Tüten schleppen. Und dann sagt er:
'So bin ich zu dir!'"
"Mit dem allen habe ich glücklicherweise nichts zu tun."
"Ich hätte auch gerne nichts damit zu tun, nur betrifft es mich leider persönlich."
"Du bist eine der wenigen Frauen, die Rafa mögen."
"Daß ihn viele nicht mögen, hat er sich selber zuzuschreiben."
Ich schilderte, wie Rafa mit den Frauen umgeht, wie er sie betrügt und mißhandelt. Als ich erzählte, daß Rafa Berenice zweimal dieselbe Rippe gebrochen hat, fragte Luca zuerst:
"Waas?"
und setzte dann hinzu:
"Damit habe ich nichts zu tun, zum Glück habe ich damit nichts zu tun."
"Das stimmt, du bist keine Frau, du kannst unbefangen auf Kumpel-Ebene mit ihm umgehen."
"Wenn du ihn so schlecht findest, warum magst du ihn dann?"
"Das ist es ja, das ist bei mir unabhängig vom Charakter", erklärte ich. "Es ist jenseits von Gut und Böse. Ich kann nichts dafür, ich kann mir nicht aussuchen, für wen ich etwas empfinde."
"Du liebst ihn. Aber du kommst nie an ihn 'ran."
"Weißt du, was das für Frauen sind, mit denen Rafa Verhältnisse eingeht? Die 'kommen' nicht 'an ihn 'ran', sondern sie werden von ihm ausgesucht. Sie sind devot, sie dienen ihm wie Sklavinnen und werden allesamt von ihm betrogen. Und ich ordne mich niemals jemandem unter. Rafa kriegt mich nicht, so herum ist das richtig."
"Das ist was anderes."
"Wenn Rafa mit mir ein Verhältnis haben wollte, würde ich ihm erstmal einen Haufen Bedingungen stellen", ergänzte ich. "Sein Sofa müßte in die Müllverbrennung, er müßte einen AIDS-Test machen und so weiter ..."
Coy bemerkte, ich sei wohl ziemlich müde. Ich bestätigte das. Coy wunderte sich, weil ich trotzdem noch nicht nach Hause wollte.
Rafa hielt es schließlich nicht mehr aus vor Ungeduld. Er schien endlich mit dem Mädchen in Strapsen das "Nachtbarhaus" verlassen zu wollen, und dabei war ich ihm im Wege. Vom DJ-Pult herunter rief er quer durch das Lokal:
"Hetty!"
"Ja?" antwortete ich und ging zu ihm vors DJ-Pult.
"Wann bringen wir uns denn um?"
"Wann bringst du dich um?" berichtigte ich. "Du bist selbstmordgefährdet."
"Oder besser: Wann bringst du dich um?" fragte Rafa weiter. "Und wann bringst du mich um? Ich meine, wenn immer so viele wunderschöne Frauen um mich herum sind."
"Erstens bin ich schöner als alle deine Geliebten zusammen ..."
"Echt, ich habe immer eine Sch...-Angst, daß du eines Tages mit einer Axt hinter mir stehst."
"Erstens bin ich schöner als alle deine Geliebten zusammen ..."
"Wer sagt denn, was Schönheit ist?"
"Schönheit ist innere Schönheit, verbunden mit äußerer Schönheit."
"Aber das ist doch ziemlich subjektiv, oder nicht?" fragte Rafa. "Oder meinst du, du hast die universelle Wahrheit gefunden?"
"Ja."
"Du hast die universelle Wahrheit gefunden?"
"Ja", bestätigte ich. "Und deshalb werde ich mich nicht umbringen, und ich werde dich nicht umbringen. Aber du wirst dich umbringen mit deinen Zigaretten."
"He, ich habe gar nicht vor, so lange zu leben", wehrte Rafa ab. "Man soll sein Leben ... Was soll man mit seinem Leben machen?" fragte er laut in die Runde und wisperte:
"'Genießen', jetzt sage einer 'Genießen'."
"Genießen", sagte Luca.
"Siehst du", fuhr Rafa fort, zu mir gewandt.
"Du genießt dein Leben nicht", entgegnete ich. "Du poppst nur durch die Gegend."
"Ja, ich f... nur 'rum! Ja! Ich f... hier alle!"
"Du lügst allen was vor von der großen Liebe ..."
"Ich f... jeden ... ihn hier und ihn hier ... Kennst du den?" fragte Rafa und zeigte auf Luca. "Kennst du ihn?"
"Ja."
