Netvel: "Im Netz" - 48. Kapitel































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Mitte September gab es in einem Freizeitheim in H. eine Travestie-Show, die von Karel aka "Carla" und seinem Lebensgefährten Rico organisiert und gestaltet wurde. Es war ein schönes Wiedersehen mit den beiden und auch mit deren Freundin Sylvie. Eigentlich machen bei den Shows nur Travestie-Künstler mit, heute jedoch war auch Sylvie als Komparsin dabei, wie sie mir später erzählte. Unter ihrem dichten Schleier hätte ich sie nicht erkennen können. Die Show gefiel mir, wie immer, sehr gut.
Nach der Show fuhr ich zu Carl, der seinen Geburtstag feierte. Constri war da, auch Carls ehemalige WG-Mitbewohner Soran und Ghismo. Carl lebt in einer Wohnung in Lnd. mit seinem Kater Neen. Der Kater war geschäftlich unterwegs, wie jede Nacht. Er kommt erst gegen Morgen von der Arbeit nach Hause.
Am Sonntag war ich zum Brunchen in einem Café namens "Dom & Sub", das von einem BDSM-Verein betrieben wird. Mit dieser Szene identifiziere ich mich nicht, aber Freunde von mir gehören dazu. Clarice hilft in dem Café mit. Die Einrichtung des "Dom & Sub" wurde mit viel Arbeit in einem historisch angehauchten Stil gestaltet. Clarice und ich unterhielten uns über unsere Eigenart, uns nur denjenigen Menschen ganz besonders nahe zu fühlen, die irgendwann in ihrem Leben ein Trauma erlitten haben und mehr oder weniger geeignete Strategien entwickelt haben, um damit fertigzuwerden. Mir war das neulich aufgefallen, während ich die Kurzgeschichte "Zwischenwelt" schrieb. Ich wollte für die Hauptfigur Aimée einen Partner erfinden, der sie wirklich liebt und das auch zeigt. Dabei stellte ich fest, daß nur jemand zu Aimée passen kann, der traumatisiert ist. Nur unter dieser Voraussetzung können die beiden einander verstehen; sie sprechen dieselbe Sprache - die wiederum von ihren Mitschülern nicht verstanden wird.
Am Dienstag lud Henk mich zum Italiener ein. Er erzählte, daß seine Katze Bibi meistens brav ist. Einen Teebeutel hat sie aber schon zerpflückt, den er nicht rechtzeitig weggeworfen hatte.



Am Donnerstag war ich wieder im "Keller" zum Rippchenessen. Highscore erzählte, das diesjährige Stoppelfeldrennen sei vorzeitig abgebrochen worden, weil einer der Fahrer verunfallt sei. Er habe sich mit seinem Auto mehrmals überschlagen, in der Luft und auf dem Boden. Weil er so gut gesichert gewesen sei, sei er mit verhältnismäßig leichten Verletzungen davongekommen.
Im Tischgespräch ging es um Männer und deren typisches Verhalten, sofern es ein "typisch männliches" Verhalten gibt. Ich erzählte von einem Cartoon, auf dem man zwei Tische sieht. An einem Tisch sitzen Frauen, am anderen Männer. Die Frauen unterhalten sich über Themen wie "Kinder", "Familie", "Verantwortung", "Geld" - und machen besorgte Gesichter. Die Männer unterhalten sich über Themen wie "Sex", "Saufen", "Fußball" - und grinsen.
Mavis' Freund gab zu bedenken, Männer könnten auch dann unbeschwert und fröhlich sein, wenn sie Verantwortungsgefühl hätten und sich um ihre Familien kümmerten.
Spätabends leerte sich der "Keller". Wirtin Bibian fragte mich, ob ich eines von Rafas Filmplakaten haben wollte. Ich bejahte das. Roxy ging, ein Plakat zu holen. Sie hatte es eben hergebracht, als Anwar und Rafa hereinkamen.
"Da ist ja unser Übeltäter", stellte ich fest. "Wenn man den Teufel nennt, dann kommt er auch schon angerennt."
"Ja, und Herr Anwar", ergänzte Bibian, die keinen Zweifel daran hatte, wen ich mit dem "Teufel" meinte. "Anwar ist nämlich jetzt verheiratet."
Rafa trug keine Brille. Er hatte eine schwarzbraune Lederjacke an mit Raffung hinten, abgesetzt mit umlaufenden roten Paspeln.
Rafa fragte, ob noch Rippchen da seien, und verschwand eilig mit Anwar im Gastraum. Ich setzte mich zu Iro an die Theke im Schankraum. Bibian zeigte uns Fotos von ihren Katzen und ihrem Hund aus früheren Tagen. Sie erzählte, bei einem Grillabend auf ihrer Terrasse habe sie festgestellt, daß Rafa die "Mäuschenzange" in der Hand hielt, auf der vorne und hinten "Mäuschen" steht, und daß die Zange vorne schwarz gewesen sei. Da habe sie einen Schreck gekriegt. Die "Mäuschenzange" sei nämlich nur für die Mäusekadaver gedacht, die die Katzen anschleppten; sie greife die Kadaver mit der Zange und werfe sie in den Garten. Eine solche Zange für Grillgut zu verwenden, sei ungefähr so, als würde man die Gläser mit dem Klolappen auswischen. Rafa indes konnte die Schwärzung der "Mäuschenzange" gut erklären:
"Man wird doch noch die Kohlen wenden dürfen."
Da war Bibian beruhigt.
Iro erzählte, sein zweiter Name sei Charles Bukowski. Er identifiziere sich nämlich mit dem Schriftsteller Charles Bukowski.
Gegen Mitternacht verkündete Bibian, jetzt dürfe man drinnen rauchen, und stellte zwei Aschenbecher auf den Tisch im Schankraum. Rafa griff sich einen der Aschenbecher und ging damit zurück in den Gastraum. Iro verschwand schließlich auch im Gastraum. Bald darauf ging ich ebenfalls dorthin und fand gleich links hinter dem Durchgang Anwar, Rafa und Iro an einem Tisch sitzen.
"Na, Charles Bukowski, auch immer noch hier?" fragte ich Iro.
"Klar, willst du zu uns kommen?" fragte er einladend. "He, Rafa, rutsch' mal."
Rafa setzte sich etwas schwerfällig in Bewegung und rutschte nach links, so daß rechts neben Iro noch Platz auf der Bank frei wurde. Da setzte ich mich hin, also saß Iro zwischen Rafa und mir. Uns gegenüber saß Anwar.
Die Gespräche schienen tiefsinnig zu sein. Eben ging es darum, ob man lieber schweigen oder reden sollte. Rafa war mehr für Schweigen, Reden sei doch "nichts". Iro und Anwar waren eher dafür, über manche Dinge zu reden.
Es ging außerdem um wirtschaftliche und politische Katastrophen, auch angesichts der Präsidentschaftswahl in den USA und der technischen Unsicherheit der Bahn. Rafa war dafür, so viel wie möglich in staatlicher Hand zu lassen oder dorthin zurückzubringen, damit nicht der Profit, sondern das Gemeinwesen regierte.
Ich meinte, man wüßte heutzutage kaum noch, wen man wählen sollte. Die Herren fanden die Linke recht innovativ, aber realitätsfern. Anwar fragte mich, für welchen US-Präsidentschaftskandidaten ich sei. Ich meinte, in Amerika werde der Wahlkampf überwiegend mit Populismus geführt, und erst wenn ein Präsident an der Macht sei, könne man sehen, was dahinterstecke. Mir gehe es vor allem darum, daß die Menschenrechte in den USA durchgesetzt werden. Da die Menschenrechte in den USA nicht zählten, seien sie kein Wahlkampfthema; das war Konsens am Tisch. Anwar erklärte, der US-Präsident habe nicht die Macht, die Todesstrafe abzuschaffen, das könnten nur die Gouverneure. Ich meinte, auch wenn er die Todesstrafe nicht abschaffen könne, so könne er doch Stellung beziehen und auf die Gouverneure Einfluß nehmen.
Rafa meinte - ebenso wie wir anderen -, die Moral könne sich in einer Gesellschaft schwer durchsetzen, da die Menschheit zu einem wesentlichen Teil noch immer auf Steinzeitniveau funktioniere. Iro konnte hierzu ergänzen, er habe aus Eifersucht einen Menschen umgebracht. Das sei als Affekttat gewertet worden; sicher hätten auch hier steinzeitliche Mechanismen gegriffen.
Rafa meinte, durch den technischen Fortschritt hätten wir uns so weit von unseren Ursprüngen entfernt, daß wir gar nicht mehr in der Lage seien, ohne unsere Errungenschaften zu überleben:
"Wenn dich jemand ohne Kleider, ohne alles auf einem Berg aussetzt, bist du nach ein paar Tagen tot. Spätestens am zweiten Tag hast du eine Lungenentzündung ... und versuche mal, die da draußen zu überleben. Du kannst dich nirgends ausruhen, nirgends aufwärmen ..."
Iro und Anwar meinten, es sei durchaus möglich, in der Wildnis zu überleben, wenn man wisse, wie.
"Ja, wenn man eine Survival-Ausbildung hat, dann vielleicht schon", gestand Rafa zu. "Sonst aber nicht."
Ich erzählte von der jungen Juliane Koepcke, die 1971 als einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes durch den südamerikanischen Dschungel irrte und nach fast zwei Wochen eine menschliche Siedlung erreichte.
Iro erzählte von den Möglichkeiten, zu jagen und Feuer zu machen, eine Hütte zu bauen und Früchte und Pilze zu sammeln. Man müsse halt wissen, was man essen dürfe und was nicht. Man sei wieder das, was unsere Vorfahren vor Jahrzehntausenden gewesen seien - Jäger und Sammler.
Wir unterhielten uns über Fortschritt. Rafa meinte, eigentlich müßte man uns vieles wegnehmen, was wir eigentlich nicht brauchten, wie Telefone und Autos. Er träume davon, in der Antike vorbeizuschauen und Homer zu treffen. Ich meinte, die Welt sei damals nicht so leicht zu bereisen gewesen wie heute, und Menschen seien so schwer zu finden gewesen, daß es unwahrscheinlich sei, daß er ausgerechnet Homer treffe.
Wir kamen auf Experimente zu sprechen, mit denen die Menschheit sich selbst gefährden könnte. In den Medien wird die Ansicht verbreitet, die in der Schweiz begonnenen Versuche, Schwarze Löcher herzustellen, könnten zum Weltuntergang führen. Rafa bemängelte, daß wieder einmal niemand gefragt worden sei. Einige wenige hätten über die Durchführung dieser Experimente entschieden, und niemand könne sie daran hindern. Andererseits sei ein Schwarzes Loch vielleicht eine interessante Erfahrung für die Menschheit. Es könne doch sein, daß man in das Schwarze Loch hineinfliege und dort Prominenten aus der Geschichte begegne, die Zungenküsse austauschten. Da sei doch alles möglich. Er könne sich jedenfalls nicht vorstellen, daß die Erde zu einer Kugel von zwei Zentimetern Durchmesser zusammengepreßt werden könne.
Anwar meinte, in einem Atom sei zwischen den Teilchen, aus denen es bestehe, ziemlich viel Platz; er denke schon, daß die Erde beträchtlich zusammengepreßt werden könne.
Rafa meinte, wir Menschen seien fremdgesteuert, auch durch das Fernsehen. Die Menschen würden sich ins Fernsehen flüchten, und da werde auf allen Kanälen so gut wie nur Negatives gezeigt - Attentate, Naturkatastrophen und dergleichen. So könnten die Menschen keine positive Lebenseinstellung entwickeln.
"Im Fernsehen läuft nicht nur Negatives", hielt ich dagegen. "Da gibt es Dokus, über Menschen, und Naturdokus ..."
"Wo laufen die denn?" fragte Rafa.
"Auf 3sat, auf den dritten Programmen, auf arte ..."
"Jaa, das ist für die Intellektuellen."
Es ging nun um den Komiker Mario Barth und Humor auf Stammtischniveau. Rafa schimpfte über die Auswüchse der Fernsehunterhaltung. Ich meinte, daß ich den minderwertigen Teil der Fernsehlandschaft nicht angucken muß, um darüber bescheidzuwissen; regelmäßiges Gucken von "Kalkofes Mattscheibe" genüge schon. Ich erzählte, daß ich gerne Kabarettsendungen anschaue wie "Scheibenwischer" und "Mitternachtsspitzen". Mario Barth hingegen fände ich langweilig. Die Herren meinten, den Humor von Mario Barth könne man wohl nur lustig finden, wenn man ihn brauche, um das eigene Leben zu vergessen. Ich meinte, mir sei mein Leben wichtig und mein Denkvermögen ebenso, also könnte mir der Humor von Mario Barth gar nicht gefallen.
"Kabarett ist für viele Leute zu anspruchsvoll", war der Konsens. "Dafür muß man sich auskennen und bestimmte Dinge aus dem politischen Tagesgeschehen wissen."
"Kabarett ist schon in den zwanziger Jahren vor allem etwas für die Intellektuellen gewesen", meinte Anwar.
Rafa kennt - und guckt anscheinend auch - "Scheibenwischer" und "Mitternachtsspitzen".
"'Mitternachtsspitzen' stehen noch weiter oben", meinte er. "Dafür muß man wirklich bescheid wissen. Und die haben einen bestimmten, punktgenauen Sarkasmus, den versteht nicht jeder."
Wir redeten über Staatsformen und daß es in der DDR keinen Sozialismus gab, sondern eine Oligarchie, ein totalitäres System.
Rafa meinte, das Geld sei es, worauf wir verzichten müßten, um friedlich miteinander zu leben:
"Wenn ich von dir eine Ziege bekomme und dir dafür dein Haus streiche, dann habe ich dich glücklich gemacht, das ist doch viel mehr wert als Geld."
Anwar hielt dagegen, Geld sei für ihn der Gegenwert der Arbeitskraft, und er wolle keine Naturalien, sondern er wolle selbst entscheiden, was er mit dem Geld mache.
"Was ist Arbeit denn noch wert?" fragte Rafa.
Er bemängelte, daß für viele Leute das Leben aus quälender Monotonie bestehe und sie mit Arbeit die beste Zeit ihres Lebens vergeudeten:
"Wenn ich das schon höre:
'Ich muß zur Arbeit!'
Warum mußt du das denn? Keiner muß das."
"Ich muß zur Arbeit, weil ich Verantwortung habe", erklärte ich.
"Was arbeitest du nochmal?" erkundigte sich Iro.
"Ich bin Psychiaterin", antwortete ich. "Wenn ich Nachtdienst habe, dann bin ich der einzige Psychiater im Krankenhaus, da muß ich anwesend sein."
"Akzeptiert", kam von Rafa.
Dennoch, so meinte er, sei das Leben vieler Menschen eintönig und trist. Ihm sei es lieber, Glück unter den Menschen zu verteilen als Geld:
"Wenn ich dich für eine Stunde glücklich mache, ist das doch viel mehr wert als Geld."
"Aber wenn du jemanden für eine Stunde glücklich machst und nimmst ihm danach das Glück wieder weg, ist er unglücklicher als zuvor", entgegnete ich.
"Das gilt nur für die Illusion", meinte Rafa.
Anwar, Iro und ich waren uns einig, daß man Glück nicht kaufen kann und nicht mit Geld aufwiegen kann.
Rafa meinte, es sei doch schlimm, daß viele Menschen ihrem grauen Alltag nur durch das Fernsehen entfliehen könnten. Sie müßten in einer Scheinwelt leben, um das wirkliche Leben ertragen zu können.
Als ich den Eskapismus in dem Internet-Phantasie-Universum "Second Life" ansprach, meinten die Herren, diejenigen, die davon gar nicht mehr wegkämen, für die sei "Second Life" zu einem Ersatz für die Wirklichkeit geworden. Rafa meinte, eigentlich sei "Second Life" schon das "Third Life". Das "Second Life" seien die täglichen Illusionen, die wir uns machten oder machen ließen.
Rafa wetterte gegen Hobbies. Er hasse Hobbies, weil da nur die Leute ihre Zeit mit sinnlosen Beschäftigungen totschlagen würden. Iro und Anwar meinten, auf sie treffe das nicht zu; das, was sie in ihrer Freizeit machten und was Rafa als "Hobby" betitelte, sei für sie ein wichtiger Teil des Lebens. Rafa meinte, solange man selbst aktiv sei, lasse er das hingehen; das sei besser, als sich berieseln zu lassen und Pornofilme zu gucken.
"Manche Leute haben Pornofilme als Hobby", erzählte ich.
Dabei dachte ich an Max.
Rafa meinte, eine berufliche Tätigkeit müsse schon sehr stupide sein, wenn man Hobbies zum Ausgleich brauche. Anwar meinte, seine kaufmännische Arbeit habe nicht unbedingt etwas mit Kreativität zu tun, dennoch sei er zufrieden damit.
Ich erzählte, daß ich neben meiner Arbeit so vieles habe und mache, daß die arbeitsfreie Zeit restlos ausgefüllt ist.
"Und, ist das hier dein Hobby?" fragte Rafa.
"Das ist mein Vergnügen", erklärte ich.
"Gut", fand Rafa.
Er setzte hinzu, vernünftig sei es nur, wenn man das, was andere als "Hobby" bezeichnen, zum Beruf mache - so wie er als freischaffender Künstler. Sonst sei das Leben doch nur fremdgesteuert, nicht selbstbestimmt.
"Die Freiheit, die ist mir am allerwichtigsten", betonte Iro.
Er sollte wissen, wovon er redete - mit seiner strafrechtlichen Vorgeschichte.
Rafa meinte, hierzulande habe man kaum noch Freiheiten.
"Doch, auf manchen Autobahnteilstücken gibt es kein Tempolimit", warf ich ein.
"Klar", sagte Rafa, "das machen sie, um uns einzulullen:
'Ihr dürft zwar fast nichts selber bestimmen, aber auf ein paar Autobahnkilometern dürft ihr 230 fahren.'
Da denken die Leute, solange sie das dürfen, haben sie Freiheit."
Rafa meinte, vielfach werde die Arbeit eines Menschen stark über- oder unterbewertet. Die Arbeit, die eine Klofrau mache, sei so wichtig, doch als Putzfrau sei sie in der Gesellschaft immer ganz unten.
"Prostituierte sind noch weiter unten", meinte ich.
"Hetty, das stimmt nicht", widersprach Rafa. "Die sind ganz oben."
"Äußerlich vielleicht", entgegnete ich, "aber die Prostitution selbst steht ganz unten in der Gesellschaft."
"Das sollte sie aber nicht", meinten die Herren. "Prostituierte werden dringend gebraucht, es ist ja nicht umsonst das älteste Gewerbe der Welt. Was meint ihr, wieviele Straftaten nicht passieren, weil jemand vorher den Weg zum Bordell gefunden hat?"
Rafa meinte, Prostitution sei leicht verdientes Geld:
"Ein bißchen Spaß haben reicht schon."
Anwar entgegnete, er habe noch nie von einer Prostituierten gehört, die Spaß an ihrem Job hatte. Das Geld nur sei es, was Frauen in diesem Job halte.
Rafa meinte, wenn man tagaus, tagein einer stumpfsinnigen, monotonen Tätigkeit nachgehen müßte, würde man verblöden.
"So einen Job kann man nur wechseln oder gar nicht erst annehmen", meinte ich. "Meinen Beruf erlebe ich als Berufung."
"Dann ist sie schon mal 'raus", sagte Rafa und meinte damit, daß ich - im Gegensatz zu anderen - nicht das Gefühl haben müßte, etwas zu tun, hinter dem ich nicht stehe.
Iro erzählte, er wolle die Menschen ändern. Rafa fragte, wie er das denn bewerkstelligen wollte:
"Bist du schon in eine Partei eingetreten?"
Iro meinte, wenn man wirklich etwas ändern wolle in der Gesellschaft, sei das nur durch radikale Methoden möglich.
"Die Welt soll menschlicher werden", sagte Rafa, und ich mußte daran denken, wie lieblos, treulos, verantwortlungslos und gewalttätig er sich seinen Freundinnen gegenüber verhält. "Die Amerikaner machen wenigstens was, egal ob das nun gut oder schlecht ist - immerhin, sie machen was. Und wir hier ... fahren mit einer Rakete auf einer Landstraße."
Ich hielt dagegen, es sei doch ein Unterschied, ob etwas Gutes oder Schlechtes die Folge sei.
Rafa meinte, am besten wäre es, wenn die Menschen so überwacht würden, daß sie nichts Unmoralisches mehr tun könnten. Er setzte hinzu:
"Oder, um es mit Plastik zu sagen:
'Völlerei wird in keinster Weise geduldet.'
Das hat Dari auch in ihrem Profil stehen."
Darienne aka "Dari" aka "Plastik" ist fixiert auf größtmögliche Magerkeit und stellt das in ihren Internet-Auftritten auch zur Schau. Ob sie eine Eßstörung hat, konnte nie eindeutig bewiesen oder widerlegt werden.
"Jetzt sind wir natürlich im Bereich der Plattitüden angekommen", meinte ich zu Rafas Äußerungen über Darienne. "Ich denke, die Zusammenhänge sind zu komplex, als daß man ihnen mit Plattitüden gerecht wird."
Rafa predigte, die Welt sei nur zu bessern, wenn man alle Menschen umbringe, die seinen Vorstellungen von einer "besseren Welt" im Wege stünden:
"Alles ab ins KZ!"
"So haben die Nazis das auch gemacht", wandte ich ein. "Mord ist kein politisches Mittel."
"Oh doch, sicher", beharrte Rafa.
"Hast du schon einen Mord begangen?" fragte ich ihn.
"Ich würde sogar sagen, die Leute, die in der Gesellschaft nur Ballast sind, sollten sich selbst umbringen", lenkte Rafa ab. "Selbstmord ist ein politisches Mittel."
"Selbstmord ist meistens die Folge eines Selbstwertproblems", erklärte ich. "Viele bringen sich um, weil sie ein Selbstwertproblem haben."
"Wer erkennt, ich bin nur Ballast für die Menschheit, der sollte so konsequent sein, sich umzubringen."
"Das ist eine narzißtische Neurose, eine narzißtische Persönlichkeitsstörung."
Rafa schien zu verstehen, was ich damit sagen wollte, und sagte in den Raum hinein:
"Eine narzißtische Persönlichkeitsstörung ist doch gar nicht so schlecht. Einer muß doch bereit sein, auf der Bühne zu stehen und Show zu machen, damit die anderen jemanden haben, den sie bejubeln können."
"Das ist richtig", bestätigte ich. "Neurosen haben durchaus ihren Nutzen."
Ich frage mich, ob Rafa sein eigenes narzißtisches Störungsbild als solches erkennt.
Narzißmus ist nicht gleichbedeutend mit Selbstliebe. Narzißtisch gestörte Menschen haben ein vermindertes Selbstwertgefühl und setzen sich absichtlich in Szene, um dies zu überdecken. Sie fallen auf als Selbstdarsteller und Blender. In Berufen, bei denen man auf der Bühne stehen muß, können solche Eigenschaften hilfreich sein. Allerdings haben sie auch eine Schattenseite. Narzißtisch gestörte Menschen verhalten sich oft herablassend und arrogant und entwerten andere Menschen, um sich selbst dadurch wertvoller und wichtiger zu fühlen.
Wie Rafa es aufnahm, als Iro gedankenverloren den Undercut über meinen Ohren streichelte, wird man nicht erfahren, dank Rafas Pokerface.
Anwar betonte, wie begeistert er von diesem Gespräch sei. Er stieß mit mir an - er mit Bier, ich mit schwarzem Tee. Alle stießen miteinander an, nur Rafa, der schien partout nicht mit mir anstoßen zu wollen. Im Laufe des Gesprächs wiederholte sich das; Rafa wich mir aus. Er näherte sich mir nur, wenn er abaschte.
"Also, ich bin jetzt siebenunddreißig Jahre alt, und ich sehe zu, daß ich mein kurzes Leben so viel wie nur möglich genieße", meinte Rafa, unentwegt rauchend. "Mit Saufen und F... - Was hat das Leben denn sonst für einen Sinn?"
"Der Sinn des Lebens ist Leben", meinte Anwar.
Ich unterhielt mich mit Anwar über Suchtkrankheiten. Ich erzählte, daß durch den regelmäßigen Konsum eines Suchtmittels die Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit eines Menschen herabgesetzt wird. Die Rezeptoren, die für das Empfinden, Erleben und Genießen verantwortlich sind, werden weniger, wenn durch das Suchtmittel immer wieder ein vorgetäuschtes Glück bereitgestellt wird. Verzichtet man auf das Suchtmittel, dauert es eine Weile, bis die Rezeptoren wieder zahlreicher werden, und um diese Phase des Unglücklichseins zu überstehen, braucht man viel Frustrationstoleranz.
Anwar fragte mich, wie man sich das Rauchen abgewöhnen könne. Ich antwortete, vielen gelinge es, einfach vom einen zum anderen Tag aufzuhören. Ansonsten sei die aktuelle Empfehlung das Nikotin-Pflaster.
"Weißt du ein Rezept", fragte ich Rafa, "mit dem man einem Raucher das Rauchen abgewöhnen kann?"
"Es ist erstmal die Frage, warum er raucht und ob er aufhören will", erwiderte Rafa.
"Ich gestehe zu, wenn ich einem Raucher das Rauchen abgewöhnen will, ist das nicht ohne Eigennutz", erklärte ich. "Einem Menschen dabei zusehen zu müssen, wie er sich langsam, aber sicher suizidiert, ist gewissermaßen anstrengend."
"Los, Hetty, rauch' doch erstmal eine", sagte Rafa gönnerhaft und hielt mir die Schachtel entgegen.
Ich lehnte freundlich ab.
Das Gespräch ging mit anderen Themen weiter. Irgendwann kamen wir auf Katzen zu sprechen.
"Hast du Katzen?" fragte Anwar mich.
"Ja", antwortete ich, "zwei Stück."
Rafa hat meinen Kater Bisat noch gekannt. Er wird sich wohl denken können, daß es in der langen Zeit, die er nicht mehr bei mir gewesen ist, eine "Neubesetzung der Katzen-Stellen" gegeben hat.
Anwar ging kurz vor drei Uhr morgens nach Hause und sagte zu Rafa, er werde sich ein Taxi nehmen, das sei schon in Ordnung.
Lemmy, der am Nebentisch saß, nahm jetzt an dem Gespräch teil und philosophierte mit.
Es ging um die Gesellschaft und gesellschaftliche Mißstände. Schließlich ging es auch um die Resozialisierung von straffälligen Jugendlichen. Rafa war gerade vorne bei Bibian zum Bezahlen, als ich von einem Gutachten-Patienten erzählte, der ein langes Strafregister hatte:
"Der hat erzählt, er ist mal bei so einem Resozialisierungs-Ding gewesen, Kanufahren in Kanada. Er hat gemeint:
'Das war so schön, ich wäre am liebsten immer dageblieben! Ich bin in vier Häuser eingestiegen!'
So viel zu dem Erfolg von Resozialisierungs-Camps.
'Alles war so toll, ich bin in vier Häuser eingestiegen!'"
"So, ich werde jetzt in vier Häuser einsteigen", meldete sich Rafa, der in den Gastraum zurückgekommen war, "ich fahre nämlich jetzt nach Hause und lege mich ins Bett. Tschüß, und macht's gut."
Er winkte und ging. Mindestens fünf Bier hatte er getrunken, aus Halblitergläsern, und jetzt fuhr er mit dem Motorroller. Er schien davon auszugehen, daß Polizeikontrollen in der Altstadt von SHG. an einem frühen Freitagmorgen eher selten vorkamen.
Es gibt Nachrichten aus dem Freundeskreis. Kurt berichtete am Telefon, daß am 16. September seine dritte Tochter Solveig das Licht der Welt erblickt hat. Er freue sich, eine Frau wie Cecile zu haben. Sicher, es gebe Konflikte in jeder Ehe, doch man könne sich letztlich immer einigen. Cecile werde in zwei Monaten wieder arbeiten, in ihrem Beruf als Sonderschullehrerin, in Teilzeit. Er werde ein Jahr Elternzeit nehmen. Finanziell ändere sich wenig.
Sarolyn berichtete, dass ihr Jüngster mit seinen acht Monaten seine ersten Schritte macht und "Mama" sagt. Sie arbeitet wieder, stundenweise, in der Apotheke, wo sie damals ihre Ausbildung gemacht hat. Das Arbeiten mache ihr viel Spaß. Sie habe wieder das Gefühl, etwas "Sinnvolles" zu tun - wobei ihr klar sei, daß Kindererziehung auch etwas Sinnvolles sei.
In der Samstagnacht war ich im "Zone". In der Lounge bestellten Minette, Malvin und ich bei Barmixer Jo-Jo jenen sagenhaften Cocktail, der wie ein ganzer Obstgarten schmeckt. Das Rezept hatte ich mir gemerkt und es für Minette aufgeschrieben, die es nun auch für Jo-Jo aufgeschrieben hatte, weil der sich an sein eigenes Rezept nicht mehr erinnern konnte; er hatte einfach zusammengemixt, was ihm in den Sinn kam.
Zu den heutigen Tanzboden-Hits gehörten "Mr. Sister" von 100 Blumen, "Smack my Bitch up" von The Prodigy, "Bind, Torture, Kill" von Suicide Commando und eine im "Zone" bereits sehr beliebte Mischung aus Industrial-Power-Elektro und mittelalterlichem Gesang: "Disko Palästina" von Qntal vs. Monolith.
Heather erzählte von ihrer Zuckerkrankheit, die sich wegen ihres Übergewichts entwickelt hat. Ihre Mutter habe ebenfalls ein gestörtes Eßverhalten, rauche wie ein Fabrikschlot und verletze sich mit ihrem Fingernägeln selbst. Sie erhalte Frührente. Heather und ihre Schwester fragten sich, wie lange die Mutter mit ihrem Lebensstil noch durchhalte.
Chrysa traf ich heute auch. Ich erzählte ihr von meiner Neigung, mir Sorgen zu machen, wenn ich mal nichts finde, das mir Sorgen macht:
"Du weißt doch, wie das ist, wenn die Tasche sich zu leicht anfühlt? Man denkt immer, man hätte was vergessen. Und so ist das bei mir, wenn mein Leben sich zu leicht anfühlt. Ich denke dann immer, da kann doch etwas nicht stimmen, und dann suche ich nach einer Bürde, die ich mit mir herumschleppen muß."
Chrysa meinte, sie kenne das auch von sich. Sie neige ebenfalls dazu, sich über das eine oder andere zu viele Gedanken zu machen.
Einen Freund hat Chrysa zur Zeit nicht, in ihrem Job ist sie aber zufrieden.
Am Sonntag war ich zum Kaffee bei Constri. Ich stellte fest, daß man der fünfjährigen Denise schon Telefonnummern diktieren kann. Sie versteht sogar "neue Zeile". Nur wenige Ziffern schreibt sie noch spiegelverkehrt.
Constri erzählte von einer befreundeten Familie, die bei uns im Viertel wohnt. Wir kennen sie seit Kindertagen. Das Ehepaar Reto und Ragna war seit fast vierzig Jahren verheiratet, als Reto seine Jugendiebe wiedertraf und für sie seine Frau verließ. Die gemeinsamen Kinder waren zu dieser Zeit längst erwachsen. Ragna zog in eine Wohnung in der Nähe des Hauses, wo sie mit Reto jahrzehntelang gelebt hatte. Inzwischen wurde Reto von seiner Jugendliebe verlassen. Nun wollte er die Ehe mit Ragna wieder auffrischen, doch Ragna erteilte ihm eine klare Absage.
Constri ist im Juli mit Denise in FR. und Umgebung gewesen, wo mehrere Verwandte von uns leben. Sie zeigte mir beim Kaffeetrinken Foto- und Filmaufnahmen von dieser Reise: sonnige Spielplätze, Denise im weißen Rüschenkleid, Denise bei einem Probedreh auf der großen Burgruine bei EM. Mit Jay, dem dreieinhalbjährigen Sohn unserer Cousine Vivien, versteht Denise sich gut. Die Kinder fanden für ihre gegensätzlichen Vorlieben gemeinsame Nenner: Beide bauten Einfriedungen, Jay für seine Autos und Denise für ihre Tiere und Puppen. Das Planschbecken war für beide attraktiv.
Vivien erwartet ein Schwesterchen für Jay. Es soll im Oktober zur Welt kommen.
Am Sonntagabend habe ich Folgendes geträumt:

Mein Vater und ich waren auf der B83 unterwegs, um meinen frisch reparierten Wagen zu testen. Mein Vater saß am Steuer. Rechts von uns, in Höhe der Ausfahrt Bkb.-Mitte, lag eine Katze auf dem Standstreifen. Um sie herum war eine Gruppe von Katzen versammelt, die sich um sie bemühten, ungefähr acht Katzen. Die Lebensgeister kehrten in die hingestreckte Katze zurück, sie bewegte sich.
Etwa einen Kilometer weiter lag links von uns auf dem Standstreifen ein Mensch, der wurde von einem anderen mit einem Ambu-Beutel beatmet. Um die beiden standen noch mehr Leute herum.
Meinen Vater interessierte das alles nicht. Ihn interessierte nur, ob der Wagen anständig funktionierte.
Ich war froh, daß die Geschöpfe auf den Standstreifen bereits versorgt wurden.

