Netvel: "Im Netz" - 47. Kapitel































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Ende April war ich mit Constri und Denise nachmittags in der "Neuen Sachlichkeit", wo es eine Flamenco-Aufführung gab. Die ehemals Bauchtanz-begeisterte Jutta war unter den Tänzerinnen, im selbstgenähten Kostüm mit Schleppe und Volants.
Auf der Veranstaltung traf ich nach vielen Jahren Mariposa wieder, die mit mir in der Oberstufe war. Sie gehörte damals zu meiner Clique. Mariposa sieht so jugendlich und attraktiv aus, wie ich sie von früher kenne: schlank, feminin, mit großen Braunaugen und schwarzen Locken. Sie arbeitet in einer Batterienfabrik und lebt in der Nähe von H. in dem Dorf Schloß R., wo es ihr gut gefällt. Sie hat eine Tochter, die zweijährige Amina. Vom Vater der Kindes will sie sich trennen. Mariposa zeigte mir auf ihrem Handy Fotos von Amina. Die Kleine hat die Augen ihrer Mutter geerbt.
Mariposa hat, ebenso wie ich, erst durch ein Kontaktportal wieder etwas von unserer gemeinsamen Schulfreundin Constanze gehört, die nach meinem Abitur nichts mehr von mir wissen wollte. Constanze soll zweimal durchs Abitur gefallen sein, das Fachabitur hatte sie jedoch sicher. Sie soll ein Fachhochschulstudium absolviert haben.
Mariposa und ich hatten beide den Eindruck, daß Constanze nicht in der Lage war, über Gefühle und familiäre Probleme zu sprechen.
"Die war völlig blockiert", meinte Mariposa.
Ich vermutete, Constanze habe in einer Suchtfamilie gelebt und sei mit der Situation überfordert gewesen:
"Die Mutter war schwer nikotinsüchtig, die Schwester hatte eine schwere Eßstörung, und der Vater war ein zwielichtiger Mensch und vielleicht Alkoholiker. Und Constanze hat versucht, das brave Mädchen zu spielen und nach außen die heile Fassade aufrechtzuerhalten."
Nic - ein Krankenpfleger, den ich aus Kingston kenne - berichtete am Telefon, daß seine Frau Marie-Julia einem gesunden Sohn das Leben geschenkt hat, Liam. Morgen werde sie mit dem Baby aus dem Krankenhaus entlassen.
"Wenn ich daran denke, wie Marie-Julia bangen mußte, ob ihr überhaupt Kinder haben könnt", erinnerte ich mich, und jetzt habt ihr zwei."
Tochter Hedy kam vorletztes Jahr zur Welt, nach einer Kinderwunsch-Behandlung für Marie-Julia. Die Familie lebt in einem Eigenheim in Mb., einem Wallfahrtsort nahe der ehemaligen innerdeutschen Grenze.
Berenice mailte über ihre Beziehung mit ihrem jetzigen Lebensgefährten Baryn, die sich wie Tag und Nacht von ihrer vorherigen Beziehung mit Rafa unterscheidet:

Ich bin jetzt seit über 3,5 Jahren mit Baryn zusammen - wir haben beide das Gefühl, dass unsere Beziehung immer tiefer und besser wird. Ich werde geliebt. Und ich liebe.
Da fällt es mir immer schwerer, mich an einen Menschen wie Rafa zu erinnern. Es ist, als wäre ich nie mit ihm zusammen gewesen. Ich will das nicht verdrängen oder so - es ist mir nur einfach nicht wichtig. Rafa ist mehr als abgeschlossen - er ist für mich gestorben. Ich will ihm weder Gutes noch Böses. Er ist einfach nicht existent in meinen Gedanken.
Darum fällt es mir immens schwer, noch beurteilen zu können, ob er gefühlsarm ist oder ob er Spaß daran hat, anderen Menschen zu schaden. Das eine ist sein Problem und das andere haben immer zwei Menschen zu verantworten. Wenn ich mir von Rafa weh tun lasse, bin ich doch selber schuld.

Am Dienstagabend war ich mit Jendris - den ich aus dem "Keller" kenne - in dem Actionfilm "Street Kings". Immerhin gab sich der Regisseur Mühe, Gewalt nicht zu verherrlichen, sondern in einem kritischen Licht darzustellen, was dem Film gute Kritiken eingebracht hat. Jendris kannte die Kaliber und die Funktionsweise der Waffen; unter anderem kamen in dem Film Maschinengewehre, eine halbautomatische Pistole, ein 38er Dienstrevolver und eine Schrotflinte zum Einsatz. Jendris erklärte, eine Schrotflinte mache nicht so viel Lärm wie ein Maschinengewehr. Für ein Maschinengewehr gebe es keinen Schalldämpfer.
Spätabends waren Jendris und ich in einem türkischen Restaurant. Den schwarzen Tee bekamen wir geschenkt. Ich bestellte Lahmacun. Jendris erzählte, wenn seine Mutter einen Stapel Lahmacun zubereite, dauere es nur wenige Tage, und sein Bruder und er hätten den Stapel aufgefuttert.
Jendris lebt bei seiner Mutter in der Nähe von SHG. Er kommt nur am Wochenende heim und ist während der Woche auf Montage in den Niederlanden. Er arbeitet auf dem Bau; er ist Stahlbetonbauer.
Ehe Jendris' Zug ging, tranken wir auf dem Bahnsteig Kaffee, und Jendris schnorrte sich eine Zigarette. Er hatte seine eigenen zu Hause vergessen. Für die Raucher gibt es jetzt draußen auf den Bahnsteigen Stehtischchen. Wir betrachteten die Baustelle der Shopping Mall, die dort entsteht, wo sich früher die Hauptpost befand. Jendris erzählte, daß er auf dem Bau das eiserne Flechtwerk herstellt, das mit Beton umgossen wird. Handgefertigt werden auf dem Bau die Betondecken und die tragenden Säulen, während Seitenteile und Treppen als Fertigteile aus der Fabrik angeliefert werden. Sie enthalten auch Eisen, weil sonst keine ausreichende Festigkeit besteht. Verglasungen von Bürogebäuden oder Einkaufspassagen werden nicht mit Hilfe eines Gerüsts, sondern mit Hilfe eines Krans montiert, meistens von außen. Mit Saugnäpfen werden die Scheiben gegriffen, eingepaßt und mit umlaufendem Dichtungsgummi befestigt. Dann werden die Saugnäpfe per Knopfdruck gelöst.
Durch die ins Unermeßliche steigenden Spritpreise gehen neuerdings Dieseldiebe um. Auf der Baustelle, wo Jendris arbeitet, wurde kürzlich der 50.000-Liter-Dieselkanister gestohlen.



Zur Maifeier war ich im "Lost Sounds" und traf dort Magenta, Crimson und deren Bekannten Maxence. Rafa legte auf, gemeinsam mit Gavin und Co-DJ Haymo. An der hinteren Theke sah ich Peitsch-Püppi aka Adrienne; mit ihr war Rafa heute hier.
Wenn Rafa gerade nicht auflegte, stand er bei Adrienne und einem sehr jungen Mädchen im Punk-Look. Adrienne lächelte fortwährend - ganz besonders, wenn Rafa sich ihr zuwandte. Rafa hatte stets eine Sonnenbrille auf. Er trug das Batikoberteil und die schwarze Weste.
Maxence meinte, die Sonnenbrille finde er bei Rafa ganz besonders albern. Rafa wolle so cool sein und wirke doch nur peinlich.
Eine Zeitlang war Rafa mit seinen Begleitern draußen zum Rauchen. Als er wieder ans DJ-Pult ging, spielte er "This shit will fuck you up" von Combichrist, zu dem ich gerne tanze. Rafa begann, durchs Mikrophon seine üblichen Sprüche zu machen ("Ich wünsche Ihnen einen spezial-guten Abend!") und wies darauf hin, da vorne sei eine Theke, und bei dem Barmann Hark - "Das schreibt man: 'H-a-r-k!'" - könne man sich etwas zu trinken holen. Rafa schwenkte sein Bierglas.
"Der hat bestimmt nicht nur Alkohol zu sich genommen", vermutete Maxence. "So, wie der redet!"
"Das kann schon sein, daß der auch gekokst hat", meinte ich, "aber so ähnlich redet der sonst auch immer."
Rafa schaute über die Tanzfläche zu mir herüber. Wirklichen Kontakt nahm er zu mir nicht auf.
Daß Rafa mit Adrienne ein Verhältnis hat, ließ er während der Zeit, in der ich ihn sah, nicht erkennen.
Gegen halb drei Uhr nachts verließ ich das "Lost Sounds", weil ich am nächsten Tag arbeiten mußte. Draußen posierte Rafa - nun in Zebra-Jacke - mit einem Fan für ein Foto. Rafa hatte den Arm um den Fan gelegt und eine Hand mit dem Daumen nach oben vorgestreckt, eine seiner beliebten leutseligen Posen. Rafa wirkt in solchen Posen so gekünstelt, daß persönlicher Ausdruck nicht mehr zu finden ist, hingegen wirkt er höchst oberflächlich, und das scheint auch sein Ziel zu sein. Ich vermute, Rafa möchte oberflächlich und arrogant sein, weil er diese Eigenschaften mit Stärke verwechselt.
Im Internet habe ich einen Forumbeitrag von Aramis gefunden. Er schrieb, er habe das letzte Konzert von W.E, das er 2006 gesehen habe, recht schwach gefunden, so daß er 2007 die Band überhaupt nicht live gesehen habe. Freunde hätten ihm erzählt, das Silvesterkonzert 2006 / 2007 sei "grottig" gewesen, die Bandmitglieder hätten enorm lustlos gewirkt. Das letzte W.E-Album finde er zu oberflächlich und hoffe auf das nächste. Über das W.E-Forum schrieb Aramis:

Ansonsten bleibt das Forum geschlossen (zuviel Kritik, zuviel kritische Nachfragen - klingt hart, ist aber so. Meinen Unmut darüber habe ich auch Rafa, ähh Honey so mitgeteilt. Seitdem sind seine E-Mails auch deutlich zurückgegangen).