"Kennst du ihn auch besser, als er sich selbst kennt?" forschte Rafa. "Hast du auch mit ihm im Sandkasten gespielt?"
"Ich kenne ihn, aber nicht so gut, wie ich dich kenne. Du betrügst deine Freundinnen. Du zertrittst deinen Freundinnen die Rippen. Du schlägst deine Freundinnen."
"Und das weißt du alles!"
"Ja."
"Ich schlage ihn hier und ihn hier ... ich schlage alle ...", zeigte Rafa im Saal herum.
"Du schlägst deine Freundinnen", berichtigte ich. "Du schlägst die Freundinnen, mit denen du länger zusammen bist."
"Ich hab' zur Zeit gar keine Freundin, also erübrigt sich das."
"Du hast Berenice geschlagen, du hast Tessa geschlagen, du hast Luisa geschlagen, und du hast auch Darienne geschlagen."
"Manche Frauen muß man auch schlagen."
"Du betrügst deine Freundinnen zu hundert Prozent, und du belügst sie", fuhr ich fort. "Du lügst fast immer, wenn du den Mund aufmachst."
"Ich lüge nicht fast immer, ich lüge immer", behauptete Rafa. "Es gibt kein 'fast', es gibt nur ein 'ganz' oder 'gar nicht'."
"Manchmal sagst du die Wahrheit, und meistens lügst du."
"Manchmal sage ich die Wahrheit."
"Ja", bestätigte ich. "Und meistens lügst du. Es lebt sich nicht gut mit einem schlechten Charakter."
Rafa lief vom DJ-Pult hinter den Tresen; man kommt dort direkt über einige Treppenstufen hin.
"Du kannst mich gerne umbringen, wenn du willst", setzte ich hinzu. "Aber die Schuld kann dir keiner mehr abnehmen. Die Schuld trägst du mit dir herum für immer."
Rafa lief zu den Zechbrüdern am Ende des Tresens und befaßte sich weiter mit ihnen.
Coy wunderte sich über die Kommunikation zwischen Rafa und mir.
"Für mich ist das ein nichtssagender kleiner Wicht", sagte Coy über Rafa. "Er spielt sich nur auf und macht sich wichtig. In meinen Augen ist er völlig nebensächlich."
Coy erkundigte sich, wie der Wicht am DJ-Pult denn heiße.
"Rafa", antwortete ich.
"Der Rafa?" staunte Coy.
"Ja, der."
"Ach - jetzt verstehe ich endlich! Hetty und Rafa, das ist ... eine Geschichte!"
"Ja, eine Geschichte im Internet."
"Eine Geschichte, die man sich erzählt. Und jetzt kann ich mal ein Stück live miterleben ..."
"Ja, das war einer unserer berüchtigten Dialoge."
Coy meinte, so ein armseliger Wicht verdiene es doch gar nicht, daß ich mich an ihn binde.
"Das verdient er auch nicht", bestätigte ich. "Er ist moralisch tief unter meinem Niveau. Die Außenwirkung ist lächerlich ... Er verdient mich nicht. Ich habe etwas Besseres verdient. An den Männern liegt es nicht, ich könnte an jedem Finger zehn haben. Nur empfinde ich eben nichts für sie, nur für diesen einen. Ich kann nichts dafür."
"Du kannst dich gar nicht in einen anderen verlieben, weil du durch deine Verliebtheit in Rafa blockiert bist", deutete Coy.
"Ich denke schon, daß ich unterscheiden kann, ob ich in jemanden verliebt bin oder nicht, mit oder ohne Rafa", betonte ich. "Bevor ich Rafa kennengelernt habe, hatte ich ja schon vierzehn Jahre lang gesucht nach einem Mann, für den ich etwas empfinde, nur habe ich keinen gefunden. In der Zeit konnte ich gar nicht durch meine Verliebtheit in Rafa blockiert sein, weil ich Rafa noch gar nicht kannte."
"Gab es da wirklich keinen?"
"Zumindest keinen, für den ich so empfunden habe wie für Rafa. Ich habe nie für jemanden auch nur annähernd so empfunden."
"Dann hoffe ich, daß du endlich einen findest, der dich von Rafa befreit."
"Um Befreien geht es hier nicht", erklärte ich. "Es geht darum, daß ich einen finde, der mehr ist, mehr als Rafa."
Coy erzählte von Laura, mit der ich vor dreizehn Jahren viel unterwegs war. Laura hat es sich nach und nach mit vielen Leuten verdorben, die sie in H. kennengelernt hatte. Sie hat die Angewohnheit, erst die "beste Freundin" zu spielen und sich dann von einem Tag zum anderen feindselig zu verhalten, was zum Kontaktabbruch führt.