Tatsächlich hat mein Vater viel Empathie für Autos. Zu Menschen und Tieren hat er weniger Bezug.
Ende September war ich im "Cold Flame" in HH. Das ist ein kleiner Club im Gebäude einer großen Veranstaltungshalle. Die kalifornische Band Mêlée trat heute Abend hier auf. Das "Cold Flame" ist schick, frisch renoviert, mit viel Schwarz und Rottönen und indirektem Licht. An einer Wand leuchtete eine roséfarbene Neonröhre in Gestalt einer stilisierten Flamme, das Clubwahrzeichen. Rings um die Tanzfläche, die sich vor der Bühne befindet, gibt es Tische. Links von der Bühne gibt es Stufen, und man kann sich erhöht an Tischchen setzen, auf Polsterbänke und Sessel. Die Bühne ist niedrig, eine Trennung von Publikum und Musikern gibt es kaum bis gar nicht, es gibt auch keine Security-Leute, die neugierig in den Taschen der Gäste herumwühlen.
Während die Vorband spielte, nahm ich einen Zettel und holte Notizen nach, zu denen ich in den letzten Wochen nicht gekommen war.
Die Musiker mußten durchs Publikum zur Bühne gehen, denn die Bühne hat keinen eigenen Zugang - noch ein Kriterium, das das "Cold Flame" zu einem "richtigen" Club macht.
Mêlée präsentierten sich als das, was ich schon auf Fotos und Videos gesehen hatte - "große Jungs". Sie trugen fransige Frisuren und schlichte, legere Kleidung. Sänger Chris C. hatte ein weißes T-Shirt an, auf dem untereinander die Worte standen:
"Deep down inside"
Der Club war nicht voll, doch die Leute, die da waren, wirkten begeistert. Chris rief die Leute auf die Tanzfläche, vor die Bühne. Ich ging mit und stellte mich in die zweite Reihe.
Chris hüpfte herum und meinte, die Leute im Publikum sollten auch tanzen. Ein Gast in T-Shirt und Jeans hüpfte fast die ganze Zeit herum, und Chris meinte, so sei das richtig.
"You are the star", meinte der Gast.
"No", widersprach Chris. "Today you're the star."
Ich tanzte nicht; für mich ist die Musik von Mêlée zum Hören, aber nicht zum Tanzen geeignet.
Chris stellte seine Bandmitglieder vor: Ricky als Gitarrist, Ryan als Bassist, Mike als Schlagzeuger. Ryan stellte Chris vor, sagte aber nicht, was Chris für Funktionen hat.
Offenbar ist Chris der Kopf der Band, der Initiator. Er singt, spielt Klavier und zwischendurch auch Gitarre. Chris wirkte extravertiert, die anderen wirkten eher ruhig und zurückhaltend. Ricky hatte seinen wichtigsten Auftritt, als es um das Stück "The biggest Mistake" ging. Chris und Ricky erzählten die Geschichte einer Mesalliance. Ricky hatte etwas mit einem Mädchen angefangen, das sich - so wurde berichtet - als geisteskrank erwies. Es soll sich auf einer Geburtstagsfeier reichlich merkwürdig verhalten haben.
Auch andere Stücke handelten von mehr oder weniger glücklichen Beziehungen. Ein Stück von den ersten Album der Band - "the first of many", wie Chris anmerkte - hatte den charmanten Titel "Halt's Maul und hau ab!" - "Shut up and leave me alone!".
Chris erzählte vom "SeaWorld" in San Diego und empfahl allen, dorthin zu gehen; man müsse das gesehen haben.
Chris erzählte außerdem, am Vortag sei man gemeinsam in M. auf dem Oktoberfest gewesen. Dort habe man ziemlich heftig gefeiert.
Als der Radiohit "Built so last" an die Reihe kam, hatte Chris schon fast keine Stimme mehr. Er verspielte sich, hatte einen Fuß auf dem elektronischen Klavier und die Mineralwasserflasche am Hals. Es kam mir vor, als wenn diese kindlich-alberne Attitüde es ihm leichter machte, dieses sehr emotionale Stück vorzutragen, ohne von Emotionen überwältigt zu werden. Mir jedenfalls half es dabei, das Stück live anzuhören.
Das Publikum sang mit, ich auch. Zugaben wurden lebhaft verlangt. Nach den ersten Zugaben marschierte die Band ab. Nur Chris blieb auf der Bühne. Er meinte, hier könnten die Musiker nicht einfach so verschwinden, da es keinen rückwärtigen Bühnenausgang gebe.
"I'm stuck here", beschrieb er seine Lage am Keyboard. "It's a trap. I must stay here and play music."
Chris sang allein eine Ballade, danach kamen die anderen zurück, und es ging weiter.
Chris trank irgendetwas; ich weiß nicht, was. Jemand aus dem Publikum rief:
"It's bad for your voice!"
Chris entgegnete:
"I'll do it anyway."
Nach mehreren Zugaben marschierten alle von der Bühne, zuletzt Chris, der sich gleich unters Publikum mischte. Er schüttelte Hände und grüßte die Leute. Er hob die Rechte und schlug sie gegen die erhobene Rechte der Leute, die ihn grüßen wollten. Ich grüßte Chris ebenso und sagte etwas verhalten, aber bestimmt zu ihm:
"It was great. You are great."
"Oh, thank you so much", kam es von ihm.
Weil Chris von mehreren Leuten umarmt und gedrückt wurde, umarmte ich ihn ebenfalls und sagte zu ihm:
"Bye bye and see you next time."
Viele Leute brachten ihm CD-Booklets und Poster, die er signierte. Die anderen Bandmitglieder bewegten sich ebenfalls im Publikum; Ricky ließ sich Arm in Arm mit einem Mädchen fotografieren. Am Merchandize-Stand entdeckte ich viele unterschiedlich bedruckte T-Shirts, jedes mit einem anderen phantasievollen Motiv. Sie waren nicht tourgebunden. Ein T-Shirt, das mit dem Foto eines elektronischen Klaviers bedruckt ist - durch Kontrastverstärkung entfremdet und rosa gefärbt - nahm ich und dazu die aktuelle CD "Devils & Angels", die es zusammen mit dem T-Shirt im Angebot gab.
Chris war immer noch mit Signieren und Gesprächen beschäftigt. Eben kam die Schlange zum Ende, als ich ihm das Booklet von "Devils & Angels" reichte.
"If you want you can write something", meinte ich, "no matter what."
"Oh, yes!" rief er, und das hörte sich seltsam an - gerade, als hätte er darauf gewartet. "What's your name?"
"Hetty."
Er schrieb:
"Hetty, I love you! Chris"
"I love you" wird er wahrscheinlich schon Hunderten von Konzertbesuchern auf Booklets und Poster geschrieben haben. "I love you" heißt auf Amerikanisch ungefähr so viel wie "Hallo". Das macht es freilich für Amerikaner schwierig, anderen Menschen glaubhaft ihre Liebe zu gestehen, wenn es mal nötig sein sollte.
"How long do you exist?" erkundigte ich mich. "I mean the band - how long does it exist?"
"About five years."
"And before, you've made music as well?"
"I know Ricky and Ryan for a long time."
"Ten, fifteen years?"
"Fourteen years."
"Oh, I was good. You know them from school?"
"Yes."
"You're schoolfriends."
"Yes, we were boys ... and we still are boys."
"Yes!"
"We were small boys, and now we are big boys."
"Oh yes", nickte ich. "What is your profession? Do you have another profession, or are you just musician?"
"I'm just musician."
"I'm psychiatrist", erzählte ich. "That's nearly the same."
"Oh ... yes", kicherte Chris.
"On your homepage I saw the Video 'Imitation'", erzählte ich. "I like it."
"Oh, I like it, too."
"It's a bit darker than the others."
"I like dark", betonte Chris. "It's different from the others ... we did more animations."
Mit den Armen beschrieb Chris animierte Bewegungen, wie sie in dem Video vorkommen.
"I like your foto series with those ornaments", setzte ich hinzu, "with black shirts and those ... Nadelstreifen. We call it 'Nadelstreifen'."
Ich zeigte auf die Nadelstreifenrüsche an meinem Rocksaum.
"In the clubs I use to go", fuhr ich fort, "people wear many black things. You see, I'm myself pretty dark."
"Oh, I like dark."
"I'm a dark person."
"In a way I'm dark as well."
"I usually dance at electronic industrial, power electro, power hardcore electro and brutal hardcore electro. The music you make is a nice contrast."
"Oh, thank you."
"I think life would be a bit poor without contrasts", meinte ich, und er nickte dazu. "I think contrasts are important. The music you make inspires me."
"Oh, yes?" strahlte Chris.
"In my free time I'm writing, writing, writing, writing and writing", erzählte ich. "Accidentally I heard 'Built to last' on repeat. After twelve hours a new chapter of my novel was ready ..."
"Oh, thank you so much."
"I had so much fun while writing ... it was wonderful ... It's an experience."
"Oh, thank you ... it's so nice to meet you."
"To me, too!"
Mit Lächeln und Händeschütteln verabschiedeten wir uns:
"See you next time."
"See you next time."
Das Video zu "Imitation" arbeitet mit Motiven, die an Vampirgeschichten erinnern: flatternde Schleier, viel Schwarz, ein Ballsaal.
Daß ich den Musikern von Mêlée jemals wieder in einem kleinen Club begegnen werde, ist unwahrscheinlich, weil sie so weit weg wohnen. Würden sie aus der norddeutschen Provinz stammen, wäre es viel wahrscheinlicher. Sie wohnen jedoch am anderen Ende der Welt. Entweder die Band verschwindet in der Versenkung - und "Built to last" bleibt ein "One Hit Wonder" -, dann wird sie in Deutschland wahrscheinlich überhaupt nicht mehr auftreten. Oder die Band wird dauerhaft bekannt - dann spielt sie nicht mehr in kleinen Clubs, sondern weit weg vom Publikum, in großen Hallen.
Am letzten Samstag im September gab ich die diesjährige Grill-, Federweißer- und Zwiebelkuchen-Party. Fani - den ich noch aus dem "Elizium" kenne - erzählte Neuigkeiten von einer zerbrochenen Familie in unserem Bekanntenkreis. Es handelt sich um Janssen, dessen ehemalige Lebensgefährtin Viridiana und die beiden gemeinsamen Kinder. Janssen ist schon vor mehr als zehn Jahren durch seine Untreue aufgefallen. Zugleich betonte er, wie wichtig ihm seine Familie sei. Nach ihrer Trennung von Janssen zog Viridiana mit den Kindern in ihre Heimatregion. Viridiana und Fani kommen aus derselben Gegend, weit im Osten der Republik. Viridiana wohnt jetzt mit ihren Kindern in einem Mehrfamilienhaus, in dem auch Fanis Eltern wohnen. Viridiana läßt Janssen durch einen Anwalt suchen, weil Janssen seiner Unterhaltspflicht für die Kinder nicht nachkommt.
Über Viktoria - eine von Rafas früheren Liebschaften - berichtete Fani, die lebe mittlerweile in der Schweiz und habe eine unglückliche Beziehung hinter sich.
Merle hat eine Ausbildung zur Callcenter-Telefonistin abgeschlossen und sieht sich nun mit schlecht bezahlten Jobangeboten konfrontiert.
Merle erzählte, daß ihre Tochter Elaine den heutigen Abend mit ihrer Freundin Jacy verbrachte. Über Elaines Freundin Tanee erzählte Merle, die sei psychisch labil und traumatisiert. Die Mutter von Tanee sei eine Zeitlang mit einem gewalttätigen Mann zusammen gewesen. Tanee sei außerdem vor einiger Zeit Opfer einer Vergewaltigung geworden.
Denise diktierte Constri, was diese ins Party-Gästebuch schreiben sollte:
"Die Seele ... die Seele ..."
Darunter malte Denise ein Bild, das auch als abstrakte Kunst durchgehen konnte.
Mein Friseur und alter Freund Henk erschien auf der Party mit einem Saufkumpan, der - wie viele Alkoholiker - glaubte, alles besser zu wissen, zum Glück aber nicht lange blieb. Er ist geschieden und hat zwei Kinder, die er regelmäßig sehen darf. Ein Sohn studiert in Kalifornien.
Henk, der es gewohnt ist, sich unter Alkoholikern und Drogenabhängigen zu bewegen, schien nicht damit zurechtzukommen, daß in meiner Partygesellschaft Suchtmittel aller Art eine untergeordnete Rolle spielten. Geraucht wurde wenig, gekifft gar nicht, getrunken nur mäßig. Als ich sah, wie Merle fröhlich lachte, erinnerte ich mich, daß ich Henk auch schon so habe lachen sehen, allerdings hatte er da gekifft. Ich schlug vor, daß ich Henk einen Joint bauen könnte, sofern er Haschisch dabeihatte. Ja, Haschisch hatte er dabei, doch fehlten ihm die Blättchen. Darüber regte er sich so auf, daß er nach Hause fuhr.
Anfang Oktober war ich mit meiner Kollegin Mina und ihrem Lebensgefährten Arnon im "Interface". Das italienische Bistro "Interface" liegt bei mir schräg gegenüber und wird immer mehr zum kultigen Geheimtip. Man kann dort stundenlang sitzen, ohne daß aufgeregte Thekenkräfte mit dem Handtuch herumwedeln. Es ist ein echter Treffpunkt für jeden Tag, ein ausgelagertes Wohnzimmer. Es hat rund ums Jahr täglich geöffnet.
Mina findet im "Interface" besonders die Nudeln und die Amarettini lecker. Das "Interface" ist behindertengerecht, was Mina entgegenkam, die sich im Rollstuhl bewegt, nachdem ihr ein Bein abgenommen wurde. Mina erzählte nicht mehr davon, wieder arbeiten gehen zu wollen; ihr ist wohl klar geworden, daß sie das nicht mehr kann. Sie ist froh, daß sie mittlerweile ohne Schmerzmittel zurechtkommt. Neulich hat Mina ihre Schwester Brigida wiedergetroffen. Man rückt enger zusammen, auch wegen Minas Tumorleiden.
Mina erzählte, sie sei froh, daß sie 2004 kurz vor dem Beginn ihrer Krankheit eine Reise nach Mexiko gemacht hat, die ihr sehr viel bedeutete. Ihr damaliger Lebensgefährte hatte Verbindungen nach Mexiko durch seine Berufstätigkeit bei VW.
Mina meinte, hätte sie noch einmal von vorne leben dürfen, hätte sie zwar auch Medizin studiert, aber den Schwerpunkt mehr auf das Geschäftliche gelegt. Sie hätte sich gewünscht, im Business-Look in der Business-Welt unterwegs zu sein und um die Welt zu reisen. Ich meinte, ihre schmeichelnde, legere Garderobe stehe ihr hervorragend - und wahrscheinlich besser als der steife Business-Look. Mina erzählte, sie habe durchaus Sachen im Business-Stil, und sie gefalle sich darin.
Ich meinte, der Beruf, den ich gewählt hätte, sei von Anfang an der einzig Richtige für mich gewesen, auch wenn er nicht so gut bezahlt werde wie die eine oder andere Management-Tätigkeit. Mit Geld als Beruf könne ich mich nicht anfreunden; mir gehe es immer nur um Menschen. In dem Film "Die Physiker" nach dem Theaterstück von Dürrenmatt hat Therese Giehse in ihrer Rolle als Psychiaterin gesagt:
"Wir Irrenärzte sind doch alle hoffnungslos romantische Philantropen."
Dieser Satz treffe durchaus auch auf mich zu.
Mina redete von weiten Reisen und malte sich aus, im nächsten Frühjahr mit Arnon einen Trip nach New York zu unternehmen. Ich empfahl ihr, alle Reisen, die ihr wichtig seien, so schnell wie möglich zu machen, um dem Voranschreiten ihres Tumorleidens zuvorzukommen. Mina hielt dagegen, daß es im Winter in New York sehr kalt sei. Davon hatte ich auch schon gehört. Eine New Yorkerin - Evangeline - hat mir das in den achtziger Jahren erzählt: Der Wind schieße zwischen den Wolkenkratzern hindurch. Fast alle Menschen in New York hätten im Winter lange schwarze Mäntel an, weil die am besten wärmten. Unter der Hose müsse man eine lange Unterhose oder eine Strumpfhose tragen.
Azura hat sich neulich erkundigt nach biografischen Einflüssen in den Geschichten, die ich verfasse. Dazu mailte ich:

Schön, daß dir die Stories auf netvel.de gefallen. Biografische Einflüsse gibt es in meinen Stories immer.

Azura schrieb, sie fühle sich erschöpft und niedergeschlagen. Auf der Arbeit habe sie zusätzliche Aufgaben bekommen, im Zusammenhang mit einer klinischen Studie.
Azura erzählte von Sidon, der wolle mit seiner jetzigen Lebensgefährtin und seiner Tochter aus früherer Beziehung in ein Hausboot in HH. umziehen. Azura befürchtet, Sidon nach seinem Umzug kaum noch zu sehen. Sie schrieb:

Obwohl wir beide einen Partner haben, ist das zwischen uns schon mehr als "nur" eine Freundschaft. Er ist mein Seelenbruder und der Mann, den ich niemals haben kann, und ich wäre wohl die Frau, die er vergeblich in jeder anderen sucht. Aber eine Beziehung zusammen würde nicht funktionieren, deswegen sind wir nur innige Freunde geworden.

Azura erzählte, daß sie unter einem Pseudonym einen Internet-Blog führt und die Namen der Personen verändert, die darin auftreten - so ähnlich, wie ich es in meinem Fortsetzungsroman "Im Netz" tue. Azura nimmt an, einige Leute wären wütend oder beschämt, wenn sie herausfinden würden, was sie über sie denke.
Als ich erzählte, daß die Band Mêlée dem Oktoberfest einen Besuch abgestattet hat, erzählte Azura - die in M. lebt -, daß sie gewöhnlich jedes Jahr an einem Nachmittag mit ihren Kollegen zum Oktoberfest geht. Einmal sei sie auch mit ihrem Bruder auf dem Oktoberfest gewesen, in einer Art Illusions-Kabinett:

So ein Wandelhaus im LSD-Rausch-Style, wo man eine Prismenbrille aufbekommt und dann im Dunkeln durch so Goa-Trance-artige UV-Malereien, fluoreszierende Schläuche, Lichter, Sterne, Discokugeln und Spiegel gehen muß. Das Beste war ein Gang, der nur voller eng herabhängender schwingender Plastikröhren mit verschiedenfarbigen LED's drin war, und als die alle blau waren und ich das mit Hunderten von regenbogenfarbigen Strahlen durch die Prismenbrille sah, wollte ich da nie wieder rausgehen :D

Platinum mailte:

Ich lese mal wieder in deiner Geschichte herum und wollte mich wieder melden :)
Ausschlaggebend war übrigens folgender hochinteressanter Absatz des 28. Kapitels:

Tricky versuchte, mir Rafa auszureden. Er meinte, es gebe doch so viele andere Männer, für die ich keine Augen hätte. Als ich ihm die Zusammenhänge erläutern wollte, unterbrach er mich und erhitzte sich darüber, daß ich lieber allein bleibe, als mit jemand anderem als Rafa zusammenzusein.
"Das ist immer dasselbe", erzählte ich Claudius später. "Eine bestimmte Sorte von Menschen regt sich grenzenlos darüber auf, daß ich Rafa treu bin. Dabei ist es gar nicht so, daß ich einen großen Leidensdruck an diese Menschen herantrage. Ich bleibe kühl, und die anderen kriegen sich nicht mehr ein. Die glauben sogar, ihre Argumente seien neu für mich, und sie würden mich damit wer weiß wie treffen. Das ist aber immer dieselbe Sorte von Menschen, die sich auf diese Weise aufregen. Häufig sind es Jungen, die im Geheimen für mich schwärmen, oder es sind Mädchen, die mich auf irgendeine Art verehren. Jedenfalls sind es Leute, die immer einen gewissen Abstand zu mir aufrechterhalten und sich nicht in meinen Bekanntenkreis einfügen, obwohl ihnen das angeboten wird. Meine Eltern bilden eine Ausnahme, die kennen mich näher, können meine Ansichten jedoch ebensowenig akzeptieren. All diesen Leuten ist gemeinsam, daß ich ihnen etwas vorzuleben scheine, das sie sich selbst nicht gestatten oder das sie sich nicht zutrauen. Sie ertragen es nicht, zuzusehen, wie ich gegen die ihnen vertrauten Regeln lebe. Ich scheine etwas in ihrem Weltbild durcheinanderzubringen. Es geht ihnen bei ihrer ganzen Aufregung nicht so sehr um mich als Mensch, als vielmehr um die Unordnung in ihrem eigenen Weltbild. Wenn ich irgendwen heiraten würde, den ich nicht liebe, der einfach nur äußerlich eine 'gute Partie' darstellt, fühlten sich alle augenblicklich sorgenfrei und erleichtert. Daß dieses scheinbare Glück nur eine Fassade ist, ein Kartenhaus - das zählt nicht."


Und dazu wollte ich dir meine Einstellung und Gedanken mitteilen.
Ich finde es genau richtig, was du machst bzw. wie du lebst. Ich verstehe dich, und ich könnte mich nur schwer darüber ereifern - wie anscheinend so viele andere -, dass du lieber allein bleibst, wenn du den Mann deiner Wahl (noch) nicht bekommst.
Ich denke, das liegt daran, dass du dich sehr viel mit Menschen beschäftigst und sie für dich daher unterschiedlicher sind als für andere. Sie können jemanden mit "irgendwem" ersetzen, du nicht.
Ich glaube, beides ist richtig in dem Sinne - jeder ist individuell, allein schon, weil keine 2 Leute an exakt demselben Platz zur selben Zeit sein können; andererseits sind wir aber in unserem Grundwesen alle gleich, da wir vom selben Schöpfer stammen (ja, ich glaube an Gott ;)).
Toll sind auch deine "SULO"-Comics, sehr kreativ *beifallklatsch*

Platinum erzählte von "Seelenbildern", die man bestellen kann:

Die Maler brauchen ein Bild von der Person, von der das Bild erstellt werden soll, es müssen die Augen gut zu sehen sein. Wenn ich mal genug Kleingeld über habe, möchte ich mir auch so ein Bild malen lassen. Vielleicht ist das ja auch was für dich - aber bei dir könnte ich mir fast vorstellen, dass du dein Bild selbst malen würdest ... obwohl ich auch wiederum denke, dass man das nicht kann, weil man ja nie den vollen Blickwinkel auf sich selbst hat. Aber vielleicht malst du ja mal von Rafa ein Seelenbild. Wäre sicher höchst interessant, ich hoffe, dir gefällt die Anregung. Vielleicht hast du es ja aber auch schon längst getan ...
Ich höre W.E schon länger nicht mehr wirklich, sie gefallen mir einfach nicht mehr so gut wie früher ... Man entwickelt sich eben, und W.E liegt jetzt hinter mir. Ich bin mittlerweile auch schon 29 Jahre und fast 3 davon verheiratet.

Ich schrieb:

Ja, so ist das, wenn man Ansichten vertritt, die nicht den allgemein üblichen Schemata entsprechen, wird man schnell zur Zielscheibe für Projektionen unterschiedlicher Art ... viel einfacher hat man es im Leben, wenn man sich in die vorgeformten gesellschaftlichen Schemata einfügt. Das kennst du ja aus deiner eigenen Erfahrung auch.
Schön, daß dir die Story und die anderen Sachen auf www.netvel.de gefallen und dir auch was sagen. Ja, ich hatte viiiel Spaß beim Herstellen der "SULO"-Comics! Das war richtig ein Stück Befreiung.
Ja, das mit den Seelenbildern ist interessant, auch die Homepage. Die Bilder, die dort gezeigt werden, sind sich freilich alle untereinander so ähnlich, wie die Menschen sich nicht sind.
Zum Seelenbild von Rafa: ja, ich habe 1993 im Auftrag einer Freundin für diese eine Skulptur geformt und mir absolut nicht vorgenommen, wie sie aussehen sollte. Und das kam dabei heraus:








Die Skulptur nannte ich "Der angekettete Verurteilte". Man könnte durchaus sagen, daß das ein Seelenbild von Rafa ist (nicht das einzige auf www.netvel.de, es finden sich noch mehr).

Über Rafas Band W.E schrieb ich:

Für die meisten Menschen, die Rafas Musik hören, bleibt das auf eine Phase ihres Lebens oder ihrer Entwicklung beschränkt; diese Musik gehört zu der Phase, wird nicht zum Evergreen, nicht zum Dauerbrenner. Das hat wohl damit zu tun, daß Rafa sich selbst nie über ein bestimmtes Level hinausentwickelt. Er findet nie den Weg zu seinen Gefühlen, nie den Weg zu innerer Reife.

Zu der Website eines Fotografen, die Platinum empfohlen hatte, schrieb ich:

Auf der Titelseite ist ein Bild aus einem Ballett zu sehen, das ich in H. im Opernhaus gesehen habe. Das mit den vielen schwarzen Ballons, die von einer Windmaschine immer wieder hochgewirbelt wurden, und dazwischen bewegten sich die Tänzer. Wahnsinn.

Es handelte sich um "Sweet Sweet Sweet" von Marco Goecke (der viele Jahre später durch einen Skandal zweifelhafte Berühmtheit erlangen sollte).
In einer E-Mail erzählte ich Berenice, daß Rafa beim diesjährigen W.E-Fanclubtreffen eine neue Freundin vorgestellt haben soll.
Außerdem erzählte ich von der Kurzgeschichte "Zwischenwelt". Sie ist ein Zusammenschnitt aus früheren Motiven des Romans "Wirklichkeit":

Es ging darum, das zu schreiben, was ich 1979 schreiben wollte, aber nicht konnte, weil ich zu kurz auf der Welt war, um die dafür nötige Erfahrung zu besitzen.
Wenn frühere Stories rekonstruiert werden, bedeutet das auch einen Abgleich, welche Träume man damals hatte, welche wahr geworden sind und was man sich damals wünschte und heute wünscht.

Berenice schrieb zu dem W.E-Fanclubtreffen, sie habe gehört, Darienne sei dort gewesen. Das würde allerdings nicht ausschließen, daß Rafa noch ein anderes Mädchen dabei hatte.
Am Freitagnachmittag fuhren Constri und ich nach Ht. zu Ted, wo wir unser Übernachtungsquartier aufschlugen. Ted erzählte von seiner Partnersuche in Single-Börsen im Internet. Zu seinem Schwarm Cary hat er nur noch losen Kontakt. So ernst ist es mit ihm dann doch nicht gewesen.
Ted erzählte von einer Fernseh-Doku über die Elektro-Wave-Gothic-Szene. Diese Kulturszene sei positiv dargestellt worden, nicht als schockierende Jugend-Subkultur, wie sie früher in den Medien beschrieben wurde. In der Fernseh-Doku kam eine Bekannte von Ted zu Wort, dreiundvierzig Jahre alt und Mutter. Sie sagte etwas, dem wir uns anschließen können: Es gebe viele Männer, die Frauen mit aufwendigem, erotischem Styling bewunderten und verehrten, die aber sich selbst mit ihrem Äußeren keine Mühe geben und einfach erwarten, daß die Frauen, für die sie sich interessieren, diesbezüglich keine Ansprüche haben. Wenn jedenfalls ein Mann an ihr Interesse habe, dann solle er sich auch Mühe geben, attraktiv zu wirken.
Abends fuhren Constri und ich zum "Maschinenraum"-Festival nach KR. "Nerd" Magnus kam mit. Es gefiel ihm, obwohl er noch nie auf einem reinen Industrial-Festival gewesen war. Gehörschutz wird auf dem Festival kostenlos verteilt, und der ist auch nötig. Trotz Rauchverbot wurde gequalmt. Magnus hatte aber eine Idee, wie er sich davor schützen konnte. Am Samstag ging er einfach mit Gasmaske hin, und er war damit nicht der Einzige, denn Gasmasken gibt es in der Cyber- und BDSM-Modewelt öfters, und diese Stylings finden sich auch auf Industrial-Veranstaltungen.
Max sagte am Freitagabend zu mir, das Kompliment müsse er mir heute machen, das Kleid, das ich anhatte, sehe an mir supergeil aus. Ich hatte das schwarze Lack-Kleidchen mit der weißen Spitze an. Ich meinte, Max habe sich heute auch besonders aufgestylt, wie ich das gar nicht von ihm kenne. Max erklärte, mit seinem Lack-Outfit traue er sich nur, wegzugehen, wenn seine Kumpels ähnlich aufwendig gestylt seien.
Das kann ein Grund dafür sein, warum viele Männer schlichtere Outfits bevorzugen: Sie trauen sich nicht in schickere, "sexy" Sachen.
In der Lounge des Kulturzentrums, wo das Festival stattfand, plauderten wir mit dem Industrial-Musiker T.D. und seiner Frau. Ich erzählte, daß ich meinen Job gewechselt habe und darüber sehr froh bin. Die Frau von T.D. erzählte von ihrer Schwester, die im Krankenhaus arbeitet und die Verhältnisse dort kennt.
Das Tanz-Highlight des Freitagabends waren ORPHX mit ihrer sehr rhythmischen, meditativ-schwingenden Musik. Auch die Auftritte der Solo-Musikprojekte Asche und Morgenstern gefielen mir sehr, doch als sich der Rest von deren ehemaliger Band Ars Moriendi dazugesellte und mitmusizierte, paßte nichts mehr so recht zusammen, und es wurde zu dem, was ich - und nicht nur ich - als "Katzenmusik" bezeichne.
Das Frühstück nach der durchtanzten Freitagnacht gab es bei Ted, der fast zur gleichen Zeit in seiner Wohnung eintraf wie wir. Er brachte Blanca und Bero mit und seinen alten Kumpel Halvert. Sie waren miteinander auf einer Party in der "Unterwelt" gewesen. Bero ist Blancas jetziger Freund. Er hat Blanca neulich in einer Location neben Ted gesehen und dachte, die beiden seien zusammen. Ted erklärte ihm, daß sie nur Nachbarn sind. Als Blanca zwischendurch alleine stand, wagte Bero sich an sie heran.
Blancas Verflossener Andres soll mit seiner Geliebten vor einiger Zeit schon sein blaues Wunder erlebt haben. Die Geliebte soll jähzornig und gewalttätig sein; sie soll Andres sogar mit einem Messer bedroht haben. Ob Andres sich bereits von ihr getrennt hat, ist nicht bekannt.
Am Samstagmittag waren Ted, Blanca, Magnus, Constri und ich in der Altstadt von Ht. unterwegs. Wir kehrten in dem Bistro "Only" ein, einem historischen Fachwerkhaus, wo es leckeres Essen gibt.
Am Samstagabend fuhren Constri, Magnus und ich wieder nach KR. zum Festival. Industrial-Musiker Dirk I. gesellte sich in der Lounge zu uns und erzählte, daß er für sein Projekt Absolute Body Control neue Tracks geschaffen hat. Die Band habe es erstmalig von 1979 bis 1984 gegeben. Mit der Gründung der Band The Klinik im Jahr 1984 sei die Arbeit an Absolute Body Control beendet worden. Seit etwa einem Jahr gehe es nun damit wieder weiter. Ich erzählte, daß uns das Konzert von Absolute Body Control zu Pfingsten in L. sehr gefallen hat und daß wir Ende dieses Jahres zum Konzert von Absolute Body Control ins "Mute" gehen wollen.
Dirk I. arbeitet bei mehreren musikalischen Projekten mit, darunter Sonar mit Eric van W. Dirk erzählte, daß Eric und er während des "Maschinenraum"-Festivals wie gewohnt im "Dixi"-Hotel übernachteten. Ich betonte, für mich sei das "Dixi"-Hotel nichts. Dort gebe es statt Duschen nur Plastikboxen mit Löchern in der Decke. Aber ich könne verstehen, daß viele Festivalgäste und Musiker gern im "Dixi" übernachteten, weil es dort immer so schöne Parties gebe. Dirk berichtete, daß auch dieses Jahr im "Dixi" nachts ordentlich gefeiert wird. In dieser Billig-Absteige scheint sich auch kaum jemand daran zu stören.
Constri erzählte Dirk, wie sehr sie sich freut, hier so viele Menschen zu finden, die vereint sind in ihrer Begeisterung für gebrochene Rhythmen und Sounds, "Distorted Sounds" und "Distorted Beats". Sie lauschen den Klängen, die die ebenso begeisterten Musiker erzeugen, wenn sie hingebungsvoll an ihren Keyboards herumdrehen.
"Man muß schon sagen, er ist echt süüß", schwärmte Constri, als Dirk weitergezogen war. "Echt schnuckelig."
"Ja, er ist echt süß", bestätigte ich.
Dirk I. gehört zu den wenigen Männern, über die Constri und ich aus vollem Herzen "süüß" sagen können, obwohl sie schon fünfzig sind. Dirk hat seine Figur immer behalten, und auch das Funkeln in seinen Augen hat nie nachgelassen.
Max hatte heute wieder etwas sehr Schickes angezogen: einen langen, schmal geschnittenen schwarzen Mantel aus feinem Leder, der ziemlich teuer gewesen sein dürfte. Dazu trug er ein Halsband aus schwarzem Leder, das man eher als Hals-Korsett bezeichnen konnte. Es reichte vom Schlüsselbein bis unters Kinn und hatte Stäbchen.
Ich meinte, das Outfit erinnere mich an das Outfit von Comic-Figuren. Max erzählte, daß es aus dem Computerspiel "Final Fantasy" stammt.
"Dann ist 'Comic' ja gar nicht so weit weg", bemerkte ich. "Was früher die Comics waren, sind heute die Computerspiele."
Max zeigte stolz ein T-Shirt der Band Haus Arafna, das er heute gekauft hatte. Ich erzählte, daß ich neulich nach langer Zeit auch wieder einmal ein Band-T-Shirt gekauft habe, von Mêlée. Max ist diese Band auch ein Begriff. Er erzählte von seinem neuen Album unter dem Projektnamen "Neon Eon". Wir haben das Stück "The Difference a Pill makes" von Neon Eon im Sommer für ein Video verwendet.
Constri lernte einen schrillen "Alt-Punk" namens Alvin kennen. Er verkaufte Constri einen Sampler vom "Fich Art"-Label, mit dem Titel "Phoney M. - Fightnight on Venus". Der Sampler enthält Coverversionen von Popsongs der legendären Boney M. Die Coverversionen stammen allesamt von Industrial-Musikern und klingen entsprechend schräg und brachial - ein heftiger Kontrast zum launigen Party-Pop der Originale.
Ein Highlight des Samstagabends auf dem "Maschinenraum"-Festival war Monokrom, ein Musikprojekt, das aus Mitgliedern anderer Musikprojekte zusammengesetzt ist. Die Musiker trugen weiße Arbeitsschutzanzüge und hatten ihre Gesichter weiß verhüllt, so daß niemand zu erkennen war. Auf einer transparenten Leinwand vor der Bühne lief ein Video, das ebenfalls die weiß verhüllten, an Keyboards spielenden und herumhüpfenden Musiker zeigte, mit dem Untertitel "the return of the mummies of noise". Dem Publikum gefiel die Show so sehr, daß der Saal durch unzählige blaßblau leuchtende Handy- und Kameramonitore zusätzlich illuminiert war. Die gemeinschaftliche Begeisterung ergab eine meditative Atmosphäre. Das blaue Leuchten zusammen mit dem Projektnamen "Monokrom" erinnerte mich an das Gemälde "Monochrom Blau" von Yves Klein.
Nächtliches Highlight waren die wie gewohnt tanzbaren Sonar mit ihren Clubhits. Daß sie so spät auftraten, kam mir entgegen, denn einige Festivalgäste wurden währenddessen müde und gingen weg, so daß ich mehr Platz hatte zum Tanzen.
Nach den Zugaben bauten Dirk und Eric auf der Bühne ihre Geräte ab. Ich ging hin, um mich zu verabschieden, was zugleich auch einige andere taten. Als Dirk mich sah, lief er auf mich zu, umarmte mich stürmisch und gab mir Bussis. Ich lobte das Konzert und sagte, daß wir uns am zweiten Weihnachtstag im "Mute" wiedersehen werden.
"See you next time!" sagte er.
Ich rief Eric. Er entdeckte mich und kam auch hergelaufen, um mich zu umhalsen und Bussis zu geben.
Im Flur sah ich Asche und sagte ihm, daß mir sein gestriger Auftritt mit Morgenstern sehr gefallen hat. Nur nachher, als der Rest von Ars Moriendi dazugekommen sei ...
Asche meinte, es stimme - das sei dann nichts Rechtes mehr gewesen.
"Immerhin, das war ordentliche Katzenmusik", betonte ich. "Das ist auch eine Kunstform."
Auf der Rückfahrt erzählte Magnus eine schrille Geschichte:
In den USA gibt es eine Frühstücksflocken-Marke namens "Cap'n Crunch". In den Packungen befand sich in der Zeit um 1970 als Dreingabe eine Pfeife, ein Spielzeug für Kinder. Diese Pfeife hatte durch Zufall eine Frequenz, die der Telefongesellschaft signalisierte, daß man die Kosten für das jeweilige Gespräch bezahlt hatte. Wenn man also mit der Pfeife in die Sprechmuschel pfiff, konnte man danach kostenlos telefonieren. Das bekam ein Hacker heraus, der sich seitdem "Captain Crunch" nennt. Ein blinder junger Mann hatte dank seines feinen Gehörs schon vorher festgestellt, daß er auf eine bestimme Art in die Sprechmuschel pfeifen mußte, um kostenlos telefonieren zu können. Er erkannte, daß die Spielzeugpfeife jene Frequenz erzeugte, die dafür erforderlich war. Als "Captain Crunch" mit dem Blinden in Kontakt kam, entwickelte er ein Gerät, das die Fähigkeiten der Pfeife besaß, aber komfortabler zu bedienen war. Als er dem Blinden einen dieser Kästen gab, erkundigte sich der Blinde nach dessen Farbe.
"It's a blue box", antwortete "Captain Crunch".
Kostenloses Telefonieren durch Anwenden bestimmter Tricks wird seitdem als "Blueboxing" bezeichnet.
Magnus ist Energieanlagen-Elektroniker und leidenschaftlicher Bastler. Er ist in einem Chatroom unterwegs, in den man nur mit einem Commodore 64 gelangen kann. Der Chatroom ist insofern begrenzt abhörsicher, als die fürs Abhören erforderliche Technik vielen möglichen Abhörern nicht zur Verfügung steht.
Constri und ich schliefen am Sonntagvormittag ein paar Stunden im Dachstübchen von Magnus, um für die Heimfahrt wach genug zu sein. Magnus machte Tee für uns und erzählte von seiner Heimatstadt, die heute ein Stadtteil von E. ist. Ein Abt namens Ludgerus hat hier im frühen Mittelalter ein Kloster erbauen lassen und ist hier auch begraben. Ihm zu Ehren wird zum alljährlichen Ludgeri-Fest das Ludgerus-Lied gesungen, ein Kirchenlied. Einmal wurde zum Ludgerifest mit den Glocken aller Kirchen der Umgebung das Ludgerus-Lied gespielt, indem die Geläute miteinander verschaltet und wie ein Keyboard verwendet wurden. Etwas Vergleichbares gab es auch schon in BS. und Bad O.
Magnus erzählte von einem Geisterfahrer, der ihm in Griechenland auf einer Serpentinenstrecke entgegenkam, wo er nicht ausweichen konnte. Magnus überlebte den Unfall, verlor jedoch für lange Zeit seinen Geruchssinn. Obwohl er deswegen sogar an Selbstmord dachte, betonte er immer wieder, wieviel Glück er schon in seinem Leben gehabt habe. Constri meinte später, sie hätte auch gerne ein bißchen von dieser Lebenseinstellung.
Am Dienstag nach dem Festival fuhr ich zu meinem Onkel Gustav und dessen Frau Elisabeth, die in der Nähe von PA. wohnen. Gustav ist seit Kurzem emeritiert. Er war Professor für Informatik und Logik an der Universität von PA. Gustav und Elisabeth haben beide seit der Jugend gesundheitliche Probleme und sind kinderlos. Sie gönnen sich jedes Jahr einen "Kurlaub" in Davos.
Elisabeth hat eine Eßstörung und bereitet sehr üppige Mahlzeiten zu. Wenn man die übergroßen Portionen nicht vollständig aufißt, braucht man viel Diplomatie, damit Elisabeth nicht gekränkt ist.
Mit Gustav machte ich in der goldenen Herbstsonne einen Ausflug zu der nahegelegenen Festung, in der es ein Museum gibt. Wir kehrten im Burgcafé ein. Auf den Tischen lagen bunt bemalte Holzkreisel. Gustav fing an, mit einem Kreisel zu spielen. Ich spielte auch mit einem und entdeckte darauf ein Preisschild. Man konnte die Kreisel kaufen. Ich kaufte einen für Denise.
Am Donnerstagmorgen fuhr ich vor Tau und Tag nach Kärnten. Als die Sonne aufging, erhoben sich rechts und links von mir die Felswände des Salzburger Landes mit schneebedeckten Gipfeln. In den Hohen Tauern fuhr ich am Vormittag bei strahlendem Wetter nach 27 Jahren endlich wieder mit der Bergbahn zum Reißeck-Plateau hinauf. Die Bahn ist in vier Streckenabschnitte unterteilt. Drei Standseilbahnen führen steil nach oben, fast senkrecht, ähnlich wie ein Aufzug. Die vierte Strecke ist eine Höhenbahn und führt durch einen Tunnel zu zwei Stauseen und dem Berghotel. Der letzte Umsteigepunkt liegt jenseits der Baumgrenze. Es gibt fast nur noch Geröll und Schutt. Ein Gebäude steht ein Stück oberhalb der Gleisanlagen, gebaut aus den Steinen, die es dort gibt, fast eins mit der Umgebung. Das Gebäude gehört zum Kraftwerk. Es sieht verwunschen aus - beinahe wie ein Wohnhaus, aber halt nicht ganz.
Im Juli 1981 lag hier oben - zweieinhalb Kilometer über dem Meeresspiegel - alles versunken im Nebel, es gab sogar etwas Schnee. Ich war begeistert von der geheimnisvollen Kulisse und machte viele Fotos.