Aramis setzte hinzu, ein anderes W.E-Fan-Forum sei als Ersatz geplant gewesen, aber daraus werde wohl nichts mehr:

Habe selten als Forenmoderator so wenig getan - nicht mal Spinnweben entfernen lohnt sich, weil auch Spinnen das Forum zu meiden scheinen.


Nach Rafas verbalen Entgleisungen im vergangenen Jahr bin ich froh, daß es das W.E-Forum nicht mehr gibt.
Der dritte Teil meines Fortsetzungsromans "Wirklichkeit" zum Thema "Parallelwelten" ist mittlerweile fertig und hat sich wie von selbst geschrieben, was auch schon bei den ersten beiden Teilen der Fall war. Das Besondere am dritten Teil ist der "Soundtrack": "Built to last" von der kalifornischen Band Mêlée in Endlosschleife. Vor dem Radiohit "Built to last" kannte kaum jemand diese Band. Ohne "Built to last" wäre der dritte Teil von "Wirklichkeit" vermutlich nicht entstanden. Nun aber geht es mit dem vierten Teil weiter.
Anfang Mai begann meine Tätigkeit in der psychiatrischen Klinik in Lk. Mehrere Kollegen haben wie ich in H. studiert. Dazu gehört auch Bo, der sein langes rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt. Er war während seiner Studienzeit im Asta aktiv und verwendete die großzügigen Räumlichkeiten des Asta als Wohnzimmer und Partyraum. Die Zimmer in dem Studentenwohnheim, wo er damals untergekommen war, sind so klein, daß sie sich nicht für Parties eignen.
Bo erinnert sich besonders gern an seine Podiumsdiskussion mit Plastinator Gunther von Hagens. Der hatte damals - es kann 2003 gewesen sein - eine "Körperwelten"-Ausstellung in HH. und war aus diesem Anlaß in der Nähe. Angeblich war es von Hagens, der um das Podiumsgespräch bat, nicht der Asta. Bo wählte den großen Hörsaal F in der Hochschule in H., stellte Security auf und ließ den Saal nur so weit besetzen, daß die Sitzplätze voll wurden - Stehplätze gestattete er aus Sicherheitsgründen nicht. Dafür wurden zwei weitere Hörsäle geöffnet, wo die Liveübertragung zu sehen war. In der Podiumsdiskussion zerlöcherte Bo seinen Gast mit Fragen und war wohl recht stolz darauf, ihn in die Enge treiben zu können. Von Hagens soll schließlich vor Wut gar nicht mehr auf seinem Stuhl gesessen, sondern gewissermaßen darüber geschwebt haben. Nach der Diskussion soll von Hagens mit Bo nie wieder ein Wort gesprochen haben.
Am ersten Freitag im Mai war ich im "Roundhouse". Unter anderem liefen "Gnorp" von MS Mono und "Terror against" von Punch Inc. DJ Marvel klagte, er sei neulich bei seiner ehemaligen Lebensgefährtin Joujou gewesen, um etwas abzuholen, das ihm gehörte, und da sei die knapp dreijährige Jeanne ihm begeistert entgegengelaufen. Er habe nicht gewußt, wie er dem Kind erklären sollte, daß Joujou nicht will, daß er den Kontakt zu Jeanne aufrechterhält.
Jeanne ist das Kind von Joujou und Marian, mit dem Joujou seit Jahren nicht mehr zusammen ist. Marian soll sich kaum um seine Tochter kümmern.
Der narzißtisch angehauchte Max wünschte sich von mir einen Vortrag zum Thema "Persönlichkeitsstörungen". Er bekam ihn, morgens früh bei "McGlutamat", wo er mir Milchkaffee ausgab. Max hörte mit großem Interesse zu und stellte eine gezielte Frage nach der anderen. Er studiert Soziologie und meinte schließlich, vielleicht habe er das falsche Studienfach gewählt. Er scheint sich für Psychologie zu begeistern.
Am Samstagabend fuhr ich nach HH., zuerst zu der traditionsreichen Location "Bloody Mary", wo ich vor mehr als zwanzig Jahren The Legendary Pink Dots live gesehen habe. Heute gab es dort ein Konzert von Berenice und ihrer Band. Um halb neun kam Len ins "Bloody Mary". Len ist IT-Fachmann. Er erzählte von der Telefonfirma, für die er in M. gearbeitet hat. In der Firma sei eines Tages ein Mitarbeiter einer Consulting-Firma aufgetaucht, der ihm habe vorschreiben wollen, wie er zu arbeiten habe, ohne selbst von der Materie Ahnung zu haben. Len habe sich diese Verhältnisse nicht antun wollen und sich einen Job in HH. gesucht. Er wohnt nun in dem Viertel, wo sich das berüchtigte "Freie Radikale" befindet, ein Treffpunkt von Randalierern.
Beim Soundcheck winkte Berenice mir zu. Ich ging zur Bühne - die in diesem kleinen Club kaum höher als der Zuschauerraum ist - und begrüßte Berenice und deren Bandmitglieder Kitty und Baryn. Berenice erzählte, Tyra lasse sich entschuldigen; sie sei krank. Berenice und mir geht es ähnlich: Wir erreichen Tyra kaum noch. Tyra nimmt Anrufe nur selten an, ruft auch nicht zurück und reagiert immer seltener auf SMS oder E-Mails.
Berenice und ich vermuten, daß dieses Verhalten nicht daran liegt, daß Tyra uns nicht leiden kann, sondern daran, daß sie eigene Probleme hat, mit denen sie nicht umgehen kann. Kitty - die vor langen Jahren für Rafa bei W.E gesungen hat - übernahm heute Tyras Part.
Der Auftritt gelang ohne nennenswerte technische Schwierigkeiten. Einziges Manko waren unzureichende Monitorboxen und Tonmischprobleme. Die Stimmen waren im Verhältnis zur Musik zu leise gelegelt, und es hätte eines größeren Zeitaufwands bedurft, um dieses zu korrigieren.
Ein Stück namens "Tsunami Task Force" hat Industrial-Rhythmen; die Musik stammt von Eo Ipso, dem Projekt von Seraf und Morgan. Ansonsten handelt es sich bei der Musik von Berenice und Baryn überwiegend um eingängigen Synthi-Pop. Berenice legt großen Wert auf die Texte. Sie handeln unter anderem von Tierschutz und von Gewalt gegen Kinder.
Len und ich kehrten nach dem Konzert in einem italienischen Restaurant ein. Es befindet sich gegenüber der "Nachtschicht", einer großen, mehrstöckigen Location in einem ehemaligen Fabrikgebäude, wo am ersten Weihnachtstag 1993 ein Festival stattfand. Der Beginn dieses Festivals verzögerte sich um mehrere Stunden. Viele Gäste - darunter auch ich und meine Begleiter - warteten damals in eben diesem italienischen Restaurant auf den Beginn. Wir beobachteten beim Abendessen durch die Fensterscheiben den Eingang der "Nachtschicht", der erst gegen halb elf Uhr geöffnet wurde, nicht - wie geplant - um sieben Uhr. Das Festival wurde eine echte Nachtschicht.
Heute hatten Len und ich den ersten Teil des Abends schon hinter uns. Len erzählte von dem Consulting-Mitarbeiter, der ihm den Job in M. verleidet hat. Consulting ist ein Riesengeschäft mit zweifelhaftem Nutzen für die Unternehmer, die sich Consultants ins Haus holen. Viele Firmen sind wegen der Consultants bereits zugrundegegangen, die sie doch angeblich retten wollten. Stattdessen haben die Consultants nur abkassiert und dann das sinkende Schiff verlassen.
Len erzählte von seinen Zuhause in der Nähe von RV. Er hat eine Wohnung auf dem Land, wo er sich wohlfühlt. Seine Mutter wohnt nicht weit weg davon und hätte es gern, wenn er zu ihr zurückkehren würde; das will er aber auf keinen Fall. Als erwachsener Mensch will er ein eigenständiges Leben führen. Sein Vater starb früh, schon vor ungefähr zehn Jahren.
Nach dem Abendbrot gingen wir wieder ins "Bloody Mary". Kitty erzählte von ihren Jobs als Kostümdesignerin und Maskenbildnerin. Sie schlägt sich mühsam durch. Meistens gebe es eingespielte Teams für Kostüme, Maske und Kulisse. Es sei schwer, in ein solches Team hineinzukommen, und es laufe nur über Beziehungen, nie über Bewerbungen.
Berenice erzählte, daß sie ihre Doktorarbeit in Biologie voraussichtlich im kommenden Winter fertigstellen wird. Sie kann Victoires Bericht bestätigen, daß in der klinischen Forschung ein ungesundes, von Konkurrenzdenken geprägtes Klima herrscht. Wie auch Victoire - die ebenfalls Biologin ist - will sie in diesem Bereich nicht dauerhaft arbeiten, hat für sich aber noch kein passendes Tätigkeitsfeld gefunden.
Die Musik im "Bloody Mary" gefiel mir; unter anderem liefen "Straftanz" von Straftanz und "Tekno Buddha" von Monolith. Berenice und Kitty waren - wie ich - viel auf der Tanzfläche.
Zu "Stahlwerk" kam ich erst um viertel vor drei. Es lief noch viel sehr tanzbare Musik, darunter "Worms" von Mono no aware.