Laura soll inzwischen im Ruhrgebiet leben und sich nach wie vor im Gothic-Stil zurechtmachen, aber femininer als früher. Ihre Haare sollen bis zur Hüfte reichen.
Rafa stand mit Vitus zwischen DJ-Pult und Tresen.
"Hetty will ich nie wieder in H. auf einer Party sehen!" zeterte Rafa.
Ich fragte Coy, ob er Rafas Geschimpfe auch verstanden hatte. Coy entgegnete:
"Das ist völlig nebensächlich, was Rafa sagt. Der hat keine Eier!"
Schließlich hatte Rafa anscheinend so viel getrunken, daß er sich traute, mit zwei Herren und der Strapsmaus im Leopardenhöschen das "Nachtbarhaus" zu verlassen.
Als Rafa fort war, begann ich mich von den verbliebenen Gästen zu verabschieden. Die blondierte Freundin von Luca wurde von mir nach ihrem Namen gefragt, wollte den aber keinesfalls nennen. Ich erkundigte mich, welchen Grund es dafür gebe. Sie erklärte, sie sei die Halbschwester von Jochen Hockerfuß. Dieser "Gothic-Prinz der ersten Stunde" war Mitte der achtziger Jahre Stammgast in der legendären Discothek "Base", wo auch schillernde Figuren wie H.P. oder Olivia J. anzutreffen waren. Jochen Hockerfuß verehrte den Sänger der Band Visage und versuchte, ihn zu imitieren. Mit dem Sänger hatte Jochen Hockerfuß jedoch nicht viel mehr als die Suchterkrankung gemeinsam. Jochen Hockerfuß wird in meinem Umfeld nur als "Sockenschuß" bezeichnet. Constris ehemaliger Verlobter Cyd gab ihm diesen Namen, als Jochen Hockerfuß 1988 begann, mich im Liebeswahn zu verfolgen.
Die Halbschwester des Sockenschuß erzählte, die Schwester des Sockenschuß - Gilda - sei Versicherungskauffrau und mit dem Mann verheiratet, mit dem sie schon 1988 zusammen war, als der Sockenschuß und ich sie besuchten. Gilda habe Kinder. Der Sockenschuß soll mal im Lotto gewonnen haben und Gilda groß eingeladen haben. Der Sockenschuß habe vorübergehend im Obdachlosenheim gewohnt - was ich schon wußte -, mittlerweile habe er aber wieder eine Wohnung.
Die Halbschwester sagte, sie möge ihren Halbbruder nicht sonderlich und habe daher auch kaum Kontakt zu ihm. Geisteskrank sei er sicher, auch sei er Alkoholiker. Und er fange gerne unangenehme, lästige Streitereien an.
"Du warst seine große Liebe", meinte sie.
"Das war ein Liebeswahn", stellte ich richtig. "Ich war in den nie verliebt. Und der hat mich auch nicht geliebt. Er hat immer betont, daß er sich für seine Mitmenschen nicht interessiert, und das schließt Liebe wohl aus."
"Wart ihr nicht ein halbes Jahr zusammen?"
"Das waren sechs Wochen, und wir waren auch nicht wirklich zusammen, sondern es war vielmehr so, daß er mich dauernd angebaggert hat", erzählte ich. "Damals waren meine Schwester und ich gerade zu Hause 'rausgeworfen worden und fühlten uns etwas einsam, und ich war für jede Zuwendung dankbar. Verliebt war ich in den Sockenschuß aber nie. Er hat sich bei mir eingenistet, weil er in seiner Wohnung nicht mehr zurechtkam, die ist immer mehr verwahrlost. Er hat mich schließlich so genervt, daß ich kaum noch zu Hause war, fast nur noch in der Hochschule oder bei einem Kumpel. Da habe ich mich entschieden, ihn 'rauszuwerfen. Ich habe abgewartet, bis er wieder einen seiner Streits angefangen hat, und dann hat er seine Sachen gepackt und weggebracht, weil er gedacht hat, er wischt mir damit eins aus. Ich habe aber nur heimlich lächelnd am Schreibtisch gesessen und gewartet, bis er alle seine Sachen weggebracht hatte, und als er dann wieder ankam, war meine Wohnungstür zu, und sie blieb zu für immer. Und dann hat er angefangen, mir überall aufzulauern, fünf Jahre lang."