Heute, bei Sonnenschein, waren andere, aber nicht weniger schöne Aufnahmen möglich.
Die beiden Stauseen mit ihren Betonmauern liegen in der Geröllwüste des Hochgebirges. Es war recht warm für den Monat Oktober und für diese Höhe, etwa siebzehn Grad über null. Aus kühleren Tagen war noch etwas Schnee übriggeblieben, vermehrt weiter oben auf den Felsen. Der Blick öffnete sich ins Tauernpanorama, über dem nur ein leichter Dunst lag.








An die weitgestreckte, gekrümmte Mauer des großen Stausees, die im Sonnenlicht aufleuchtete, konnte man ganz herankommen. Ich ließ mich faszinieren von den gewaltigen Dimensionen und von der Mischung aus natürlichem und künstlichem Stein, aus natürlichen und künstlichen Wänden. Auf einem schmalen Wanderweg ging ich am Stausee entlang und hinterm Hotelgebäude ein Stück bergauf, wo es mehrere kleine Hütten gibt. Auf der Terrasse einer Hütte machte ich Picknick. Sie gehört dem Alpenverein und war verschlossen. Ich hatte kein Netz, weil mir noch nicht klar war, wie ich mich mit dem Handy in das österreichische Netz einwählen konnte.
Am Nachmittag parkte ich meinen Wagen in einem benachbarten Gebirgstal, dem Maltatal. Auf einer Felsentreppe lief ich einen schattigen Waldweg hinauf, von dem aus man auf Wasserfälle hinunterblicken kann, die Gössfälle.








Malerisch sprudelte und plätscherte das Wasser über die Steine. Es gibt hölzerne Stege und Brückchen. Oben gibt es ein kleines Wasserkraftwerk, das fast wie ein Schwimmbad aussieht, aber halt nur fast.
Für mich steht fest, daß ich mit Constri sowohl auf dem Reißeck-Plateau als auch an den Gössfällen Filmaufnahmen machen will.
Gegen elf Uhr nachts kam ich zurück zu Gustav und Elisabeth. Sie fragten nicht nach dem, was ich auf meinem Ausflug erlebt hatte. Ich vermute, daß der Neid an ihnen nagte. Besonders schlimm nagt der Neid, wenn man ihn nicht erkennt oder nicht wahrhaben will. Vielleicht könnten Gustav und Elisabeth aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen einen solchen Ausflug wirklich nicht mehr machen. Vielleicht trauen sie es sich aber auch einfach nicht zu. Als sie jung waren, sind sie mit einem Wohnmobil durch Kanada gereist. Heutzutage sind ihre Reisen eher Kuraufenthalte oder Verwandtenbesuche.
Am Freitag kehrten Gustav, Elisabeth und ich in einem österreichischen Restaurant ein, das befindet sich auf einer Klippe, mit Blick auf die historische Insel von PA., die von drei Flüssen umgeben ist. Die Spezialität des Restaurants sind Palatschinken. Wir finden sie äußerst lecker.
In einem Kirchenprospekt entdeckte ich einen Artikel über einen Baumkronenweg in Oberösterreich. Den wollte ich auch noch besuchen.
Im letzten Licht des Tages fotografierte ich ein Kapellchen am Feldrain. Es hatte mehrere kleine Kirchenbänke. In der Region gibt es viele solcher Kapellchen und viele Bildstöcke. Elisabeth erzählte, daß diese Kapellen auch dann geweiht werden, wenn sie privat gebaut wurden. Kapellen unterscheiden sich von Kirchen dadurch, daß sie nicht zu einer Pfarrei gehören, in der Regel keine Sakristei besitzen und kein Kirchensilber enthalten. Altäre werden immer noch extra geweiht. Kapellen haben oft keinen richtigen Altar. Zu einem katholischen Altar gehört ein Tabernakel, in dem sich das "Allerheiligste" befindet, eine geweihte Hostie. In der Nähe des Altars brennt immer ein Ewiges Licht, das anzeigt, daß sich hier ein "Allerheiligstes" befindet. Zum Darbieten bei feierlichen Gottesdiensten und Prozessionen wird das "Allerheiligste" in eine Monstranz gesteckt, die ansonsten in der Sakristei steht. Bei Prozessionen trägt der Pfarrer die Monstranz mit einem Tuch, denn er darf sie, wenn das "Allerheiligste" darin ist, nur mit einem Tuch berühren, und Laien dürfen sie gar nicht berühren.








Am Samstag ging ich auf dem Baumkronenweg in Oberösterreich spazieren, einem hölzernen Weg in der Höhe der Baumkronen. Es war diesig, aber milde. Das Laub leuchtete oktoberbunt. Die höchste Strecke des Weges verläuft 22 Meter über dem Waldboden. Zur Zeit wird an einem hölzernen Turm gebaut, der 33 Meter hoch werden soll und damit fast alle Baumkronen des Waldes überragen wird. Die Holzkonstruktion des Hochwegs ist stabile Zimmerarbeit. In luftiger Höhe kann man seine Schwindelfreiheit testen. Umgeben von Netzen kann man auf schwankenden Balken über dem Abgrund gehen, die an Ketten aufgehängt sind, und man kann auf rutschfesten Stahlplatten gehen, die ebenfalls an Ketten hängen. Es gibt ein Trampolin, auch umgeben von Netzen. Schautafeln erklären die Tier- und Pflanzenwelt des Waldes. Unten gibt es Spielanlagen, ein Restaurant und ein Hotel mit Zimmern auf Stelzen. Jeder Besucher wird fotografiert und kann das Foto zur Erinnerung kaufen, als Postkarte gestaltet.
Bevor ich die Grenze zu Deutschland überquerte, kam im Radio die Nachricht vom Tod des Rechtsaußen-Politikers Jörg Haider. Er war in der Nähe von Klagenfurt mit 142 km/h bei erlaubten 70 km/h nach einem Überholmanöver an einer Betonmauer zerschellt. Sein Phaeton schützte ihn nicht vor einem raschen Ableben. Später stellte sich heraus, daß Haider mit 1,8 Promille alkoholisiert war. Man soll ihn jetzt "die Lady Di der Karawanken" nennen. Die Karawanken sind eine Bergregion.
Besonders fiel mir auf, wie sich die Berichterstattung während meiner Fahrt von Österreich nach Norddeutschland veränderte, je nachdem, welche Sender berichteten. Im österreichischen Radio riefen weinende Hörer an. Es herrschte eine Atmosphäre wie bei einer Staatstrauer. Im bayerischen Radio zeigte man sich tief betroffen, aber tränenlos. Im norddeutschen Radio wurde nüchtern über den Tod des umstrittenen Politikers berichtet, ohne jedes Bedauern.

Am Sonntag habe ich geträumt von einem Monster. Es war ein Comic-Monster, blau, rot und funkelnd, Blitze schleudernd, das verbreitete unaufhörlich Bosheit und Haß. Aber je mehr Böses es tat, desto weniger wurde es selbst, verlor Größe und Kraft immer mehr, bis es am Ende in einer Kiste lag und auf den Tod wartete. Aber sogar als es ans Sterben ging, hörte das Monster nicht auf, Haß zu verbreiten.

Die Thematik des nicht zu Läuternden, am eigenen Gift zugrunde Gehenden betrachte ich als eine Art Charakterzeichung von Rafa. Selbst wenn Rafa die Folgen seines destruktiven Verhaltens zu spüren bekommt, wird er es - aller Wahrscheinlichkeit nach - nicht ändern.

Später hatte ich einen Traum, der einen Menschen zeigte, der um die Körpermitte gefesselt war und da sitzenbleiben mußte, wo er war, in einem Kellergewölbe auf einem Balken. Er konnte nicht davonlaufen, auch vor sich selbst nicht.

Ein weiterer Traum handelte davon, daß Constri mit dem Schah von Persien verabredet war und die Fahrt zu dem ausgemachten Treffpunkt organisieren sollte. Ich fuhr ein Stück mit. Es ging mit einer S-Bahn zwischen Wolkenkratzern hindurch. Constri erzählte, auf welche Art sie zu dem Schah gelangen konnte, der durch Sicherheitsmaßnahmen abgeschirmt war.

Mir fällt dazu ein, daß nicht nur eine höhergestellte Position in Politik und Wirtschaft, sondern auch ein kreativer Beruf und eine sich daraus ergebende Bekanntheit zur sozialen Isolation führen können. Einerseits ermöglicht die exponierte Stellung diesen Menschen, bekannt zu sein und gesehen und gehört zu werden, andererseits führt gerade das häufig dazu, daß es ihnen unmöglich wird, andere Menschen wirklich näher kennenzulernen - es sei denn, sie kommen aus demselben Umfeld. Immer wieder sind sie mit der Frage nach einem Gefälle konfrontiert: Überhöht mich der andere? Bin ich mehr oder etwas Besseres als der andere? Sie können die Frage nach dem Gefälle kaum ausblenden, sie drängt sich regelrecht auf, schon symbolisiert durch die erhöhte Position auf der Bühne oder am Rednerpult. Es wird für solche Menschen schwer, Kontakte auf Augenhöhe zu führen. Und es ist schwer, mit solchen Menschen Kontakte auf Augenhöhe zu führen, selbst dann, wenn sie das gerne tun würden. Wer eine exponierte Position hat, wird mit Kontakten überflutet, die er schwer unterteilen kann in solche, die nur auf seiner Position gründen, und solche, die ihn als Person betreffen. Umgekehrt ist es schwer, zu unterscheiden, ob man sich für einen Menschen in exponierter Position nur wegen dieser Position und der damit verbundenen vermeintlichen Wichtigkeit interessiert oder ob einen tatsächlich das Individuum interessiert.
Wenigstens habe ich Rafa kennengelernt, bevor er zum ersten Mal auf einer Bühne stand. Das erleichtert mich, zumal er es war, der den Kontakt zu mir gesucht hat. Mir kann er niemals vorwerfen, ihn zu wollen, weil er Musiker ist.
Rafa, der sich Mitte September im "Keller" auf ein mehrstündiges Gespräch mit mir einlassen konnte - wenn auch unter dem Schutz zweier "Anstandsherren" -, hat das anscheinend schon wieder bereut. Er gestattet sich nun einmal nicht den Kontakt zu mir. Vermutlich betrachtet er sich als Versager, weil er dem Gespräch mit mir nicht widerstanden hat und es - vielleicht - sogar genossen hat. Den Haß auf sich selbst lenkt er wie gewohnt gegen mich, dieses Mal erneut auf seinem Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse, wo er sich "Turbo Pascal" nennt. Neben kryptischen Albernheiten, sinnverdrehten Sprüchen und blankem Unsinn (unter anderem behauptet Rafa, er habe 150 Millionen Kinder und sei zur Sonderschule gegangen) gibt es wieder einmal Beleidigungen gegen mich. Mein Nickname wird zwar dieses Mal nicht erwähnt, dennoch läßt sich für mich erkennen, wen Rafa meint - und wohl auch für seine näheren Bekannten. Die Bezeichnung "unterste Schublade" wäre für Rafas Äußerungen am treffendsten.
Im Übrigen behauptet Rafa, jemanden "zum Heiraten" zu suchen; außerdem sei er "verliebt". Daß Rafa jemals heiraten wird, wage ich zu bezweifeln. Eine Ehe könnte einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden und Rafa das Fremdgehen erschweren.
Darienne aka "Plastik" schreibt auf ihrem Profil, sie betreibe "die konservative Revolution" und möge "Militär- und Marschmusik". Als Lieblingskünstlerin nennt sie "Leni". Sie zitiert einen Text der Rechtsaußen-Band "Von Thronstahl". Auch sie scheint einer Haßkultur zu huldigen.
Ich schrieb auf meinem Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse zu meinem Schulabschluß:

Abitur
(ja, es gibt wirklich Leute, die darauf neidisch sind und deshalb (!) behaupten, zur Sonderschule gegangen zu sein - man glaubt es kaum)

Rafa, der mich 1993 von einem Stalker befreit hat (dem Sockenschuß) und mich 1996 selber mit Telefonstreichen belästigt hat, gefällt sich seit Jahren darin, mich als "Stalkerin" zu bezeichnen, so auch derzeit in der Online-Szene-Kontaktbörse. Ich schrieb auf meinem Profil zu "Ich hasse / mag nicht":

- alles, was verlogen ist
(z.B. wenn Leute behaupten, zu lieben bzw. verliebt zu sein, in Wirklichkeit aber wahllosen Fast Food Sex betreiben)

- Perlen vor die Säue werfen
passende URL:
http://www.netvel.de/tonnenwelt.html

- das Verhalten von Usern wie einem gewissen "Turbo Pascal", der andere User als "Stalkerinnen" betitelt, wobei sich hier kaum noch die Frage stellen dürfte, wer hier der Stalker ist und wer hier wen belästigt (man denke an jene 20 - 30 nächtlichen Telefonstreiche, als dessen Urheber "Turbo Pascal" vor einigen Jahren mit Hilfe einer Fangschaltung aufgeflogen ist)

Am Montag habe ich Folgendes geträumt:

Auf dem Reißeckplateau, in der Nähe des großen Höhenstausees, hatten Rafa und ich uns trauen lassen. Danach ging Rafa weiter nach Osten in die Berge, und ich ging zum Reißeck-Hotel. Ich trug ein besticktes elfenbeinfarbenes Jäckchen und einen langen weißen Satinrock - nicht die richtige Garderobe für die Hochalpen, aber ich war ja heute nicht zum Wandern hier.

Das beherrschende Gefühl in dem Traum war die Erfahrung, daß Rafa sich tatsächlich zu mir bekannt hatte. Mehr erwarte ich von einer Hochzeit nicht. Mir geht es nicht um feierliche Zeremonien, teure Brautkleider und Limousinen.

In einem anderen Traum stand ich vor einem Felsmassiv, in dem es einen Aufzug nach unten gab. In den Felsen befand sich ein Gebäude einer Pharmafirma. Nach der Aufzugsfahrt gelangte man in eine Art U-Bahn-Station, da waren kaum Menschen. Ich fuhr weiter mit einer Bahn und kam auf eine Burgruine, da war Volksfeststimmung. Ich traf viele Katzen, die sich streicheln ließen.

In einem Dorf am Reißeck habe ich tatsächlich vier Katzen getroffen, alle jung und recht zahm; sie konnten aus demselben Wurf stammen.
In einer E-Mail berichtete Jutta, ihr Buch über ihren Kater werde nun verlegt. Das Tier werde auf der nächsten Buchmesse Interviews geben.
Auf meine Nachfrage mailte Jutta, man könne keine Texte im Internet veröffentlichen, die auch als Buch herauskämen. Was gedruckt sei, dürfe nicht online stehen.
Daraus würde sich ergeben, daß nach dem Verkauf einer Auflage die Texte nicht mehr zu finden sind, höchstens noch Second Hand. Ich lege jedoch Wert darauf, daß das, was ich schreibe, stets und von überall her gelesen werden kann.
Zu den Illustrationen für ihr Buch konnte Jutta noch nicht viel sagen. Ihr sei wichtig, daß ein Bild ihres Katers vorne auf dem Umschlag zu sehen sei.
Meine Texte sind niemals nur Texte. Zu ihnen gehören auch Schriftfarbe, Hintergründe und Illustrationen. Das können die meisten Verlage nicht realisieren. Veröffentlichungen im herkömmlichen Sinne würden für mich also nicht in Frage kommen.
Shara hatte vom frühen Tod seines Katers berichtet, der an Katzenleukämie litt. Ich mailte ihm mein Beileid und erzählte, um meinen Kater Bisat hätte ich getrauert wie um einen Menschen. Er sei in allen Ehren bestattet worden.
Shara mailte, sein Kater sei prunkvoll wie ein Pharao bestattet worden.
Magnus hat von einem Feuer in seinem hölzernen Dachstuhl erzählt, das er selbst gelöscht hat. Er habe die Feuerwehr nicht gerufen, weil er überzeugt war, den Einsatz bezahlen zu müssen - auch wenn er notwendig war. Ich mailte:

Neulich hatten wir Brandschutzübung, da habe ich den Brandschutzfachmann gefragt, ob man Feuerwehreinsätze bezahlen muß. Die Antwort war: Wenn es wirklich brennt oder gebrannt hat, muß man den Feuerwehreinsatz nie bezahlen! Im Gegenteil, wir wurden ausdrücklich darauf hingewiesen, in jedem Fall die Feuerwehr zu rufen, wenn es brennt, weil sonst unnütz das eigene oder fremdes Leben, Hab und Gut in Gefahr gerät. Und wenn das Feuer schon wieder aus ist? Es kann nachbrennen, nachglühen, die Feuerwehr sollte sich das in jedem Fall angucken, und man muß nichts bezahlen. Übrigens hast du damals bei deinem Zimmerbrand in mehrfacher Hinsicht ziemliches Glück gehabt. Die meisten Brandopfer sterben an Rauchvergiftung, und das hätte dir innerhalb weniger Minuten auch passieren können, da hätte es dir auch nichts geholfen, wenn du dir einen Lappen vorgehalten hättest. Denn ein Lappen läßt die giftigsten Gase - Blausäure und Kohlenmonoxid - ungehindert durch.

Am Dienstagabend war ich bei Deon in BS. Ihn kenne ich noch aus der Zeit, als ich vorübergehend in BS. lebte, vor zweiundzwanzig Jahren. Damals wohnten wir mit Henk in einer chaotischen WG. Deon wohnt heute im selben Hochhaus wie sein Lebensgefährte Gerard. Sie teilen sich die Hündin Zicklein. Im Sommer war Zicklein schwer krank, sie litt an einer Unterleibsinfektion. Außerdem mußte Gerard wegen koronarer Herzkrankheit zur Bypass-Operation. Durch all die Sorgen ging es Deon auch sehr schlecht, und er befürchtete, wieder in die Psychiatrie zu müssen. Er leidet an Schizophrenie, die jedoch mit Medikamenten sehr gut eingestellt ist. Inzwischen hat sich die Hündin unter der Antibiotika-Behandlung erholt und rennt und springt wieder herum wie vorher. Gerard hat die Operation gut überstanden und geht in den nächsten Tagen in die Anschlußheilbehandlung. Deon geht es auch wieder gut. Er denkt zwar immer wieder darüber nach, sich von Gerard zu trennen, ihm ist aber klar, daß einschneidende Veränderungen im Privatleben für ihn gefährlichen Streß mit sich bringen. Grundsätzlich versteht er sich mit Gerard; es sind eher Kleinigkeiten, die ihm auf die Nerven gehen.
Am Donnerstag war ich abends im "Keller" zum Rippchenessen. Marie-Jo erzählte von ihrem Job in einem Second Hand Shop. Sie macht das sehr gerne. Ihre Chefin Bernadette war heute auch im "Keller".
Highscore ist dabei, seinen Waffenschein für Sportschützen zu machen. Nach wie vor ist er viel auf Paintball-Turnieren. Highscore beschrieb die Paintballs, die zum Schießen verwendet werden: etwa 1,7 cm Durchmesser, harte Schale aus zwei Teilen, dünnwandig und leicht zerbrechlich, mal einfarbig, mal zweifarbig, mal gemustert oder mit einem Motiv bedruckt, gefüllt mit grellfarbiger Gelsubstanz, häufig neon-orange. Die Paintball-Schützen dürfen farbige Kleidung tragen, aber kein Orange. Highscores Paintball-Verein spielt in der 1. Liga. Highscore ist aber nicht in der Mannschaft, die an Bundeswettbewerben teilnimmt. Dort seien nur Jungs von höchstens fünfundzwanzig Jahren.
Highscore erzählte, daß er Rafa neulich im "Keller" mit einem Mädchen gesehen hat, das nicht Darienne war und auch nicht Adrienne aka "Peitsch-Püppi". Ich meinte, es habe sich bestimmt um das "Rotjäckchen" gehandelt, mit dem ich Rafa Mitte September bei der Filmvorführung im "Keller" gesehen habe. Dieses Mädchen habe Rafa möglicherweise schon beim letzten W.E-Fanclubtreffen als seine Freundin präsentiert.
Gegen Mitternacht erschien Anwar mit seinem Kumpel Jato. Sie daddelten vorne im Schankraum. Dort hat Bibian einen Monitor auf die Theke gestellt, und man kann Computerspiele spielen.
Als ich in den Schankraum kam, um zu bezahlen, wollte Anwar nach Hause und gab Bibian Bussis zum Abschied. Er war erst unsicher, ob ich auch Bussis wollte. Ich erklärte aber, ich hätte nichts dagegen, also gab er auch mir Bussis.
Die Gäste waren schon alle fort, da gab Bibian mir den Früchtetee aus, den sie seit Neuestem im Sortiment hat, und spielte mir auf dem Computer-Monitor einen Sketch vor, der bereits als Klingelton Geschichte gemacht hat: "Achmed the dead Terrorist" von Jeff Dunham. Man sieht Dunham auf einer Bühne. Er hält eine Bauchredner-Puppe, die neben ihm auf einem Kasten sitzt. Es ist ein Skelett mit einem Turban auf dem Kopf und rollenden Augäpfeln. Das Skelett stellt sich vor als "Achmed". Im Gespräch ruft Achmed immer wieder mit heiserer Stimme:
"Silence! I kill you!"
Befragt, was er beruflich mache, erklärt Achmed, er sei "Suicide Bomber". Als Dunham meint, dann habe er seine Arbeit ja schon getan, zeigt Achmed sich erstaunt.
"You are dead", erklärt der Komiker.
Das mag Achmed nicht glauben. Er sieht an sich herunter und meint:
"It's a flesh wound."
Dunham hebt das Skelett hoch, dabei dreht sich der untere Teil der Wirbelsäule um die eigene Achse, und Achmed meint:
"I need some ... ligaments."
Wieder auf den Kasten gesetzt, verspricht Achmed, er werde jetzt auf seinem "Ass" sitzenbleiben, bis Dunham mit seinen Ausführungen und Erläuterungen fertig sei.
"You don't have an ass", korrigiert Dunham.
Befragt, was er denn im Augenblick seines Todes gesehen habe, berichtet Achmed, er habe Autowrackteile herumfliegen sehen.
"And you didn't see a white light?" fragt Dunham noch einmal nach.
"I saw a blue Prius", erzählt Achmed.
Der Prius sei ein Auto, wenn man darin während der Fahrt den Arm aus dem Fenster halte, fange es an, sich zu drehen.
In der Freitagnacht waren Constri und ich im "Roundhouse". Zu "Riot green Elves" von Winterkälte schlitterten wir über die Tanzfläche. Es gab noch mehr rhythmische Brachialsounds zu hören: "What kind of man are you (alive)" von 100 Blumen, "Humid Dreams" von Dulce Liquido, "Pusher" von Soman und "Rest in Hell" von Max aka Neon Eon. Später lief die ruhige, melancholisch-getragene Elektro-Hymne "Bring on the dying" von Aslan Faction.
Barnet erzählte, daß er immer mit seiner siebzehnjährigen Tochter Felicity zu Abend ißt, aber nicht sehr viel mitbekommt von dem, was sie macht und plant. Sie hat ihren Freund nicht mehr, es bahnt sich jedoch etwas Neues an. Sie ist immer noch viel online unterwegs, hält sich in Foren auf und spielt Online-Spiele. Die Musik, die Felicity bevorzugt, gehört zum Alternative-Bereich. Einen Führerschein hat sie schon, "Begleitetes Fahren mit 17", die Eltern sind als Begleitpersonen eingetragen.
Am Samstagabend war ich auf der Geburtstagsfeier von Evelyn. Sie ist langjähriger Fan der Electronic Body Music ("EBM") aus den späten Achtzigern und frühen Neunzigern, zelebriert von Bands wie Front 242 und Frontline Assembly. Auch ich mag diese Musik nach wie vor sehr. Evelyn feierte in einem Schützenhaus, mit viel EBM. Etwa fünfzig Leute waren da. Es gab einen Raum mit Tanzfläche. Lolo legte auf, den ich aus dem "Elizium" kenne. Regan umarmte mich und hob mich hoch. Dann entschuldigte er sich, daß er mich hochgehoben hatte; es habe ihn so überkommen. Ich meinte, er dürfe mich gerne hochheben.
Regan war Ende Juni auf dem W.E-Fanclubtreffen. Es habe ihm sehr gefallen, er habe wieder mit seinen Kumpels aus Schweden und Dänemark gefeiert. Die Leute würde vor allem wegen der Atmosphäre und dem alljährlichen Wiedersehen mit Freunden und Bekannten herkommen, weniger wegen W.E. Das Konzert von W.E nehme man eher nebenbei noch so mit. Wer jetzt mit Rafa zusammen sei, habe er nicht mitbekommen. Darienne sei wohl da gewesen.
Magenta hat auf Druck des Arbeitsamts einen Job in einer Drogerie angenommen. Ihr gefällt der Job nicht. Wenn sie kündigt, bekommt sie für drei Monate kein Arbeitslosengeld. Sie hofft also, gekündigt zu werden. Stehlen wolle sie nicht, denn dann gelte sie als vorbestraft. Sie fragte mich, welchem Arzt man was erzählen müsse, damit er sie möglichst lange krankschreibe. Sie hoffe, daß man sie nicht behalten wolle, wenn sie dauernd krank sei. Zum Psychiater wolle sie nicht gehen, der stecke sie nur ins Irrenhaus, und das erscheine dann in ihrem Führungszeugnis. Ich erklärte, daß so etwas nicht im Führungszeugnis erscheint und daß nicht jeder, der zum Psychiater geht, ins Irrenhaus gesteckt wird. Außerdem hätten Lügen kurze Beine und könnten eines Tages auf sie zurückfallen. Das Ratsamste sei, sich einfach einen anderen Job zu suchen und erst dann zu kündigen, wenn sie bereits den neuen Job habe. Wenn die Chefin sie mobbe, könne sie auf Armenrecht einen Anwalt hinzuziehen. Magenta gefielen diese Vorschläge alle nicht, und sie überlegte weiter, was sie ihrem Hausarzt erzählen könnte, damit er sie für längere Zeit krankschrieb.
Mit einem von Evelyns Bekannten - Kioran - fuhr ich gegen ein Uhr nachts zum "Doomsday". Kioran erzählte, daß er immer noch in die langhaarige Blondine Eden verliebt ist, mit der er eine Zeitlang zusammen war. Ihm sei aber klar, daß Eden wegen ihrer psychischen Erkrankung nur eingeschränkt in der Lage sei, eine Beziehung zu führen. Eden soll an Bulimie leiden und hat vermutlich eine emotional-instabile Persönlichkeitsstruktur. Kioran war mit Eden zusammen, nachdem sie mit Dolf zusammen war. Mit Rafa war Eden auch schon im Bett; ich vermute, das war im Januar 2005, nachdem Rafa stundenlang mit ihr geflirtet hatte.
Kioran erzählte, auf dem diesjährigen Sommerfestival in der "Neuen Sachlichkeit" sei er auf Rafa zugegangen, als er draußen saß, und habe von ihm verlangt:
"Setz' doch mal diese Sonnenbrille ab."
Rafa habe die Brille ein wenig heruntergezogen. Das habe Kioran jedoch nicht gereicht; er habe verlangt:
"Setz' die mal richtig ab, ganz."
Rafa tat dies, und Kioran sagte zu ihm:
"Du hast meine Ex-Freundin gevögelt."
"Ach ja, Eden", wußte Rafa gleich bescheid. "'tschuldigung. Aber - is' Schnee von gestern, is' Vergangenheit."
Eden komme im Leben schlecht klar. Sie lasse sich durch ihre Eltern finanzieren und werde mit ihrem Studium der Sozialpädagogik nicht fertig.
Im "Doomsday" traf ich Morgana wieder, die ich von verschiedenen Parties kenne. Sie erzählte, daß sie einen Job als Programmiererin bei einer Behörde hat, eine Dreiviertelstelle, mit der sie ihr Studium der Wirtschaftsinformatik besser und kräftesparender finanzieren kann als mit ihrem Thekenjob im "Lost Sounds". Sie macht nur noch ein- bis zweimal pro Woche die Theke.
Im "Doomsday" traf ich auch Brandon wieder. Er berichtete, erst seit diesem Jahr gehe er wieder öfters aus. Er habe eine anderthalbjährige Pause gemacht. Seine verwitwete Mutter habe das Haus der Familie verloren, doch ihre manische Störung habe sich gebessert, sie habe wieder Boden unter die Füße bekommen. Sie sei sogar ein bißchen depressiv, was durchaus zuträglich sei, denn sie könne dadurch realistischer denken.
Er selbst stehe kurz vor dem Abschluß seines Studiums der Sozialwissenschaften. Ihm fehle nur noch die mündliche Prüfung, die schriftliche sei gelaufen. Gelegentlich jobbe er als Ausbilder bei der Bundeswehr. Er wolle beruflich gerne als Konfliktmanager tätig sein, und das könne er ab und zu auch in seinem Job tun.
Ich kam auf die Frage zu sprechen, wie man jemandem das Rauchen abgewöhnen kann. Brandon zeigte stolz auf sich selbst und erzählte, er sei ein Bespiel dafür, daß man es schaffen könne. Ich erkundigte mich, wie das möglich gewesen sei. Brandon erklärte, die Voraussetzung sei, zu erkennen, wofür das Rauchen bei einem selbst steht, welche Funktion es übernehmen soll. Seit er das erkannt habe, brauche er die Zigaretten nicht mehr. Ich fragte, welchen Ersatz er gefunden habe für die Zigarette in der Hand.
"Das Leben", antwortete Brandon.
Als ich fragte, was das Rauchen habe ersetzen sollen, erwiderte Brandon, das verrate er nicht.
Wir unterhielten uns über Kunst. Ich erzählte, Rafa habe den Anspruch, Musik ohne Gefühle zu machen. Brandon meinte, zur Kunst gehöre, daß man seine Seele hineinlege. US-Popstar Madonna singe wie ein Automat. Sie habe eine schöne Stimme und treffe immer den richtigen Ton. Seele suche man in ihrem Gesang allerdings vergebens. Das sei ihm besonders bei ihrer Version von "Don't cry for me, Argentina" in dem Musical-Film "Evita" aufgefallen.
Ich meinte, Rafa wolle Gefühle nicht zulassen, deshalb lasse er mich nicht an sich heran.
"Liebe ist das, was wehtut", war Brandons Erklärung.
"Liebe ist das, was einen aufbaut", hielt ich dagegen.
"Liebe tut weh, wenn man sie endlich bekommt und merkt, was einem so lange gefehlt hat", meinte Brandon.
"Mich baut Liebe nur auf", betonte ich.
"Weil du sie zulassen kannst", meinte Brandon.
"Ja, das kann ich", nickte ich. "Wenn Rafa in meiner Nähe ist, habe ich ein seltsames Gefühl der Angstlosigkeit und Unverletzbarkeit."
Ich erzählte, daß ich keine Rache nehmen will an Rafa und daß ich mir keinen anderen Mann nehmen will, nur um mich an Rafa zu rächen. Außerdem sei das dem anderen Mann gegenüber unfair, denn ich würde ihn nur benutzen.
"Was will du denn wirklich?" fragte Brandon.
"Rafa", gab ich zur Antwort. "Das hat sich nicht geändert. Und ich fühle mich tatsächlich von ihm geliebt, obwohl es dafür keinen Beweis gibt. Nichts spricht dafür, daß Rafa mich liebt. Es ist nur das unbegründbare Gefühl."
Brandon fragte mich, ob er mich umarmen dürfe; ihm sei so danach. Er durfte.
Ich erzählte von den Geschichten, zu denen Rafa mich inspiriert, und von den Träumen, in denen ich Rafa heirate; das habe ich schon mehrfach geträumt. Brandon vermutete, ein Teil von mir sei zumindest virtuell mit Rafa verheiratet - in einem "Parallel-Universum".
"Rafa redet auch gerne von einem Parallel-Universum", erzählte ich. "Erst kürzlich wieder."
Wir unterhielten uns über narzißtisch gestörte Menschen. Brandon erzählte von "dem Gerd", das war ein ehemaliger Bundeskanzler, der vor langer Zeit einem Verein angehörte, wo Brandon auch Mitglied war. Viel gab es über "den Gerd" aber nicht zu erzählen.
Halloween will Brandon in der Heide auf einem Hünengräberfeld verbringen. Er mache das immer, das sei eine spirituelle Erfahrung. Die Nacht sei nicht wirklich schwarz; nach einer halben Stunde habe man sich an die Dunkelheit gewöhnt und könne sich dort draußen zurechtfinden.
Am Dienstag traf ich Constri, Denise, meine Cousine Lisa und ihre Kinder bei meiner Mutter. Lisa war mit den Kindern auf der Durchreise zur Mutter-Kind-Kur auf Norderney. Kurz zuvor war Lisa mit ihrer Familie in Indien gewesen, bei Verwandten ihres Lebensgefährten Chandra. Sie hatte feine Textilien und Schmuck mitgebracht.
Die neunjährige Ida - mein Patenkind und Lisas älteste Tochter - erzählte von ihren Träumen:

Neulich hatte sie geträumt, sie sei in einem nach oben spitz zulaufenden hölzernen Turm. Die runde Wand des Turm war mit Durchbrüchen gestaltet, so daß das Licht von allen Seiten hereinkam. Fenster hatte der Turm ansonsten nicht.