Heloise berichtete, Joujou und Marvel würden sich beide bei ihr ausheulen, immer abwechselnd; sie könne es schon nicht mehr hören. Joujou und Marvel scheinen unter ihrer Trennung zu leiden, jedoch scheint es für ihre Beziehung keine Basis mehr zu geben, zu verschieden scheinen ihre Vorstellungen vom Zusammenleben zu sein.
Darien war nicht bei "Stahlwerk", auch im März soll er nicht dabeigewesen sein. Heyro, mit dem Darien in HH. jahrelang in einer WG gelebt hat, hatte gehört, Darien habe sich verlobt. Obwohl Darien mit seiner jetzigen Freundin Leda erst seit wenigen Monaten zusammen ist, gibt es schon Heiratspläne.
Von Dera hatte Darien sich Ende des vergangenen Jahres getrennt. Dera ist mit Ciaran - dem Sohn, den sie mit Darien hat - und Cicely, ihrer Tochter aus früherer Beziehung, in HST. geblieben. Wo Darien zur Zeit wohnt, ist unklar.
"So glücklich kann Darien mit Leda nicht sein", meinte ich, "immerhin hat er im Februar gejammert, wie schlecht es ihm geht, und da war er mit ihr schon zusammen."
Heyro hat auch nicht den Eindruck, daß Darien mit Leda glücklich ist.
"Darien hat doch mal so eine Philosophie-Website ins Leben gerufen", erinnerte ich mich, "das war eine Baustelle und blieb eine Baustelle, und irgendwann war sie aus dem Netz verschwunden. Also, wenn ich etwas online stelle, sieht das ein bißchen anders aus. Das sind dann in sich geschlossene, konsequent ausgeführte Produkte."
"Du hast dich entschieden", kommentierte Heyro, "und eben da, wo es ans Entscheiden geht, ist für Darien der Weg schon zu Ende."
"Du meinst, er kann sich nie wirklich für etwas entscheiden."
"Genau."
"Und er kann nie konsequent eine Sache durchziehen."
"Genau!"
Hinter dem Krankenhaus in Lk., wo ich arbeite, liegt ein bewaldeter Höhenzug. In der Maisonne ging ich mit meinen Kollegen nach dem Mittagessen dort oben spazieren. Durch eine Drehtür kommt man vom Krankenhausgelände in den Wald. Der Bärlauch blühte verschwenderisch. Die Sonne schien nahezu senkrecht zwischen den Bäumen auf den Waldboden und ließ die weißen Blüten aufleuchten. Es sah fast so aus, als hätte es geschneit. So ähnlich kenne ich es von der Anemonenblüte im Stadtwald von H.
Am Freitag vor Pfingsten fuhren Constri und ich nach L. zum diesjährigen Pfingstfestival. Ins "Memento Mori" kamen wir erst gegen halb eins. Rafa hatte am frühen Abend dort aufgelegt und war längst fort. Ein Partyfotograf machte von Constri und mir ein Bild. Ich trug mein schwarzes Lackkleidchen mit der weißen Spitze, Constri trug ihr olivgrünes Kleid mit dem Reißverschluß vorn und dazu Netzstrümpfe. Die Musik gefiel uns, zum Tanzen war es aber zu eng und zu voll. Nur im hinteren Bereich, wo eine zweite Area eingerichtet ist, war etwas Platz.
Zum nächtlichen Kaffeetrinken setzten wir uns unten in die "Bastei".
Am Samstagmittag fotografierten Constri und ich uns gegenseitig in dem weitläufigen, gekiesten und pflanzenumrankten Hof der Pension auf dem Land, wo wir so gerne übernachten. Der Wirt machte Fotos von uns beiden, auf denen ich die Katze des Wirts im Arm hielt, Pünktchen. Pünktchen ist schwarzweiß, und sie paßt gut zu dem schwarzen Lackkleid mit der weißen Spitze. Sie ist sehr zutraulich, eine ältere Katzendame, die früher bei den Nachbarn lebte, doch als die sich nicht mehr so viel um sie kümmerten, wechselte sie zu den Wirtsleuten der Pension.
Am Nachmittag sahen wir in einem prächtigen, sehr großen Ballsaal die Band In the Nursery. Zu dem Stummfilmklassiker "La Passion de Jeanne d'Arc" (Dreyer, 1928) spielten sie live die Filmmusik, ihre eigene Komposition. Das Publikum war gebannt und bewegt. Auch die Musiker - die Zwillingsbrüder Clive und Nigel Humberstone - wirkten tief bewegt, ganz versunken in der Stimmung des Films. Einer der beiden schien nach dem Film fast zu weinen, und der andere legte ihm lächelnd den Arm auf die Schulter.
Es könnte sein, daß der Regisseur in dem Film seine eigenen Kindheitserlebnisse verabeitet hat. Immer wieder sieht man die um Liebe und Verständnis bettelnde Jeanne aus der Obersicht und einen versagenden, strafenden Kleriker aus der Untersicht. Vielleicht spiegelt diese Inszenierung das unglückliche Verhältnis des Regisseurs zu seinem Vater oder einer anderen Bezugsperson seiner Kindheit wider.
Abends kaufte ich in der Messehalle ein Korsett und ein Collier. Constri kaufte einen Ring. Ich traf Azura und einen ihrer Bekannten. Azuras Lebensgefährte Antoine war dieses Mal nicht auf dem Festival. Tiziana - die ich von vielen Veranstaltungen kenne und die auch selbst Festivals organisiert - bediente heute am Stand der Designerin Bibian Blue. Sie erzählte, daß sie schon wunde Finger hatte vom Schnüren. Viele Damen wollten eng geschnürt werden, mal um eine füllige Figur zu trimmen, mal als Fetisch, gewissermaßen als Selbstkasteiung. Mir ist es wichtig, mich trotz Korsett gut bewegen zu können, deshalb würde ich ein Korsett nie so eng tragen.
In der großen Halle auf dem Messegelände, der Hauptlocation des Festivals, schauten Constri und ich uns SA 42 an, ein gelungenes Konzert der Elektro-Klassiker. Als Hocico auftraten, wurde es in der Halle so voll, daß wir das Weite suchten, obwohl wir die Musik mögen.



Am Pfingstsonntag wachte ich mit Migräne auf. 3 Gramm Paracetamol, 1,2 Gramm Ibuprofen und der von der migräneerfahrenen Hausherrin gebraute schwarze Kaffee mit Zitronensaft halfen schließlich, so daß der Tag beginnen konnte.
Mit Hendrik aßen wir in der Altstadt von L. in einem indischen Restaurant zu Mittag. Hendrik erzählte von seiner neuen Freundin Evana. Er hat sie durch einen Zufall kennengelernt. Sie gehört zu der Familie eines seiner Kunden in MER. Als Hendrik dort einen Auftrag erledigte, lud der Kunde ihn zu einer abendlichen Feier ein, und auf dieser Feier lernte Hendrik Evana kennen. Seit einem Vierteljahr sind die beiden zusammen. Evanas Familie stammt aus der Ukraine. Sprachprobleme gibt es nicht.
Hendrik lebt in einem aus- und umgebauten ehemaligen Landgasthof in der Nähe von L. Das Haus ist eigentlich zu groß für eine Person, und Sehnsucht nach einer eigenen Familie hat Hendrik schon länger. Hendrik ist seit Jahren selbständig mit einem Service für Tresenanlagen.
Im Kino in einer Einkaufspassage in L. lief heute ein Film, bei dem Rafa Regie geführt hat. Er handelt von einer Zeitmaschine. Sten war der Kameramann. Als Constri und ich in den Kinosaal kamen, blickten wir in Rafas lächelndes Gesicht. Er saß in der ersten Reihe des hinteren Sitzblocks. Der Platz zu seiner Rechten war leer. Rafa trug eine riesige Sonnenbrille. Er hatte ein weißes Rüschenhemd an und eine schwarze Weste. Constri und ich gingen in die Sitzreihe vor der seinigen, der letzten im nächstvorderen Sitzblock, wo gerade noch zwei Plätze frei waren. Rafa lächelte noch mehr, noch breiter.
Als ich zum Bad wollte, stand Rafa bei dem Mann am Saaleingang und besprach etwas mit ihm. Constri berichtete später, daß Rafa während meiner Abwesenheit eine Ansprache hielt, in der er sich entschuldigte, weil der Schnitt noch nicht fertig war; der Film habe eigentlich zwanzig Minuten kürzer werden sollen. Man solle ohnehin keine Hollywood-Qualität erwarten, den Anspruch habe er auch gar nicht.
Der Film war amateurhaft und teilweise unfreiwillig komisch, doch wenn man das Unbeholfene, Schülerhafte als Stil und damit als Trash betrachtete, war er durchaus unterhaltsam. Jedenfalls war viel Mühe und Zeit für Ausstattung und Effekte verwendet worden.
Der Film handelte von einem "Professor Häberl", der gemeinsam mit seiner Tochter Marie Sophie von den Nazis entführt wurde, weil er eine Zeitmaschine erfunden hatte. Marie Sophie - gespielt von Darienne - wurde als Druckmittel verwendet, damit der Professor den Nazis die Maschine zur Verfügung stellte. Die Maschine war aber bis dato noch nicht fertig geworden. Parallel wurde in der Jetztzeit das Tagebuch des Professors von Rafa auf einem Dachboden gefunden, und Rafa konnte dort die Geschichte der Entführung von Marie Sophie nachlesen. Der Professor schilderte, wie die Maschine zum Laufen gebracht werden konnte, wie Marie Sophie aus Versehen in die Maschine hineingeraten war und wie er selbst fliehen konnte, daß er dabei jedoch angeschossen wurde und das Tagebuch verstecken wollte, ehe er auf dem Dachboden sein Leben aushauchte. Er bat in seinen letzten Zeilen, seine Tochter aus der Maschine zu befreien. Rafa ging mit Dolf und Lucy zu dem Bunker, wo sich laut Tagebuch die Zeitmaschine befand. In dem Bunker fanden sie die Skelette der Nazis und die unfertige Maschine. Mit Hilfe eines angejahrten Heimcomputers konnte Rafa die Maschine zum Laufen bringen und die verlorengegangene Marie Sophie befreien. Man war sich einig, daß die Maschine zerstört werden mußte. Rafa sabotierte diesen Plan jedoch, indem er ein wichtiges Funktionselement mitnahm. Als er mit Marie Sophie, Dolf und Lucy im Auto saß, schaltete er dieses Element ein, und das Auto verschwand mit allen Insassen.