Ich schilderte einige Verhaltensweisen des Sockenschuß.
"Er hat voll den Tatbestand des Stalking erfüllt", fuhr ich fort, "nur daß es damals noch keine Handhabe dagegen gab. Und dann, 1993, hat Rafa eine der wenigen guten Taten seines Lebens getan, er hat nämlich den Sockenschuß zusammengehauen, und von da an hat der mich nie wieder verfolgt, das war ein echtes Wunder. Ich werde nie begreifen, wie Rafa das geschafft hat."
Die Halbschwester des Sockenschuß blieb bei ihrer Ansicht, der Sockenschuß habe mich geliebt, bis ich ihr das Folgende vor Augen führte:
"Wenn er mich geliebt hätte, hätte er mich in Ruhe gelassen, das war nämlich mein größter Wunsch. Wenn er mich geliebt hätte, hätte er mir diesen Wunsch erfüllt."
Das konnte die Halbschwester nachvollziehen.
Weil ich Migräne hatte, bat ich Vitus um Wasser, im Zweifelsfall Leitungswasser. Vitus stellte mir Mineralwasser hin und wollte kein Geld dafür. Ich trank es aus, verabschiedete mich von allen und stieg in ein Taxi. Unterwegs ließ ich den Fahrer anhalten, weil ich mich übergeben mußte. Ich schaffte es gerade noch, ein Gebüsch am Straßenrand zu erreichen.
Der Taxifahrer schenkte mir Paracetamol. Er meinte, so etwas habe er immer dabei. Er habe öfters Fahrgäste, die das brauchten. Zu Hause mußte ich Metoclopramid einnehmen und mich mehrere Stunden aufs Bett legen, ehe es mir gelang, Paracetamol einzunehmen. Drei Gramm nahm ich, und das half. Eine Stunde später waren die Migräne-Kopfschmerzen weg.
Weil es mir besser ging, konnte ich am Nachmittag zu Sarolyn und ihrer Familie fahren, wo auch Constri und Denise waren. Sarolyn servierte Kirschkuchen mit Streuseln. Wir saßen im Wohnzimmer mit verdunkelten Fenstern und eingeschaltetem Ventilator. Nur so konnte man in der Sommerhitze erträgliche Temperaturen schaffen. Sarolyn, Victor und der kleine Matthew haben ein Einfamilienhaus in einem beschaulichen Viertel bezogen. Das Haus ist sieben Jahre alt, hell und freundlich. Das Ehepaar, das zuerst in dem Haus wohnte, hat sich getrennt. Der Mann blieb, und als seine neue Lebensgefährtin einzog, störte sie die überall präsente Erinnerung an die vergangene Ehe ihres Lebensgefährten. Also wurde das Haus verkauft und von Sarolyns Familie erworben.
Sarolyn verriet, daß sie guter Hoffung ist. In dem Haus hat die Famlie genügend Platz für weitere Kinder.
Sarolyn meinte, sie könne Coy gut verstehen, der sich von Inya getrennt hat, als sie ihn im Auto anherrschte. Einen solchen Tonfall müsse sich niemand gefallen lassen.
Als ich erzählte, wie leichtfertig Rafa daherredet, er genieße sein Leben und wolle gar nicht lange leben, meinte Sarolyn:
"Der weiß echt nicht, was er sagt! Der weiß überhaupt nicht, wovon er spricht! Die Raucher sagen gerne:
'Dann sterb' ich eben früher!'
- aber sie wissen überhaupt nicht, was das bedeutet und wie viel Leiden vor dem Tod noch kommen kann."
Sarolyn erzählte von dem Tod ihres Vaters. Er ist vor Kurzem am Bronchialkarzinom gestorben. Als er aufhörte, zu rauchen, war es für ihn schon zu spät. Der Tumor in der Lunge konnte operiert werden, doch schon bald tauchten Metastasen im Gehirn auf. Sarolyns Vater wurde deswegen mehrfach operiert, doch nach etwa drei Jahren konnte man nichts mehr für ihn tun. Zuletzt wurde er zu Hause von der Ehefrau, einem ambulanten Pflegedienst und einem Hospizdienst betreut. Wegen der Metastasen war er pflegebedürftig und konnte nicht mehr sprechen. Er soll unendlich traurig geguckt haben. Der Tod sei eine Erlösung für ihn gewesen.