Ida hat als Zweieinhalbjährige im Wald von Langeoog die nach oben spitz zulaufenden Holzhütten erkundet, die dort standen. Sie hatten auch keine Fenster, aber Wände, die rundum etwas Licht hineinließen. Damals war Regenwetter, und von uns allen war Ida die Einzige, die in der Nässe wirklich Spaß hatte. Vielleicht hat Ida eine dieser turmähnlichen Holzhütten im Traum wiedergesehen.
Als ich von den Notizbüchern erzählte, die Constri und ich in unserer Kindheit geführt haben, zeigte Ida mir ihr eigenes. Viele Bilder sind darin und ein wenig Text.
Am Mittwoch war ich im "Departure" mit Highscore und Magdalena. Wir saßen in der kultigen, gemütlichen "Sperrmüll-Lounge", dem nostalgisch-plüschigen Fünfziger-Jahre-Wohnzimmer, das ganz in Beige und Braun gehalten ist und von spießigen Vintage-Wohnzimmerlampen und goldfarbenen Lichtschlangen erleuchtet wird.
Highscore erzählte, Bibian trinke im Laufe einer Nacht im "Keller" bestimmt eine halbe Flasche Jim Beam, gemixt mit Cola. Während Highscore nach einer Viertelflasche Schnaps sturzbetrunken sei, könne Bibian nach der doppelten Menge noch gerade gehen und sprechen, ohne zu lallen.
Highscore und Magdalena hatten Rafa am gestrigen Abend auf dem Jahrmarkt in SGH. gesehen. Rafa sei mit Anwar unterwegs gewesen, nicht mit einem Mädchen. Rafa habe Highscore gebeten, ihm Feuerwerkskörper zu besorgen. Dafür wollte er Highscore auf die Gästeliste zum W.E-Konzert setzen, das Anfang November im "Zone" stattfindet.
Magdalena erzählte von dem verheirateten Mann, mit dem sie im Frühjahr ein Verhältnis begonnen hatte. Magdalena stellte ihn im Sommer vor die Wahl. Er sollte sich zwischen ihr und seiner Frau entscheiden. Nur wenn er sich für Magdalena entschied und seine Frau verließ, wollte sie die Beziehung fortsetzen. Seither hat sie von dem Mann nichts mehr gehört. Sie trauert ihm nicht besonders nach.
Magdalena erzählte, sie ärgere sich über sich selbst, wenn sie auf jemanden hereinfalle. Ich meinte, es gebe Erfahrungen, die müsse man erst gemacht haben, um rechtzeitig zu merken, wenn jemand einen aufs Glatteis führen wolle. Magdalena werde nach ihren Erfahrungen vermutlich seltener und weniger leicht auf jemanden hereinfallen als vorher. Das Tückische an Rafa sei, daß er sich bevorzugt die Mädchen aussuche, die solche Erfahrungen noch nicht gemacht hätten oder es nicht schafften, aus ihren Erfahrungen Konsequenzen zu ziehen.
Magdalena leidet immer noch unter ihrer Chefin, will aber bis zum Ende ihrer Ausbildung in anderthalb Jahren durchhalten.
Niederträchtige Vorgesetzte sind mir aus zahlreichen Erfahrungen bekannt. Inzwischen hat sich auch der "furchtbar" nette Chef der psychiatrischen Klinik in Lk. als narzißtisch und bösartig entpuppt. Er attackierte mich mit nebulösen, bizarr anmutenden Vorhaltungen, die er weder beschreiben noch belegen konnte. Ich vermute, daß der Chef unbewußt versuchte, mir seine eigenen Defizite anzudichten. Er faselte irgendetwas Unzusammenhängendes von "emotionaler Intelligenz". Angesichts meiner abwartenden Haltung ging ihm nach wenigen Minuten die Munition aus. Eigentlich wollte er mich hinauswerfen, wußte aber beim besten Willen nicht, warum. Ich ließ ihn in aller Ruhe auflaufen. Und ich ergriff die nächstbeste Gelegenheit, mich von der Privatstation wegzumelden, um dem Chef so wenig wie möglich zu begegnen. Ich vermute, daß der Chef unbewußt vor Neid einschmolz, weil ich ihm in mancherlei Hinsicht überlegen bin - zum Beispiel im Bereich der sogenannten "emotionalen Intelligenz". Das dürfte auch der Grund sein, warum er mich loswerden wollte. Er kann mein Vorhandensein nicht ertragen, weil es ihn mit seinen eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert.
Zumindest in Lk. ist der Chef mit seinen Attacken gegen mich allein. Er hat im Kollegium keinen Rückhalt, auch keine "Entourage", die hinter ihm steht.
"Weg hier, sobald ich die Facharztprüfung bestanden habe", nahm ich mir vor.
Es ist ungünstig, wenn ausgerechnet der Chef der Einzige ist, der einen attackiert. Allerdings sind psychopathische Persönlichkeiten gerade in Führungsetagen besonders häufig zu finden - ausgerechnet da, wo sie besonders viel Schaden anrichten können.
Nun gilt es, dem Chef auch weiterhin keine Angriffsflächen zu bieten und ihm zu verheimlichen, wie ich über ihn denke - und das für mindestens zwei Jahre. Mit Lächeln und Schweigen kann man gute Arbeitszeugnisse und einen vorzeigbaren Lebenslauf erkaufen. Zum Glück gibt es genügend Menschen, zu denen ich ehrlich sein kann.
Ein verstörender Traum inspirierte mich zu der Kurzgeschichte "Ein Ausflug". Auch in dieser Geschichte geht es um Bösartigkeit und lebensrettende Heimlichkeiten. Im Wesentlichen findet sich die Handlung des Traumes in der Geschichte wieder: Die Entführung bis zum Beginn der Flucht ist unmittelbar der Traumhandlung entnommen. Mich selbst habe ich in der Kurzgeschichte allerdings durch ein elfjähriges Kind ersetzt.
Beatrice erzählte am Telefon, wie sie ihre Mutter wiedergefunden hat. Beatrice ist als Adoptivkind aufgewachsen. Beide Adoptiveltern sind schon lange verstorben. Vor zwei Jahren hat Beatrice vom Jugendamt die Adresse ihrer Mutter bekommen. Ein als Einschreiben versandter Brief kam zurück. Später stellte sich heraus, daß die Mutter zu jener Zeit im Urlaub war und das Einschreiben nicht abholen konnte. Beatrice ließ sich entmutigen und wagte keinen zweiten Versuch. Im August dieses Jahres telefonierte sie nach längerer Zeit wieder mit Lessa, zu der sie seit ihrer Hochzeit im Sommer 2007 kaum noch Kontakt gehabt hatte. Lessa hat in den Neunzigern in meinem Bekanntenkreis "aufgemischt" mit ihrer impulsiven, flatterhaften, manchmal auch aggressiven Art. Sie ist ruhiger geworden im Laufe der Jahre. Lessa erzählte Beatrice von den Konflikten mit ihren eigenen Eltern, mit denen sie lange zerstritten war, bis sie sich endlich wieder mit ihnen versöhnte. In diesem Zusammenhang fragte Lessa, wie es denn mit Beatrice und ihrer Mutter aussehe. Da erzählte Beatrice von ihrem gescheiterten Versuch, mit ihrer Mutter Kontakt aufzunehmen. Lessa fragte, ob die Telefonnummer von Beatrices Mutter im Telefonbuch stehe. Beatrice bejahte. Da sagte Lessa nur:
"Dann rufe ich sie jetzt an."
Ehe Beatrice etwas erwidern konnte, legte Lessa auf.
Wie es weiterging, erfuhr Beatrice schon bald: Lessa erreichte Beatrices Halbschwester Ava und bat sie, die Mutter um Rückruf zu bitten. Die meldete sich bei Lessa am kommenden Vormittag, und Lessa gab ihr Beatrices Nummer. Dann rief die Mutter Beatrice an. Noch am selben Tag trafen sie sich am CITICEN und gingen miteinander Kaffee trinken. Sofort sei da eine tiefe Vertrautheit gewesen. Die Mutter sei ihr in Vielem ähnlich, auch im Aussehen. Sie war bestürzt, zu hören, daß Beatrices Adoptiveltern nicht mehr leben. Beatrice versicherte ihr aber, daß beide sie sehr geliebt hätten.
Beatrice ist das Ergebnis eines One Night Stands an einem spanischen Strand. Von Beatrices Vater weiß die Mutter nur den Spitznamen. Es ist praktisch unmöglich, den Vater wiederzufinden. Die Mutter lebte in ihrer Jugend in verschiedenen Hippie-WG's und hatte weder eine feste Lebensplanung noch eine wirtschaftliche Absicherung. Sie wollte ihr Kind nicht solchen Verhältnissen aussetzen. Sie wünschte sich, daß es in einer "richtigen" Familie aufwuchs. Sie gab es also zur Adoption frei. Oft dachte sie daran, wie es ihrem Kind wohl ergangen sei, doch Informationen konnte nur das Kind über seine Herkunft erhalten, nicht die Mutter über ihr Kind.
Beatrice verschwieg ihrer Mutter, daß sie nach dem Tod des Adoptivvaters jahrelang durch den Stiefvater sexuell mißbraucht wurde. Auch die Alkoholabhängigkeit der Adoptivmutter verschwieg sie.
Beatrices Mutter bekam später drei weitere Töchter, von drei verschiedenen Männern. Die beiden älteren haben eigene Haushalte, die jüngste - Ava - ist siebzehn und lebt bei den Eltern, die verheiratet sind. Beatrices Mutter hat den Namen ihres Mannes angenommen. Die Familie lebt in dem Stadtteil Lnd. Beatrice hat Geschwisterkinder. Eigene Kinder konnte Beatrice nicht bekommen.
Es gibt Neues von der Verwandtschaft in und um FR. Meine Cousine Vivien hat einer Tochter das Leben geschenkt. Sie heißt Deta und macht den dreieinhalbjährigen Jay zum großen Bruder.
Halloween feierten Constri und ich bei Onno und seiner Lebensgefährtin Endera. Viele Gäste hatten sich kunstvoll verkleidet. Endera trug ein altes Unterkleid, weißes Farbspray im Haar und eine abenteuerliche Dekoration. Einer ihrer Bekannten, der wie sie in der Floristikbranche arbeitet, hatte sich als Mädchen verkleidet. Er ist Florist, und weil man in diesem Beruf kaum etwas verdient, holt er das Abitur nach und will danach am liebsten in die biologische Forschung. Von seinem Freund hat er sich getrennt, unter anderem, weil der fast nie Zeit für ihn hatte. Der Ex-Freund studierte im Zeitraffer Medizin und nahm danach eine Stelle als Assistenzarzt in der Psychiatrie in E. an, wo er täglich mehr als zwölf Stunden arbeitete. Wegen eines beginnenden Burnouts wechselte er nach D., jedoch zeichnen sich hier bereits ähnliche Verhältnisse ab. Es ist die Frage, woran es mehr liegt - an der Struktur der Kliniken und oder an ihm selbst, dem es nicht gelingt, sich gegen den Druck von außen abzugrenzen.
Ray erzählte, daß seine Geliebte Clara wegen ihres Referendariats für eine Weile wegziehen muß. Er sei ganz froh darüber, denn sie wolle immer eine Menge von ihm - wobei das, was sie im Bett von ihm wolle, durchaus angenehm sei.
Nachts waren Constri und ich im "Lost Sounds" bei einem Konzert von Mono no aware. Sowohl von der Band als auch von den DJ's gab es rhythmischen Noise zu hören, und wir tanzten fast die ganze Zeit. "We have explosive" von The Future Sound of London kannte ich noch nicht.
Barnet erzählte, daß seine Tochter Felicity eine Fachschule für Grafik und Design in MI. besucht und daß diese Schule an sich keine Ausbildung darstellt, sondern eine Zwischenstufe, eine Vorbereitung. Felicity träume wie viele Mädchen davon, ihren Lebensunterhalt durch das Zeichnen von Mangas zu verdienen. Barnet will ihr ein Praktikum bei einer Design-Agentur vermitteln, die für Audi tätig ist, dort könne sie Kontakt zur beruflichen Wirklichkeit vieler Designer bekommen.
Zu Allerheiligen war ich nachmittags in der Grundschule in Awb., die Constri und ich vor über dreißig Jahren besucht haben. Im Rahmen einer Benefiz-Veranstaltung hatte Denise in der Aula ihren ersten Ballett-Auftritt. Fünfjährige Mädchen hüpften in Schmetterlings-Kostümen auf der Bühne herum, bildeten eine Kette, drehten sich im Kreis. Die stolzen Muttis und Vatis filmten und fotografierten. Derek wäre auch gern dabeigewesen, lag aber mit einer Erkältung zu Bett.
In der Aula wurden Anfang der siebziger Jahre Klassenfotos gemacht, auf denen auch ich zu sehen bin. Und es gab Schulaufführungen, bei denen unsere gesamte Klasse auf der Bühne stand.
Zu der heutigen Benefiz-Veranstaltung gehörte ein Wohltätigkeitsbasar. Ich kaufte Tücher aus Kaschmir, Yak-Wolle und Seide, die aus Nepal stammen. An einem Stand traf ich meine Schulfreundin Sibyl wieder, nach sechsundzwanzig Jahren. Wir haben miteinander das Gymnasium besucht. Sibyl hatte ihre beiden Töchter dabei, die nun etwa so alt sind wie Sibyl und ich, als wir miteinander zur Schule gingen. Die Mädchen heißen Raquelle und Ashlyn. Sie lächelten charmant und drängten die Mutter, mit ihnen in eine neu eröffnete Shopping Mall in der Nähe des Hauptbahnhofs zu gehen.
Sibyl erzählte, sie habe ihren Mann in die Wüste geschickt - buchstäblich. Er sei zu seinen Verwandten gezogen, die in Enugu leben, einer Stadt in Nigeria. Sibyl und ihre Töchter haben guten Kontakt zu der Verwandtschaft und reisen öfters nach Enugu.
Sibyl hatte schon als Kind eine Schwäche für die große weite Welt. Sie las mit elf Jahren "Der Graf von Monte Christo" von Dumas und "Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses" von Brown. Sie stammt aus einer verschlafenen Wohnsiedlung in der Nähe von H. Sie wäre gern mehr in der Welt herumgekommen, sei letztlich aber in H. "hängengeblieben". Sibyl ist Krankenschwester und arbeitet in der Gynäkologie.
Sibyl erzählte, durch mich sei sie damals in der Schule ans Zeichnen gekommen; die Bilder von Asterix und Obelix hebe sie immer noch auf.
Sibyl und ich wollen uns bei ihr treffen, sie wohnt mit ihren Töchtern in der Südstadt von H.







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Abends war ich im "Ebenholz" in HF., einem zur Veranstaltungs-Location umgebauten Gasthof mit Saal und Bühne. Dort gab es ein Elektro-Festival mit mehreren kleineren Acts, unter ihnen Exilanation und Berenices Musikprojekt. Tyra war dieses Mal auch dabei. Berenice und Tyra tragen ihr Haar inzwischen beide schulterlang und dunkel gefärbt. Berenice hatte heute ein schwarzes Kleid mit Ausbrenner-Dekor an - vielleicht sogar das, in dem sie Rafa vor neun Jahren widerwillig zu Kappas Hochzeit begleitet hat.
Erst kürzlich meldete Rafa sich wieder bei Tyra und wollte sie zum Essen einladen. Tyra lehnte das ab. Sie befürchtete, daß ihm ein gemeinsames Essen nicht genügen würde. Sie berichtete, daß Rafa nicht aufhört mit seinen Versuchen, sie als Geliebte zurückzugewinnen.
Für Rafa war es noch nie ein Widerspruch, um Tyra zu werben und gleichzeitig mit anderen Mädchen Liaisons zu unterhalten. Und er ist sehr geübt darin, seine Geliebten voreinander zu verstecken.
Tyra hat Anfang Oktober eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Bkb. gemietet, ist dort aber noch nicht eingezogen. Sie erzählte, sie werde in der neuen Wohnung eine Waschmaschine haben und nicht so abhängig sein von den Launen ihrer Mutter wie damals in SHG., wo die Mutter manchmal wochenlang Tyras Wäsche nicht abholte.
Im "Ebenholz" wurde ich am Merchandize-Stand von einem Verehrer namens Loki umgarnt. Er zeigte sich fasziniert von meinem "superscharfen Outfit". Ich hatte das schwarze Lackkleidchen an, das mit weißer Spitze verziert ist, und trug schwarze und weiße Bänder in der Zöpfchenfrisur. Als ich in einer Pause zwischen den Konzerten zu "Lost" von Rotersand tanzte, konnte Loki sich nicht darüber beruhigen, daß ich die Einzige war, die tanzte, und daß ich in Pirouetten über die Tanzfläche lief. Er wollte noch mehr davon sehen. Ich erklärte ihm, daß das von der Musik abhängt und daß ich nur wegen der Musik tanze.
Loki beschäftigte sich viel mit einem Flyer, der für Underground-Mode warb. Er hatte gedacht, die abgebildeten Kleidungsstücke seien für Ankleidepuppen, zum Ausschneiden. Ich gab ihm eine Schere, mit der er einige der Kleidungsstücke ausschnitt. Ich meinte, ich könnte zu Hause eine Puppe ausschneiden, der man diese Kleidungsstücke anziehen könne. Das wäre etwas für meine Nichte. Loki betonte, daß er sich mit solchen Ankleidepuppen auskenne, schließlich sei er Vater. Vor allem befaßte er sich mit dem Foto eines Schlüpfers, auf dem "Gothic Girl" stand. Er habe schon vieles gesehen, was auf den Strings der Mädchen gestanden habe. Doch keine, die er im Bett gehabt habe, habe einen String getragen mit der Aufschrift "Gothic Girl".
Als Loki mich nach meinem Alter fragte und ich wahrheitsgemäß antwortete, schien er damit nicht zurechtzukommen.
"He, du bist dreiunddreißig", sagte er, und in einen anderen Satz ließ er einfließen, ich sei achtundzwanzig.
Er selber ist Ende dreißig.
Es kam mehrfach vor, daß Loki mich betrachtete und dann sagte:
"He, geh' weg, ich will dich nie wiedersehen."
"Warum willst du mich denn nie wiedersehen?"
"Weil ich dich nicht mehr vergessen kann, wenn ich dich noch länger ansehe."
Als ich Fruchtgummis aß, rief Loki:
"Oh nein, tu' mir das nicht an!"
Ich gab ihm einige, und er rief:
"Hör' auf, hör' auf!"
Im Laufe des Abends wurde Loki immer betrunkener.
Als das Konzert von Berenices Projekt kurz bevorstand, meldete Tyra:
"Rafa ist hier."
Rafa hatte das "Rotjäckchen" im Schlepptau. Sein Gesicht war mit einer dicken Make-up-Schicht bedeckt. Er trug die schwarze Lokomotivführermütze und eine schwarze Uniformjacke mit Silberknöpfen. Tyra und ich gingen im Gewühl auf ihn zu, wobei ich Rafa an der Schulter streifte. Er begrüßte Tyra freundlich und recht ausführlich. Durch mich sah Rafa hindurch.
Vor dem Merchandize-Stand, hinten rechts im Saal, postierte Rafa sich mit "Rotjäckchen" und setzte seine Spiegelbrille auf. Rafa konnte dabei zusehen, wie Loki mich am Merchandize-Stand umgarnte. Eifersüchtig konnte Rafa dabei eigentlich nicht werden; er betont ja immer wieder, daß er sich nicht für mich interessiert.
Als ich vorne im Publikum stand - das Konzert hatte noch nicht begonnen -, streifte jemand an meinem Rücken entlang und ging auf die Theke zu. Das war Rafa. Er holte zwei Getränke und ging, in jeder Hand eines, zu seinem Platz zurück - dieses Mal vor mir, in größerem Abstand, das brillenbewehrte Gesicht mir zugewandt.
Einer der Veranstalter kam auf die Bühne. Er sagte das Konzert an und fügte hinzu:
"Im Hinblick auf die anwesende Prominenz: Jetzt wissen wir, warum das Konzert von W.E ausgefallen ist!"
Es wurde gekichert und geklatscht. In Wirklichkeit hatte Rafa für heute gar kein Konzert geplant. Der Spruch des Veranstalters war lediglich eine Neckerei.
Zu Berenices Line-up gehörte das Stück "Kalte Liebe", das sich auf die Beziehung von ihr und Rafa bezieht. Der Text handelt vom scheinbaren Glück, das in einer Enttäuschung untergeht. Jedesmal, wenn Tyra sang:
"Deine Liebe, so kalt!"
- zeigte sie mit ausgestrecktem Arm auf Rafa.
Am Ende sang Tyra:
"Meine Liebe, so kalt!"
Als das Konzert gerade vorbei war und Berenice, Tyra und Baryn noch auf der Bühne beim Abbauen waren, marschierte Rafa mit "Rotjäckchen" zum Ausgang.
"Das war wohl zuviel für ihn", dachte ich.
Tyra sah das ähnlich. Sie meinte, wenn das Konzert nichts geworden wäre oder nicht gut angekommen wäre, dann wäre Rafa noch dageblieben und hätte getröstet:
"Das ist immer so am Anfang, das war bei mir auch so!"
Jetzt aber war er zum Publikum degradiert und konnte nur zuschauen, nicht den großen Gönner spielen.
Tyra erzählte, mit voller Absicht habe sie bei dem Vers "Meine Liebe, so kalt!" auf Rafa gezeigt, und ihr sei aufgefallen, daß ich lächeln mußte.
Berenice erzählte, ihr sei mitgeteilt worden, daß Rafa da war. Er sei aber nicht auf sie zugegangen.
Ich meinte, Rafa sei in seinem Verhalten und seinem Lebensstil wahrhaft armselig.
"Armselig, das ist der passende Ausdruck", sagte Berenice.
Nach dem letzten Konzert des Festivals gab es noch Tanz, woran Loki sich nicht beteiligte - trotz seines mehrfach geäußerten Wunsches, mit mir zu tanzen. Vielleicht war er einfach zu betrunken. Berenice, Tyra und ich tanzten jedenfalls.
Gegen halb drei Uhr morgens kam ich in den "Keller", wo es eine nachgeholte Halloween-Party gab. Rafa saß hinten im Tanzraum - ohne Spiegelbrille -, umgeben von dem "Rotjäckchen" und einigen Herren. Sie saßen eng zusammengedrängt in einer Nische. Rafa hielt die gewohnten Volksreden. Ich wollte ihn dabei nicht stören und ging vors DJ-Pult, wo ich mehrere Leute begrüßte. Sie bewunderten die weiße Spitze an meinem schwarzen Lackkleid, die im Schwarzlicht lilablau aufleuchtete. Maylin reparierte mir ein Stück Spitze mit einer Sicherheitsnadel. Der DJ spielte für mich "Lost" von Rotersand. Etwas später lief das ebenfalls sehr tanzbare "Dirtygrrrls/Dirtybois" von Faderhead ("Dirty girls, dirty boys"). Rafa hielt es nicht mehr lange im Tanzraum; er verschwand mit seinem Troß im Schankraum, wo er noch einige Zeit blieb. Ich blieb beim DJ-Pult.
Gegen Morgen, als es im "Keller" leerer wurde, kam Rafa noch einmal in den Tanzraum. Mit einigen Leuten stand er hinten an einem Tisch und blickte in meine Richtung. Er schien sich nur verabschieden zu wollen; er verschwand kurz darauf endgültig.
Zu Allerseelen war ich mit Constri und Denise abends auf dem Friedhof. Wir alle waren mit Leuchtstäbchen verziert. Denise trug ein Collier aus Leuchtstäbchen um den Hals, Constri trug mehrere Armreifen, ich trug Knotennadeln aus Leuchtstäbchen. Denise fand es gruselig auf dem Friedhof und kam nur mit, weil ihr ein großes Eis versprochen wurde. Das gab es im "Labyrinth", wo wir anschließend einkehrten. Dorthin kamen auch Gesa, Sator, Talis und seine Frau Janice. Talis erzählte von seiner Arbeit im Botanischen Garten. Eigentlich habe er einen Traumjob - sicher und ohne übermäßigen Streß. Dennoch gehe ihm öfter die Frage durch den Kopf:
"Und das willst du noch bis zur Rente machen?"
Ihm sei klar, daß jede berufliche Veränderung für ihn ein unkalkulierbares Risiko und zweifelhaften Nutzen mit sich brächte.
Wie Talis geht es auch Sator, der Bahnbeamter ist. Das Gehalt ist mäßig, der Job eher langweilig, aber sicher und ohne übermäßigen Streß.
Wir unterhielten uns über mögliche Veränderungen in der Zukunft, darunter das Abschmelzen der Polkappen:
"H. wird Hafenstadt ... sogar Lagunenstadt. Man parkt die eigene Gondel vor der Tür. Und in der City hat jeder U-Boot-Anschluß."
Wie immer zu Allerheiligen gedachten wir der Toten. Sator erinnerte sich an den Tod seiner Mutter vor zwei Jahren. In seiner Trauer habe er sich durch den Genuß großer Mengen edler Lebkuchen aus N. geholfen. Er habe bestimmt vier oder fünf Pakete bestellt und dann sehr schnell leergegessen. Die Adresse der Lebkuchenfirma hatte ich ihm gegeben. Einerseits ärgerte ihn das, andererseits war er sich im Klaren darüber, daß er zu jener Zeit die Süßwaren gut gebrauchen konnte.
Sator erzählte von einem Verkehrsunfall im September dieses Jahres. Aus Unachtsamkeit fuhr ihm jemand ins Auto, auf der Autobahn, bei hohem Tempo. Sator hatte Glück im Unglück; er trug nur ein Schleudertrauma davon. Ein neues Auto hat er auch schon.
Constri erzählte von Magnus, der sich als Glückspilz betrachtet, obwohl er so schauerliche Erlebnisse hatte wie den Unfall auf der Serpentinenstrecke in Griechenland. Sie bewundert, daß jemand auch in etwas so Schrecklichem noch etwas Positives sehen kann.
Denise zeigte ihre Puppen vom Wohltätigkeitsbasar, denen sie mit Constris Hilfe Kleider genäht hatte. Sie berichtete, daß sie schon mit der ganz dünnen Nadel nähen und sogar einfädeln kann.
Denise aß ihren Kinderteller auf, dann das große Eis, dann legte sie sich neben uns auf der Bank schlafen. Constri deckte sie mit einer Jacke zu. Denise sorgte dafür, daß die Puppen auch zugedeckt waren. Sie steckte sie in ihren Ärmel, so daß nur noch die Köpfe herausschauten.
Constri erzählte später, nach dem Abend im "Labyrinth" habe Denise sie gefragt:
"Warum eigentlich sagt einer von euren Freunden, er sei ein Glückspilz?"
Constri erklärte ihr, daß Magnus stets versucht, in allem das Gute zu sehen, auch in schrecklichen Dingen.
Am Mittwochabend war ich mit Kioran im "Interface". Wir tranken Chai Latte. Kioran erzählte von Eden, dem "kleinen blonden Giftchen", nach dem er sich immer noch verzehrt. Sie sei so gut im Bett.

In einem Traum geriet ich in eine Art Camp, ein militärisches Schulungslager, das sich in einem Betonbau befand, umgeben von bewaldeter Landschaft, an einem Hang gelegen. 38 Leute gehörten zu meiner Gruppe. Ehe ich schlafen gehen durfte, sollte ich einen von ihnen erschießen. Dies wurde mir mit Bestimmtheit aufgetragen, was zwischen den Zeilen hieß, daß ich selbst liquidiert würde, wenn ich es nicht tat. Mir war klar, daß ich es nicht über mich brachte, jemanden zu erschießen, und deshalb niemanden erschießen würde. Mein Leben war verwirkt. Das Einzige, was mich retten konnte, war, daß mein Vorgesetzter vergaß, die Leute in meiner Gruppe durchzuzählen. Noch während ich mir das vor Augen führte, wachte ich auf.

Dieser Traum bezog sich auf die Psychiatrie in Lk. mit dem bösartigen Chef und dem Wald hinterm Klinikgelände, wo es hangaufwärts geht, zu einem Hügelkamm. Ich machte aus dem Traum die verstörende Kurzgeschichte "Achtunddreißig". Träume sind für mich ein Stoff, aus dem Geschichten sind.
Am Samstagabend sah ich ein Konzert von Howard Jones in einem Theater in H. In den achtziger Jahren trat Howard Jones mit elektronischen Arrangements auf. Bei der diesjährigen Tour verwendete er nur ein elektronisches Klavier, außerdem war ein Gitarrist dabei. Auf mich wirkte das etwas karg, sehr schlicht, ähnlich wie ein "Unplugged"-Konzert. Zugleich wirkte es aber auch feierlich, näher an einem Klassik-Konzert als an einem Pop-Konzert. Howard Jones scheint sich mittlerweile vor allem als Pianist zu verstehen. Er hat auch schon Alben mit Klaviermusik herausgebracht, gespielt auf einem Konzertflügel.
Die Stimme von Howard Jones klang noch fast so wie früher. Und er spielte und sang all die Titel, mit denen er damals berühmt geworden ist, zwischen 1983 und 1985. Howard Jones gehört zu denen, deren Musik früher in den Charts die oberen Plätze belegte und heute kaum noch im Radio gespielt wird - sehr zu Unrecht, wie ich finde.
Während ich bei dem Konzert war, war Constri in HB. auf der Geburtstagsfeier von Rufus, der vierzig geworden ist. Vorher besuchte sie Giulietta, und Derek besuchte Folter. Folter hat erzählt, wenn Derek von seiner Tochter Denise spricht, fangen seine Augen an zu leuchten. Wenn Derek Folter besucht, zeigt er ihm lauter Fotos und Videos von Denise.
Die Party von Rufus soll sehr amüsant gewesen sein. Folters Kollege Drees tanzte betrunken herum und machte Annäherungsversuche bei Constri, die ihn jedoch abwies.
Rufus wohnt immer noch mit Geneviève in dem Haus in HB., das die beiden vor Jahren gemeinsam gekauft haben. Es ist die finanziell günstigste Lösung. Rufus und Geneviève sind nicht mehr zusammen, verstehen sich aber noch. Geneviève leidet an Schizophrenie.
Arlissa, die neue Lebensgefährtin von Rufus, war auch auf der Party. Sie lebt in HL. Rufus und Arlissa führen eine Wochenend-Beziehung.
Mitte November fand die Scheidung von Constri und Derek statt. Keiner von beiden schien besonders darauf aus zu sein, sich scheiden zu lassen. Keiner von beiden wirkte besonders fröhlich oder gar erleichtert.
"Ich habe aus Liebe geheiratet und lasse mich wegen Geld scheiden", war Constris Kommentar.
Sie steht finanziell wesentlich besser da, wenn sie nicht mit Derek verheiratet ist. Er hat ihr eher das Geld aus der Tasche gezogen, als welches hineinzulegen. Das hängt auch damit zusammen, daß er es beruflich nie zu etwas Nennenswertem gebracht hat. In seinem erlernten Beruf als Lagerist hat er kaum je gearbeitet. Meistens hat er angelernte Tätigkeiten ausgeübt, die schlecht bezahlt wurden. Zwischendurch war er arbeitslos oder in einer Maßnahme des Arbeitsamts. Er hat oft den Job gewechselt. Was er zur Zeit macht, weiß ich nicht.
In der Samstagnacht waren Constri und ich im "Mute". Revil berichtete freudestrahlend, daß er seit drei Monaten endlich eine Lebensgefährtin hat, Lania. Er sei "auf Wolke 7". Er scheint tatsächlich das große Glück gefunden zu haben, auch wenn die Beziehung erst seit so kurzer Zeit besteht. Die beiden haben sich durch die Arbeit kennengelernt. Lania ist Pflegekraft, Revil ist Physiotherapeut.
Berit erzählte von ihrem Kampf um einen Therapieplatz in der Psychotherapie-Fachklinik in Bad B.
Magenta hat einen neuen Job. Sie muß nicht mehr in der Drogerie arbeiten.
Kappa, Xentrix und Haymo legten heute auf. Xentrix spielte unter anderem "Big man restless" von Kissing the Pink, einen Achtziger-Tanzboden-Hit, den ich sehr mag.
Saaras Schwester Danielle war mit ihrem Ehemann Mike im "Mute". Danielle erzählte voller Mutterstolz, ihre siebenjährige Tochter Gwyneth habe das beste Zeugnis ihrer Klasse erhalten.
Vor dem Eingang des benachbarten "Doomsday" traf ich Aubrey, einen guten alten Freund von Bertine. Aubrey erkundigte sich, wie es Bertine geht und ob sie noch mit Hakon verheiratet und in ihrer Ehe glücklich ist. Das bestätigte ich. Aubrey hatte für mehr als anderthalb Jahre keinen Kontakt mehr zu Bertine. Ich empfahl ihm, sie anzurufen; ihre Nummer sei noch dieselbe. Allerdings müsse er wissen, daß sie vor einem Jahr einen Trauerfall hatte:
"Sie hatte ein Kind, das ist schon nach neun Wochen gestorben. Darüber ist sie noch lange nicht hinweg, auch Hakon nicht."
Aubrey meinte, dann werde er lieber erstmal nicht anrufen. Ich entgegnete, ich sei sicher, daß Bertine sich über seinen Anruf freuen würde.
Constri fuhr nach Hause, ich fuhr zum "Roundhouse". Marvel spielte ein Elektro-Industrial-Stück nach dem anderen. Wäre das noch ein paar Stunden so weitergegangen, hätte ich mich wohl zu Tode getanzt.
In der Samstagnacht waren Constri und ich in BI. auf der legendären "Low Frequency"-Party. Dort ging es mit ultraharten elektronischen Rhythmen weiter. Allerdings gab es auch abgeklärtere Stücke, so daß Zeit für Pausen blieb. Wir trafen viele unserer Bekannten. Auch Heloise, Barnet und Joujou waren da. Joujou hatte die Sorge gehabt, ihren Job bei einem Software-Konzern zu verlieren, hat nun aber einen Jahresvertrag bekommen.
Constri, Barnet und ich saßen eine Weile an einem Tischchen in der Lounge. Barnet erzählte, daß seine Tochter Felicity nach dem Ende ihrer ersten Beziehung wieder einen Freund hat. Er heißt Kelvin, und Barnet kann ihn nicht leiden. Das hat Gründe. Kelvin verwendet Felicity als Geliebte. Er hat eine Freundin, will sich von der aber nicht trennen und auch Felicity nicht aufgeben. Barnet hofft, daß Felicity die Kraft finden wird, sich von Kelvin zu trennen, und zwar bald.
Felicity soll ansonsten in letzter Zeit auffällig brav sein. Barnet vermutet, das habe mit ihrem herannahenden achtzehnten Geburtstag zu tun und mit ihrer Hoffnung, dann von Barnet das erste eigene Auto geschenkt zu bekommen. Sie wollte zuerst am liebsten einen rosafarbenen Smart. Barnet führte ihr vor Augen, daß sie in einem Smart nicht mit einer Gruppe unterwegs sein kann. Da wollte sie dann doch lieber ein Auto mit mehr Sitzen. Barnet hat schon einen gut erhaltenen Gebrauchtwagen für Felicity ausgeguckt - in Schwarz. Ein rosafarbenes Auto läßt sich schlecht weiterverkaufen, weil Rosa nicht jedermanns Sache ist.
Gegen ein Uhr nachts gingen die Thekenkräfte durchs Gedränge mit großen Rundtabletts voller Mini-Schaumküsse, die kostenlos verteilt wurden, als kleine Stärkung. Wir ergatterten auch welche.
Dieser besondere Service gehört zu den Dingen, die mir an "Low Frequency" so gefallen. Das hat Stil, finde ich - wie die Obstkörbe im "Zone" und die Snack-Schalen im "Roundhouse".
Am Sonntagabend war ich bei meiner Schulfreundin Odette in Awb. Sie hatte ihren leckeren Steckrüben-Eintopf gezaubert, passend zur Jahreszeit. Ihr zweijähriger Sohn Darren ist ein munteres, fröhliches Kind. Er ist der Sonnenschein von Odettes Vater, der im Vorderhaus des Anwesens wohnt.
Odette berichtete, daß ihr Mann Quentin den Schreibwarenladen in den Ruin gewirtschaftet hat, den sie in H. betrieben haben. Quentin könne einfach nicht rechnen. Er müsse sich nun eine Anstellung suchen.
Odette und ich riefen unseren alten Bekannten Sven an und gratulierten ihm nachträglich zum Geburtstag. Sven lebt immer noch in der Wohnung in Bu., wo er sich seit vielen Jahren wohlfühlt, und kann mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, die ebenfalls seit vielen Jahren dieselbe ist. Das Gleichbleibende hat für Sven etwas Beruhigendes. Er ist nicht verheiratet, hat aber seit vielen Jahren eine Liaison mit Susa. Odette ist seit Jahrzehnten mit Susa und ihrer Familie befreundet und hat Susas Kinder gehütet, als sie noch klein waren. Susas Ehemann Guy ist nicht der Vater der Kinder, sie stammen aus einer früheren Beziehung von Susa. Ob der treusorgende Guy weiß, daß seine Frau fremdgeht, ist unklar. Der brave Guy erinnert mich ein wenig an Jules, den Ehemann meiner Kollegin Lana. Jules hat alle Eskapaden seiner Frau toleriert und ist letztlich derjenige, zu dem sie immer wieder zurückgekehrt ist.
Am Donnerstag war ich im "Keller" zum Rippchenessen. Lucerna bediente und verteilte Prospekte einer Kerzenfirma. Lucerna macht mit Kerzen das, was "Tupper-Damen" mit Küchenartikeln machen. Sie tritt als "Kerzen-Dame" bei Kerzenparties auf. Wir vereinbarten, daß auch bei mir eine solche Party stattfinden soll, nachmittags und im Rahmen eines Kaffeekränzchens. Lucerna erzählte, bei Ceno habe eine solche Party abends stattgefunden. Es sei sehr lustig gewesen. Ceno habe nach der Kerzen-Präsentation mit ein paar Übriggebliebenen bis morgens um vier Uhr weitergefeiert.
Ceno war heute auch im "Keller". Er lebt nicht mehr in dem baufälligen Haus, das ich noch kannte, sondern in einer Mietwohnung. Er hat Kontakt zu seinem Sohn. Neulich hat er seine Hündin Pixie wiedergesehen. Bibian hat Pixie vor einiger Zeit übernommen. Ceno trank heute Tee statt Alkohol, ein ungewohntes Bild.
Ceno erzählte von der Trennung von seiner letzten Freundin. Sie habe immerzu mit ihm gestritten, das habe er irgendwann nicht mehr ertragen können. Die beiden waren nicht sehr lange zusammen.
Weil Highscore für Rafa Feuerwerkskörper besorgt hat, durfte er kostenlos zu dem Konzert, das Rafa Anfang November mit W.E im "Zone" gab. Highscore stand vorne, vor der Bühne. Neben ihm stand das "Rotjäckchen". Auf der Bühne standen Rafa, Dolf, Darienne und Lucy.
"An Darienne ist ja nichts dran", mißbilligte Highscore die dürre Figur. "Lucy, die ist normal."
Darienne betont immer wieder im Internet, wie stolz sie auf ihre Magerkeit ist.
Fünf Minuten nach dem Ende des W.E-Konzerts rief Highscore Rafa auf dessen Handy an und bat ihn, herunterzukommen, denn er habe jemanden mitgebracht, der ein Autogramm wollte. Rafa kam gleich herbei, und als er das Autogramm gab, kamen noch viele andere Leute, die Autogramme wollten.
"Bin ich froh, daß ich nicht da war", seufzte ich. "Das Theater hätte ich mir nicht ansehen wollen."
Rafa soll das "Rotjäckchen" im Sommer als neue Freundin präsentiert haben, außerdem hat er sie im September im "Keller" angebalzt - das war es allerdings auch schon. Im Internet wird das "Rotjäckchen" nirgends als seine Partnerin dargestellt, auch nicht auf Fotos. Im "Zone" soll ebenfalls nicht erkennbar gewesen sein, daß Rafa und das "Rotjäckchen" ein Paar sind.
Highscore erzählte von der elektronischen Schnitzeljagd "Geocaching". Im Rahmen einer solchen Schnitzeljagd ist er auf ein verlassenes Kasernengelände in H. gelangt und konnte mir dieses nun als "Lost Place"-Geheimtip nennen, wo man interessante Fotos machen kann.
Highscore erzählte, welche Waffen er erwerben darf, wenn er den Sportschützenschein hat. Er darf mehrere Langwaffen, einige Pistolen und eine halbautomatische Pistole erwerben. Er muß sich dann einen Waffenschrank zulegen.
Maschinengewehre und Maschinenpistolen gelten als Kriegswaffen, ebenso Handgranaten; ihr Besitz ist dem Militär vorbehalten.
Gegen halb zwei Uhr morgens traf ich Anwar im Schankraum. Er fragte, ob ich ihn mitnehmen konnte.
"Willst du nach H.?" erkundigte ich mich.
Anwar erklärte, daß das Haus, wo er lebt, sich auf meinem Weg nach H. befindet. Ich nahm ihn mit. Er bestaunte den Mercedes und bat mich, die Lüftung noch nicht hochzudrehen, damit er dem Motor lauschen konnte. Das tat er denn auch andächtig. Vor allem staunte Anwar, weil das Auto mit dem ersten Motor bereits mehr als 600.000 Kilometer gefahren ist.
Anwar zeigte sich nett, aufmerksam und höflich. Das Wort "Rafa" fiel in unserem Gespräch nicht, und ich vermied es auch sorgsam. Ich denke, es ist ein Reizwort für Anwar. Ähnlich wie einst Dolf muß Anwar Rafa dabei zusehen, wie er ein Mädchen nach dem anderen um den Finger wickelt.
Am Schwarzen Brett in der Kantine in Lk. hängt neuerdings ein Zettel, der auch an anderen Schwarzen Brettern aufgehängt wurde und die Überschrift trägt:
"Hallo, ich bin es - Euer 'Oskar'!"
Es gibt Fotos zu sehen von einem weißen Kater mit wenigen schwarzen Flecken. Das niedliche Tier hielt sich im Sommer häufig in der Nähe der Klinikpforte auf und begrüßte morgens die Mitarbeiter. Wenn es regnete, saß der Kater manchmal ordentlich zusammengefaltet unter einem Papierkorb im Trockenen. Es ist ein zutraulicher Kater, an Menschen gewöhnt. Mittlerweile hat das Tier ein liebevolles Zuhause gefunden. Auf dem Zettel am Schwarzen Brett erzählt das neue Frauchen - eine Schwester aus der psychiatrischen Ambulanz -, wie sie den Kater zu sich genommen hat. Sie gab ihm den Namen "Oskar", ging mit ihm zum Tierarzt und richtete ihm bei sich daheim ein Plätzchen. Die Fotos auf dem Zettel zeigen den Kater in seinem neuen Heim und in seinem bisherigen Umfeld an der Klinikpforte. Unten steht eine Danksagung an alle, die dem Kater Futter gegeben und sich um ihn gekümmert haben, als er noch ein Streuner war.
In der Kantine unterhielt ich mich mit dem Sozialarbeiter Artus über Suchtkrankheiten. Artus meinte, wer sein Leben lang nur in süchtigen Strukturen gelebt habe, könne sich ein abstinentes Leben nicht vorstellen und es daher auch nicht als erstrebenswert betrachten. So komme es, daß viele Raucher ihre Nikotinabhängigkeit verteidigen mit Argumenten wie:
"Soll ich mich denn an gar nichts mehr freuen können?"
- oder:
"Sterben müssen wir alle mal, und ich will vor dem Sterben gelebt haben."
Sie reagieren geradezu empört, wenn man ihnen rät, das Rauchen aufzugeben. Das Suchtmittel wird als wichtigster oder gar einziger Lebensinhalt wahrgenommen. Die Süchtigen können sich nicht vorstellen, daß ein Leben ohne Suchtmittel erfüllt und glücklich sein kann.
Ende November waren Merle und ich in der Innenstadt unterwegs. Auf dem Opernplatz trafen wir Elaine und Jacy. Die beiden Mädchen übten japanische Kampftechniken. Jacy war mit ihrer Geburtstagsgesellschaft da. Außer Elaine waren das noch vier weitere Mädchen in Manga-Kostümen. Jacy war am Vortag fünfzehn Jahre alt geworden. Elaine war mit ihren dreizehn Jahren die Jüngste in der Gruppe. Primrose, Amethyst und Luciana sind vierzehn. Liliana, die viele Fotos machte, ist achtzehn. Jacy ging im angesagten Schottenkaro, mit Faltenmini. Elaine trug eine blaue Perücke, Primrose trug eine rosafarbene Perücke. Luciana trug plüschige Häschenohren. Die große, schlanke Amethyst trug ein schwarzes Minikleid mit Corsage und dazu eine violette Strumpfhose. Die Mädchen hatten sich mit viel Kajal und viel Aufwand geschminkt. Eben waren sie durch die neu eröffnete Shopping Mall am Hauptbahnhof gebummelt. Dort gibt es Sushi zum Taschengeldpreis. Im Opernhaus holte ich Karten für das Ballett "Cinderella", das Elaine, Constri und ich uns Mitte Januar ansehen wollen. Danach gingen Merle und ich mit allen Mädchen ins "Rondo", wo ich eine Runde Kaffee ausgab. Die Mädchen fotografierten sich gegenseitig in verschiedenen Posen. Elaine war schon mit drei Jahren Manga-Fan. Damals gab es im Fernsehen die Zeichentrickserie "Sailor Moon". Merle bastelte für ihre Tochter zum Kindergarten-Fasching ein "Sailor Moon"-Kostüm.
Dieses Jahr im Herbst waren Merle, Elaine und Jacy in KS. auf einer großen Anime-Convention. Nächstes Frühjahr wollen sie nach L. zur Buchmesse fahren, wo es einen Anime-Bereich geben wird. Dort treffen sich viele "Cosplayer", die sich wie Manga-Figuren zurechtmachen.
An unserem Tisch im "Rondo" legten die Mädchen ein Handy in die Mitte und spielten japanische Manga-Popsongs ab. Sie alle haben Lieblings-Tracks und Lieblings-Figuren: einmal die, die sie im "Cosplay" verkörpern, und einmal die Zeichentrick-Jungs, für die sie schwärmen.
Für Elaine ist die Anime-Welt ein willkommenes Parallel-Universum, das von Problemen im echten Leben ablenkt. Sie erzählte, daß sie auf der Realschule unglücklich ist und lieber auf die IGS gehen würde. Das ist nun in Vorbereitung.
Nachts war ich im "Alien", einer Location in BI., wo es eine Industrial-Party gab mit einem Live-Set der Band 100 Blumen. Mich empfing allgemeine Rhythmus-Versunkenheit auf der Tanzfläche, in die ich mich gleich einreihte. Allerdings fand ich die Tanzfläche deutlich zu klein. Zu den Highlights gehörten - außer dem Live-Set - "Animal Cannibal" von Tumor und "Headcase" von Terrorfakt.
Meine Schulfreundin Mariposa antwortete nach einem halben Jahr auf meine letzte E-Mail und erzählte von ihren Sorgen wegen ihres Lebensgefährten Remo, von dem sie sich gerade trennt:

Die Zeiten bleiben turbulent, da Remo einen Anwalt eingeschaltet hat, um mich rauszuklagen, d. h. ich muss eine Wohnung für Amina und mich finden, einrichten und umziehen ...

Sie will die gemeinsame Tochter Amina mitnehmen, wenn sie Remo verläßt.
Mit Evan aus KI. unterhielt ich mich in E-Mails über Backideen für die diesjährigen Katastrophenkekse. Auch Evans Kumpel Mika beteiligte sich, mit den Vorschlägen "Nikkeier Sturzplätzchen" und "W-Keks". Erstere beziehen sich auf Aktienkurse, Letztere auf den Noch-US-Präsidenten.
"Keep Backing", schrieb Mika.
Mit Layana unterhielt ich mich in E-Mails über eine Radio-Comedy-Serie, in der es um Alltagsgegenstände ging, die als Kunstwerke dargestellt wurden, darunter ein Werkzeugkasten und ein Parkhauspfeiler.
Layana schrieb:

Anscheinend leben wir inmitten von Kunstwerken, richtige Betrachtung vorausgesetzt ;)
Ich stell mir gerade vor, wie ein Aktionskünstler durch gezieltes Anfahren eine Parkplatzsäule gestaltet, und was dabei wohl herauskommen würde ...

In der Freitagnacht war ich im "Roundhouse". Barnet und Heloise brachten Felicity und eine ihrer Freundinnen mit. Kelvin hat sich noch immer nicht entschieden, ob er mit seiner jetzigen Freundin zusammenbleiben will oder sich für Felicity von ihr trennen will. Heute wollte Kelvin in HI. feiern gehen und später ins "Roundhouse" nachkommen. Felicity blickte immer wieder auf ihr Handy, weil sie auf eine Nachricht von ihm wartete. Gegen drei Uhr nachts meldete er sich tatsächlich und simste, er sei jetzt auf dem Parkplatz eines Autohändlers, gegenüber vom "Roundhouse", und erwarte Felicity dort. Felicity und ihre Freundin gingen hinaus ins gruselige Dunkel des Parkplatzes.
"Der kann morgen was erleben", kündigte Barnet an. "Der soll mir bloß unter die Augen kommen."
Das DJ-Set nahm erst gegen vier Uhr Fahrt auf. Marvel war durch einen Co-DJ ein wenig ausgebremst worden. Er spielte aber noch einige rasante Stücke, darunter "Mechanomatica" von Hypnoskull und "Terror against" von Punch Inc.
Als eine der Letzten verließ ich das "Roundhouse". Einer der Herren an der Pforte reichte mir eine Freikarte und sagte:
"Hier, für deinen Feentanz eben. War ja echt phänomenal."
Ich dankte artig und erklärte, eben dies komme mir jetzt recht. Ich hatte vergessen, Marvel nach neuen Freikarten zu fragen.
Auf der A2 rettete ich einen Fuchs, weil ich langsam genug fuhr, um rechtzeitig zu bremsen.
Am Nikolaustag war ich mit Denise, Constri und meiner Mutter beim Krabbelgottesdienst. Denise ist mit ihren fünf Jahren eigentlich schon fast zu alt dafür, es ist aber immer wieder eine niedliche Veranstaltung.
Die Plüsch-Kirchenmaus erzählte den Kindern, daß der heilige Nikolaus ein türkischer Bischof war und daß er armen Leuten geholfen hat, indem er große Teile des Kirchenschatzes weggab. Nach dem Vortrag der Kirchenmaus gab es, wie meistens, eine Bastelrunde. Denise bastelte dieses Mal selbständig. In den Jahren zuvor wollte sie nichts ohne Constri machen.
Abends gab Ray seine Geburtstagsparty in seiner Ein-Zimmer-Wohnung. Er lebt in einem siebenstöckigen Hochhaus am Stadtrand. Die benachbarte Wohnung ist frei geworden. Derek will dort einziehen, weil die Wohnung so günstig ist. Dereks Lebensgefährtin Juno will nicht mitkommen, sie zieht zu ihrer Familie. Derek und Juno sind aber noch zusammen.
Als das Gespräch auf den frühen Tod von Dereks Mutter kam, bat ich Derek, das Rauchen aufzugeben:
"Tu' deiner Tochter den Gefallen."
"Hab' doch schon reduziert", behauptete Derek. "Denise lenkt mich doch immer ab. Wenn ich auf den Balkon 'rauswill, ruft sie immer Sachen wie:
'Kannst du mir nochmal diese DVD 'raussuchen? Hast du diese CD für mich?'
Da komme ich gar nicht dazu, auf den Balkon zu gehen."
"Tja", meinte Constri, "sie weiß eben, daß du nicht auf den Balkon gehst, um dir H. von oben anzusehen."
Denise nickte wissend.
Terry erzählte, daß Linus sich nach wie vor fast nur bei "Second Life" aufhält, einem Internet-Paradies mit grell türkisblauem Meer, endlosem Sonnenschein und kitschig-schönen Avataren. Abgesehen von der Arbeit, findet für Linus das Leben nur noch virtuell statt. Terry und Linus waren jahrelang ein Paar. Als Linus sich zwischen Terry und "Second Life" entscheiden sollte, entschied er sich für "Second Life". Terry und Linus leben noch immer zusammen, aber nur als WG.
Am Sonntag gab ich das diesjährige Adventskränzchen, eine große Kaffeerunde. Sarolyn hatte ihren Jüngsten als Nikolaus verkleidet. Die neueste Katastrophen-Keks-Kollektion wurde vorgestellt, bunt verzierte Mürbeplätzchen. Es gab "A2 Bus Stops" oder "Haltestelle zum Jenseits", zum Gedenken an die Opfer eines Busbrandes auf der A2 im November; "Schneedächlein", zum Gedenken an die Besucher einer Eissporthalle, die ums Leben kamen, als das Dach unter der winterlichen Schneelast einstürzte; "Kaninchen auf der A2", zum Gedenken an die vielen Tiere, die auf den Autobahnen ums Leben kommen; "Nikkeier Sturzplätzle" ("Fallende Aktienkekse"), die sich auf die krummen Geschäfte der Banken und deren Folgen beziehen - die Kekse sind eine Erfindung von Evans Freund Mika -, "W-Kekse", bezogen auf den scheidenden US-Präsidenten George W. Bush, der in seinem Amt als Katastrophe betrachtet werden kann -, auch diese Kekse sind eine Erfindung von Mika. Außerdem gab es "Gebrochene Herzen", das waren von Terry "handgebrochene" Schokoladenherzen. Diese Kreation bezieht sich auf Schürzenjäger, von denen wir einige kennen.
Passend zu den Katastrophen-Keksen, gab es in der Kaffeerunde nicht nur weihnachtliche Themen. Wir unterhielten uns über Bausünden wie den monströsen "Uferpark", einen Beton-Koloß in Lnd., der in der Euphorie der siebziger Jahre als Wohnform der Zukunft gepriesen wurde, als "Wohnen im Grünen".
"Stattdessen ist es ein 'Wohnen im Grauen'", meinte ich.
Das kann man wörtlich nehmen, im doppelten Sinne.
Als es Abend wurde, kam die Frage auf:
"Kann es sein, daß Domino und Bastet die Gäste verspeisen? Sie sind so gut genährt, und es fehlen immer mehr Gäste."
Meine Katzen Domino und Bastet sind ziemlich riesig geworden, seit sie kastriert wurden. Auf Parties und Kränzchen lassen sie sich erst sehen, wenn die meisten Gäste wieder weg sind. Die Katzen verkriechen sich im Hinterzimmer, wenn Hochbetrieb herrscht.
"Es ist doch toll, daß ich ein Mädchen geworden bin", sagte Denise zu Constri, "da kann ich immer zum Damenkränzchen."
Sie meinte:
"Damenkränzchen sind schön, da kann ich immer Zuckerwürfel naschen."
In mehreren Musikzeitschriften gibt es neue Interviews mit Rafa. In einem der Interviews behauptet Rafa:

Dinge wie Treue, Konsequenz und Ehre sind schon immer Sachen gewesen, unter deren Wörtern im Duden ganzseitig ein Photo von uns zu finden ist.

"Uns" - das soll die Band W.E sein. Rafa will anscheinend so tun, als sei W.E eine wirkliche Band, bestehend aus vier Musikern, die alle am kreativen Prozeß beteiligt sind und Entscheidungen gemeinsam treffen. Rafa vertuscht, daß es sich bei W.E in Wahrheit um ein streng hierarchisches Gebilde handelt, in dem er der Einzige ist, der die Musik macht und alle Entscheidungen trifft. Eigentlich hätte Rafa in dem Interview "mir" sagen müssen statt "uns".
Begriffe wie "Treue" und "Ehre" klingen aus Rafas Mund wie blanker Hohn, wenn man sein Verhalten betrachtet. Er betrügt seine Freundinnen seit dem Teenageralter, mißhandelt einige von ihnen, hat Berenice sogar mindestens zweimal lebensbedrohliche Verletzungen zugefügt - was vor Gericht zu einer Haftstrafe geführt haben dürfte, wenn Rafa angezeigt worden wäre. Nur weil Rafa bisher immer an Frauen geraten ist, die seine Gewalttaten nicht zur Anzeige gebracht haben, ist er noch nicht vorbestraft. Zumindest ist mir nicht bekannt, daß Rafa jemals für seine Gewalttätigkeit zur Rechenschaft gezogen worden wäre.
Der Begriff "Konsequenz" freilich ist auf Rafa durchaus anwendbar: Konsequent unzuverlässig, verantwortungslos, untreu.
In meinem Profil bei der Online-Szene-Kontaktbörse stellte ich das Zitat von Rafa, indem er sich als außergewöhnlich treu, konsequent und ehrlich beschreibt, in die Rubrik "Ich hasse / mag nicht" und kommentierte:

Der Mann, der das von sich gegeben hat, betrügt seine Freundinnen und schlägt sie halbtot.

Rafas Namen nannte ich nicht. Man kann nur erkennen, wer gemeint ist, wenn man das W.E-Interview präsent hat, und das dürfte bei kaum jemandem der Fall sein. Vermutlich ist Rafa der Einzige, der dieses Zitat wiedererkennen kann. Falls er jemals auf meinem Profil unterwegs sein sollte, hätte er zumindest die Möglichkeit, zu lesen, wie ich über sein Verhalten denke.
Gerne würde ich mit Rafa über sein Verhältnis zu Gewalt sprechen. Das wird mir aber wohl nie möglich sein, weil Rafa die einzige Waffe einsetzt, die er gegen mich zur Verfügung hat: Vermeidung.
Bei der Online-Szene-Kontaktbörse hat Rafa sich mit einer gewissen "Frl. Schlaflos" verlinkt. Das "Frl." könnte sie Rafa zuliebe gewählt haben. Rafa scheint die Anrede "Fräulein" zu mögen, vielleicht weil sie Frauen unbedarft wirken läßt, devot, unterlegen. "Frl. Schlaflos" erklärt in ihrem Profil, schlaflos zu sein und sich deshalb so zu nennen. Bei "Frl. Schlaflos" handelt es sich zweifelsfrei um das "Rotjäckchen". Ihr richtiger Name ist Sarena. Sie hat Ende Februar ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert und ist damit ungefähr siebzehn Jahre jünger als Rafa. Sie gibt an, sie habe die Mittlere Reife und "eine abgeschlossene Berufsausbildung". Ihr Beruf sei "Marketing Communications Coordinator". Das läßt sich als Berufsbild schwer definieren. Eine akademische Ausbildung hat Sarena jedenfalls nicht, also nichts, was sie über Rafa stellen könnte, außer - vielleicht - einer geregelten Arbeit.
Sarena schwärmt auf ihrem Profil, sie sei "verliebt, und zwar nicht nur in die Liebe". Außerdem sei sie "vergeben" und "glücklich!". Sarena erwähnt allerdings nicht, mit wem sie zusammen ist. Rafa verschweigt seine Beziehung mit ihr vollständig. Er bezeichnet sich in seinem Profil nicht als "vergeben", sondern lediglich als "verliebt".
Sarena scheint allen Ehrgeiz aufzubieten, um Rafa zu gefallen. Zu der Frage, wie sie am liebsten ihre Samstagabende verbringt, schreibt sie:

Waschen, Kochen, Putzen und Backen und wenn mir mal langweilig wird, auch gern mal ein paar Wäschehaufen bügeln.

Das kommt Rafas reaktionär-patriarchalischem Rollenverständnis entgegen. Rafa lebt in einem Fünfziger-Jahre-Schlagerkosmos, in den Sarena sich willig einfügt.
Über ihre "Wunschbeziehung" schreibt Sarena, die solle sein "wie im Traum". Sehr wichtig sei ihr "Treue". Außerdem erwarte sie von einem Partner "Loyalität und Vertrauen" - also etwas, das Rafa zur Schau trägt, aber niemals bietet - wobei er allerdings großen Wert darauf legt, als "loyal" und "treu" zu gelten.
Sarena schreibt, ihr Partner solle auf keinen Fall unehrlich sein. Wenn sie eines Tages Rafas Verlogenheit erkennt, hat sie immer noch die Möglichkeit, sich selbst vorzulügen, er sei ehrlich.
Sarena schreibt, sie sei stolz "auf mich und die ehrlichen und loyalen Menschen, die ich kenne". Ich frage mich, ob sie die Wahrheit über Rafa jemals an sich heranlassen wird.
Sarena erwartet vom Leben "Vollkommenheit". Ich frage mich, wie lange sie sich an Rafas Seite Vollkommenheit vorgaukeln kann.
Als Lieblingsband nennt Sarena erwartungsgemäß W.E, außerdem "ganz viel 80er". Man bedenke, daß sie 1990 gerade einmal zwei Jahre alt war.
Sarena lebt in der Nähe von S. und nennt als Lieblings-Reiseziel "520 km", das ist vermutlich die Luftlinie zu Rafas Behausung. Auch "Glück" sei für sie "520 km". Sie wohne "nicht da, wo ich hingehöre". Zu "Fernbeziehungen" schreibt Sarena, die seien "bis 500 km ok", und eben dasselbe schreibt Rafa in seinem Profil. Das ist es aber auch gewesen mit Hinweisen auf seine Beziehung mit Sarena. Er hat nicht einmal in ihr Gästebuch geschrieben.
Rafa und Sarena rauchen beide, also muß er nicht befürchten, daß sie versuchen könnte, ihn vom Rauchen abzubringen.
Sarena zeigt in ihrem Profil etliche Fotos, auch eines, auf dem sie mit einem Mann zu sehen ist, aber keines, auf dem Rafa zu sehen ist - und schon gar kein Foto, auf dem Sarena gemeinsam mit Rafa zu sehen ist.
Rafa vermeidet es seit dem Beginn seiner Bühnen-Existenz, einer größeren Öffentlichkeit eine Partnerin zu präsentieren. Vielleicht will er als verfügbar gelten und seinen Verehrerinnen Hoffnungen machen können. Vielleicht geht es ihm auch darum, sich niemals offiziell auf eine Beziehung festzulegen und die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen. Außerdem dürfte es für ihn einfacher sein, immer neue Mädchen zu aquirieren, wenn nicht öffentlich bekannt ist, daß er eine Partnerin hat.
Viele Mädchen in der Online-Szene-Kontaktbörse wurden bereits von Rafa in Dessous fotografiert. Die Mädchen zeigen diese Fotos auf ihren Profilen und erwähnen stolz, daß Rafa die Fotos gemacht hat. Es braucht wenig Phantasie und lediglich grobe Kenntnisse von Rafas Paarungsverhalten, um sich ausrechnen zu können, daß es in vielen Fällen nicht bei Fotos geblieben ist.
Artemis glüht in der Online-Szene-Kontaktbörse vor Verehrung für Rafas Band W.E und bezeichnet ihre Vitrine mit W.E-Fanartikeln gar als:

Mein Heiligtum, mein ganzer Stolz, mein Leben!

Sie könne nicht mehr leben ohne W.E, und SHG. - wo Rafa wohnt - benennt sie als eine ihrer Lieblingsstädte.
Zu der Frage "Ich mag / liebe" schreibt Artemis unter anderem:

Sarena! :-)

Sie scheint nicht nur Rafa, sondern auch Sarena anzuhimmeln. Zugleich scheint sie in Rafa verliebt zu sein. Was dabei ihre Wünsche und Ziele sind, bleibt unklar. Wenn Artemis an Rafa interessiert ist, wäre es unlogisch, daß sie dessen Partnerin verehrt.
Artemis zeigt auf ihrem Profil ein Foto, auf dem Rafa lächelnd den Arm um sie legt und sie an sich drückt. Von Rafa und Sarena gibt es solche Fotos bisher weder im Internet noch in anderen Medien.
Auf einem Foto in Artemis' Profil ist Sarena zu sehen, wie sie Artemis auf die Wange küßt. Darunter steht:

Sarena! :) 3>!

Vielleicht kann Sarena sich nicht vorstellen, daß Artemis ein ernsthaftes Interesse an Rafa haben könnte.
Ein Foto zeigt Artemis im schwarzen Unterkleid auf einem Bett liegend, sich lasziv räkelnd - aus einer Fotoserie von Rafa. Vielleicht weiß Sarena nicht, daß Rafa dieses Foto gemacht hat.
In dem sozialen Netzwerk "Leerzeichen", das zur Zeit sehr angesagt ist, hat auch Sarena ein Profil. Auf ihrem Profilbild steht sie vor einem Poster von Audrey Hepburn und versucht, sie zu imitieren. Das mißlingt, weil Sarenas Gesicht völlig anders geschnitten ist als das von Audrey Hepburn. Ihre Stimmung beschreibt Sarena als "verliebt" und hat drei rosa Herzchen dazugestellt - schülerhaft, passend zu ihrem Alter.
An Berenice mailte ich:

Das Mädchen, das Rafa neuerdings herumführt und mal mehr, mal weniger als seine Freundin bezeichnet, nennt sich in der Online-Szene-Kontaktbörse "Frl. Schlaflos", heißt in Wirklichkeit Sarena, ist 20 Jahre alt (für Rafa eigentlich schon zu alt, er will ja nur welche, die unter 20 sind), und sie fällt komplett auf ihn herein, hält ihn für "treu" und "loyal", was wohl auf ihr geringes Alter und ihr fehlendes Wissen zurückzuführen ist (kein Wunder, sie wohnt bei S., weit genug weg, um von Rafas sonstigen Frauengeschichten nichts mitzubekommen). Er wird ihr gegenüber behaupten, daß er die Frauen, die ihre Dessous-Fotos stolz präsentieren, wirklich nur fotografiert hat.
Rafas Konzert in HF. habe ich mir jedenfalls nicht angetan. "Frl. Schlaflos" alias Sarena war (natürlich) da, sie stand neben Highscore. Auf der Bühne standen außer Rafa und Dolf wie sonst auch Darienne und Lucy. Daß Rafa Darienne überhaupt noch in der Band halten kann, das kann ich mir nur so erklären, daß er immer noch etwas mit ihr hat. In der Online-Szene-Kontaktbörse bezeichnet sie sich seit Neuestem übrigens als "asexuell".

Ginger berichtete am Telefon, daß ihr Noch-Ehemann Tyce sich in psychiatrische Behandlung begeben hat. Er scheint ein gewisses Problembewußtsein entwickelt zu haben.
Am Dienstagabend war ich mit Sator im "Interface". Sator erzählte von seiner Partnersuche. Er wünscht sich eine Partnerin, die zehn Jahre jünger ist als er.
"Warum gestehst du ihr nicht zu, dasselbe Alter und dieselbe Lebenserfahrung zu haben wie du?" fragte ich.
"Ach, Frauen in dem Alter, das ist nichts", behauptete Sator.
"Ich bin das beste Gegenbeispiel", erwiderte ich. "Außerdem kommt es nicht auf das kalendarische Alter an. Es kommt auf den Menschen an. Wenn du die große Liebe suchst, solltest du nicht nach einer Frau mit bestimmten Eigenschaften suchen, sondern nach einem Individuum."
Das konnte Sator nicht nachvollziehen.
Am Mittwochabend war ich bei meiner Schulfreundin Mariposa, die in einem idyllischen Einfamilienhaus lebt. Die Idylle bricht nach allen Seiten auseinander. Das einzige Heile, Verläßliche in dem Haus ist die Beziehung zwischen Mariposa und ihrer Tochter Amina.
Mariposa war sechs Jahre lang mit ihrem bisherigen Lebensgefährten Remo liiert und wohnt noch in seinem Haus, will aber bald mit Amina ausziehen. Sie hat sich im Frühjahr von Remo getrennt. Sie erzählte, daß Remo das Haus Anfang der achtziger Jahre gemeinsam mit seinem Vater, einem Architekten, entworfen und gebaut hat. 1990 heiratete Remo. Aus der Ehe gibt es zwei Töchter, siebzehn und vierzehn Jahre alt. Remos Frau starb 2003 an Krebs. Sie soll sehr herrisch und ichbezogen gewesen sein. Remo sei nachgiebig, passiv, dabei aber auch verantwortungslos. Er habe seinen Töchtern immer alles durchgehen lassen. Auch als Mariposa von den Mädchen angefeindet wurde, habe er Mariposa nicht verteidigt und die Töchter gewähren lassen. Remos vierzehnjährige Tochter habe sogar in einem Brief gedroht, ihre kleine Halbschwester Amina umzubringen, damit Mariposa ins Irrenhaus käme. Remo habe auch danach nichts gegen den Haß und die Eifersucht seiner Töchter aus erster Ehe unternommen, im Gegenteil - er habe Mariposa vorgeworfen, sie sei es, die den Familienfrieden gefährde. Als er im Laufe dieses Jahres begonnen habe, heimlich Kontakte zu anderen Frauen aufzunehmen, habe Mariposa ihn aus dem gemeinsamen Schlafzimmer gewiesen und beschlossen, kurzfristig auszuziehen.
Remo ist selbständig als Elektroinstallateur. Er konnte das Haus nach dem Tod seiner Frau nur halten, weil Mariposa in ihrem Job als Wirtschaftsassistentin gut verdient und das meiste von ihrem Gehalt in das Haus gesteckt hat. Wenn Mariposa ausgezogen ist, wird Remo das idyllische Eigenheim wahrscheinlich verlieren - es sei denn, er findet kurzfristig eine neue Lebensgefährtin, die bereit ist, die Anfeindungen seiner älteren Töchter zu ertragen und das meiste von ihrem Gehalt in das Haus zu stecken.
Mariposa will das alleinige Sorgerecht für Amina erwirken und dem Kind vierzehntägige Kontakte zum Vater ermöglichen. Sie will verhindern, daß Amina in die Mühle der innerfamiliären Konflikte gerät.
Mariposa erzählte, daß ihre eigene Kindheit alles andere als heile war. Was ich in unserer Schulzeit schon wußte, war, daß Mariposas Mutter sehr herrisch auftrat. Mariposa ergänzte, daß die Mutter es verurteilte, wenn jemand seine Gefühle zeigte oder über sie sprach. Der Vater habe sich umgebracht, als Mariposa sieben Jahre alt gewesen sei. Den Kindern sei damals erzählt worden, der Vater sei krank gewesen und deshalb gestorben. Das stimmte höchstens mittelbar.
Mariposa habe als Älteste von drei Mädchen am meisten einstecken müssen. Wenigstens sorgte die Mutter dafür, daß Mariposa mit achtzehn Jahren in dem Mehrfamilienhaus in eine eigene Wohnung ziehen konnte, eine hübsche Dachwohnung mit rosa gestrichenen Wänden. In dieser Wohnung war ich damals öfter zu Besuch, und ich hätte gerne selbst so eine gehabt. Das Haus ist ein eleganter Altbau aus der Jugendstil-Ära. Nach dem Tod der Vermieterin wurde die Miete erhöht, immer weiter, so daß Mariposa schließlich auszog.
Mariposas Schwestern sind verheiratet und haben Kinder. Die Mutter hat mehrere Herzinfarkte und einen Schlaganfall erlitten und ist wesensverändert. Sie kann Hilfe schlecht annehmen, was dazu geführt hat, daß sie nach und nach vereinsamt ist. Mariposa würde sich gerne um ihre Mutter kümmern, doch jedesmal, wenn sie Kontakt zur Mutter aufnimmt, bekommt sie endlose Vorwürfe zu hören. Sie kann das nicht mehr ertragen, zumal sie selbst genügend durchzustehen hat.
Mariposa betonte, die Bedeutung freundschaftlicher Bindungen könne man gar nicht unterschätzen. In ihrer Jugend habe ihr vor allem die Freundschaft mit den Schulkameradinnen Constanze, Antonia und mir geholfen, ein Gegengewicht zu ihrem zerrütteten Familienleben aufzubauen. Wir waren im selben Jahrgang und bildeten eine Art Clique.
"Wir alle hatten es nicht leicht", wußte sie. "Das hat uns wohl auch aneinander gebunden."
Das konnte ich bestätigen:
"Meine Familie war bestimmt alles andere als eine heile Welt. Constanze hat in einer Familie gelebt, wo katastrophale Verhältnisse geherrscht haben. Und die Mutter von Antonia hat sich umgebracht, als Antonia elf war."
Ich erinnerte mich, daß Constanze und Antonia fast nie über Gefühle, die Kindheit und Träume geredet haben. Sie haben fast alles in sich hineingeschwiegen. Mariposa erzählte, daß Antonia vor einiger Zeit seelisch zusammengebrochen ist. Sie habe damals eine Abtreibung hinter sich gehabt, habe noch Hilfe bei ihrem Bruder gesucht, sei dann aber so in sich zusammengefallen, daß ihr klar geworden sei, daß sie seelische Probleme habe.
Mariposa erzählte, ihr sei erst mit Mitte dreißig bewußt geworden, wie sehr ihre Mutter ihr Leben beeinträchtigte. Immer wieder bekam sie von der Mutter entwertende Äußerungen zu hören, und sie wollte sich endlich davor schützen und sich abgrenzen, was sie dann auch tat.
Mit Amina backten wir Plätzchen. Mariposa hatte den Mürbeteig schon vorbereitet, so daß wir uns gleich ans Ausstechen, Backen und Verzieren machen konnten. Als Amina im Bett war, aßen wir einige Plätzchen.
Am Donnerstag war ich beim Rippchenessen im "Keller". Ceno erzählte, daß er in Kürze für sechs Wochen zur Psychotherapie ins "Zuckerschlößchen" geht, eine Klinik in RI., deren Website in süßlichem Rosa gehalten ist. Mavis' Freund Maddox war dort auch schon und wohl ganz zufrieden.
Highscore hat einen neuen Job, für zwei Jahre. Er wird in einer Logistik-Firma in Bkb. arbeiten.
Mavis ist nicht besonders glücklich mit ihrem Studium in HB. Sie überlegt, das Studienfach zu wechseln.
Veva ist nicht mehr mit Pat zusammen. Ihr neuer Freund Sveren trug heute ein mächtiges Stachelarmband, das reicht über den gesamten Unterarm und ist an der Außenseite bewehrt mit Stacheln, die etwa zehn Zentimeter in der Länge messen. Wir stellten uns vor, Sveren würde sich mit diesem Armband auf ein Wasserbett legen. Das erinnerte uns an eine Szene aus dem Kinofilm "Edward mit den Scherenhänden", wo Edward aus Versehen ein Wasserbett aufschlitzt.
Maddox, Highscore und Sveren unterhielten sich über Autos. Autofan Sveren meinte, er sei mit Maddox "auf derselben Cardanwelle".
Als Anwar im "Keller" erschien, vermutete Maddox, da könne Rafa nicht weit sein. Ich widersprach:
"Rafa war schon zweimal nicht mit. Ich glaube nicht, daß er hier ist."
Tatsächlich erschien Anwar mit zwei anderen Leuten. Sie betraten den Gastraum und begrüßten uns. Dann setzten sie sich an einen Tisch gegenüber.
Mavis erinnerte sich, wie Rafa sie beim Sommerfestival in K. fragte, ob Maddox und ihr sein Auftritt mit W.E gefallen habe.
"Sch...", antwortete sie.
"Aber es hat doch 1000 - 2000 Leuten gefallen", hielt Rafa dagegen.
"Nun, es gab eben auch zwei Leute, denen es nicht gefallen hat", blieb Mavis ungerührt.
Als Rafa sie ansprach auf eine Filmvorführung, die er an einem Samstag im "Keller" veranstaltete, erwiderte sie:
"Danke für die Auskunft, wir kommen dann am Sonntag in den 'Keller'."
"Der Film läuft am Samstag."
"Ja, wir sind am Sonntag da."
Rafa soll vor allem dann im "Keller" herumlärmen, wenn er in Begleitung ist. Neulich soll er allein in den "Keller" gekommen sein und ziemlich kleinlaut gewirkt haben. Maddox hatte die Ehre, daß Rafa sich zu ihm setzte. Maddox sagte gleich an:
"Daß das klar ist, Rafa - du darfst hier gern sitzen, vorausgesetzt, du redest nicht über Musik, und du redest keinen Dünnsch..."
"Wieso, du magst mich wohl nicht?"
"Ich mag deine Musik nicht, und ich will keinen Dünnsch... hören", betonte Maddox. "Du darfst gerne erzählen, was du gestern gemacht hast, und du darfst gerne über das Wetter reden."
Es soll funktioniert haben - so lange zumindest, bis Bekannte von Rafa in den "Keller" kamen, die seinen Volksreden bereitwillig lauschten.
Am Tisch wurde erzählt, Veva habe Rafa neulich darum gebeten, sie in Dessous zu fotografieren. Rafa soll entgegnet haben, für eine solche Session müsse sie "ein schönes Höschen" anziehen und einen Pushup, der die Oberweite fast bis unters Kinn anhebt. Außerdem müsse sie eine übermäßige Menge grellroten Lippenstift auflegen und diesen mit reichlich Lipgloss überziehen.
Grellrote Lippen gehörten zum Look der fünfziger Jahre. Damals gab es nur wenig Auswahl bei der Farbe von Lippenstiften. Rafa idealisiert die fünfziger Jahre. Sein Frauenbild paßt zur damaligen Zeit.
Gegen ein Uhr nachts bat Anwar mich, mit ihm auf einer Bank Cancan zu tanzen. Ich hätte doch ein Röckchen an. Ich hatte wenig Lust, für Anwar die Beine hochzuwerfen. Ich sagte zu ihm, ich würde gerne mitmachen, aber lieber als Zuschauer. Außerdem sei eine Hose beim Cancan doch praktischer. Anwar tanzte also auf der Bank alleine Cancan.
Am Freitag frühstückte ich mit Constri und unserer Schulfreundin Asra in der traditionsreichsten Bäckerei von Awb. Constri und ich bestellten die sagenhaften Zitronenrollen, die es nur in dieser Bäckerei gibt; sie werden nach einem Familienrezept hergestellt, das älter sein dürfte als fünfzig Jahre. In einer Hülle aus sehr luftigem Biskuit, der außen mit Puderzucker bestäubt ist, befindet sich eine nur gering gesüßte, sehr lockere und leichte Creme, in die etwas Zitronensaft gemischt ist.
Asra erzählte von ihrem neuen Lebensgefährten, der Harvey heißt und im Kiez-Milieu von HH. beheimatet ist. Sie hat ihn in einem Ferienhaus kennengelernt. Dort machten Asras Kinder Urlaub mit Octave. Asra hat mit Octave zwei halbwüchsige Kinder, Cirra und Orry. Asra und Octave haben nie geheiratet. Sie sind seit Jahren getrennt. Asra besuchte Octave und die Kinder in dem Ferienhaus und begegnete dort Harvey, der ebenfalls mit seinem Kind Urlaub machte. Er ist alleinerziehend.
Asra will weder nach HH. ziehen, noch will sie von Harvey verlangen, sein Leben in HH. aufzugeben. Er habe sich immer nur im Kiez-Milieu bewegt und sei dort sozialisiert, während es ihm schwerfalle, sich anderswo zu integrieren, auch hinsichtlich seines Jargons.
Harvey kennt den Travestie-Künstler Olivia J., den ich aus dem "Base" vom Sehen kenne. Das "Base" war eine Location in H., die schon Ende der achtziger Jahre für immer schloß. Seitdem befindet sich dort das "RAPsody", mit völlig anderer Musik. Im "Base" liefen New Wave, New Romantic und frühe Electronic Body Music: Soft Cell, Fad Gadget, Visage, Off aka Sven Väth, Front 242, Creatures, Tubeway Army ... Die Gäste waren phantasievoll kostümiert, mit Theater-Makeup, Glitzer und Rüschen. Olivia J. war ein besonderer Hingucker.
Asra erzählte, daß Olivia J. neben Travestie-Auftritten auch Kiez-Führungen macht.