In dem Film gibt es zahlreiche logische Brüche und Ungereimtheiten. Das verwendete Kunstblut ist nicht rot, sondern pinkfarben. Marie Sophie soll ein braves katholisches Mädchen sein, doch ihre Darstellerin Darienne ist gepierct und großflächig tätowiert, was in dem Film sehr genau zu erkennen ist. Überdies ist Darienne in ihrer Rolle als Marie Sophie stets geschminkt, was nicht zu der Rolle eines braven Mädchens der vierziger Jahre paßt. Außerdem ändern auch unappetitliche Haftbedingungen an Dariennes perfektem Styling nichts. Unrealistisch ist auch das Verhalten der Bewacher der jungen, attraktiven Marie Sophie. Sie machen sich zwar darüber lustig, daß sie katholisch ist, und schlagen sie auch, kommen aber nie auf die Idee, sie zu vergewaltigen.
Wer Rafa kennt, kann in dem Film noch mehr Unpassendes finden: Rafa, der Frauen zu mißhandeln pflegt, spielt einen Helden, der eine mißhandelte Frau befreit.
Nach der Filmvorführung kamen mehrere Leute auf Rafa zu und schienen ihn zu bewundern. Seine Bandmitglieder waren nicht im Saal. Rafa stellte sich an die Lehne meines Sessels. Ich umgriff seine Manschette und wartete nicht ab, wie er reagierte, sondern setzte mich wieder hin.
In der Damentoilette traf ich Artemis. Sie berichtete, am frühen Freitagabend, als Rafa im "Memento Mori" auflegte, sei die Stimmung nicht übermäßig berauschend gewesen; es seien noch nicht viele Gäste da gewesen um diese Zeit. Jedenfalls hätte ich nicht viel verpaßt.
Im oberen Foyer des Kinos gab Rafa mit seinen Bandmitgliedern eine Autogrammstunde. Rafa, Darienne, Dolf und Lucy saßen nebeneinander an einem Tisch. Es gab eine lange Schlange. Constri und ich gingen weg.
Auf der "Bastei" bummelten Constri und ich über den Mittelaltermarkt. Constri entdeckte ein prachtvolles Glasperlen-Halsband in Goldtönen, das zu Constris Typ wunderbar paßt. Ich gab ihr die Hälfte dazu, damit sie es sich leisten konnte. Wir tranken Holunderblüten-Federweißer.
Im "Blendwerk" war heute Industrial-Tag. Wir kamen gegen sechs Uhr abends dorthin. Draußen im Hof aßen wir Gegrilltes. Mit Jas und einem seiner Bekannten saßen wir an einem Tisch. Neben mir saß ein Junge namens Haiko, der kurz vor dem Abitur steht. Er will Physiotherapeut werden und die Praxis seiner Mutter übernehmen.
Drinnen in der Halle tanzte ich gerade zu dem Konzert von Nullvektor, als Dirk I. mir zuwinkte. Wir begrüßten uns, und ich erzählte, daß ich so gerne endlich Absolute Body Control sehen wollte. An dem Projekt ist Dirk beteiligt. Timon berichtete, daß es am nächsten Tag im "BD" ein Konzert von Absolute Body Control geben würde - was ich beim Lesen des Programms übersehen hatte -, und ich sagte zu Dirk, daß ich da sein würde, und das sagte ich auch zu Eric van W., der ebenfalls Mitglied dieser Band ist. Dirk erinnerte sich auch noch gerne an das Konzert von Esplendor Geometrico im Jahre 1995 hier im "Blendwerk", das wir beide gesehen haben, und wie ich freute er sich, sie heute hier wieder sehen zu können.
Erwartungsgemäß wurde es gegen Abend sehr voll im "Blendwerk", doch nach dem Konzert von Straftanz marschierte ein Teil der jüngeren Gäste ab, und so hatten die älteren Gäste Platz, um zu Esplendor Geometrico zu tanzen. Das Konzert war durch und durch ein Highlight, mit abstrakten Videos und rhythmisch-abstrakter Musik.
Den Veranstaltern gelang es, sofort nach dem letzten Stück von Esplendor Geometrico mit dem DJ-Set zu beginnen. Es erklang der Clubhit "24 Stunden" von SAM. Die Musik hielt Constri und mich noch etwas im "Blendwerk", obwohl wir schon sehr müde waren.

In einem Traum trug Rafa eine braune Baumwolljacke und arbeitete als Thekenkraft - ein Job, den Berenice jahrelang gemacht hat. Rafa jedoch wirkte in diesem Job nicht souverän, sondern tief gekränkt, weil er "nur" der Mann an der Theke war und für andere arbeitete. Rafa versuchte, seine Gekränktheit zu überspielen, indem er aus seinem Job eine Art Show machte und sich als Versorger und Herrscher inszenierte.

In einem anderen Traum kam ich aus dem "Blendwerk" und sah Gruppen von Leuten vor der Tür. Rafa stand bei ihnen - ein unerwarteter Anblick, denn Rafa setzt sich auf größeren Veranstaltungen häufig ab und ist dann nur auf der Bühne oder am DJ-Pult zu sehen.

Am Montagnachmittag trafen wir Victoire in der "Bastei". Sie erzählte, daß sie eigentlich nicht hätte hier sein können, sich aber die Zeit einfach genommen hatte. Im Labor sei es stressiger denn je. Sie habe nur noch wenige Wochen, um die Arbeit im Labor abzuschließen. Danach werde ihr noch etwas Zeit bleiben, um den Text ihrer Doktorarbeit in Biologie zu verfassen.
An unserem Tisch im Hof der "Bastei" saß einer, der seinen Kopf vollständig mit weiß angemaltem Leder umhüllt hatte. An dieser Ganzkopf-Maske war eine feuerrote Plüschperücke befestigt, und er trug eine lange schwarze Kutte. Er stellte sich vor als Ed aus STD., in seiner Heimat auch "Maskenmann" genannt. Durch die grelle, aber unprofessionell gestaltete Kostümierung saß er wie eine Figur aus einem billigen Horror-Film aus. Ed erklärte, die Maske habe er hergestellt, weil er keine weiße Schminke vertrage. Dieses Unterfangen erinnerte an den Versuch Frankensteins, einen Menschen zu basteln, wobei aber ein Monster herauskam.
Mit Ed gingen wir in der Nachmittagssonne zum Opernhaus. Um die "Bastei" und das Opernhaus versammelten sich viele Menschen und fotografierten oder filmten die schwarzbunte Schar in ihren teilweise sehr aufwendigen, prächtigen Kostümen. Es gab ein Kleid im Stil von Elizabeth I. zu bewundern, mit Halskrause und Schnürkorsett. Eine Festivalbesucherin trug über ihrem Korsett ein feines Spitzenblüschen, das nur halb die Schultern bedeckte. Die Taille des Reifrocks war mit Seidenblumen garniert. Eine andere trug einen violett changierenden Reifrock, der mehrfach gerafft und an den Raffungen mit Glitzersteinchen verziert war. Eine weitere trug ein Reifrock-Kleid aus hellgrauem Satin, verziert mit großflächiger hellgrauer Spitze, und dazu ließ sie ihre kunstvoll aufgedrehten schwarz gefärbten Locken über die Schultern hängen. Fast alle, die Reifröcke trugen, hatten Satinhandschuhe an. Viele trugen mit Tiaras oder Diademen verzierte Steckfrisuren, einige trugen Hüte. Bei den Herren gab es ebenfalls viele historische Verkleidungen zu sehen. Unter den futuristischen Cyber-Outfits gab es solche im Neon-Look, mit Radioaktivitäts-Symbolen, außerdem bei den Damen Korsetts im orangefarbenen Camouflage-Muster oder Plastik-Korsagen. Bei Trägerinnen von Cyberlocks und Kunsthaaren sind Soldatenschiffchen der letzte Schrei, gern auch verkleinert oder in Rosa, je nach Outfit.
Im Opernhaus war der Rang fast völlig besetzt mit Festivalbesuchern. Da im letzten Jahr so viele in die Oper gehen wollten und nur wenige eine der Karten ergattern konnten, die für Festivalbesucher bereitgestellt worden waren, hatte die Festspielgesellschaft in diesem Jahr mehr Karten gekauft, und die gingen bis auf den letzten Platz weg.
Man gab "La Traviata", auf Italienisch gesungen. Über der Bühne konnte man auf einem Display den deutschen Text lesen. Bühnenbild und Kostüme waren in Schwarz und Weiß gehalten. Die Damen trugen Reifrock-Kleider in Schwarzweiß. In einer Szene wuchsen weiße Rosen aus dem Gittermuster des spiegelnden Bodens. Die Inszenierung fanden wir sehr eindrucksvoll, auch das Spiel der Darsteller. Das Publikum gab Standing Ovations.
Abends fuhren Constri und ich zum "BD" und kamen gerade zurecht, um das Konzert von Absolute Body Control anzuschauen. Es war klassischer belgischer EBM in seiner besten Form.
Direkt vom "BD" fuhren wir nach H. Ich hatte noch zwei Stunden Schlaf, ehe ich zur Arbeit fuhr.