Sarolyn stellt sich vor, wie er auf einer Wolke herumläuft und auf die Erde guckt. Einige Zeit nach seinem Tod gab seine Witwe eine Kontaktanzeige im Internet auf. Sarolyn träumte, daß ihr Vater ihr begegnete. Sie sagte ihm, ihre Mutter wolle nicht allein bleiben, doch heiße das nicht, daß sie ihn weniger liebe. Sie liebe ihn über alles.
Victor und ich unterhielten uns über unsere makabren Einfälle in der Kinderzeit. Victor erzählte, daß er die Köpfe seiner Legomännchen etwas vorgelockert hat, ehe er die Legomännchen unter die selbstgebaute Guillotine legte. So habe man die Köpfe mit dem Fallbeil - eine Plastikplatte, die in zwei Schienen nach unten rauschte - leicht abtrennen können. Meine Guillotine war aus Pappe. Ich baute die Guillotine nach, die ich auf dem Titelblatt einer Illustrierten gesehen hatte. Das Fallbeil war auch aus Pappe und hing an einem goldenen Geschenkband. Köpfen konnte man mit dieser Konstruktion nichts. Victors Modell war funktionsorientiert, meines war auf das Aussehen ausgerichtet.

In einem Traum sah ich einen Menschen in der Hölle, der wollte sich eine Kette mit einem Kreuz umhängen, was ihm eine teuflische Macht verliehen hätte. Auf Erden lag vor mir die gleiche Kette mit einem Kreuz daran, und die mußte ich mir eher umhängen als er. Dann nämlich verschwand die Kette, die er sich umhängen wollte, und er bekam die teuflische Macht nicht.

An Zara mailte ich:

Jetzt eendlich mal schreib ich dir, endlich meld ich mich!
Ja, ich traf Lysanne bei "Stahlwerk" im Mai, sie erzählte von ihrem neuen Freund, mit dem könne sie eine ruhige, verläßliche Beziehung führen, sie sei glücklicher mit ihm als mit Ace damals. Probleme hat sie mit ihrer halbwüchsigen Tochter, die scheint ein echtes Problemkind zu sein, das labil ist und schnell an die verkehrten Leute gerät, wenn es nicht beaufsichtigt wird. Sie als Mutter traue sich daher kaum noch, nachts auszugehen, und heute sei sie nur unterwegs, weil eine ihrer Freundinnen sie so sehr darum gebeten habe.
Lysanne unterhielt sich einige Zeit mit guten Freunden von mir, Heloise und Barnet. Das ist ein Ehepaar um die Vierzig, seit zwanzig Jahren glücklich, sie haben eine Tochter von 16 Jahren, die wohlgeraten ist.
Edaín und Lysanne scheinen sich vor einigen Jahren (2003) entsetzlich in den Flicken gehabt zu haben. Es sah so aus, als wenn Kappa und Ace miteinander im Streit lagen, was jedoch nicht der Fall war. Es waren die Frauen, die sich die Augen auszukratzen versuchten. Edaín meinte, Lysanne sei falsch, sie könne nur vor ihr warnen. Ich kenne Lysanne viel zu wenig, um das beurteilen zu können. Ich weiß nur von einer befreundeten PTA, daß Lysanne ca. 1998 versucht haben soll, mit gefälschtem Rezept Rohypnol zu bekommen.
Von Rafa gibt es Neues, er soll sich von Darienne getrennt haben. Am letzten Samstag bin ich im "Nachtbarhaus" gewesen, wo Rafa auflegte. Darienne war dort nicht.

Ich schilderte die jüngsten Ereignisse im "Nachtbarhaus" und setzte hinzu:

In dem Gästebuch auf meiner Website erschien der Hinweis, daß Rafa solo ist. In Dariennes Profil steht nicht mehr, daß sie vergeben ist, sondern es steht rein gar nichts mehr zu diesem Thema. In Rafas Profil bei "MySpace" steht nicht mehr, er sei "verheiratet", sondern er sei "offen für alles".
Wen läßt Rafa jetzt wohl für W.E und H.F. singen? Die pummelige Strapsmaus? Na, ich denke, er wird versuchen, Darienne wieder herumzukriegen, wie er es ja auch neunmal mit Tessa gemacht hat.
Sarolyn, die Stammgast im "Elizium" war, hat erzählt vom Tod ihres Vaters. Der hat zu spät mit dem Rauchen aufgehört und starb mit 63 Jahren am Bronchialkarzinom.
"Rafa hat gut reden", meinte Sarolyn. "Es ist schnell dahingesagt, daß man eh nicht so lange leben will. Aber was das bedeutet, an Lungenkrebs zu sterben, das macht er sich nicht klar."

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