In einem Traum begegnete mir Rafa in einer Location. Ich ging von hinten auf ihn zu und sagte über seine Schulter hinweg:
"Du hast eine narzißtische Persönlichkeitsstörung."
Was er dazu sagte, erfuhr ich nicht, weil der Traum zuende war.

Am Sonntagmorgen fuhren Constri und ich bei Frost und Sonnenschein zur A39 hinter BS., in Richtung WOB. Der Lückenschluß zwischen BS. und der A2 ist fast vollendet. Das frisch asphaltierte, noch nicht für den Verkehr freigegebene Autobahnteilstück wird als Naherholungsgebiet genutzt. Als wir dort spazierengingen, begegneten uns viele Spaziergänger und Radfahrer. Auch ein Polizeiauto begegnete uns. Wir erhielten die ausdrückliche Erlaubnis, hier herumzulaufen und zu fotografieren. Unerwünscht seien nur die Sprayer, und die suche man gerade. Eine der neuen Brücken hatten die Sprayer bereits verunziert.
Wir fanden mehrere Brücken, die noch nicht besprüht waren, außerdem viele neue, silbern glänzende Leitplanken - fertige, halbfertige und solche, deren Teile noch abgepackt auf Paletten lagen.








Wir fanden unzählige Fotomotive aus Stahl, Stein und Beton, umgeben von frisch aufgeschütteter Erde und winterlich erstarrter Natur. Von einer der Brücken aus blickten wir auf einen halbgefrorenen Angelteich hinunter.
Mitte Dezember war ich mit Sylvie im "Rondo". Sie brachte mir die Karte für die Travestieshow kurz vor Weihnachten mit. Dragqueen Carla soll fürchterlich im Streß sein. Er stelle nicht nur seine eigenen Kostüme her, sondern auch viele Kostüme für andere Künstler in der Show. Er neige dazu, sich mehr aufzuladen, als er bewältigen könne. Sylvie helfe ihm, wo es gehe. Sie habe auch den Weihnachtsbaum für die Performance organisiert.
Sylvie erzählte, Carla habe schon gemeinsam mit der Dragqueen Olivia J. Kiez-Führungen gemacht. Zwei schrill gestylte, hochgewachsene Dragqueens seien einer Herde Touristen vorangeschritten.
Am Donnerstag fuhren Constri und ich nach Ske. am Brocken. Das Dorf befand sich oberhalb der Schneegrenze. Je höher wir kamen, desto höher lag der Schnee. Wir kehrten in der Gaststätte am Bahnhof ein, der sich oberhalb des Dorfes befindet. Wir tranken Glühwein und schrieben Postkarten. Wir lernten zwei schwarze Katzen kennen, die dort wohnen. Eine ließ sich streicheln. Am frühen Nachmittag kam die Sonne heraus. Wir fuhren mit der Brockenbahn. Constri filmte die verschneiten Wipfel der Bergfichten.








Oben auf dem Brockenplateau schien ebenfalls die Sonne, was ungewöhnlich ist, denn meistens herrscht hier dichter Nebel. Vom Aussichtsraum im achten Stock des Brockenhotels konnten wir weit ins Tal blicken. Unter uns zogen Wolkenfelder vorbei, in immer neuem Farbenspiel, immer wieder anders von der Sonne angestrahlt. Wir machten viele Fotos. Im Café im siebten Stock kehrten wir ein. Constri filmte von dort aus die Wolken, und danach ging es oben im Aussichtsraum weiter. Constri filmte und fotografierte den gesamten Sonnenuntergang. Der letzte Zug kam den Brocken herauf, und Constri filmte auch den Zug. Kurz bevor wir zum Brockenbahnhof gingen, filmte Constri noch mich, wie ich vor einer Glaswand des Aussichtsraums im letzten Licht des Tages Pirouetten drehte. Wir nahmen uns vor, bald wiederzukommen und weiterzufilmen.
Von einer Außenplattform des Dampfzuges filmte Constri einen Fuchs, der im orangefarbenen Laternenlicht auf dem Bahnsteig herumlief. Sie filmte die hellen Fenster des Zuges, die sich auf der ausgefrästen Schneewand am Gleisbett abbildeten. Dann folgte sie mir, die ich im Inneren des Zuges Platz genommen hatte. Die Hinfahrt hatten wir ganz auf einer Außenplattform verbracht, doch jetzt war es uns zu kalt dafür.
Als wir wieder in Ske. ankamen, wurden gerade die beiden schwarzen Katzen gefüttert, am Ende des benachbarten Bahnsteigs. Constri fotografierte sie auch, im Laternenlicht.
Auf dem Weg vom Bahnhof hinunter zum Parkplatz gab es keine Laternen. Doch weil der Mond schien und der Schnee im Wald sein Licht reflektierte, war es hell genug für uns.
Gegen halb zehn Uhr abends kamen wir nach Obk., wo Barnet seinen Geburtstag feierte. Es gab wie gewohnt ein Buffet mit vielen Leckereien, darunter kleine Schnitzel und Tomatensuppe mit Sahne. Heloise erzählte, daß sie mit Barnet und Felicity in London gewesen war, wo sie Underground- und Cyber-Mode gekauft hatten.
Felicity kam die Treppe herunter in einem Faltenmini, einer Strickstrumpfhose und einem avantgardistisch geschnittenen Pullover, alles in gedämpften Farben zwischen Heidekraut und Reetgras. Sie erzählte, daß sie Klamotten trägt, die out sind, und daß sie das gut findet. Als ich sie nach Kelvin fragte, antwortete sie:
"Falsches Thema."
Sie scheint nun endlich mit Kelvin gebrochen zu haben, nachdem er sich nicht zwischen ihr und seiner offiziellen Freundin entscheiden konnte - oder wollte.
Was Ary-Jana betrifft, so soll sie abgenommen haben und statt des übermäßigen Essens nun vermehrt Alkohol trinken. Sie lebe in BI. in einer Wohnung, die ihr die Eltern eingerichtet haben. Sie studiere, jobbe jedoch nicht. Von ihrem Partner soll sie sich vor längerer Zeit getrennt haben.
Als Constri von ihren Filmaufnahmen mit Darien unter einer nahe bei Obk. gelegenen Talbrücke erzählte, merkte Barnet an, diese Brücke sei eines der beliebtesten Ziele für Selbstmörder in der Region. Sie stürzen sich hinunter oder fahren mit dem Auto gegen die Brückengewölbe. Vielleicht wirkt die Brücke auf Selbstmörder auch deshalb so anziehend, weil sie ein so gewaltiges, imposantes Bauwerk ist.
Am Freitag shoppten Constri und ich in dem Second-Hand-Laden in SHG., wo Marie-Jo arbeitet. Sie erzählte, es sei ihr Traumjob. Sie habe auf den Job gewartet, bis er frei wurde. Inhaberin Bernadette führt den Laden parallel zu einer Teilzeitstelle und ist nachmittags im Laden, während Marie-Jo vormittags dort arbeitet. Ursprünglich war es ein Laden für große Größen, doch inzwischen gibt es auch kleine Größen im Sortiment. Marie-Jo erzählte, sie urteile schonungslos; wenn jemandem etwas nicht stehe, rate sie davon ab.
Im nahegelegenen Einkaufszentrum ist die Pizzeria von einem krebsartig wuchernden Bekleidungs-Discounter verdrängt worden. Die Pizzeria ist umgezogen. Die Wandgemälde von Rafa, auf denen eine sonnige, idyllische Mittelmeer-Landschaft zu sehen war, gingen verloren. So konnten Constri und ich sie nicht fotografieren, und es gibt keine Erinnerung daran. Wenn Rafa Fotos von diesen Gemälden hat, wird er sie mir niemals geben; er gibt ja nicht einmal seinem alten Freund Ivco die Fotos, die er 2005 auf seiner Geburtstagsparty gemacht hat.
Abends war mein früherer Mitbewohner Carl zum Essen bei mir. Er will dieses Jahr zu Weihnachten nicht in sein Heimatdorf in der Heide fahren. Er hat im Herbst seine Mutter häufig im Krankenhaus besucht, die dort wegen ihrer Herzinsuffizienz und ihres Diabetes mellitus behandelt wurde.
Carl erzählte von einem seiner Schulkameraden auf der Sonderschule. Dessen Konterfei hat er unlängst in einer Zeitschrift gesehen; er soll eine hohe Position in der Wirtschaft bekleiden. Herkunft und Alter paßten, auch das Aussehen paßte, so daß es sich tatsächlich um jenen Mitschüler handeln könnte. Demnach wäre er einer der Sonderschüler, die zu Unrecht als dumm betrachtet wurden. Als Kind war er schüchtern, ebenso wie Carl; das kann einer der Gründe gewesen sein, warum man den beiden nicht viel zugetraut hat. Carl hat mittlerweile den Realschulabschluß und eine abgeschlossene Ausbildung. Freilich ist er seit Langem arbeitslos. Woran das liegt, ist uns noch nicht so recht klar. Immerhin gelingt es Carl, zu seinem langjährigen Putzjob noch einen zweiten zu bewältigen. Er sei aber schon nach wenigen Stunden Arbeit ziemlich erschöpft.
Carl erzählte vom "Back Door", wo er nachher noch hinwollte. Das ist eine Bar ohne Tanzfläche. Jedoch besitzt das "Back Door" einen "Dark Room" und einen "Sling Room". Carl achtet mehr auf seine Gesundheit als früher, hat allerdings nach seiner schweren Krankheit im letzten Winter seinen promiskuitiven Lebensstil wieder aufgenommen.
Nachts war ich im "Roundhouse" und tanzte bis zum Morgen zu Industrial-Rhythmen.
Am Samstag schaute ich mir die vorweihnachtliche Travestie-Show im Freizeitheim an. Carla trug meine Lieblings-Performance "Carmen" vor. Das Kostüm mit den Lasern, in dem Carla wie ein außerirdischer Saurier aussieht, hatte er mit noch mehr Lasern ausgestattet. In einem silbern schimmernden, ausladenden Kostüm, das einem Sciene-Fiction-Film hätten entsprungen sein können, sang Carla "O Fortuna". Gemeinsam mit einer "echten" Frau, einer Sopranistin, sang Carla zwei Duette - eines davon war das venezianische Duett aus "Hoffmanns Erzählungen" -, und die Sopranistin trug mehrere Opernarien vor.
Humoristisches Highlight war für mich der Auftritt eines langen, dünnen Travestie-Künstlers, der sich ziemlich überzeugend als Amy Winehouse verkleidet hatte und sie ziemlich überzeugend imitierte. Er trug ein Minikleidchen mit grellgelbem Gürtel, grelle, große Blumen in der aufgetürmten Frisur, grelles Makeup und High Heels. Er sang playback den Amy-Winehouse-Hit "Rehab", stolperte dabei auf den High Heels herum, hielt sich schwankend am Mikrophonständer fest, kramte zwischendurch ein Päckchen aus dem Gürtel und tat, als würde er koksen.
Freilich sollte die echte Amy Winehouse wenige Jahre später an ihrer Suchterkrankung zugrundegehen.
Nach der Travestie-Show war ich im "Doomsday". Vor der Tür begegnete mir ein junger Kerl, der fragte mich, ob ich hier nicht falsch sei; dies sei ein "schwarzer Laden". Ich zog das graue Tuch vom Kopf, und da rief er:
"Oh, es tut mir leid, ich habe nichts gesagt. Wir lieben dich!"
"Du meinst, ich gehöre nicht hierher, weil ich zu meinen vollkommen schwarzen Klamotten ein graues Tuch trage?" fragte ich.
Er entschuldigte sich vielmals, auch drinnen wieder. Er erzählte, er sei im Messebau tätig und habe eine "Leerzeichen"-Präsenz unter dem Pseudonym "Der Auferstehende". In seinem Job dürfe er tragen, was er wolle. Ich erzählte, daß ich mich täglich verkleiden muß. Anders ist meine Tätigkeit auf unserem Planeten nicht durchführbar. Ich würde auch lieber lebendig und verspielt auf der Arbeit herumlaufen, doch das läßt sich nur begrenzt umsetzen.
Magenta erzählte, daß sie jetzt eine Vollzeitstelle als Erzieherin gefunden hat, als Elternzeitvertretung. Evelyn erzählte, daß sie nicht mehr plant, eine Ausbildung zu machen. Ihr Bürojob sei genau das, was sie sich gewünscht habe. Zusätzlich arbeitet sie in einer Spielhalle und macht anstrengende Wochenendschichten.
Bunkerbewohner Lucas war mit seiner jetzigen Freundin da. Ich gab ihm zum ungezählten Mal meine Visitenkarte, die er schon unzählige Male verloren hat. Seine Freundin und ich wissen beide, daß Lucas die Karten nicht mit Absicht verliert, sondern wirklich so schusselig ist.
Der asthmakranke Lucas berichtete, er rauche weniger als früher; aufgegeben hat er es freilich nicht.
Am Sonntagnachmittag waren Constri und ich im "Keller" beim Adventskaffee. Ich gab Constri Waldmeister-Vanille-Likör aus. Mit Veva und der zwanzigjährigen Laurea spielten wir Rummykub. Marie-Jo erzählte von ihren Geschwistern. Ihre Schwester Sila ist ihrer Alkoholkrankheit erlegen. Ihr Bruder ist ebenfalls alkoholabhängig. Zu ihm will Marie-Jo keinen Kontakt haben. Es gibt noch eine Schwester, zu der will Marie-Jo ebenfalls keinen Kontakt haben. Nur diese Schwester hat Kinder. Die Eltern von Marie-Jo sind beide verstorben. Ihre wichtigste Bezugsperson ist ihr geschiedener Mann, ihr bester Freund seit 1973. Marie-Jo feiert Heiligabend allein; sie freue sich, ihre Ruhe zu haben.
Zur Feier von Elaines vierzehntem Geburtstag fuhr ich mit Elaine und ihren Freundinnen Jacy und Sasori zu Elaines Wunsch-Lokal, "McGlutamat" im Hauptbahnhof. Ich gab für die Mädchen Essen und Trinken aus und holte mir Latte Macchiato und Chai Latte. Elaine zog ein Zebra aus ihrer "Happy Meal"-Tüte. Das Zebra gibt auf Druck Laute von sich. Es redet sogar. Die Mädchen fachsimpelten über Figuren aus der Manga- und Cosplay-Szene. Elaine ist in eine männliche Comicfigur verliebt, einen hübschen Jüngling.
Heiligabend rief Wave an und wünschte mir frohe Weihnachten. Abends saßen wir bei meiner Mutter unterm Weihnachtsbaum. Am ersten Weihnachtstag waren wir in Awb. in der Kirche, wo im Rahmen des Festgottesdienstes der einjährige Sohn unserer Freundin Valeska getauft wurde. Er heißt Lias Valo. Valeska erzieht ihn allein. Vom Vater des Kindes hat sie sich getrennt, er war bei der Taufe nicht anwesend. Valeska lebt in HB. und arbeitet als Kinderkrankenschwester. Ihr Bruder Valo erzählte, daß Valeska genau vierzig Jahre vor ihrem Sohn getauft wurde. Valo ist der Patenonkel des Kleinen.
Valeska und Valo waren in unserer Grundschulzeit die Nachbarskinder. Valeska ist zwei Jahre jünger als Constri, und Valo ist zwei Jahre jünger als Valeska.
Als Constri Valo die Hand gab, sagte sie zu ihm:
"Das ist die Hand, die du gebissen hast."
Valo war als Kind ein Raufbold und recht schwierig. In Hochsee-Segeltörns fand er später seine persönliche Herausforderung. Inzwischen ist von dem Raufbold nichts mehr zu merken, zumindest nicht für Außenstehende. Valo ist verheiratet und lebt in der Nähe von H. Kinder hat er nicht, und das scheint es zu sein, was zu seinem Glück fehlt. Nun hat er immerhin einen Patensohn.
Abends waren Constri, Denise und ich zum Weihnachtsessen bei Merle und Elaine. Es gab Gans, gefüllt mit Maronen, was ich besonders gern mag. Weil Elaine noch keinen Geburtstagstisch bekommen hatte, dekorierten wir ihr einen Weihnachtstisch. Mit Elaines neuer Digitalkamera machten wir Fotos davon. Merle hat ihr die Kamera geschenkt, damit sie auf Manga-Parties Fotos machen kann.



Am zweiten Weihnachtstag fuhr ich mit Berit zum "Mute", wo ein Festival mit anschließender Party stattfand. Die Veranstaltung hieß "Christmas Ball", und die Gäste strömten in Scharen herbei, so daß das Haus ausverkauft war.
"Du siehst heute zum Anbeißen süß aus", meinte Endera. "Sogar mit Nadelstreifen!"
Tricky meinte, ich würde immer zum Anbeißen aussehen.
Ich hatte eine Corsage mit Spaghettiträgern, Spitzenkante und Nadelstreifen an. Dazu trug ich das, was ich auch sonst meistens beim Ausgehen trage - das Samthalsband mit Kreuz, Herz und Anker in Straß, die Lack-Puffärmel, die langen Abendhandschuhe, die langen, weiten Tüllröcke und in der Zöpfchen-Frisur Organzabänder. Außerdem hatte ich blaue Leuchtstäbchen wie japanische Knotennadeln in die Frisur gesteckt.
Im Saal unterhielt ich mich mit Maylin, Kiran und Mavis. Maylin war froh, mit ihrem Mann Kiran wieder einmal ausgehen zu können. Die Elternschaft und die damit verbundene Verantwortung haben diese Gelegenheiten selten werden lassen.
"Hu, wo kann ich mich verstecken?" rief Mavis auf einmal. "Rafa ist da."
Rafa war soeben in größerer Entfernung vorbeimarschiert. Er verschwand in Richtung des Backstage-Bereichs.
Mavis erzählte, es sei etwa ein Jahr her, daß Rafa sie im "Mute" angebaggert habe. Er habe ihr andauernd am Hintern herumgefingert und dann zu einem Kumpel gesagt, er werde heute noch etwas mit Mavis haben. Dann habe Rafa zu Mavis gesagt, sie würde so toll aussehen. Sie habe erwidert:
"Also, entweder hältst du jetzt die Fresse, oder ich haue dir rechts und links welche 'runter, wie du sie von deiner Mutter noch nicht gekriegt hast."
Da sei er ruhig gewesen.
"Ach, was bin ich froh, daß ich aus dem seinen Beuteschema 'raus bin", seufzte Maylin. "An erwachsene Frauen traut er sich nicht 'ran."
Mavis meinte, sie sei zwar erst zwanzig Jahre alt, aber trotzdem nicht mehr so naiv, daß sie auf Rafa hereinfalle.
Zum Abendbrot genoß ich im Foyer eine Laugenbrezel und Milchkaffee. Das "Mute" hat das Angebot wieder verbessert, nachdem es zwischenzeitlich sehr schmal gewesen war.
Oben in der Raucherlounge unterhielt ich mich mit "Koma", eine Bekanntschaft aus der Online-Szene-Kontaktbörse. Koma erzählte, vom Sehen kenne er mich auf jeden Fall schon.
In der linken hinteren Ecke der Raucherlounge - rechts neben der Tür zum Backstage-Bereich - saß Rafa mit mehreren Leuten an einem Tisch. Auf der Bank an der Wand saß Sarena zwischen Kappa und einem anderen Herrn. Sie lächelte unentwegt, als befinde sie sich im Paradies. Radiomoderator Ace saß rechts an der Stirnseite, links von ihm Rafa, und mit dem Rücken zu Koma und mir saßen Kappas DJ-Kollegen Cyrus und Gavin mit Darienne. Darienne hatte ihre Haare ampelrot gefärbt und streng zurückfrisiert. Sie trug ihre Schmetterlingsbrille. Als Rafa mit Darienne im Backstage-Bereich verschwand, begrüßte ich die Leute an dem Tisch, die ich kannte. Ace erzählte, er sei ohne seine Frau Zara hier, und es gehe ihm schlecht. Er ging aber nicht näher ins Detail.
Als Rafa kurze Zeit später mit Darienne aus dem Backstage-Bereich zurückkam, geriet er im Vorübergehen so nah an mich heran, daß ich ihn von hinten umarmen und in den Flanken kraulen konnte. Ihn schien das nicht zu stören, zumindest gab er keine Äußerung des Mißfallens von sich. Ich unterhielt mich weiter mit Koma.
Es gab heute die Bands S.P.O.C.K., Absolute Body Control, Funker Vogt und Covenant zu sehen. Absolute Body Control gefielen mir besonders. Im Foyer traf ich Dirk I.; wir umarmten und busselten uns zur Begrüßung, und ich lobte ihn für den Auftritt. Absolute Body Control ist eines seiner ältesten Projekte.
Auf der Treppe ins Obergeschoß winkte mir Bruno K. entgegen. Wir umarmten uns zur Begrüßung, und ich kündigte an, später nebenan im "Doomsday" vorbeizuschauen, wo er heute auflegte.
Bruno hat 1990 gemeinsam mit seinem Bandkollegen als Das Ich den Clubhit "Gottes Tod" geschaffen, zu dem Rafa und ich damals regelmäßig im "Elizium" getanzt haben.
Terry war mit Birthe im "Mute". Die beiden sind alte Freundinnen aus HM. Birthe erzählte, daß sie immer noch zu fast jedem Konzert der Band Funker Vogt geht - seit mehr als zwölf Jahren. Die Band stammt aus ihrer Heimatstadt HM.
Den Headliner Covenant schaute ich mir von der Empore aus an, wo es genug Platz zum Tanzen gab. Im Flur sah ich Rafa vorbeilaufen; er war danach verschwunden und mit ihm Sarena. Darienne blieb länger im "Mute".
In der Raucher-Lounge machte Regan mich mit einem Lehrerkollegen bekannt. Der arbeitet im Hauptschulzweig und erzählte, er sei dort ganz glücklich; wenn man wisse, wie man mit den Jugendlichen umzugehen habe, komme man gut zurecht und könne sich durchaus Respekt verschaffen. Die Schüler bräuchten klare Ansagen und reagierten manchmal am ehesten auf Äußerungen wie:
"Fresse halten!"
Das sei eine Sprache, die sie verstünden.
Schön sei an dem Job auch der Austausch mit den Kollegen im Unterstand für Raucher.
Studienrat Regan meinte, im Gymnasium seien die Jugendlichen keineswegs immer so brav, wie man es von Abiturienten erwarten würde. Einige würden mehr oder weniger ihre Zeit absitzen.
Seraf begegnete mir heute auch; er war zu Weihnachten nach H. gekommen, um mit seiner Familie zu feiern. Seit Jahren lebt er in R.
Im "Doomsday" blieb ich längere Zeit zum Tanzen. Unter anderem lief "Running up that Hill" von Kate Bush.
Koma erzählte, Berit habe soeben zu ihm gesagt, er suche sich immer die Frauen aus, bei denen er keine Chance habe. Ich sei jedenfalls nicht zu haben, ich würde einen anderen lieben. Koma meinte, ein solches Verhalten finde er von Berit nicht gut, sie falle mir dadurch in den Rücken. Er vermute, daß Berit, die ihn seit einem Jahr kennt, insgeheim hinter ihm her sei und daher jede mögliche Beziehung zwischen ihm und mir im Vorfeld sabotieren wolle.
"Wie dem auch sei", meinte ich, "was sich ergibt, ergibt sich."
Koma sprach Berit auf ihr Verhalten an, die ziemlich verlegen wirkte.
"Berit gibt es auch verlegen", wunderte sich Koma. "Sie gibt sich doch sonst immer nur so cool."
"Oh, das ist sie nicht", entgegnete ich. "Sie kann ganz schön unsicher sein."
Koma meinte, Rafa sei heute so betrunken gewesen, daß ihm seine Anwesenheit gar nicht aufgefallen sei; deshalb wohl habe er ihn nicht begrüßt. Rafa habe Halblitergläser mit Bier getrunken.
Koma scrollte die Nummern auf seinem Handy durch und zeigte:
"Hier, ich habe auch Rafas Nummer."
Koma ist schon öfter beim W.E-Fanclubtreffen gewesen, aber nicht in erster Linie, um Rafas Auftritte zu sehen, sondern um Bekannte aus Schweden und Dänemark zu treffen. Wie sich herausstellte, gehört Koma zu der Clique, mit der Regan immer zu den W.E-Fanclubtreffen fährt.
"Was, du kennst Regi?" staunte Koma. "Regan?"
Koma erinnert sich noch gut an Berenice. Er erzählte, er wisse von wenigstens zwei Männern, die Berenice bei ihrem Weggang von Rafa "mitgenommen" habe. Wer diese Männer waren, erzählte er nicht. Vielleicht meinte Koma zwei W.E-Fans, die seit Berenices Ausstieg bei W.E keine Fans dieser Band mehr sind.
Am Samstag war ich im "Zone". In der Area "Kreuzgang", die wie eine Kirche gestaltet ist - sogar mit Beichtstuhl -, legte Andreas D. von Xotox auf. Es gab hämmernde elektronische Beats. Unter anderem liefen der "Marble Mix by Xotox" von "DC Disk" von KiEw und "100 % Elektronik" von FabrikC.
Barmixer Jo-Jo mixte mir einen Cocktail zusammen, den er vorher noch nicht gemixt hatte, einen seiner Fruchtcocktails, die schmecken wie ein ganzer Obstgarten. Während ich den Cocktail trank, kamen Minette und Malvin an die Bar und ließen sich von Jo-Jo ebenfalls einen Fruchtcocktail mixen. Von dem bekam ich auch ein Glas ab, kostenlos.
Minette erzählte von der Kirmes in SHG. vor anderthalb Jahren. Damals waren zwei junge Verwandte dabei, um die achtzehn Jahre alt. Minette warnte die Mädchen vor Rafa; sie sollten sich auf keinen Fall mit ihm einlassen. Tatsächlich begegnete ihnen Rafa auf der Kirmes. Gleich baggerte Rafa die jungen Mädchen an; die eine fragte er, ob sie mit ihm Geisterbahn fahren wollte.
"Nein", entgegnete sie sofort.
Rafa soll ziemlich erstaunt gewesen sein über die schnelle Abfuhr.
"Sowas kann der gebrauchen", meinte ich. "Der kann noch viel mehr davon gebrauchen."
Rafa hat auch Minette schon angegraben, ohne Erfolg. Minette meinte, Rafa komme mit selbstbewußten Frauen nicht zurecht.
Als ich erzählte, daß Rafa sich im "Mute" kaum um Sarena gekümmert hat, meinte Minette, Rafa stelle seine Freundinnen typischerweise in die Ecke, wenn er mit ihnen ausgehe. Das ist mir auch bei Sarenas Vorgängerinnen aufgefallen. In der Anfangsphase, wenn Rafa noch um die Mädchen wirbt, kann es sein, daß er mit ihnen in Clubs und Bars turtelt, doch schon nach recht kurzer Zeit weist er ihnen eine Nebenrolle zu, und sie werden nahezu unsichtbar - es sei denn, sie werden zu Sängerinnen abgerichtet. Doch auch dann sind sie nicht als Rafas Freundinnen erkennbar.
Minette erzählte, daß Sarena in Rafas Nähe ziehen will. Augenscheinlich plant Rafa noch nicht, mit Sarena zusammenzuziehen.
Minette glaubt nicht, daß Rafa noch etwas mit Darienne hat. Darienne gebe sich wohl damit zufrieden, nur noch Bandmitglied und nicht mehr Bettgespielin von Rafa zu sein. Auf der Bühne im "Zone" habe sie voller Stolz die von Rafa inszenierte Bühnenshow präsentiert. Sie habe sogar ihr eigenes Lied: "Ich bin aus Plastik".
Im "Zone" gab es ein Wiedersehen mit Heloise, Barnet, Ary-Jana, Chrysa, Talis, Janice, Hauke, Les und Marvel. Marvel war nicht als DJ, sondern als Gast da. Les war als DJ da und klagte, weil sein Auto kaputtgegangen war.
Am Sonntag unternahmen Constri und ich einen ausgedehnten Spaziergang auf der A39 und begegneten vielen anderen Sonntagsspaziergängern. Es war frostig kalt und sonnig. Die Äcker lagen im Rauhreif, und die Entwässerungsbecken und -gräben unterhalb der Fahrbahn waren mit einer Eisschicht bedeckt. Die teils ausgemauerten, teils betonierten Entwässerungsanlagen und die halbfertigen Leitplanken, um die herum leuchtfarbene Markierungen auf den hellen Beton geschrieben waren, gehörten zu unseren beliebtesten Fotomotiven.








Wir gingen dorthin, wo Cyra und ich vor siebeneinhalb Jahren die im Dornröschenschlaf liegende Südseite des Autobahnkreuzes besichtigt haben, in dem sich die A2 und die A39 begegnen. Damals waren die Mittelleitplanken der blind endenden Südseite von Heckenrosen überwachsen, und die asphaltierte Fahrbahn endete in einem Haufen Schotter und Schutt, umstanden von hohen Bäumen. Von all dem ist nichts mehr übrig. Auch die Fahrbahndecke wurde erneuert.
An der südwestlichen Ecke des Kreuzes steht ein Backsteinhäuschen mit einer Antenne im Garten, das gab es damals auch schon; es scheint ein Betriebsgebäude zu sein.
Silvester fand dieses Jahr als Familienfeier statt. Es gab Käsefondue für Constri, Denise, meine Mutter und mich. Dazu gab es heißen Familien-Punsch und Holundersaft. Um Mitternacht gab es Sekt für die Erwachsenen. Nach draußen gingen wir nicht; es fror Stein und Bein.



Am Neujahrstag kam ich abends zu Magnus. Schon kurz nach neun Uhr erreichten wir das "Ferrum", und das gab uns die Möglichkeit, in der Lounge gemütlich an einem Tisch zu sitzen und das Buffet zu genießen. Die Veranstaltung hieß "Katerfrühstück", wenngleich sie abends stattfand, und passend zum Titel war das Buffet um Rollmöpse und Bratheringe ergänzt worden.
Magnus erzählte von seiner Kommilitonin Maru. Sie hatte einen Freund, als Magnus im letzten Sommer nach Jahren wieder Kontakt zu ihr aufnahm. Ich hatte Magnus insofern zu der Kontaktaufnahme ermutigt, als ich zu bedenken gab, daß die meisten Beziehungen nicht halten und daß man sich deshalb durchaus Hoffnungen machen kann auf jemanden, der vergeben ist. Und tatsächlich ging Marus Beziehung im Herbst in die Brüche. Nun wäre der Weg für Magnus frei gewesen, um sie zu werben. Die Sache scheiterte allerdings an Magnus selbst. Maru hatte ihm erzählt, sie sei "leidenschaftliche Raucherin", und das allein schreckte Magnus vollkommen ab.
"Dann kann es ihm nicht besonders ernst gewesen sein", dachte ich bei mir.
Denever kam heute im Schottenrock ins "Ferrum". Er hatte eine neue Freundin mitgebracht, mollig wie er, dennoch ein Kontrast - er ein bleicher, blonder Kelte, sie dunkelhäutig und schwarzlockig.
Das heutige Kostüm-Highlight trug ein Mädchen, das Korsett und Rock aus demselben Stoff anhatte - aufgedruckte Totenschädel, durchmischt von roten Rosen.
Um elf Uhr wurde die Lounge zur Raucherzone. Magnus und ich gingen hinüber in die Area, wo Rafa auflegte. Er hatte die Jacke mit dem Zebra-Muster an, die er auch bei seinem DJ-Set zu Ostern getragen hat. Sarena lief unten herum, in einem Miniröckchen mit Leopardenmuster. Sie ging nur selten zu Rafa ans DJ-Pult. Wann immer ich sie dort oben sah, kam es mir vor, als wenn Rafa bemüht war, sie möglichst schnell abzufertigen. Nichtsdestoweniger lächelte sie entrückt, ganz gleich, was Rafa sagte oder tat. Sie schien einfach alles gut zu finden, was mit ihm zu tun hatte.
Sarena kannte einige Leute im "Ferrum", hatte also immer Gesellschaft.
Rafa brachte ein Programm, das mir überwiegend gefiel - wie immer, wenn er im "Ferrum" auflegt. Ich war also häufig auf der Tanzfläche. Unter anderem spielte Rafa "Dirty girls and dirty boys" von Faderhead, "Verschwende deine Jugend" von DAF und "Film 2" und "Träume mit mir" von Grauzone.
Hinter der Bühne wurden C64-Videospiele auf die Leinwand projiziert, live gespielt von zwei Leuten, die vor der Bühne standen. Sie verwendeten Joysticks, die einen C64 im Kompaktformat enthielten.
Gegen ein Uhr nachts war Rafa in der Lounge und rauchte dort mit einigen Bekannten. Ich unterhielt mich mit Denever, der von seinem zwölfjährigen Sohn erzählte. Er lebt nicht mit ihm, sieht ihn aber regelmäßig und häufig.
Später stieg Rafa noch einmal von der Bühne herunter, nämlich als ein paar Leute sich mit ihm fotografieren ließen. Rafa warf sich in die gewohnte Pose: mit Grinse-Grimasse, ausgestrecktem Arm und nach oben gerichtetem Daumen.
Das letzte Stück des heutigen Programms war zugleich das einzige von Rafas eigenen Stücken - das "VW Käfer"-Lied, das ich ganz besonders scheußlich finde. Während es lief, war ich in der anderen Area. Als ich zurückkam, verabschiedete Rafa sich durchs Mikrophon von seinem Publikum und dankte "für die Loyalität". Ich faßte mir an die Stirn.
Während Rafa auf der Bühne seine Sachen zusammenräumte, stieg Magnus zu ihm hinauf und fragte ihn nach einem C64-Werkstück, das er vor längerer Zeit zu bearbeiten versprochen hatte. Wie zu erwarten, hatte Rafa sich darum nicht gekümmert, und er wirkte etwas verlegen.
Ich stand unten vor der Bühne und betrachtete die Szene. Rafa, der während der gesamten Veranstaltung seine Spiegelbrille trug, gestikulierte und schaute um sich. Dabei zeigte er auf mich. Was das zu bedeuten hatte, werde ich nicht herausfinden. Magnus gegenüber erwähnte Rafa mich jedenfalls nicht.
Kurz bevor Rafa von der Bühne herunterkam, stieg einer der Veranstalter zu ihm hinauf und wechselte einige Worte mit ihm. Rafa sagte unter anderem:
"Wir sehen uns Ostern."
oder:
"Bis Ostern."
Vermutlich legt er zu Ostern wieder im "Ferrum" auf. Der Termin steht allerdings noch nicht auf der W.E-Homepage.
Bei Magnus schlief ich auf dem Sofa. Ich träumte Folgendes:

Mit Denise, Onno, Magnus und Rafa spielte ich Gesellschaftsspiele an einem quadratischen Tisch aus Holz. Rafa und ich spielten Mühle. Einmal, als Rafa am Zug war, schien er nicht so recht zu wissen, was er vorhatte. Er setzte einfach und gab mir so die Möglichkeit, ihm eine Zwickmühle zu bauen, ein No-Win-Szenario über mehrere Züge. Rafa erkannte sofort, daß er verloren hatte. Er machte keinen Zug mehr, er seufzte nur noch.
"Du hast Rafa totgemacht", sagte Onno zu mir.