Am Donnerstag traf ich Highscore im "Keller", wo es Rippchenessen gab. Wirtin Bibian erzählte von Rafas Dreharbeiten zu seinem Film über eine Zeitmaschine. Den Film kenne sie in Ausschnitten, denn nach den Drehs habe Rafa im "Keller" einen USB-Stick in den Rechner gesteckt und stolz die Sequenz vorgeführt, die man gerade abgedreht hatte. Der Professor im Film werde übrigens von dem Hilfskoch des Restaurants "Ausspann" gespielt. Dem Darsteller sei es schwergefallen, die vier Worte auszusprechen, die er auf Lateinisch habe sagen müssen. Ungefähr zwanzig Darsteller habe Rafa für den Film rekrutiert. Highscore verhalf Rafa zu der Pyrotechnik, die er brauchte, um die Explosion der Zeitmaschine darzustellen.
Als ich in der Freitagnacht im "Roundhouse" war, brachte Marvel wieder ein mitreißendes und tanzbares DJ-Set, das vor allem bei denjenigen, die bis zum Schluß blieben und besonders Industrial-lastige Rhythmen hören wollten, sehr gut ankam. Als die Musik verklang - gegen halb sechs Uhr morgens - hob Marvel die Arme in die Höhe. Die Leute auf der Tanzfläche johlten und klatschten.
"Ich bin ja schon nah am Wasser gebaut", erzählte Marvel, als ich mich von ihm verabschiedete, "und ich sage dir, es war echt hart dran."
In der Samstagnacht traf ich Peggy bei "Low Frequency". Sie erzählte von ihrer Verehrung für einen Automutilationsfetischisten namens "Freak". Der sei emsig damit beschäftigt, sich selbst zu verstümmeln oder verstümmeln zu lassen. Allerlei Körperteile seien nicht mehr vollständig oder ganz verschwunden. Kopf und Gesicht seien durch stählernde Implantate deformiert.
"Mit der Visage hat er ein Problem", meinte ich. "Der darf eigentlich so gar nicht mehr herumlaufen, weil sich kleine Kinder erschrecken könnten, wenn sie ihn sehen. Der könnte deshalb Ärger kriegen."
Freak soll als Verlaufsleiter eines Online-Riesen tätig sein und keine visuellen Kundenkontakte haben. Als Peggy in Erwägung zog, sich auch zu verstümmeln, ermahnte er sie väterlich:
"Mensch, das ist dein Körper, du hast nur den einen, überlege dir gut, was du damit machst."
Peggy hat eine schwere Selbstwertstörung und ist entsprechend unsicher und manipulierbar. Sie wurde durch ihre Familie von klein auf abgelehnt und entwertet. Man habe ihr erzählt, nach ihrer Geburt sei ihrer Mutter zwei Tage lang kein Vorname für sie eingefallen, bis die Großmutter gemeint habe:
"Die sieht aus wie eine Peggy."
Die Großmutter sei mit einem SS-Mann verheiratet gewesen und habe Peggy für durch und durch schlecht gehalten, weil Peggys Vater aus der Türkei stammt. Nur bei den Nachbarn habe Peggy sich wohl gefühlt, weil die sich um sie gekümmert hätten. Ihren Vater habe sie jahrelang nicht gesehen. Als er in die Familie zurückgekehrt sei, sei er ihr auch keine Stütze gewesen, es habe nur noch mehr Konflikte gegeben.
Den Automutilationsfetischisten (er nennt sein selbstzerstörerisches Verhalten beschönigend "Body Modification") verehrt Peggy, "weil er all das tut, was ich mich nicht traue".
Ich meinte, Freak könne sich doch gleich den Kopf abhauen, das sei doch besonders cool - "Beheading". Ansonsten könne er sich auch die Beine abhacken und Stumpfpiercings und Prothesenschmuck tragen. An Prothesen mit vorgestanzten Löchern könne der Schmuck direkt befestigt werden.
"Dafür fährt er zu gerne Motorrad", meinte Peggy.
"Aber das kann er doch gar nicht mehr", ätzte ich, "der ist doch ständig besoffen."
Peggy bestätigte, daß Freak mit Ende zwanzig ein ziemliches Wrack ist.
Ach, ja.
Beatrice hat gehört, daß ihr früherer Lebensgefährte Andras und die sehr viel jüngere Rhea sich getrennt haben. Andras soll weiterhin in einem kleinen Dorf leben und auf Jobsuche sein.
Mein Kollege Titus hat sich eine Band zusammengesucht, die an einem sonnigen Abend auf einer Brachfläche mit Gleisanlagen bei Lk. auftrat, informell, für Freunde und Kollegen. Die Bühne befand sich in einem offenen Waggon. Titus hatte mir zur Auflage gemacht, daß ich in Ausgeh-Garderobe erschien, im Gothic-Stil. Dann wollte er E-Gitarre spielend vor mir auf die Knie fallen. Genau das tat er auch.
Einer der Oberärzte - Godwin - erzählte, er sei in seiner Vergangenheit in HH. fast abgerutscht. Er habe sich hierher in die Provinz zurückgezogen und wieder Boden unter die Füße bekommen. Zuerst habe er sich wie lebendig begraben gefühlt und die Clubszene in HH. vermißt, inzwischen jedoch habe er sich an das ruhige Leben in Lk. gewöhnt.




Am ersten Samstag im Juni kam ich gegen halb sechs Uhr nachmittags zur "Neuen Sachlichkeit", wo es ein kleines Sommerfestival gab. Es bildete eine Fortsetzung der Festivals, die Kappa jahrelang im "Read Only Memory" veranstaltet hat. Der Vorplatz der "Neuen Sachlichkeit" diente als Freiluft-Partygelände und war ohne Ticket zugänglich. Seit drei Uhr lief hier das Familienprogramm mit Grillen, Pflasterkreide und einigen Spielgeräten. Denise tobte mit den anderen Kindern herum. Derek war mit ihr hergekommen. Sie hatte heute "Papa-Tag". In der Halle baute Constri ihr VJ-Set auf. Wie im letzten Jahr bebeamte sie die beiden Fenster auf der linken Seite des Saales, so daß sie wirkten wie Fenster zu einer anderen Welt. Sie hatte die Beam-Sequenzen noch durch eine weitere ergänzt, in abstraktem Schwarzweiß.
Unter den Leuten, die draußen saßen, tranken und sich Leckereien vom Grill holten, entdeckte ich Rafa, der mir entgegengrinste. Seine Sonnenbrille setzte er nie ab. Er trug ein enges, ärmelloses weißes T-Shirt, auf dem ein kaum bekleidetes Mädchen abgebildet war und darunter die Worte:
"Wanted: String Girl!"
Es stand noch mehr darauf, das konnte ich aber nicht lesen aus der Entfernung.
Rafa hatte eine enge schwarze Hose an und Baumwoll-Slipper im Turnschuh-Look mit schwarzweißem Würfelmuster.
Ich trug das schimmernde brombeerfarbene Korsett, das ich zu Pfingsten in L. gekauft habe. Zu dem Korsett trug ich ein schwarzes Collier, außerdem die schwarzen Lack-Puffärmel und lange schwarze Abendhandschuhe. Meine Sonnenbrille in Stil der fünfziger Jahre hatte ich auf, weil es so hell war, nicht um cool zu wirken.
Derek ging mit Denise die Rampe zu einem stillgelegten Eisenbahnwaggon hinauf. Denise sammelte Stöcke, eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Sie legte einige Stöcke auf den Tisch, wo Derek sich mit ihr und seinem alten Freund Ray hinsetzte. Derek stellte für Denise eine Bratwurst und etwas zu trinken hin, als Abendbrot.
Edaín kam zu dem Festival mit ihrer Tochter Maya und deren bester Freundin Alea. Die Mädchen gingen im Partner-Look. Sie hatten die gleichen Neckholder-Tops und Stufenröckchen an, nur Maya in Weiß und Alea in Schwarz. Maya hat dunkelblondes Haar, Alea hat hellblondes Haar. Alea trug unter ihrem Top ein weißes T-Shirt mit Puffärmeln, und im Haar trug sie ein schwarzes Kopftüchlein.
Maya bestaunte mein Korsett. Sie fragte, ob man den Reißverschluß aufziehen könne, und zog auch gleich daran. Ehe sie ihn aufbrachte, erklärte ich, daß man den durchaus aufziehen kann und daß sie ihn aber lieber zulassen sollte, sonst hätte ich oben nichts mehr an.
Maya fragte mich, warum meine Puffärmel nicht am Korsett befestigt waren. Ich erklärte, daß man sich beim Tanzen besser bewegen kann, wenn die Puffärmel nicht am Oberteil befestigt sind, und daß man außerdem lose Puffärmel mit jedem anderen Korsett kombinieren kann.
Rafa war meistens draußen auf dem Vorplatz. Darienne sah ich nirgends. Rafa lief viel herum und befaßte sich hauptsächlich mit Herrn Lehmann, Kappa und anderen Bekannten.
Einmal, für einen kurzen Augenblick, stand Rafa allein, ich stand allein, einige Schritt Entfernung lagen zwischen uns. Rafa wirkte verunsichert und schien diese Konstellation nicht ertragen zu können; er schleuderte sich die Ponysträhnen aus dem Gesicht, drehte sich um und ging weg.
Rafa kam immer wieder in meine Nähe. Er stellte sich vor die Theke und an den Grill neben Constri, die für Denise ein Schnitzel holte.
Edaín saß mit Kappa, Maya und Alea auf einer Bank an einem Tisch, Constri setzte sich gegenüber mit Denise, und ich setzte mich neben Denise. Kappa brachte eine Flasche Cola und Becher für die Kinder. Sie aßen Grillfleisch von einem Bio-Hof.
Rafa setzte sich mit zwei Begleitern an den Nachbartisch, zu Derek und Ray. Rafa wandte mir das Gesicht zu. Ich konnte ihn von meinem Platz aus sehen, wie er über die Ränder seiner Sonnenbrille hinwegschaute, ein ganz und gar nicht oberflächliches Gesicht, eher in sich gekehrt und nachdenklich. Doch was immer Rafa fühlen und denken mag, er scheint es verbergen zu wollen.
Edaín erzählte von ihrer Arbeit als Assistentin der Geschäftsführung. Sie gebe unter anderem Motivationsseminare nach amerikanischem Vorbild. In Amerika haben solche Seminare das Ziel, die Arbeitskräfte bei Laune zu halten, damit sie unmenschliche Arbeitsbedingungen hinnehmen und ein kostengünstiges Produzieren ermöglichen. Den Lohnsklaven wird vermittelt, sie könnten jeden Tag aufs Neue selbst entscheiden, ob sie zur Arbeit gehen wollen oder nicht, und natürlich würden sie sich für die Arbeit entscheiden. Sie könnten auch selbst entscheiden, ob ihnen die Arbeit gefällt. Es liege ganz in ihrer eigenen Hand, ob ihnen die Arbeit gefällt oder nicht. Mit der geeigneten Autosuggestion könnten sie jede Arbeit schön finden.
In Amerika ist das Ergebnis solcher Vorstellungen eine Massenarmut. Arbeit wird so schlecht bezahlt, daß viele Menschen trotz mehrerer Jobs unterhalb des Existenzminimums leben. Hierzulande bewegen wir uns auch schon in diese Richtung. Es ist die Rede von einer "Amerikanisierung" der Arbeitswelt. Der Unterschied ist, daß es hierzulande viel mehr Proteste und Streiks gibt, weil die Menschen weniger bereit sind, sich verschaukeln zu lassen und unmenschliche Verhältnisse hinzunehmen.
Edaín sieht in Motivationsseminaren vor allem die Möglichkeit, durch schönfärberische Autosuggestion mehr Freude an der Arbeit zu haben.
Es muß schon eine furchtbare Arbeit sein, wenn man sie nur durch künstlich erzeugte Euphorie ertragen kann ... denke ich.
Constri ging für einen Augenblick mit Denise in den Saal, zum Gucken. Dann nahm Derek Denise mit zu sich, sie mußte ins Bett. Constri fuhr nach Hause, um noch etwas an ihrem VJ-Set zu arbeiten und die Geräte für die VJ-Show herzubringen. Sie wollte um neun Uhr wieder da sein, weil Rafa sie gebeten hatte, ihren Beamer für das Video zur Bühnenshow seiner Band H.F. verwenden zu dürfen. Das Konzert sollte um halb zehn beginnen.
Edaín erzählte, daß ein wichtiger Grund für Mayas frühe Einschulung deren Wunsch war, mit ihrer Freundin Alea und einigen anderen Freundinnen gemeinsam zur Schule zu gehen. Maya komme in der Schule zurecht, und wenn das nicht mehr der Fall sein sollte, könne sie dennoch kein Jahr verlieren; sie habe gewissermaßen ein Jahr gut.
Alea und Maya sind Nachbarinnen und so eng vertraut wie Schwestern, sie kennen sich seit dem Babyalter. Morgens reißt Maya das Fenster auf und ruft über die Straße:
"Ala!"
Ich erzählte, daß ich wieder in der Psychiatrie arbeite, meinem eigentlichen Fachgebiet. Edaín fragte, ob ich sie analysieren könne; immerhin würde ich sie schon einige Jahre kennen. Ich beschrieb sie folgendermaßen:
"Du hast dich noch nicht ganz gefunden, bist noch am Suchen, willst keinen Stillstand, sondern dich weiterentwickeln. Und du nagst immer noch an den Ereignissen deiner Kindheit herum."
Edaín bestätigte das. Sie meinte, sie sollte wohl ihre Kindheit aufarbeiten, habe jedoch keine Zeit dazu.
"Es muß die richtige Zeit dafür sein", meinte ich. "Vielleicht kommt die Zeit irgendwann. Jeder wird mit den Ereignissen im Leben anders fertig. Das kennt man auch aus der Traumaforschung. Man hat festgestellt, daß traumatisierende Lebensereignisse von jedem Menschen anders verarbeitet werden. Dem einen hilft es, wenn er gleich wieder zur Tagesordnung übergeht. Dem anderen hilft es, wenn er drei Monate lang eine Kur macht. Dem nächsten hilft es, wenn er umzieht ..."
Edaín erkundigte sich, was eine Psychose ist. Ich erklärte ihr, daß es sich dabei um eine Erkrankung handelt, die man mit gutem Willen allein nicht behandeln kann. Man braucht Medikamente dafür. Edaín erzählte, wenn sie den Irren Renfield in "Bram Stoker's Dracula" sehe, denke sie jedesmal an mich. Ich erklärte, in der Zeit, in der "Dracula" spielt, habe es noch keine Medikamente zur Behandlung einer Psychose gegeben, daher habe man die Geisteskranken in Irrenhäusern weggesperrt, aus der Hilflosigkeit heraus. Heute könne man die Krankheit in den meisten Fällen gut beherrschen.
Rafa ging mäanderförmig die Tischreihen ab und verteilte Flyer für die W.E-Tour und seinen Film über eine Zeitmaschine, der im Rahmen der Konzerte läuft. Ganz zuletzt kam Rafa an unseren Tisch. Scheu legte er auch dort Flyer hin und verschwand gleich wieder.
Edaín erkundigte sich, wie sich inzwischen mein Verhältnis zu Rafa gestaltet hat. Ich erzählte, daß wir keine geordneten Kontakte zueinander haben, daß Rafa mich jedoch auch weiterhin zu kreativen Werken inspiriert, auch wenn er dies nicht beabsichtigen dürfte. Außerdem erzählte ich von den Enthüllungen zu Rafas Verhalten gegenüber Frauen, von denen Edaín anscheinend nichts wußte, auch nicht, daß Rafa Berenice jahrelang betrogen und mißhandelt hat und daß er Tyra an den Rand des Selbstmords getrieben hat.
Maya und Alea wollten Edaín die Bilder zeigen, die sie gemalt hatten. Edaín holte Cola für sich und mich, dann ging sie mit den Kindern zum Gehweg, wo Hüpfekästchen aufgemalt waren.
Als Edaín bei den Kindern auf dem Weg stand und ihre Bilder und Hüpfekästchen bewunderte, stellte Rafa sich für einen Moment zu ihr. Im Gespräch knuffte Edaín Rafa ein wenig an der Schulter. Rafa stand ruhig da und wirkte auf mich etwas unsicher. Als Rafa weitergegangen war, kam Edaín wieder zu mir an den Tisch und berichtete, Rafa habe sie angesprochen mit den Worten:
"Ich sehe, du hast heute alles im Griff."
Sie entgegnete sinngemäß:
"Ja, ich hatte schon immer ein Herrscher-Profil."
Rafa habe gestutzt; er sei eine solche Antwort augenscheinlich nicht gewohnt.
"Das stimmt", meinte ich, "er hat fast nur Leute um sich, die nichts anderes sagen als:
'Ja ... ja ... ja ...'"
Ich erzählte, daß es mich wütend gemacht hat, zu erfahren, wie Rafa andere Menschen mißhandelt, und daß ich den Wunsch habe, die Menschen vor ihm zu schützen. Ich erzählte, wie ich Rafa im vergangenen Sommer im "Nachtbarhaus" eine Standpauke gehalten habe und vor den anderen Gästen deutlich gesagt habe, was er seinen Freundinnen angetan hat.
"Was war seine Reaktion?" fragte Edaín.
"Flucht", erzählte ich. "Er ist davongelaufen. Ich lasse ihn dann auch davonlaufen; mir bleibt eh nichts anderes übrig."
"Also, ich denke ja, man sollte auf eine Konfrontation die nächste folgen lassen, und nach der zweiten oder dritten Konfrontation ... vielleicht kommt dann die Umkehr."
Ich entgegnete, daß mit Zwang kaum etwas Sinnvolles zu erreichen wäre. Ich erzählte, wie ich Rafas Untaten anonymisiert und verfremdet in Kurzgeschichten verarbeite, die ich auf meine Website stelle. Rafa habe zwar schon lange nicht mehr über meine Internetseite geschimpft, jedoch habe er einen absurd anmutenden Haß gegen mich kultiviert.
"Und was ist mit deinen Gefühlen für ihn?" fragte Edaín.
"Die sind immer noch die gleichen", antwortete ich.
Edaín war recht erstaunt, und noch erstaunter war sie, als ich erzählte, daß es mich freuen würde, einen anderen Mann kennenzulernen, der im Gegensatz zu Rafa ein anständiger Mensch ist, für den ich aber mindestens so viel empfinde wie für Rafa. Edaín meinte, sie kenne von mir keine andere Aussage als sie, daß ich für immer und ewig nur Rafa lieben werde und keinen anderen lieben wolle oder könne.
"Wahrscheinlich ist das auch so", meinte ich, "aber ich suche trotzdem nach jemand anderem, einfach weil Rafa in den letzten Jahren klar unter Beweis gestellt hat, daß er mich nicht wert ist. Er hat sich so abartig benommen - mir und auch anderen gegenüber -, daß eindeutig ist, daß er mich nicht verdient. Als ich ihn kennengelernt habe, war er sehr jung, und er hatte neben dem Schlechten auch viel Gutes in sich. Er hätte sich zum Guten entwickeln können, aber in den letzten Jahren hat sich gezeigt, daß er sich nur zum Schlechten entwickelt hat und daß alles Gute, was er in sich hatte, von dem Schlechten völlig überdeckt worden ist; es ist einfach nicht mehr da."
"Irgendwie reden wir von zwei verschiedenen Menschen", meinte Edaín. "Ich kenne Rafa auch schon lange, wenn auch auf einer anderen Ebene als du. Ich weiß, daß das mit Rafa und Kappa eine lange Geschichte ist und daß die viel miteinander erlebt haben."