Als wir aufstanden, zeigte Magnus mir ein Bauteil für den C64, das er entworfen hat und das viele C64-Fans bei ihm ordern. Ich wurde auf ein zartblaues Flachkabel aufmerksam und fragte Magnus, ob man davon wohl einen Gürtel machen könnte. Er meinte, man könnte das wohl, dürfe nur keinen Zug auf den Gürtel ausüben, sonst reiße er.
Am Samstag waren Constri, Jas und ich bei "Stahlwerk". Dort trafen wir unter anderem Barnet, Heloise, Fermin, Sirio und Tana. Unter anderem liefen heute "Sonic War (Backup Files of the Original)" und "Chrome injected Car Crash Rhythm Boxx (Original)" von Sona Eact und "Button Push" von Asche.
Im Auto erzählte Jas von Gavin, einem DJ-Kollegen von Kappa. Gavin wähle meistens blonde Frauen und habe auch schon mit Zenza etwas gehabt. Ein Mädchen habe sich umgebracht, nachdem es von Gavin enttäuscht worden sei. Gavin habe damit herumgeprahlt; er habe die Tragödie dazu benutzt, sich wichtig zu machen. Beruflich habe Gavin kaum etwas erreicht. Er lebe bei seinen Eltern und gehe keiner geregelten Arbeit nach. Er wolle gerne ein Star sein.
Jas bestätigte meine Vermutung, daß Kappa und Edaín nur Männer zu ihren Parties einladen und daß Frauen lediglich als Anhängsel der Männer dabei sein dürfen. Frauen ohne männliche Begleitung habe Jas nie auf den Parties bei Kappa und Edaín gesehen, und er sei oft dort gewesen.
Kappa habe vor einiger Zeit geäußert, er wolle seinen Freundeskreis nicht zu groß werden lassen. Das Ergebnis sei ein allmählich bröckelnder Club weniger Männer, die versuchten, einander das Wasser abzugraben. Gavin habe Jas gegenüber verlauten lassen, er habe zwei Ziele: Er wolle Kappas Job und Kappas Frau.
Es soll auch Männer geben, die Kappa in seinen Freundeskreis hineinzuziehen versucht - diejenigen nämlich, die er verehrt. Dem Musiker Steve N. gegenüber soll Kappa sich fast unterwürfig verhalten. Als Jas Kappa in einer dringenden Sache anrief - es ging um die Korrektur von Flyern für eine Party, die eilig gedruckt werden mußten -, wimmelte Kappa Jas mit der Begründung ab, er habe gerade Besuch von Steve N. Jas rief nochmals an, um Kappa die Situation zu schildern, da wurde Kappa ungehalten:
"Ich hatte dir doch gesagt, ich habe Besuch von Steve."
Jas habe erwidert, es lasse sich leider nicht umgehen, jetzt über die Angelegenheit zu sprechen. Da endlich habe Kappa ihm zugehört.
Am Freitag war ich im "Roundhouse". Marvel spielte unter anderem "Robuste Maschine" von Reaper, "N.O.I.Z.E" von Hypnoskull, "Terror against" von Punch Inc., "Headhunter 2000 (Suspicious Mix)" von Front 242 und "Dare to live" von Rotersand. Als er mit seinem Set fertig war, gingen mehrere Gäste auf ihn zu und lobten sein Programm.
Am Samstag war ich im "Radiostern". Cyra berichtete, daß das Teilstück der A39, auf dem Constri und ich neulich spazierengegangen sind, in den nächsten Tagen für den Autoverkehr freigegeben werden soll. Cyra erinnert sich noch gut an unseren heimlichen Spaziergang auf dem unfertigen Südende des Autobahnkreuzes vor sieben Jahren.
Cyra erzählte, daß ihre WG-Genossin Cielle wieder an Depressionen leidet. Cielles Beziehung allerdings sei nach wie vor glücklich.
"Wenn aus der Vergangenheit unbearbeitete Sachen herumliegen, kommen die irgendwann wieder hoch", meinte ich, "davor schützt eine glückliche Beziehung nicht."
DJ Osiris erzählte, daß er mittlerweile arbeiten geht, allerdings nicht in dem Beruf, für den er studiert hat. Es sei schwer, nach dem Studium der Luft- und Raumfahrttechnik in der Branche Arbeit zu finden, wenn man nicht schnell genug sei. Osiris montiert jetzt Jalousien.
An Rafas Geburtstag fuhr ich nachmittags zu der noch nicht freigegebenen A39 und spazierte eine der Ausfahrten hinunter. Die Autobahn und das Land ringsumher waren im Schnee versunken. Die Leitplanken waren schon fast fertig montiert, nur unter den Brücken fehlten noch einige Querverbindungen. Ich ging auf der Fahrbahn nach Süden zu einer Brücke, die ich in der blaßrot-goldenen Dämmerung fotografierte. Zierende Metallstücke leuchteten auf dunklem Holz.
Da es weiterhin fror, lief ich tags darauf mit meinem Vater auf dem Baggersee Schlittschuh. Der Baggersee liegt nur etwa zweihundert Meter vom Haus meines Vaters entfernt. Für die Schlittschuh-Tour hatte mein Vater sich einen Overall angezogen, der eigentlich für Kühlhaus-Arbeiter gedacht ist. Die Sonne strahlte auf die Eisfläche, die gerade noch ausreichend trug. Am Ufer standen Schilfgras und Rohrkolben-Gräser, umgeben von sehr glattem, klarem Eis und etwas Schnee.
Am Dienstagabend schauten meine Mutter und ich im Kino die Neuauflage des Science-Fiction-Klassikers "Der Tag, an dem die Erde stillstand". Meine Mutter fand den Film etwas flach und zu plakativ. Ich meinte, immerhin sei die Botschaft der Gewaltfreiheit massenkompatibel verpackt und könne auf diese Weise mehr Menschen erreichen als in einer künstlerisch höherwertigen Verpackung. Der Film war so gestaltet, daß am Schluß eine junge Frau mit einem Kind im Arm als Madonnenbild die Welt vor dem Verderben rettete. Zuvor hatten alle Waffen, alle Panzer nichts gegen den nahenden Weltuntergang ausrichten können.
Per E-Mail tauschte ich mich mit einem Jazz- und Klassik-Pianisten aus, den ich aus meiner Jugendzeit kenne, Auryn. Er hat sein Mineralogie-Studium abgebrochen und sich ganz seiner Leidenschaft, der Musik gewidmet. Er komponiert auch. Mitte der achtziger Jahre schaffte er sich einen Yamaha DX7 an.
Auryn hat ein absolutes Gehör. 1985 hat er auf meine Bitte begonnen, Mike Garsons aberwitziges Klaviersolo in "Aladdin Sane" von David Bowie in Notenschrift zu fassen. Eine Seite - immerhin - wurde voll. Auryn meinte damals, eigentlich sei es gar nicht möglich, dieses Solo niederzuschreiben. Es ist wohl nicht zu Unrecht als "Arm-auf-Tasten-Solo" in die Musikgeschichte eingegangen.
Auch in "The Lamb lies down on Broadway" von Genesis spielt das Klavier eine besondere Rolle, im wahrsten Sinne des Wortes. In der Kurzgeschichte "Lebenszeichen" habe ich beide Titel verarbeitet, außerdem "Human" von The Killers und "Bleeding" von Delerium. "Lebenszeichen" ist multimedial angelegt und würde auch als Video funktionieren. In diesem Fall müßte man allerdings die GEMA einbeziehen.
Auryn kennt meine Schulfreundin Antonia. Er hat sie zuletzt vor zehn Jahren getroffen. Sie soll Mann und Kind haben und nach Bayern gezogen sein.



Am Donnerstagabend war ich im "Keller" zum Rippchenessen. Ceno war dieses Mal nicht dabei, er ist stationär im "Zuckerschlößchen". Mavis' Freund Maddox war aber im "Keller". Er ist in tagesklinischer Behandlung im "Zuckerschlößchen", und es gefällt ihm dort. Mavis konnte heute nicht im "Keller" sein, sie war wegen ihres Studiums in HB. Für Marie-Jo gab es heute im "Keller" im Rahmen des Rippchenessens die nachgeholte Weihnachtsfeier mit ihrer Chefin und deren Kollegen. Marie-Jo erzählte von den Menschen, um die sie sich kümmert, die sie im Krankenhaus besucht oder denen sie im Alltag hilft. Ihr Teilzeitjob lasse ihr genügend Zeit dafür, das freue sie. Sie mache ihren Job sehr gern. Dennoch hoffe sie, eines Tages wieder einen Job zu haben, von dem sie leben könne.
Marie-Jo erzählte von einer Kundin im Second Hand Shop, die sei übergewichtig, habe jedoch zielstrebig Kleidung in Größe 38 ausgesucht. Marie-Jo habe nichts dazu sagen wollen, um die Kundin nicht zu kränken. Sooft die Kundin mit der nicht passenden Kleidung aus der Kabine gekommen sei, habe sie sich bei Marie-Jo beschwert, die Kleider seien mit der falschen Größe etikettiert worden. Marie-Jo habe nur genickt und die Sachen beiseitegehängt.
Marie-Jo mag figurformende Wäsche nicht. Sie meinte, diese Wäsche täusche etwas vor, das so nicht sei. Ihre Mutter habe verlangt, daß sie ein Korselett trug, als sie konfirmiert wurde. Schon mit vierzehn Jahren habe sie Größe 48 gehabt. Widerwillig sei sie in das Korselett gestiegen und habe sich regelrecht eingemauert gefühlt. Noch während der Familienfeier nach dem Konfirmationsgottesdienst habe sie heimlich das Korselett unter ihren Kleidern ausgezogen ... und nie wieder angezogen.
Gegen zehn Uhr abends erschien Rafa in Begleitung eines Kumpels und nahm schräg gegenüber von uns an einem Tisch Platz, neben dem Durchgang zum Schankraum. So zeitig ist er sonst nie beim Rippchenessen im "Keller".
Rafa hatte keine Brille auf. Er schaute zu mir herüber, gerade in mein Gesicht, und schien sich dann bewußt wieder loszureißen. Das kam mehrmals vor. Auch kam es vor, daß Rafa eigentlich woanders hinschaute, dann aber zwischendurch mir in die Augen sah und ganz schnell wieder wegguckte.
Mir fiel auf, daß Rafa verdächtig oft seinen Kopf ins Genick warf und sich die Ponysträhnen aus dem Gesicht schleuderte. Das ist bei ihm ein deutliches Zeichen von Unsicherheit und Verlegenheit.
Rafa holte sich viele Rippchen und futterte mit gutem Appetit. Ein junges, eher unscheinbares Mädchen gesellte sich zu ihm und seinem Kumpel. Es trug die schulterlangen naturblonden Haare offen und mit Pony. Zuerst setzte es sich neben Rafa, schlang die Arme um ihn und gab Bussis. Rafa erwiderte diese Zärtlichkeiten eher zurückhaltend. Das Mädchen nahm dann schräg gegenüber von ihm Platz, dort saß es auch die meiste Zeit. Es zog sich die Sweatshirtjacke aus, unter der es eine karierte Bluse mit Puffärmeln trug. Das Blüschen war entschieden zu leicht für das kalte Wetter. Mir kam es vor, als wenn das Mädchen mit dieser spärlichen Garderobe etwas bezwecken wollte.
Ich war froh, warm angezogen zu sein. Ich trug einen schweren dunkelgrauen Baumwollpullover mit Zopfmuster, darüber einen Gürtel und dazu einen langen graubraunen Rock mit einer grauschwarz gemusterten Taftrüsche am Saum.
Marie-Jo gab mir ein Tuch, das sie im Second Hand Shop wiedergefunden und für mich reserviert hatte, etwas wirklich Besonderes. Es ist ein handgearbeitetes Witwentuch, das zur Schaumburger Tracht gehört. Ich legte es mir um die Schultern; im Keller war es in der Tat ziemlich kalt, und ich konnte das Tuch gut gebrauchen.
Marie-Jo erzählte, sie kenne die Mutter von Rafa, die in der Nachbarschaft des Second Hand Shops wohnt. Ihr ist Rafas Mutter sympathisch; sie sei jemand, der mitten im Leben stehe.
Marie-Jo hat sich im "Keller" schon mit Sarena unterhalten. Sie ist ihr ebenfalls sympathisch. Sarena sei recht "tough". Sie plane, nach SHG. zu ziehen.
"Ich frage mich nur, wie sie reagiert, wenn sie herausfindet, daß Rafa sie betrügt", meinte ich. "Dann stürzt ihr Wolkenschloß zusammen."
"Mir tun die Mädchen auch leid", sagte Marie-Jo. "Aber ich denke auch, da gehören immer zwei zu - einer, der betrügt, und einer, der sich betrügen läßt."
"Rafa sucht sich aber immer Mädchen aus, die gegen ihn keine Chance haben", wandte ich ein.
Marie-Jo ging zu Rafa an den Tisch und wechselte einige Worte mit ihm. Ich kam gerade vorbei und blieb kurz stehen. Wir redeten über die Soßen auf dem Tisch. Rafa gab sich Mühe, nie direkt etwas zu mir zu sagen.
Im "Keller" wurde es leerer. Laurea setzte sich zu Marie-Jo und mir an den Tisch. Sie berichtete, daß sie nach dem Abschluß ihrer Ausbildung zur Bürokauffrau ("Edeltipse de luxe") keine Stelle beim Paritätischen bekommen kann. Sie hat sich anderweitig beworben und festgestellt, daß sie ungefähr achtzig Mitbewerberinnen hat.
Laurea erzählte von ihrem zweiundzwanzigjährigen Bruder. Er sei am hellichten Tag mit Absicht in eine Blitzfalle gefahren und habe daraufhin seinen Führerschein für drei Monate abgeben müssen. Kurz vor dem Ende dieser Frist sei er schwer alkoholisiert in ein Auto gestiegen, obwohl er durchaus an dem Ort hätte schlafen können, wo er gezecht hatte. Er habe das Auto in einen Graben gefahren. Jetzt sei der Führerschein endgültig weg.
Pat kam an den Tisch und war mir gegenüber nicht mehr so abweisend wie bisher; er gab mir sogar die Hand.
Rafa war zwischendurch draußen zum Rauchen, er saß ab und zu auch vor der Theke. Dort kam ich vorbei, als ich zum Bad ging, und nutzte die Gelegenheit, an seinem Rücken entlangzustreifen. Er beschwerte sich nicht.
Rafa nahm schließlich mit seinem Kumpel und dem naturblonden Mädchen im Schankraum Platz. Mitternacht war vorbei, und dort war nun das Rauchen gestattet. Rafa hielt Volksreden für die Leute im Schankraum. Er betrachtete Fotos auf einem fremden Handy und fragte zu einem dieser Fotos:
"Wie alt ist die?"
"Zweiundzwanzig", kam die Antwort.
"Nicht schlecht", fand Rafa.
"Ach, er ist wieder Mädchen am Checken", bemerkte ich.
Rafa ließ Bibian Titel von sich selbst spielen, unter anderem einen, in dem er Sachen singt wie:
"Ein Leben für den Augenblick. Und alles, was mit dir geschah, ist für mich heute nicht mehr wahr."
Mir kam der Gedanke, daß Rafa vielleicht schon etwas mit dem naturblonden Mächen hatte und inzwischen nichts mehr von ihm will; es ist "abgehakt".
Als Marie-Jo und ich uns zu den Leuten am Tisch im Schankraum gesellten, hatte sich das naturblonde Mädchen noch mehr entblößt, und das, obwohl es im Schankraum noch kühler war als im Gastraum. Das Mädchen hatte sich das leichte Blüschen aufgeknöpft, so daß man freie Sicht hatte auf das sehr tief ausgeschnittene schwarze Unterhemd. Rafa schien davon wenig oder gar nicht beeindruckt zu sein. Für einige Zeit saß er seltsam in Gedanken versunken auf der Bank, die Hände vor sich auf die Tischplatte gelegt; er blickte ins Nirgendwo.
Auf dem Tisch lag eine Gliederschlange aus Plastik, wie wir sie früher schon im Kinderzimmer hatten. Ich spielte mit der Schlange und lud Marie-Jo zu meiner Geburtstagsparty ein.
Als ich kurz im Gastraum war und wieder zurück im den Schankraum kam, hockte Rafa vor dem Tisch bei Marie-Jo, wo ich zuvor gestanden hatte. Ich stellte mich wieder an meinen Platz, direkt hinter Rafa. Das hielt Rafa nicht lange aus; er stand eilig auf und ging zu Bibian an die Theke.
Es war halb zwei, als Rafa bezahlte und mit seinem Kumpel den "Keller" verließ - ohne das naturblonde Mädchen.
Am Freitagabend waren Constri, Elaine und ich im Opernhaus. Elaine hatte sich fein gemacht, mit bunten Haarclips, langem schwarzem Kleid und durchsichtigem schwarzem Casuble. Sie konnte sich das Casuble von ihrer Mutter ausleihen, weil die beiden inzwischen gleich groß sind. Wir sahen das Ballett "Cinderella", eine prächtige, ausdrucksstarke und unterhaltsame Inszenierung. Die Pausen mit Laugenbrezel, Kaffee und Kaltgetränken haben für uns längst Kultcharakter.
Am Samstag war ich mit Elaine und Jacy bei Ikea, wo Elaine einen zweiten Schreibtisch bekam. So kann auf dem einen Tisch ihr Zweitrechner stehen, und an dem anderen kann sie ihre Schularbeiten machen.
Jacy erklärte, was mit "Ikea" abgekürzt wird:
"Idioten kaufen einfach alles."
Im Aufzug sagt eine Computerstimme "Tür öffnet", "Tür schließt", "Fahrtrichtung ab", "Fahrtrichtung auf". Wir ahmten das nach und ergänzten in demselben Tonfall:
"Tür öffnet nicht. Fahrt zur Hölle. Achtung - Selbstschußanlage."
Die meiste Zeit verbrachten wir im Ikea-Restaurat, das in den Abendstunden angenehm leer wurde. Man kann sich dort mit demselben Trinkgefäß unbegrenzt Getränke nachnehmen, was unseren Aufenthalt noch ausdehnte.
Elaine erzählte, daß sie ihren stressigen Lebensalltag nur mit Hilfe von Schokolade und Kaffee bewältigt. Dem konnte ich mich anschließen.
Elaine mag Musik von Linkin' Park und Artverwandtes. Solche Musik gefällt mir auch. Als ich erzählte, daß ich "Allein allein" von Polarkreis 18 mag, wehrten Jacy und Elaine ab; das könnten sie nicht mehr hören, seit ein Nachbar dieses Stück auf Repeat laufen ließ und sie mithören mußten.
In der Nacht war ich im "Lost Sounds", wo Kappa und Gavin eine neue Veranstaltungsreihe begannen. Jas berichtete, daß Ace ihm letzte Woche beim DAF-Konzert sein Herz ausgeschüttet hat. Aces Ehefrau Zara hat vor Kurzem erfahren, daß sie Krebs im fortgeschrittenen Stadium hat. Jetzt ist sie krank zu Hause.
Magenta berichtete, an der Tür habe man sie mit ihrem pinkfarbenen Leo-Webpelz nicht einlassen wollen, das sei den Türstehern nicht "gothic" genug. Schließlich habe man sie doch eingelassen, unter der Voraussetzung, daß sie den Pelz ablegte. Nun trug sie ihn erst recht. Ich bestärkte sie darin.
"Kappa findet immer wieder Mittel und Wege, seine Gäste von dem Besuch seiner Veranstaltungen fernzuhalten oder abzuschrecken", meinte ich. "Das war schon im 'Nachtlicht' so, als er mit der Gießkanne Hausverbote an Stammgäste verteilt hat, weil ihm gerade danach war. Und er hat vorbestrafte Skinheads als Security eingesetzt - ausgerechnet die Leute, vor denen die Gäste geschützt werden müssen. Vielleicht hat dieses Verhalten mit Kappas Wunsch nach einer elitären Clubgesellschaft zu tun. So etwas kann er in der Wave-Gothic-Elektro-Szene aber vergessen, das funktioniert nicht."
Siro meinte, er sei immer allein gewesen und werde für immer allein bleiben; mit den Frauen habe er nur flüchtige Erfahrungen gemacht.
"Bei mir ist das genauso", erzählte ich.
"Aber du bist doch so ein hübsches Mädchen", wandte er ein.
"Das ändert nichts. Das Problem ist, daß ich mich nie verliebe, es gibt für mich immer nur ein und denselben, und der taugt nichts."
Kitty war heute ohne ihren Freund Vico im "Lost Sounds". Sie hatte ihren Pony umgeföhnt, im Sixties-Stil. Sie meinte, heute könne sie das so stylen, weil Vico nicht da sei, den das stören könnte. Vico war beruflich unterwegs.
Als Rafas Stück "Schweben, Fliegen und Fallen" gespielt wurde, rannte Kitty nach draußen. Ich sagte zu ihr, bei solcher Musik würde ich zur Toilette gehen.
"Da höre ich es nicht leise genug", meinte Kitty.
Im "Lost Sounds" traf ich so viele Leute, daß es einem Familientreffen ähnelte. Ich erzählte Brandon von der Geschenkschleife, die ich zu Weihnachten an Constris 24. Adventskalender-Päckchen geklebt hatte, einen Karton mit einem Schreibtischstuhl darin. Ich war kurz im Bad, danach war die Schleife verschwunden. Tage später tauchte sie wieder auf, mitten im Zimmer - zerbissen und zerrupft.
Die Katzen Domino und Bastet haben die Angewohnheit, ihr Futter zu verscharren oder es zumindest zu versuchen. Da ihre Näpfe seit einiger Zeit auf einem Läufer stehen - damit sie Läufer nicht mehr als Toilette, sondern als Futterplatz wahrnehmen -, pflegen sie den Läufer über den Näpfen zusammenzufalten, so daß sich ein Haufen ergibt. Einen solchen Haufen faltete ich neulich auseinander, doch statt des erwarteten Futternapfes lag - sic! - die zerbissene Geschenkschleife unter dem Stoff.
Am Freitag war ich im "Doomsday", wo Torvil von FabrikC auflegte. Die Musik gefiel mir sehr. Unter anderem liefen "Dirtygrrrls/Dirtybois" von Faderhead und "Sex, Drogen und Industrial" von Combichrist.
Mit Brandon unterhielt ich mich über Filme. Brandon erzählte, er habe ein Buch über Sophie Scholl gelesen, und er habe so sehr weinen müssen, daß er es noch nicht geschafft habe, Filme wie "Die weiße Rose" und "Sophie Scholl - Die letzten Tage" anzusehen. Ich erzählte, daß ich früher mit Vorliebe Endzeitfilme angesehen habe, doch sei ich mittlerweile abgesättigt mit grausigen Szenen und wolle mir so etwas nur noch eingeschränkt angucken. Daher hätte ich bei "Sophie Scholl - Die letzten Tage" häufig vorgespult oder Bildvorlauf gemacht.
"Genau das macht man doch in der Traumatherapie", wußte Brandon. "Man sieht sich in Gedanken ein traumatisierendes Ereignis an und kann Vorlauf, Rücklauf, Bildvor- und -rücklauf und Slow Motion machen."
"Ja, damit man die Erinnerungen beherrscht und nicht mehr von den Erinnerungen beherrscht wird."
Ich erinnerte mich an die Abenteuerserie "Sandokan", die 1979 im Fernsehen lief. Nie sei ich darüber hinweggekommen, daß die Filmfigur Marianna auf der Flucht durch den Dschungel auf Mompracem erschossen wird.
"Jetzt arbeite ich an einer Shortstory, in der ich die Geschichte weiterspinne", erzählte ich. "Die Namen habe ich verändert, aber die Figuren sind dieselben. Die Shortstory spielt fünfzehn Jahre nach Mariannas Tod. Das hat auch etwas mit dem Sequel von 'Sandokan' zu tun, das 1998 entstanden ist und weit hinter den Filmen von 1976 zurückbleibt. Das liegt im Wesentlichen an der weiblichen Hauptrolle, die eine glatte Fehlbesetzung ist. Sie ist viel zu jung für Sandokan und hat so gut wie nichts mit ihm gemeinsam. Zu Sandokan hätte eine Frau gepaßt, die etwas Ähnliches durchgemacht hat wie er und die auf viel Lebenserfahrung zurückblicken kann - eine Witwe zum Beispiel. Deshalb lasse ich in der Shortstory eine Witwe auftreten. Gemeinsam mit Sandokan baut sie in einem hölzernen Pavillon eine virtuelle "Bilderkammer", in der beide ihre traumatisierenden Erinnerungen unterbringen können."
"Das ist doch alles wie in der Traumatherapie", bemerkte Brandon. "Da spinnt man die Geschichten auch weiter und entwickelt einen virtuellen Ort, an dem man seine Erinnerungen unterbringen kann."
Brandon meinte, die Therapie der narzißtischen Störung habe viel gemeinsam mit der Traumatherapie, vieles stimme sogar genau überein.
Am DJ-Pult stand außer Torvil ein DJ namens Aryn, der erzählte mir, daß er mich oft im "Roundhouse" gesehen hat. Ich meinte, er könne mich dort ruhig ansprechen, ich würde mich darüber freuen.
"Ach, wenn du deine Pirouetten drehst, traue ich mich nicht so 'ran", sagte Aryn.
Gegen halb sechs war ich mit Brandon bei "McGlutamat" am Südschnellweg, zum Morgenkaffee. Ich aß frischen Salat. Brandon wurde immer müder, und ich brachte ihn nach Hause.
An Zara mailte ich:

Hab gehört, du bist schwer krank geworden. Macht mich sehr betroffen. Meld dich mal, danke dir.

Zara schrieb:

Liebe Hetty,
oha, ja, aber ich kämpfe ;-)
Von wem weisst Du es?
Liebe Grüsse,
Zara

Ich schrieb:

Das habe ich neulich im "Lost Sounds" gehört. Kappa wußte das und Jas auch. Ace hat Jas beim DAF-Konzert davon erzählt. Am 26.12. habe ich Ace im "Mute" getroffen, da wirkte er sehr niedergeschlagen, hat aber noch nichts erzählt.
Mußt du denn noch ins Krankenhaus? Ist da was geplant?
Eine Kollegin von mir hat es vor Jahren schon erwischt, die mußte immer wieder operiert werden, zuletzt im vergangenen Sommer. Sie hat zum Glück einen Freund, der sich sehr um sie kümmert. Das ist ja sehr wichtig, daß man mit sowas nicht allein ist.
Irgendwie stellt sich da ja alles auf den Kopf, die ganze Lebensplanung.
Bekommt man dich denn mal wieder irgendwo zu sehen? Oder geht es dir so schlecht, daß du lieber gar nicht aus dem Haus gehst?

Leider hörte ich danach von Zara nichts mehr.
Am Sonntag gab es bei mir ein Kerzen-Kränzchen, das Lucerna inszenierte, als Kerzen-Vertreterin. Es gab eine große Menge Mandel-Waffeln - ich verbrauchte ein halbes Kilo Mehl, fünf Eier und ein ganzes Stück Butter. Die Waffeln wurden im Handumdrehen alle, obwohl wir nur zu neunt waren.
Ein Kerzenleuchter hat einen kreisförmigem Boden und eine doppelte Wand aus Glas, so daß man Fotos oder schmückende Gegenstände wie Spitze oder Blätter hineinschieben kann. Wir stellten fest, daß meine Fotos von den Breitwand-Bildern aus Rafas Kurzfilm "Out of Body Experience" hineinpassen. Auf diese Weise stellte ich einen Leuchter her, den ein blaugetöntes Bild von einem badenden Rafa in halb zerrissener Kleidung ziert. Den Glas-Leuchter schenkten Sarolyn, Terry, Berit und Yasmin mir zum Geburtstag.
Am Vorabend meines Geburtstags waren abends Constri und Denise bei mir, es gab Torte und einen Geburtstagstisch. Constris Geschenk für mich ist eine Rarität, ein amerikanischer Scherzartikel, den Constri einer befreundeten Mutter abgekauft hat. Es ist eine Notizwand in Gestalt einer Latrine. Unter der Notizfläche befinden sich an imitierten weißen Kacheln zwei Pissoirs und ein Waschbecken mit Spiegel, Seifenspender und Händetrockner. Wenn man auf kleine rote Knöpfe drückt, ertönt der jeweils passende Sound. Mitten im Spiegel ist auch ein Knopf. Wenn man den drückt, sagt der Spiegel - fast wie bei "Schneewittchen":
"Ou, you look marvellous!"
Mein Vater erschien zum Geburtstagsfrühstück. Er brachte mir blühende Hammameliszweige aus seinem Garten mit. Als wir gegessen hatten, schleppte ich einen Karton mit einer Kommode herbei, die ich über ein Jahr lang nicht hatte aufbauen können, weil mir Zeit und Energie fehlten. Ich begann, die Kommode aufzubauen, und erwartungsgemäß hielt es meinen Vater nicht auf seinem Stuhl. Er half mit, und so konnte ich endlich etwas Ordnung in mein häusliches Chaos bringen. In zwei Schubladen brachte ich losen Papierkram unter, die dritte und größte reservierte ich für Geburtstagsgeschenke - ein weiser Entschluß.
Zum Mittagessen waren Constri, Denise und ich bei meiner Mutter. Es gab Hühnersuppe, Hühnerfrikassee und am Nachmittag den mittlerweise traditionellen Fotospaziergang. Die Garagen auf einem naheliegenden Hof sind numeriert, und für jeden Geburtstag gibt es die passende Zahl, unter der das Geburtstagskind fotografiert wird. Erst wenn wir die Fünfzig hinter uns gelassen haben, müssen wir uns andere Zahlen suchen.
Denise war bei Henk zum Haareschneiden gewesen und zeigte stolz ihre rosa Strähnchen. Constri hat im Friseursalon viele Fotos gemacht von Denise und Henk.
Abends gab ich meine Party, fünfundvierzig Gäste waren da. Gesa erschien zum ersten Mal nicht allein; sie hatte einen schmucken Burschen dabei, Marno. Er ist groß und schlank und sieht jung aus, scheint aber in Gesas Alter oder knapp darunter zu sein.
"Wie hat sie sich den geangelt?" war unsere stumme Frage angesichts der lautlosen Gesa.
Merle und Elaine waren auch da. Elaine trug lange glitzernde Ohrgehänge zu den immer länger werdenden Manga-Haaren. Sie hatte ein kurzes Röckchen an und eine schwarze Strumpfhose, passend zum Manga-Stil.
Elaine hat es geschafft, zum neuen Halbjahr einen Platz an der IGS zu bekommen. Sie ist erleichtert, nicht mehr zu der Realschule gehen zu müssen.
Rikka war mit ihren Lebensgefährten Domian da und wirkte so ausgelassen, wie ich sie von früheren Parties kenne. Gemeinsam mit Constri und einigen anderen schrieb sie merkwürdige Dinge ins Gästebuch.
Magnus hat für mich eine Lampe gebastelt, die ich bei ihm gesehen und bestaunt habe. Sie besteht aus dem Glas einer Grableuchte mit einer roten Lichterkette darin.
Von Dane bekam ich eine DVD voller "Roadrunner"-Filmchen, hinreißend freche und alterslose Cartoons. Von Fermin bekam ich ein schönes Bonbonglas, gefüllt mit schokolierten Kaffeebohnen und Merci pur. Von Cyra und Ginger bekam ich ein rosafarbenes Anti-Streß-Kuschelkissen und eine Mach-mal-Pause-Tasse, außerdem hübsch verpacktes Geld. Cielle war krank und konnte heute nicht dabei sein. Ihr soll es zumindest seelisch etwas besser gehen.
Ted war mit Blanca und Sylvain auf meiner Party. Sylvain ist mit seiner Ausbildung im Hotelfach zufrieden. Ted erzählte, daß er am morgigen Tag Cyans Witwe Catherine besuchen wollte. Catherine hat seit einiger Zeit wieder einen Lebensgefährten. Cyan war lange Zeit Teds Geliebter und starb vor mehr als drei Jahren nach einem Herzklappenersatz. Noch immer ist unklar, ob Catherine ahnte oder gar wußte, daß ihr Mann sie mit Ted betrog.
Magnus und Ted fanden im Gespräch einige Gemeinsamkeiten und verabredeten sich für die "Unterwelt" in BO. Ted war bei unserem letzten Besuch im Ruhrgebiet Magnus gegenüber sehr skeptisch und meinte, der sei eine Spaßbremse. Vielleicht hat er seine Meinung mittlerweile etwas abgeändert.
Folter war mit Giulietta auf der Party. Die beiden leben als Nachbarn fast familiär miteinander, fast wie ein Ehepaar, aber halt nur fast. Zu der Party brachten sie einen Herrn mit, bei dem es sich um einen von Giuliettas Verehrern handeln könnte.
Talis und Janice waren mit Hauke da, auch Virginia und Pascal erschienen. Virginia erzählte von ihren beiden Kindern. Das Jüngste - ihr Sohn - ist noch ein Baby. Sie freute sich, wieder einmal auszugehen. Vor zehn Jahren hatte Derek mit Virginia ein Verhältnis. Das ist nun lange vergessen.
Ferry erzählte eine bizarre Geschichte über Bürokratie. Am Fahrkartenautomaten bekam er einen Fahrschein, der mit einer absurden Uhrzeit bedruckt war, so etwas wie "29:34". Der Kontrolleur warf ihm vor, schwarzzufahren. Dem Verkehrsunternehmen war nur mit reichlich Mühe klarzumachen, daß der Fahrkartenautomat kaputt war und daß es die aufgedruckte Zeit gar nicht gibt.
Am Sonntagmittag war ich bei Constri und traf dort Ted, Blanca und Sylvain. Denise alberte mit Ted und Sylvain herum und ließ sich von ihnen in die Höhe heben.
"Sie braucht das so", meinte Constri. "Es fehlt der Mann im Haus, das merkt man."
In der Nacht zum Samstag war ich im "Roundhouse". Auf der Fahrt dorthin lauschte ich einer Nachtsendung im Deutschlandfunk. Darin ging es um Musik, und zwar um den Sampler "Verschwende deine Jugend" und um die rebellische Variante der Neuen Deutschen Welle. Stücke von Kraftwerk, DAF und Liaisons Dangereuses gab es zu hören. Der Moderator schien mit der Musik vertraut zu sein; er hat sich wohl in den achtziger Jahren davon auch schon begeistern lassen. Als Stück aus der heutigen Zeit, das der damaligen Musik ähnelt, brachte er eines von Schwefelgelb, eine Underground-Combo, an deren Musik man kaum herankommt. Schwefelgelb haben die NDW-Zeit nicht mehr miterlebt, sie gehören zu einer späteren Generation.
Marvel hat eine neue Freundin, die sich meistens bei ihm hintern DJ-Pult aufhielt und ihn zu bewachen schien. Sie ist deutlich jünger als er und hat lange blonde Haare.
Joujou ging heute in Weiß, ein Kontrapunkt zu dem gewohnten Schwarz. Sie hatte sich ein schwarzweiß kariertes Schleifchen ins Haar gebunden. Ihren Job bei Microsoft hat sie immer noch.
Am Samstagvormittag habe ich Folgendes geträumt:

Im "Roundhouse" hatte ich mich vorm DJ-Wagen auf einen Barhocker gestellt, so daß ich mich über die Brüstung auf Augenhöhe mit Marvel unterhalten konnte. Ich plauderte mit ihm, bis er sich wieder dem DJ-Pult zuwandte. Da kam von der gegenüberliegenden Seite her, wo sich Treppchen und Türchen des DJ-Wagens befinden, Rafa zum Pult heraufgestürmt, in schwarzer Jacke, mit CD-Köfferchen. Er stellte das Köfferchen bei Marvels CD's ab und eilte nach vorn an die Brüstung, wo ich stand. Wie von selbst legte ich Rafa den linken Arm um die Schultern, in der Annahme, daß er sich mir entziehen und fortlaufen würde. Das tat er aber nicht. Er schaute kurz - in sich gehend, prüfend - halb auf mich, halb an mir vorbei, und entschied dann wohl, sich heute wenigstens ein bißchen auf mich einzulassen. Er wandte sich mir zu. Ich legte beide Arme um Rafa, unsere Gesichter näherten sich, meine Lippen suchten die seinen. Fast konnte ich ihn küssen, da drehte er sich zögernd ein Stück zur Seite, und ich legte meine Wange an seine. So verharrten wir. Der Traum zerfiel, und im Aufwachen fühlte ich noch die Wärme seines Körpers.

Der Traum war sehr realistisch, sehr greifbar, fast wie etwas tatsächlich Erlebtes.
Am Samstagabend war ich bei Constri und Denise zum Essen. Constri erzählte, im Kindergarten hat sie Denise und deren Freundin Taryn in einem winzigen Spielhaus beobachtet. Die beiden Sechsjährigen saßen einander an einem winzigen Tisch auf winzigen Bänken gegenüber und tippten auf alten Tastaturen herum. Als Constri sich erkundigte, was sie machten, erklärten sie, sie hätten mit den Tastaturen ein Flugzeug gesteuert, und jetzt tippten sie einen Brief. Taryn sei - im Spiel - elf Jahre alt geworden, und Denise sei die Mutter von Taryn. Der Brief sei bestimmt für den geheimen Stern von Denise.
Constri berichtete, daß Elaine überglücklich von ihrem ersten Schultag in der IGS in Lnd. nach Hause kam. Nie habe sie damit gerechnet, so freundlich aufgenommen zu werden. An dieser IGS hat meine Kollegin Lana Abitur gemacht, im Jahre 1985. Damals soll sich die Schule wenig um benachteiligte Kinder gekümmert haben. Das ist offenbar anders geworden. Man schaut gerne daheim bei den Kindern vorbei, die öfter schwänzen. Es wird auch darauf geachtet, daß ihnen jemand bei den Hausaufgaben hilft. Die überforderte Merle könnte sich dadurch entlastet fühlen. Allerdings wird sie sich womöglich auch kontrolliert fühlen.
Elaine hat viele Termine und Schulstunden versäumt, ohne daß es Merle gelang, sich ihr gegenüber durchzusetzen. Etliche Male hat Merle der Schule etwas vorgelogen. Sie klagte meiner Mutter ihr Leid, daß sie mit dem Kind nicht mehr fertigwerde. Meine Mutter gab zu bedenken, wenn Merle Elaine mehrere Tage vor Ferienbeginn aus der Schule nehme, um mit ihr in den Urlaub zu fahren, müsse sie sich nicht wundern, wenn es dem Kind an Motivation fehle.
Meine Mutter hat versucht, Elaine Nachhilfe zu geben, dies scheiterte jedoch an Elaines Unzuverlässigkeit. Wenn Elaine keine Kehrtwende schafft und auch die neue Schule nur unregelmäßig besucht, wird sie eines Tages ohne Schulabschluß dastehen.
Mit Constris Unterstützung hat Denise mir eine E-Mail geschrieben:

liebe hetty!