"Oh ja."
"Und ich kenne Rafa immer nur freundlich und nett."
"Auf der Ebene, auf der ihr euch begegnet, ist er das auch."
"Vielleicht liegt es daran, daß er mich als Frau von Kappa anerkennt und insofern mit Respekt behandelt."
"Das ist bestimmt so."
Maya und Alea stritten sich um die Gültigkeit eines Hüpfkästchen-Spiels. Edaín empfahl den beiden, einfach ein neues Spiel zu beginnen. Maya setzte sich abseits und schmollte. Alea kam vorsichtig auf sie zu, um sich wieder mit ihr zu vertragen.
"Maya ist wie ich", meinte Edaín. "Ich muß mich bei einem Streit auch vom Ort des Geschehens entfernen und schmollen, und dann, ganz langsam, taue ich wieder auf."
Edaín erkundigte sich nach Aces früherer Lebensgefährtin Lysanne. Radiomoderator Ace - ein alter Freund von Kappa - ist inzwischen glücklich verheiratet mit Zara, seiner Jugendliebe.
Von Lysanne konnte ich berichten, daß ich sie im vergangenen Jahr auf einer "Stahlwerk"-Party in HH. getroffen habe. Sie sei nicht viel anders gewesen als früher - labil, mit einem verbrauchten, dick überschminkten Gesicht. Sie komme mit ihrer halbwüchsigen Tochter nicht zurecht. Auf Parties gehe sie kaum noch und sei nur bei "Stahlwerk" gewesen, weil eine ihrer Freundinnen sie so sehr darum gebeten habe.
Edaín erzählte, daß sie Lysanne schon sieben Jahre lang nicht mehr gesehen hat. Als sie Lysanne vor zehn Jahren kennenlernte, habe sie bereits verbraucht und verlebt ausgesehen.
"Lysanne war wahrscheinlich mal sehr hübsch", meinte ich, "aber das kann zwanzig Jahre her sein. Sie hat sich durch Suchtmittel zerstört. Ace sieht ja auch sehr verbraucht aus, er hat ein ziemliches Alkoholproblem."
"Er soll jetzt trocken sein", hatte Edaín gehört.
"Das würde mich sehr freuen", meinte ich. "Ich hoffe nur, daß Zara und Ace es schaffen, gemeinsam trocken zu sein. Wenn einer weitersäuft, schafft es der andere nicht."
"Ich glaube, sie sind trocken. Deshalb gehen die auch kaum noch auf irgendwelche Parties."
Edaín erzählte von ihrer letzten Begegnung mit Lysanne, hier in der "Neuen Sachlichkeit". Damals sei sie so wütend auf Lysanne gewesen, daß sie auf sie losgegangen wäre, wenn Kappa sie nicht zurückgehalten hätte. Der Groll scheint jetzt verraucht, nach sieben Jahren.
Edaín machte sich auf den Weg, um Maya und Alea einzusammeln, die ins Bett mußten. Vorher durften sie noch mit Kappa auf die Bühne, um das Publikum zu begrüßen und den Auftritt einer Band anzukündigen.
Ray erzählte von seinen Zukunftsplänen. Er will den Hauptschulabschluß nachholen und hofft, daß die Kosten vom Staat übernommen werden. Was Clara betrifft, so sei ihre Ehe eine hübsche Fassade; sie habe Seward wohl nur geheiratet, um einen Mann vorweisen zu können, der gut verdient und seiner Frau ein Haus mit Garten bieten kann. Seward ist Bauingenieur, Ray hingegen ist langzeitarbeitslos und lebt vom Amt. Ray ist überzeugt, Erfüllung im Bett und damit das eigentliche Eheleben finde für Clara nur mit Ray statt. Er, Ray, könne nichts dafür, wenn Seward spät nach Hause komme - so spät, daß es vorher noch für ein ausgiebiges Schäferstündchen mit Clara reiche.
"Manche Ehen funktionieren halt nur zu dritt", meinte ich. "Clara hat einen Mann fürs Renommé und einen fürs Bett. Der einzige Mann, der ihr jemals Erfüllung im Bett verschaffen konnte, bist du."
"Ja, Seward könnte von mir eine Menge lernen."
"Das bezweifle ich. Es gibt Dinge, die können manche Menschen nie lernen."
Ray berichtete, Clara stehe kurz vor dem Abschluß ihres Studiums der Sonderpädagogik. Wenn sie damit fertig sei, wolle sie über den Weg der künstlichen Befruchtung ein Kind. Auf natürlichem Wege sei das nicht möglich bei ihr.
Tatsächlich könnte ich mir eine Ehe von Clara und Ray kaum vorstellen. Clara wird Förderunterricht geben, und Ray hat bisher nicht mehr als die Förderschule bewältigt. Clara dürfte an Rays Seite intellektuell unterfordert sein. Auch dürfte es ihr kaum recht sein, dauerhaft ihren Ehemann finanzieren zu müssen.
In der "Neuen Sachlichkeit" traf ich viele Freunde und Bekannte. Fotograf Percy machte Erinnerungsbilder.
Rafa versammelte im Laufe des Abends seine "Gefolgschaft" an dem Tisch, wo vorhin Derek und Ray gesessen hatten. Zu Rafas Truppe gehörten unter anderem Herr Lehmann, Pat und Veva, die alle so taten, als würden sie mich nicht kennen. Ein weiteres Wesen gesellte sich dazu, weiblich, mit schwarz gefärbten, zu einer Irokesenfrisur aufgestellten Haaren, einem schwarzen Korsett, Strapsen und himmelhohen Plateaustiefeln, die ungefähr so aussahen wie Dariennes Plateaustiefel. Kunstblut war in Spritzern über den Körper verteilt. Das Wesen war so grell geschminkt, daß die Gesichtszüge kaum noch erkennbar waren. Dicke Schichten pinkfarbener Kunstwimpern klebten an den Augen. Es schien sich allerdings nicht um Darienne zu handeln; ich konnte den großen tätowierten Schmetterling nicht entdecken, den Darienne unterm rechten Schlüsselbein trägt. Vielleicht war das fremde Mädchen so fratzenhaft geschminkt worden, damit nicht auffiel, daß es sich nicht um Darienne handelte. Das Mädchen blieb auch nicht lange sichtbar; es verschwand hinter der Bühne.
Mit Terry und Ray unterhielt ich mich auf dem Weg vorm Saaleingang. Terry erzählte, daß sie sich in der Firma, wo sie arbeitet, nicht wohlfühlt. Sie wird schlecht bezahlt, das Klima ist unfreundlich. Wenn im Januar ihr Vertrag ausläuft, will sie zu der Zeitarbeitsfirma wechseln, wo sie vorher beschäftigt war und wo man sie gerne wiederhaben will.
Rafa hatte sich einen weißen Kittel übergezogen und ein Stethoskop umgehängt. Die Sonnenbrille hatte er ersetzt durch die Spiegelbrille mit den runden Gläsern, und bei der blieb er für den Rest der Nacht. Rafa marschierte mit zwei Schritt Abstand an uns vorbei.
"Der Patient geht im weißen Kittel", sagte ich, "und der Psychiater steht hier."
Im Korsett.
Es wurde neun Uhr. Ich saß mit Gavin und dessen Freundin Katlyn auf einer Bank. Katlyn hat eine Handtasche in Gestalt eines rosafarbenen Plüsch-Einhorns. Sie hätte die kleine Maya gern noch getroffen, meinte aber, dann hätte sie wohl das Einhorn an Maya abtreten müssen.
Weil Constri noch nicht erschienen war, rief ich sie an; sie wollte gerade losfahren. Eine Viertelstunde später war sie da. Rafa sprach Constri an, als sie ihre Plastik-Transportkisten aus dem Auto lud. Sie redeten sachlich und entspannt miteinander. Constri nickte, Rafa nickte, beide schauten freundlich.
Oben auf der Galerie am Lichtpult entdeckte Constri, daß sie den Beamer vergessen hatte. Sie machte sich auf, ihn zu holen; zwanzig Minuten sollte das dauern.
"Sag' Rafa bescheid", bat ich.
"Keine Zeit."
"Kann nicht Ray ...? Rafa redet ja nicht mit mir."
"Nein, sag' du ihm bescheid", verlangte Constri und eilte davon.
Folgsam ging ich zur Bühne, wo Rafa gerade vorne rechts herummontierte. Als ich vor der Bühne stand, hatte Rafa sich aufgerichtet und stand mit dem Rücken zu mir. Ich zupfte ihn zweimal unten am Kittel. Als er sich umwandte und herunterneigte, sagte ich kurz und deutlich:
"Constri ist in zwanzig Minuten da mit dem Beamer. Sie holt ihn jetzt."
Dann lief ich wieder nach oben.
Etwas später sagte einer von den Leuten am Lichtpult durchs Mikrophon:
"So, jetzt muß der Herr Doktor nur noch 'raufkommen und sein Video checken."
"Constri ist in fünfzehn Minuten da mit dem Beamer", sagte ich zu Rafa, als er die Treppe heraufkam.
"War die nicht eben schon mal hier?"
"Ja, aber sie hatte den Beamer vergessen und holt ihn jetzt."
Rafa erklärte dem Lichtmann, wie er auf dem Laptop das Bandvideo starten konnte. Dann ging Rafa auf die Bühne. Er ordnete hier und da etwas und zögerte auf diese Weise den Konzertbeginn noch etwas hinaus. Dann fing das Konzert an, und am Beginn des zweiten Stücks erschien Constri. Gemeinsam mit dem Lichtmann arbeitete Constri daran, die Verbindung von Rafas Laptop zu dem Beamer herzustellen, und das war kein Leichtes. Die beiden richteten den Beamer an die Saaldecke, damit bei dieser Arbeit das Konzert nicht gestört wurde. Sie mußten das Laptop neu starten, damit es den Beamer erkannte und mit Daten beliefern konnte. Rafa machte nach dem zweiten Stück eine Pause und unterhielt das Publikum mit einer Mischung aus Ansprache, Vortrag und Entertainment, um Constri und dem Lichtmann mehr Zeit zu geben.