äf8888888888888KÄ665ÖLIZOOWMNPÄKD3IU00000HJUIKOLÜ90

DETINISEZRDTARARYNE-

EIÖLIOOOKKPOOOOPOPÜBKHÄ NBK6HÜJPOIBKBKBBDENISEJKLIIK99IO+++++DENISE

DFZHK,LÖLPÖÖ.ÜPÄÜÄÄ+####

... und so weiter ...
Dann folgte:

VIELE GRÜSSE DEINE

DENISE DENISE DENISE DENISE DENISE DENISE DENISE

... und so weiter ...



Mitte Februar war ich wieder beim Rippchenessen im "Keller". Mit Highscore, Maddox, Mavis, Lucerna, Kayley und Marie-Jo saß ich am Tisch. Veva erschien auch mit ihrem Freund, sie saßen gegenüber am Tisch. Highscore erzählte von seiner Arbeit. Ein junger, karriereorientierter Vorgesetzter hatte sich in die Arbeit im Lager eingemischt und wollte alles besser wissen. Highscore wies ihn zurecht:
"Wir schaffen das schon."
Maddox erzählte von der Tagesklinik im "Zuckerschlößchen". Er habe einen Therapeuten zugeteilt bekommen, der vorher im Haupthaus gearbeitet hatte und sich dort unbeliebt gemacht hatte. Nun machte er sich in der Tagesklinik unbeliebt. Maddox hatte den Eindruck, daß der Therapeut ihm gar nicht zuhörte und ihn nicht ernst nahm. Einmal habe der Therapeut zu ihm gesagt, er habe doch gar keine Probleme und eigentlich gar keinen Grund, hier zu sein. Maddox sagte schließlich zu ihm, er habe den Eindruck, daß er ihm nicht zuhörte, und deshalb wolle er den Therapeuten wechseln. In Vertretung hatte er schon eine andere Therapeutin gehabt, mit der er gut zurechtgekommen war. Der Therapeut gab sich erstaunt und fragte, weshalb Maddox den Therapeuten wechseln wollte. Maddox entgegnete, eben das sei ja das Problem - wenn er ihm zuhören würde, wüßte er es.
Mavis hat ihr Studium der Politik und Geschichte in HB. abgebrochen; es sei doch nicht das Richtige für sie. Sie wolle sich neu orientieren. Vielleicht werde sie im sozialen Bereich arbeiten, vielleicht in der Jugendarbeit.
Gegen halb elf erschien Rafa, in Begleitung von Darienne.
"Oh nein", stöhnte Mavis und verdrehte die Augen."Seht ihr das?"
"Er hat immer noch was mit Darienne", sagte ich vernehmlich. "Er hat immer mehrere, die er poppt. Er könnte Darienne gar nicht in der Band halten, wenn er sie nicht immer wieder befriedigen würde."
Maddox meinte, es gezieme sich nicht, so laut zu sagen, was man denkt.
"Bei anderen Leuten bin ich wesentlich dezenter", erklärte ich. "Hier in diesem Fall mache ich eine Ausnahme."
Darienne trug ihre Haare auch heute ampelrot. Rafa trug eine schwarze Lederjacke und hatte keine Brille auf. Die beiden setzten sich allein an den Tisch neben unserem, weit nach hinten, wo die Rippchen standen. Rafa tat sich ordentlich auf, Darienne aß nichts. Beide redeten sehr wenig. Rafa war auffallend leise. Ich bin es gewohnt, daß er seinen Begleitern lange Reden hält, das war heute aber nicht der Fall, er war ungewöhnlich schweigsam. Darienne redet ohnehin kaum. Zwischendurch wurden die beiden etwas lebhafter und machten Blitzlicht-Fotos.
Im "Keller" wurde es allmählich leerer. Ich saß mit Maddox und Mavis, und wir redeten über Irrenhäuser und Ruinen. Maddox und Mavis erzählten von einer aufgegebenen Kaserne in H. - nahe meinem Stadtviertel -, die auch Highscore kennt. Die Überreste der Kaserne bieten ein Entdeckerterrain für Abenteuerlustige und ein Naherholungsgebiet für Hundehalter. Mavis ist vor allem von den Kellergewölben fasziniert. Um den dortigen Schatz fürs Geocaching zu heben, mußte man im Keller eines Gebäudes durchs Wasser waten.
Ein anderer Geocaching-Schatz, der leicht zu sehen, aber schwer zu heben ist, soll sich in SHG. auf einem Parkplatz oben auf einem Laternenmast befinden. Es gibt immer mehr dieser Caches, auch an sehr ungewöhnlichen Orten. Die Ausbreitung der Caches reicht sogar bis zur Raumstation ISS.
Maddox erzählte, er wisse nun, wer meine Kollegen seien, die zum Jahresbeginn von der Psychiatrie in Lk. in das "Zuckerschlößchen" in RI. gewechselt sind. Bald komme noch eine Kollegin dorthin. Ich wußte schon, um wen es sich handelte: Bernades, die derzeit im Neurologie-Jahr ist und schon angekündigt hat, danach ins "Zuckerschlößchen" wechseln zu wollen.
Ich meinte, die Psychiatrie in Lk. sei recht groß, doch sei das Haus kein richtiges Irrenhaus, sondern ein Allgemeinkrankenhaus mit psychiatrischer Abteilung. Kingston, das sei ein richtiges Irrenhaus.
Während wir uns über Irrenhäuser unterhielten, war Rafa so still geworden, daß ich für einen Augenblick dachte, er sei nicht mehr da. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß er mit messerscharfer Aufmerksamkeit lauschte.
Als Maddox und Mavis fort waren, ging ich zu Bibian in den Schankraum und plauderte mit ihr. Rafa kam mit Darienne auch dorthin. Er bezahlte, und als Bibian ihm die Zeche nannte - einen Betrag zwischen siebzehn und achtzehn Euro -, fragte er:
"Wofür das denn?"
"Na ja, einmal Rippchen, vier Bier ...", rechnete Bibian ihm vor.
"Ja, stimmt schon", nickte Rafa.
Am Valentinstag feierte Clarice ihren Geburtstag im "Dom & Sub". Mit ihr feierten noch zwei andere Leute aus der BDSM-Community. Überraschungsgast war Laurie mit seinem jetzigen Lebensgefährten. Dem stellte Laurie mich vor mit den Worten:
"Die beste Beschreibung ist 'Elektro-Ballerina'."
Laurie ist mit seinem Lebensgefährten aufs Land gezogen. Es sei schön dort draußen, aber so abgelegen, daß die Hemmschwelle hoch ist, nachts auszugehen, eben weil der Weg nach Hause so beschwerlich ist. Sie wohnen in der Nähe von HI.
Layana scheint nach wie vor gut mit den überlangen Arbeitszeiten im Landschaftsarchitekturbüro zurechtzukommen. Sie erzählte, ihr Projekt komme so gut an, daß sie immer wieder verlangt wird, auch wenn sie eigentlich mehr Abwechslung in ihr Berufsleben bringen will. Für das Musikmachen bleibt ihr und ihrem Partner kaum noch Zeit.
Mit Constri unterhielt ich mich an der Theke über Anspruch, Selbstanspruch und Wirklichkeit. Constri neigt dazu, Erwartungen an sich selbst zu richten, die sie nicht erfüllen kann. Das führt zu Frustration und Selbstentwertung, was Constri umso mehr daran hindert, ihre Erwartungen zu erfüllen.
Ich erzählte, daß ich mich mit unlösbaren Problemen arrangiert habe und auf diese Weise dafür sorge, handlungsfähig zu bleiben:
"Ich lebe jeden Tag mit unlösbaren Aufgaben."
"Was denn für Aufgaben?"
"Rafa ist für mich immer anwesend, in Gedanken ist er für mich rund um die Uhr anwesend, und er ist ein ewig unlösbares Problem. Ich muß mich damit arrangieren, ich habe keine Wahl."
Nachts war ich in dem Gay-Club "Räuber & Prinz", wo Janice mit ihren Geburtstagsgästen hingezogen war. Es gab dort eine Art "Elizium"-Revival-Party mit dem Titel "N8falter". Am DJ-Pult standen unter anderem Spheric und Velroe.
Hauke erzählte von seiner Jugend im Harz. Er ist als Teenager mit seiner sieben Jahre älteren Schwester in die Harzer Szene-Läden gegangen. Als er in den neunziger Jahren nach H. kam, entdeckte er das "Elizium" für sich und wurde dort Stammgast.
Die Musik, die heute lief, erinnerte an die frühen "Elizium"-Zeiten. Unter anderem liefen das melancholische "Last Exit for the Lost" von den Fields of the Nephilim, "Wild World" von Love is colder than Death und "Face to Face" von Siouxsie & the Banshees. Außerdem liefen "Cantus" von Faith and the Muse und - als neuerer Titel - "This shit will fuck you up!" von Combichrist.
Am Donnerstag war ich im "Plaste & Elaste", wo Polarkreis 18 auftraten. Die Bandmitglieder trugen Kleidung im Wilde-Jungs-Stil, aber ganz in Weiß, was einen interessanten Kontrast ergab und zu dem Corporate Design im Polar-Look paßte. An der Saaldecke waren kugelförmige Reispapier-Lampenschirme über hellblaue Lichter gestülpt. Die Jungs schienen viel Spaß am Musizieren zu haben und mit Eifer bei der Sache zu sein. Sie konnten das Publikum ohne Weiteres mitreißen.
Am Freitag war ich mit Terry im "Roundhouse". Marvel legte im großen Saal auf. Das unbestrittene Highlight der Nacht war "- 28 °C and falling" von Iszoloscope. Marvel spielte es als letztes Stück. Außerdem liefen "Concrete Rage" von P.A.L und "Lost Highway 45" von Imminent Starvation. Ein Gast-DJ hatte zuvor Klassiker aus den Achtzigern gespielt, darunter eines meiner ewigwährenden Lieblingsstücke: "People are People" von Depeche Mode.
Überraschungsgast der Nacht war Max, der sich schon lange nicht mehr im "Roundhouse" hatte sehen lassen. Er berichtete, daß sein neues Album fast fertig sei; es fehlten noch vier Stücke. Ich beschwor ihn, mir das Album mitzubringen, sobald es fertig ist.
Terry erzählte, daß Linus noch immer vorwiegend im "Second Life" zu Hause ist. Sie selbst nimmt seit etlichen Jahren an einem Online-Game teil, das sie so dosiert, daß ihre privaten Aktivitäten noch genügend Platz in ihrer Freizeit haben. Online-Games haben eine brisante Sogwirkung. Sie sind so angelegt, daß man umso mehr Erfolg verbuchen kann, je länger und häufiger man in der Online-Spielwelt anwesend ist. Das führt bei labileren Naturen dazu, daß sie ihr Leben mehr und mehr dem Spiel unterordnen und im schlimmsten Fall nur noch im Spiel leben, nicht mehr in der wirklichen Welt. Das betrifft vor allem diejenigen, die wegen Arbeitslosigkeit ein Übermaß an Zeit zur Verfügung haben. Sie definieren im ungünstigsten Fall ihren persönlichen Erfolg nur noch über den Erfolg im Spiel.
Am Samstagnachmittag war ich bei Mina in BS. Mit Arnon, der an diesem Wochenende bei ihr zu Besuch war, hatte Mina sich vorhin im Supermarkt gestritten. Arnon hatte sich, wie Mina berichtete, so übereifrig und überfürsorglich und dabei so besserwisserisch gezeigt, daß sie ihn fortschickte.
Mina erzählte, daß sie Arnon vor anderthalb Jahren in Wien kennengelernt hat. Er wisse, daß sie krank sei, das sehe man ihr schließlich an. Die ungünstige Prognose von Minas Tumorleiden schiebe er jedoch weit weg.
Mina geht wieder arbeiten, in Kingston. Unsere Kollegin Arlena fährt sie, weil Mina aufgrund ihrer Behinderung nicht mehr Auto fahren kann. Mit Handschaltung könnte Mina zwar noch fahren, doch scheut sie den damit verbundenen Aufwand.
Mina beklagte laufende Auseinandersetzungen mit Fanny Gottseibeiuns, der Abteilungsleiterin. Fanny ist die ehemalige Geliebte des ehemaligen ärztlichen Direktors in Kingston. Als der in Pension geschickt wurde, machte er Assistenzärztin Fanny als eine Art Abschiedsgeschenk zur Leiterin der Gerontopsychiatrie. Was er damit anrichtete, dürfte ihm - der für seine Borniertheit und Eigensucht bekannt ist - herzlich egal sein. Mina jedenfalls plant, sich nächstes Jahr berenten zu lassen.
Mina erzählte von ihrer Familie. Zu ihrer Schwester Brigida habe sie eine sehr enge Bindung. Ihre Mutter sei psychisch krank, seit sie denken könne; an was die Mutter leiden soll, konnte Mina jedoch nicht recht beschreiben. Jedenfalls sei die Mutter launisch und ichbezogen. Diese Eigenschaften bedeuten freilich nicht unbedingt, daß jemand krank ist. Der Vater habe sich schon vor längerer Zeit von der Mutter getrennt und habe eine neue Lebensgefährtin. Mit dem Vater versteht Mina sich gut.







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Nachts war ich im "Lost Sounds". Dort sollte es heute einen Auftritt von Rafas Nebenprojekt H.F. geben. Kappa hatte in der Ankündigung zur Party geschrieben, es gebe einen Dresscode, nämlich "gehobenes Styling irgendwo zwischen Cyberpunk und Fetisch". Das paßt zu seinen Vorstellungen von einer elitären Clubszene. Zur Wave-Elektro-Gothic-Szene paßt es allerdings nicht. Dresscodes gibt es vor allem in der BDSM-Szene.
Als es auf Mitternacht zuging, war immer noch kaum etwas los, weswegen das Konzert von H.F. noch nicht begonnen hatte. Rafa wartete auf mehr Publikum. Shannon war heute da mit Zod, der sich - passend zum Karneval - als Rafa verkleidet hatte: mit Lokomotivführer-Mütze, toupiertem Pony, taillierter Lederjacke und enger Hose. Zod ist recht dünn, so daß anhand seiner Figur leicht erkennbar war, daß er nicht Rafa sein konnte. Rafa stand am DJ-Pult und spielte Titel, zu denen auch ich tanzte, darunter "49 Second Romance" von P1E. Rafa trug während der Nacht keine Brille, lediglich auf der Bühne maskierte er sich damit.
Rafa hatte heute einen ganzen Harem mitgebracht. Sarena war da - in schwarzweißem Ringel-Shirt und Minirock -, Darienne war da - mit langen, grell-bonbonroten Kunstlocken -, Lucy war da - mit langen, offenen Haaren. Auch Veva war anwesend, ebenso Cyris. Deren Studium neigt sich dem Ende zu. Sie erzählte, sie sei bisher noch nie im "Lost Sounds" gewesen. Es gefalle ihr gut. Shannon erzählte, sie sei mit ihrem Studium der Tiermedizin nach wie vor zufrieden, es sei das richtige Fach.
Sarena wurde von Rafa meistens in die Ecke gestellt, er kümmerte sich kaum um sie. Zärtlichkeiten beobachtete ich zwischen ihnen gar nicht. Eben stand ich in der Nähe von Sarena mit Jas an einem Tisch und erzählte ihm, daß Rafa nach wie vor mit mehreren Freundinnen und Geliebten zugleich beschäftigt ist, da fiel mir auf, daß Sarenas über allen Warnungen und über der Wahrheit schwebendes, sich über jeden Zweifel erhebendes Dauerlächeln verschwunden war.
Yori war endlich wieder aufgetaucht, die zarte Blondine mit den schulterlangen Haaren. Sie freute sich, alte Bekannte wiederzutreffen. Ein Wiedersehen mit Harrison freilich, der sie vor Jahren sexuell bedrängt hat, blieb ihr erspart.
Sten kam an unseren Tisch, der für und mit Rafa Videos dreht. Er war heute verkleidet als Wissenschaftler, mit übergroßer Brille und weißem Kittel. Sten erinnerte sich, daß Yori beim Dreh zu dem Video für "Tanz mit deinem Gefühl" von Das P. mitgewirkt hat, im Herbst 2003. Als er ihr sagte, daß er der Regisseur dieses Videos war, erinnerte sie sich auch wieder. Yori meinte, es habe ihr viel Spaß gemacht.
Yori hatte eine Liaison mit Rafa im Jahre 1998. Er betrog Berenice mit ihr. Yori erzählte mir, daß sie Rafa ein Dreivierteljahr nach dem Ende dieser nur wenige Tage dauernden Liaison wiedertraf und daß er erneut begann, sie anzugraben.
"Ich weiß nicht, warum ich ihn habe abblitzen lassen", sann sie nach, "jedenfalls war er bei mir endgültig unten durch, als er zu mir gesagt hat:
'Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, habe ich mit keiner anderen Frau etwas gehabt.'
Das war so eindeutig, daß das nicht stimmen konnte."
"Wenn man bedenkt, daß er in der gesamten Zeit mit Berenice zusammen war ... und dann noch immer wieder welche nebenbei hatte ..."
Yori erinnerte sich, daß bei dem Videodreh im Herbst 2003 auch Darienne dabei war, die jetzt für H.F. auf der Bühne stand.
"Damals war Darienne ein absolutes Nichts", meinte Yori.
"Heute ist sie immer noch ein absolutes Nichts", meinte ich. "Du kannst dich nicht mit ihr unterhalten. Da kommt nichts, da ist nichts."
Yori fiel ein, daß Darienne damals außer Lästerreden nichts zu bieten hatte. Yori hatte Darienne beim Dreh angesprochen, weil sie ihr etwas verloren vorkam, und eine arrogante Antwort geerntet, im Stile von:
"Ich kann es nicht haben, wenn Leute mich zutexten."
Yori erzählte, daß sie jahrelang in Bayern gelebt hat mit ihrem jetzigen Freund, dort habe sie eine gute Stelle in einer Apotheke gehabt. Sie plane, sich als Chiropraktikerin selbständig zu machen. Diesen Plan hätte sie bereits umsetzen können, wenn sie nicht ihrem Freund zurück nach H. gefolgt wäre, der sich dort beruflich verbessern konnte. Sie behalte ihren Plan allerdings im Auge und werde ihn in der nächsten Zeit verwirklichen. Sie arbeitet in der Apotheke am CITICEN.
Kioran erzählte, er habe Eden abgeschrieben. Er sei zwar immer noch verrückt nach ihr, doch sei ihm klar, daß er mit ihr keine Beziehung führen könne. Sie sei nicht verläßlich und innerlich nicht gefestigt genug.
Beim Auftritt von H.F. hatte Rafa außer Herrn Lehmann vier Mädchen auf der Bühne. Das waren Darienne, Lucy und zwei weitere Mädchen, die sich in Röhren aus Plastikplanen im Tabledance-Stil bewegen mußten. Außer der Besetzung hatte sich nicht viel geändert. Cyris fiel auf, daß Rafa Playback-Stimmen hineinmischte, die keinem der Anwesenden gehörten. Es waren Relikte aus früheren Tagen, Produktionen von Das P. und W.E. Zum Schluß spielte Rafa mehrere W.E-Titel herunter, zu denen sich die Playback-Sängerinnen Darienne und Lucy routiniert bewegten.
Nach dem Konzert ging Rafa öfters nach draußen zum Rauchen, ansonsten ließ er sich im Saal kaum sehen. Er war meistens im Backstage und überließ Gavin das Auflegen. Ich sah Rafa mit verschiedenen Leuten herumlaufen, mit Sarena jedoch nur selten. Zweimal kam es vor, daß Rafa dicht hinter mir vorbeiging, als ich auf der Tanzfläche war; beim zweiten Mal konnte ich ihn am Arm kraulen. Kontakte im engeren Sinne gab es nicht.
Ich war viel auf der Tanzfläche. "This shit will fuck you up!" von Combichrist war eines der wenigen Stücke, bei denen ich Rafa am DJ-Pult sah.
Am Rand der Tanzfläche sagte ein groß gewachsener, schmucker Kerl zu mir:
"Lächeln."
Er stellte sich vor als Kirian. Er trug den Stil der Electronic Body Music - martialisch-sportlich, mit viel Schwarz - und sah nach Fitneßstudio aus. Er trug ein schwarzweiß gemustertes, ärmelloses Shirt, sehr kurze blonde Haare und rüstungsähnliche Ringe an den Fingern. Kirian wohnt in BS. und hat eine Ausbildung zum Maschinenbauer gemacht. Heute ist er selbständig und wartet technische Anlagen. Kirian wollte wissen, wie alt ich sei. Er schätzte mich auf siebenundzwanzig Jahre. Ich meinte, das sei doch erleichternd, denn daraus ergebe sich, daß ich mehr Lebenszeit zur Verfügung habe. Kirian ist einundvierzig Jahre alt. Er war erstaunt, daß ich älter bin als er, wenn auch nur zwei Jahre. Ich meinte, diese Altersgruppe sei in der Wave-Elektro-Gothic-Szene keine Seltenheit mehr. Außerdem halte die Szene jung, und er habe sich auch gut gehalten. Kirian meinte, innerlich sei er immer fünfundzwanzig geblieben, immer ein bißchen jugendlich-unreif. Er staunte, weil ich nie verheiratet war. Er habe auch nie geheiratet und keine Kinder. Er habe viele Beziehungen hinter sich, die glücklos verlaufen seien. Er habe auch Beziehungen angefangen, bei denen ihm klar gewesen sei, daß sie keine Zukunft hatten. Er wollte wissen, ob ich Kinder will. Das bejahte ich und setzte ein Zitat der Fantastischen Vier hinzu:
"Es könnte so einfach sein, isses aber nicht."
Neben uns setzte Sarena sich auf eine Kiste, ihre Tasche in der Hand; sie schien zu warten. Ihr Gesichtsausdruck wirkte genervt. Als Rafa hinterm DJ-Pult erschien, stellte sie sich neben ihn. Besonders willkommen schien sie ihm nicht zu sein.
Als "Iceolate" von Frontline Assembly lief, tanzten sowohl Kirian als auch ich. Kirian griff nach meiner Hand und zog mich in einigen Drehungen über die Tanzfläche, was sicher dilettantisch aussah. Ich fand es immerhin lustig. Ob Rafa das auch lustig fand, weiß ich nicht.
Kirian wollte mit mir nach draußen, und ich ging mit, denn mir war vom Tanzen ziemlich warm geworden. Draußen standen die Raucher, unter ihnen Rafa mit einigen seiner Haremsdamen, auch Sarena und Darienne waren dabei. Kirian schloß die Arme um meinen Körper, wobei er recht eindeutige Absichten erkennen ließ.
"Er scheint mich vor allem als Objekt zu betrachten", dachte ich. "Wieder so einer."
Kirian bewunderte den Stoff meines Kleides:
"Ist das Lack?"
"Ja, das ist Lack."
Kirian erzählte, er sei immer auf der Suche nach der großen Liebe gewesen, habe sie aber nie gefunden. Ich erzählte, daß ich die Erfahrung gemacht habe, wie es ist, wenn einem ein Mensch begegnet, der wie ein kompliziertes Puzzeleteilchen genau zu einem paßt. In meinem Fall sei dieser Mensch leider völlig indiskutabel wegen seines miserablen Charakters. Ich sei also auf der Suche nach Alternativen, doch das sei kompliziert, denn ich sei selbst recht kompliziert, so daß mein Gegenstück nicht nur kompliziert sein müsse, sondern auf genau die Art kompliziert, die zu mir paßt. Und daß ich einen solchen Menschen ein zweites Mal finde, sei wenig wahrscheinlich. Und bei meinem Glück könne es durchaus sein, daß in dem Fall, daß ich so einen Menschen tatsächlich finde, dieser dann noch schlimmer ist als Rafa, also ein Serienmörder.
Kirian meinte, seine Freunde hätten zu ihm gesagt, er sei der komplizierteste Mensch, der ihnen je begegnet sei.
"Dann kennen die weder mich noch Rafa", dachte ich.
Kirian zeigte auf Rafa und bemerkte:
"Ohne seine Brille sieht der doch eigentlich ganz normal aus."
"Oh ja ... und das ist übrigens das Puzzleteilchen."
"Wie alt ist der eigentlich?"
"Achtunddreißig. Und das sieht man ihm auch an."
Drinnen sah ich Rafa noch einmal, wie er den Tanzsaal durchmaß, allein und mit eiligen Schritten. Danach blieb er verschwunden.
Am Rand der Tanzfläche, vorm DJ-Pult, legte Kirian von hinten die Arme um mich und meinte, es sei so schön, wieder einmal jemanden zu umarmen, und ich hätte eine superscharfe Figur. Ich ließ ihn meinem Ego schmeicheln, war mir aber bewußt, daß wahrhafte Gefühle anders aussehen.
Kirian wollte mich zu einer Party in HRO. mitnehmen, daraus wurde aber nichts, und ich war nicht traurig deswegen.
Constri und Denise haben mir wieder eine E-Mail geschrieben:

Liebe Hetty!
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Viele Grüße
Deine Denise
P.S. Ich hab einen Prinzessinnen-Ranzen!!! In einer Federmappe da waren schon Stifte drin. In der großen. Der Ranzen hat oben eine Krone, und der Ranzen ist voller Glitzer außen.
Ich wünsche Dir eine gute Nacht.

Denise wird in diesem Sommer eingeschult.
Ende Februar schwärmte Sator im "Interface" von seiner neuen Freundin Rayanna. Er kenne sie seit wenigen Wochen und sei mit ihr so glücklich wie noch mit keiner vor ihr. Es sei, als wären sie füreinander bestimmt. Neulich sei ihm aufgegangen, daß er Rayanna in einem Traum begegnet war, lange bevor er ihr in der Wirklichkeit begegnete. Der Traum liege etwa zwei Jahre zurück. Er habe geträumt, er sei mit Rayanna im Bett. Wenn er solche Träume habe, handelten sie immer von Frauen, die er schon kenne, und ihn erstaunte, daß er erstmals von einer Frau träumte, die er nicht kannte. Die Frau in dem Traum habe lange dunkle Haare gehabt, keinen Pony und eine Brille, genauso wie Rayanna.
Zur ersten Begegnung der beiden kam es an Sators Arbeitsplatz. Rayanna wurde als Sicherheitskraft auf der Bahnstrecke eingesetzt, wo Sator ein Stellwerk betreut. Er gestattete Rayanna, die Sanitäranlagen im Stellwerk zu nutzen. Einmal scherzte er, sie dürfe nur bei ihm auf die Toilette gehen, wenn sie einen ausgebe. Am nächsten Tag erschien Rayanna mit einer Flasche Prosecco, einem Pfund Kaffee und einer Tafel Merci. Da funkte es.
Sator erzählte, Rayanna sei dreizehn jahre jünger als er und habe schon einige unglückliche Beziehungen durchlebt. Sie habe bisher fast nur suchtkranke Partner gehabt. Sie sei mit einem alkoholkranken Vater aufgewachsen.
Sators Eltern sind verstorben, auch sein Bruder und seine Schwägerin. Sein einziger noch lebender näherer Verwandter ist sein Neffe. Der ist um die zwanzig Jahre alt. Sator möchte keinen Kontakt zu ihm, er habe keinen emotionalen Bezug zu ihm.
Am Freitagabend sahen Constri und ich in unserer Stadtteilkirche das Theaterstück "Jedermann", eine engagierte, phantasievolle Laien-Aufführung unter professioneller Regie. Vor dem Stück gab es im Gemeindesaal Lachsschnittchen, Brezeln, Wein, Sekt und andere Leckereien. Das allegorische "Jedermann" gefällt mir auch deshalb so, weil es zeitlos ist und ich in der Hauptfigur Abbilder heutiger "Bösewichter" sehe. "Jedermann" trägt in der Inszenierung einen feinen Anzug, wie Vorstandsmitglieder und Bankmanager. Er wird dargestellt als bindungsunfähiger Egomane, der tiefe Gefühle gar nicht erst entstehen läßt. Die Wende zur Reue finde ich sehr optimistisch, eigentlich realitätsfern, aber dem märchenhaften Charakter des Stücks entsprechend.
Anfang März fuhren Constri, Denise, meine Mutter und ich auf den Brocken. Constri und ich fanden unzählige Foto- und Filmmotive und versanken bis über die Knie im Tiefschnee, als wir verloren wirkende Antennenschüsseln und schneebewehte Fassaden fotografierten. Denise spielte mit dem Schnee und randalierte, wenn ihr nicht die volle Aufmerksamkeit zuteil wurde. Immerhin machte Denise sich nützlich, als ich bis zur Hüfte im Schnee versank und sie mich herauszog. Meine Mutter stöhnte und klagte und fand alles furchtbar, zumal wir einige Nebelphasen bekamen und es nur zwischendurch etwas Panoramablick gab. Wenigstens gefielen ihr im Brockenmuseum die ausgestopften Vögel. Constri und ich fanden vor allem die ausgestellten Betonteile der Brockenmauer spannend und das Innere der Horchkuppel, das besichtigt werden darf.
Mit Denise ritten wir auf einem Besenstiel, während auf einem Bildschirm unter uns die Harzhöhen vorbeizogen; wir wurden durch ein Bluebox-Verfahren hineinprojiziert. Der Hexenritt über den Brocken wurde mitgeschnitten, wir erstanden ihn als DVD.
Meine Mutter bekam an ihrem siebzigsten Geburtstag abends von mir Besuch. Sie gab keine Feier im engeren Sinne, ihr wäre das dieses Jahr zuviel geworden. Sie blickt besorgt auf das Schicksal mehrerer Freundinnen, die schon verstorben sind oder auf dem Weg dorthin. Im Abiturjahrgang meines Vater fehlt bereits mindestens ein Drittel. Meine Mutter fährt dieses Jahr zum Jubiläums-Klassentreffen, das fünfzigjährige Abitur.
Am Freitag habe ich Folgendes geträumt:

Mit einem Mädchen, das ich Hazel nenne, war ich in meiner Wohnung. Die sah freilich anders aus als meine richtige Wohnung, eher wie die Wohnung meiner Großmutter Emmy, und das Haus, in dem sie sich befand, ähnelte dem Haus, in dem Rafa wohnt. Die Wohnung lag im ersten Stock, knarrende Holztreppen führten hinauf.
Vor einem Fenster saßen Hazel und ich uns an einem schweren Holztisch gegenüber. Das Fenster, zweigeteilt und altertümlich, befand sich rechts von mir, feine historische Stores hingen davor. Hinter Hazel stand ein gut siebzig Jahre alter Kleiderschrank. Hazel erzählte von Rafa und betonte ihr rein freundschaftliches Verhältnis zu ihm. Ich dachte bei mir, daß sie bestimmt etwas mit ihm gehabt hatte, daß ihr das aber im Nachhinein nicht recht war.
Als es läutete, ging Hazel hinunter und kam mit Rafa herauf. Er hatte seinen Fotoapparat mitgebracht und war ganz geschäftig. Er erzählte, er habe für ein Projekt viele Fotos gemacht. Er stellte sich zu Hazel an den Tisch und zeigte ihr die Bilder in seinem Apparat. Dann reichte er mir den Apparat herüber, daß ich mir die Bilder auch ansehen konnte. Immer wieder hatte Rafa Kleider auf Bügeln fotografiert, die vor einer kahlen Wand aufgehängt waren; das gehörte wohl zum Projekt. Die Kleider waren das, was man heutzutage als "vintage" bezeichnet.
Rafa zeigte sich mir gegenüber nicht feindselig, nahm aber auch keinen näheren Kontakt zu mir auf. Er blieb geschäftsmäßig, dabei durchweg zuvorkommend und höflich. Vielleicht ermöglichte ihm dieser Schutzpanzer, erstaunlich lange in meiner Wohnung zu bleiben.

Nachts war ich im "Doomsday", dort legte Jan L. aka Noisuf-X auf. Er spielte ein neues Stück von ihm selbst, das erst nächstes Jahr erscheinen wird: "Please hang up", in dem viele verschiedene Telefon-Laute verarbeitet werden, auch der Vibrationsalarm. Außerdem liefen "Pusher" von Soman, "One-eyed Man" von This Morn' Omina, "Gun" von Frontline Assembly und vieles mehr aus dem Elektro-Bereich.
Brandon war in Begleitung im "Doomsday". Das Mädchen klammerte derart, daß es nicht von seiner Seite wich und nur auf die Tanzfläche ging, wenn er selber tanzte. Aufgrunddessen war es unmöglich, mit Brandon irgendein Gespräch zu führen, ohne daß das Mädchen mit aufgestellten Ohren mitlauschte. Ich verzichtete dankend. Ich bin gespannt, wann Brandon von der Klammerei genug hat und wie lange er die klammerbedingte Isolation in Kauf nimmt, nur weil er nicht allein sein will. Brandon und seine Freundin gingen früh, viel früher, als Brandon sonst nach Hause geht.
Gwendolyn ist so ziemlich das Gegenteil von Brandons Freundin. Sie erzählte, daß sie beruflich vorankommt, daß ihre Tochter sich gut entwickelt und daß sie auch in ihrer jetzigen Partnerschaft zufrieden ist. Mit ihrem Lebensgefährten sei sie sich einig; jeder lasse jedem seine Freiräume, und jeder könne auch alleine ausgehen, wie heute. Ihr gehe es gut, sie sei mit ihrem Leben zufrieden. Yannick, ihr Bruder, war heute auch im "Doomsday", mit einem Kumpel namens Arvin. Der erzählte von einer mehrjährigen Beziehung in GÖ. Arvin habe mit seiner Freundin nach Feierabend nur auf dem Sofa gesessen, man habe sich gegenseitig angeödet. Die Freundin habe nie ausgehen wollen und damit argumentiert, man kenne doch niemanden. Außerdem sei in GÖ. nicht viel los. Nach Jahren sei die Beziehung zerbrochen, vor lauter Langeweile.
In der Samstagnacht feierte Talis in seinen vierzigsten Geburtstag hinein, zu Hause in der Eigentumswohnung, wo er mit Janice und zwei Katzen lebt. Um Mitternacht gab es großes Anstoßen. Janice führte mit zwei anderen Damen eine Art Varieté auf. In rotschwarzen Korsetts, Netzstrümpfen und Straußenfedern tanzten sie zu dem unbeschreiblichen - ich würde sagen: unbeschreiblich scheußlichen - Disco-Funk-Stück "Lady Marmalade" von Labelle um Talis herum und überreichten ihm einen originellen Artikel, den ich schon im Schaufenster eines Sex-Shops bewundert habe. Es handelt sich um eine Tischleuchte mit einem Schirm in Form eines roten Rocks mit Zierschnürung, und der Lampenfuß sind netzbestrumpfte Plastikbeine in High Heels.
Wir machten die gewohnten Sprüche zum Vierzigsten - daß Talis sich ja schon mal überlegen kann, wie er später seinen Rollator verziert, und dergleichen.
Nachts war ich bei "Stahlwerk". Constri kam nicht mit. Ihr gelingt es inzwischen kaum noch, sich beruflich zu engagieren, und sie besucht immer seltener Parties und Veranstaltungen.
Immerhin war Constri am Montagabend mit mir auf Heloises Geburtstagsfeier. Felicity erzählte, daß sie zur Zeit keinen Freund hat und das gegenwärtig auch ganz gut findet. In London hat die ganze Familie ordentlich eingekauft, vor allem Underground-Techno-Mode. Barnet meinte, solange man es könne, wolle man shoppen gehen; keiner wisse, wohin einen die Wirtschaftskrise bringe.
Ein Gast namens Leron erzählte, daß er mich schon seit dreiundzwanzig Jahren kennt: aus dem "Glitter", einem Underground-Club in H., der bereits seit Mitte der achtziger Jahre nicht mehr existiert. Leron hatte eine interessante Geschichte auf Lager. Im vergangenen Spätsommer kehrte er bei "McGlutamat" in SHG. ein. Es gab zu dieser Zeit sehr viele Wespen. Deshalb saß auch fast niemand draußen; fast alle zogen es vor, drinnen zu essen. Rafa jedoch setzte sich mit dem Mädchen, das er dabeihatte, draußen hin. Es war am Wochenende, das Mädchen hatte lange dunkle Haare, also dürfte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Sarena gehandelt haben. Rafa und das Mädchen sollen schließlich die Einzigen gewesen sein, die draußen saßen. Sie wurden von den Wespen regelrecht umschwärmt. Rafa habe betont unbeteiligt dagesessen und sich wohl sehr überlegen gefühlt - man könnte sagen, als "Herr der Wespen". Die Wespen seien um ihn herumgeflogen, Rafa habe in sein Handy getippt, sich zwischendurch einen Pommes genommen, alles immer so, als seien die Wespen gar nicht da. Irgendwann seien sie aber doch fort gewesen.
Ich frage mich immer wieder, ob Rafa bewußt ist, wie peinlich sein Verhalten wirkt. Ich frage mich, ob er sich absichtlich zur Witzfigur macht. Was das Mädchen betrifft, halte ich es für denkbar, daß es ihr vor allem darum ging, sich nach Rafas Erwartungen zu richten. Daß sie sich auch ohne seine Gesellschaft in die Wespen gesetzt hätte, bezweifle ich.
Barnet erzählte, beim Pfingstfestival in L. habe er auf einem Konzert jemanden getroffen, der habe erzählt, er stehe voll auf Industrial:
"W.E und so."
Als dann wirklicher Industrial lief, gefiel dem Burschen das gar nicht:
"Was ist das denn? Das ist ja furchtbar."
Wenn Barnet gefragt wird, wo er wohnt, und erzählt, daß er im Schaumburger Land wohnt, hört er oft:
"Ach, das ist ja da, wo W.E wohnen!"
Barnet entgegnet dann:
"Ja, ich kenne Rafa, aber ich kann ihn nicht leiden und will nichts mit ihm zu tun haben."

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