"Mit einem C64 wäre das nicht passiert", sagte Rafa. "Wußtet ihr eigentlich, daß die ersten Astronauten mit einem 8-Bit-Rechner zum Mond geflogen sind, einem VC20? Jetzt stellt euch mal vor, wie oft ihr mit euren Rechnern zum Mond fliegen könntet."
Das Publikum klatschte und jubelte.
Am Ende des dritten Stücks war es geschafft, das Video lief auf der Leinwand hinter der Bühne. Rafa hatte es so gestaltet, daß es nicht zwingend zu einem bestimmten Stück abgespielt werden mußte, sondern zum gesamten Konzert paßte. Es war überwiegend in den Knallfarben Rosa und Grün gehalten und durchgehend abstrakt. Man sah Nullen und Einsen, man sah das stilisierte Computerbild einer Praxisliege, man sah einzelne Wörter wie "Sinn" oder "Schmerz", man sah Abbildungen aus einem Anatomie-Atlas, man sah Spermien beim Befruchten einer Eizelle, man sah gespiegelte Aufnahmen von Körperteilen, unter anderem gespiegelte Hände, deren Bild an einen Schmetterling erinnerte.
Rafa, der seine beiden eigenen Kinder nicht haben wollte, beschäftigt sich im Rahmen seines musikalischen Projekts H.F. ausführlich mit dem Thema "Fortpflanzung". Im wirklichen Leben scheint es ihm vor allem um unverbindlichen Sex zu gehen.
Auf der Schreibtischoberfläche von Rafas Laptop ist ein geöffneter Mund mit grellroten Lippen zu sehen und darunter der Satz:
"Sexx sells!"
Die Bühne war ungefähr so dekoriert wie bei den vorherigen Konzerten von H.F. In zwei Plastikschläuchen, die auch schon bei den Konzerten von Das P. gedient haben, standen zwei leichtgeschürzte Mädchen und tanzten eine Art Tabledance. Vorne in der Mitte stand das fratzenhaft geschminkte Mädchen in Strapsen und himmelhohen Plateaustiefeln, das wohl Darienne darstellen sollte. Es sang ein schlechtes Playback und bewegte sich ansonsten so ähnlich wie die Mädchen in den Plastikschläuchen. Links vorn stand Herr Lehmann an einem Keyboard, rechts vorn stand Rafa an einem Keyboard und schlug gleichzeitig eine Trommel. Inwiefern live gespielt wurde, blieb der Spekulation überlassen; ich vermute, nichts war live außer dem Gesang von Rafa. Er sang erst im zweiten Teil des Konzerts. Rafa schob das Strapsmädchen zur Seite, das nicht zu wissen schien, was es jetzt tun sollte, und er wies ihr einen Platz hinter seinem Keyboard zu, wo sie ihre Bewegungen fortsetzte, ohne Playback-Gesang. Das Strapsmädchen trug ein Funkmikrophon zum Umhängen. Rafa nahm sich ein gewöhnliches Mikrophon und einen Mikrophonständer. Er stellte sich vorn in die Mitte der Bühne und sang einige Stücke seiner Band W.E, unter anderem "W.O.L.F.". Durch einen glücklichen Zufall erschien gerade, als er rief:
"Ich bin ein Fehler der Natur!"
- genau dieser Satz in dem Video auf der Leinwand. Dies war auch die einzige Stelle in dem Video, wo man sagen konnte, daß sie genau zu einem bestimmten Titel paßte.
Während eines anderen Stücks tanzte das Strapsmädchen nicht hinter Rafas Keyboard, sondern hinter Rafa auf einem flachen Podest, und die Farben des Videos flossen über ihre Gestalt.
Das Konzert fand viel Beifall und hatte von allen Konzerten des heutigen Abends das meiste Publikum. Constri sagte anerkennend:
"Auf der Bühne bewegt sich was. Man kann die Show gut oder schlecht finden, aber immerhin, es ist eine Show. Es ist unterhaltsamer und abwechslungsreicher, als wenn nur jemand an einem Synthi stehen würde."
"Ja, Rafa gibt sich schon Mühe", bestätigte ich. "Er will dem Publikum was bieten, und das Publikum honoriert das."
Nach dem Konzert schaute ich Rafa beim Abbauen zu. Er hatte sich den weißen Kittel ausgezogen. Ich betrachtete sein enges weißes T-Shirt und die bloßen Arme und sagte zu Zoë:
"Wenn Rafa mich fragen würde, in welcher Garderobe ich ihn am liebsten sehen würde, würde ich antworten:
'Ohne alles.'"
"Ach, nicht mal ein Slip? Es müssen ja nicht gerade Boxershorts sein ..."
"Je weniger er anhat, desto besser."
Ich meinte, es sei spannender für mich, Rafa beim Abbauen der Bühne zuzuschauen, als ihm bei einem Konzert zuzuschauen.
"Es geht dir ja auch nicht um den Musiker, sondern um den Menschen", sagte Zoë.
"Genau."
Constri wollte nach unten. Ich sah, wie Rafa von der Bühne herunterkam und sich auf den Weg zur Galerie machte.
"Warte noch", sagte ich zu Constri, "es kann sein, daß Rafa jetzt 'raufkommt und mit dir reden will."
Als Constri und ich langsam auf die Treppe zugingen, kam Rafa tatsächlich herauf, hektisch wie gewohnt, etwas unsicher, etwas zittrig.
"Erstmal vielen Dank fürs Bereitstellen", sagte Rafa mit freundlichem Lächeln zu Constri.
"Bitte", entgegnete sie.
"Es hat alles geklappt", erzählte ich. "Das Video ist einmal ganz durchgelaufen."
"Das ist schon mal gut", sagte Rafa lächelnd und schien sich zu freuen.
Ich fuhr fort:
"Und als du gesagt hast:
'Ich bin ein Fehler der Natur.'
- da erschien auf dem Videobild genau dieser Satz."
Rafa strebte schon weiter, wandte sich aber noch mir zu.
"Das ist doch gut", sagte er lächelnd.
Dann setzte er eilig seinen Weg fort. Er holte sein Laptop vom Lichtpult.
Constri ging mit mir nach draußen und erklärte mir im Schein eines Außenstrahlers, der an einer benachbarten Fabrikhalle angebracht war, die Funktionsweise der Videokamera, mit der ich ihr VJ-Set filmen sollte. In der Ferne sah ich Rafa und die anderen Mitglieder seiner Truppe draußen vor dem Bühnen-Seiteneingang der "Neuen Sachlichkeit" stehen. Rafa rauchte. Um mit der Kamera zu üben, filmte ich ein wenig, auch ihn.
Für eine Weile war Rafa nicht zu sehen. Dann, als ich gerade draußen war und eine Bratwurst aß, sah ich ihn neben dem Partyzelt hervorkommen. Er schaute mir entgegen, ohne Brille, denn die putzte er gerade, und er ging erst weiter, nachdem er sie wieder aufgesetzt hatte.
Während die letzten beiden Konzerte des Festivals liefen, saß Rafa an einem Tisch mit seiner "Mannschaft" und hielt Volksreden. Das grell geschminkte Mädchen, das Dariennes Rolle übernommen hatte, war nicht mehr zu sehen, es tauchte auch nicht mehr auf.
Ich setzte mich an einem Tisch zu Mavie und ihrem Mann. Mavie bot mir Muffins an, ich nahm eines mit Schokolade. Neben Rafa hatte sich ein Mädchen gesetzt, bei dem es sich um Adrienne handeln konnte. Es war groß, etwas pummelig und unbeholfen geschminkt und gekleidet. Als Rafa mit dem Mädchen vorübergehend allein am Tisch saß, begann er seine "Flirt-Masche". Er zog die Spiegelbrille herunter, die Augenbrauen hoch und tat so, als wenn er sich für das Mädchen ernsthaft interessierte. Das Mädchen wirkte durchaus beeindruckt.
Rafas Balzverhalten wurde unterbrochen durch die Rückkehr von Rafas Truppe, die sich, gemeinsam mit anderen Leuten, zu ihm an den Tisch setzten. Rafa unterhielt nun die Leute am Tisch - er redete und redete.
Mavie erzählte, daß sie neulich im "Mute" sehr genervt war von Rafa:
"Er hat geredet und geredet ... und laut! Ich habe nur gedacht:
'Weg hier, das ist ja nicht zum Aushalten.'"
Magenta und Crimson gesellten sich zu uns. Sie wollten feiern, aber keinen Eintritt bezahlen, und das war hier draußen möglich, zumal sich die Besucher des Festivals ohnehin zu einem großen Teil draußen aufhielten. In der Halle war es sehr warm, und hier draußen war es jetzt, nach Einbruch der Dunkelheit, angenehm frisch, aber nicht kalt.
Magenta, die sich Gesichter gut merken kann, bestätigte, daß es sich bei dem Mädchen, das neben Rafa saß, um Adrienne handelte.
Als das Konzert des Headliners Colony 5 zuendeging, waren Constri, Zoë und ich vorn im Publikum und tanzten. Nach der letzten Zugabe zog Constri einen großen weißen Vorhang vor die Bühne, eine neue Konstruktion, die jetzt die Leinwand für ihr DJ-Set bildete. Zoë, Constri und ich schoben eine Stange unten in den Vorhang, so daß er gespannt war und keine Falten warf. Die Band baute ab, und links neben dem Vorhang wurde auf der Bühne das DJ-Pult aufgebaut. Constri ging hoch zur Galerie ans Lichtpult, wo sich letztes Jahr das DJ-Pult befand. Vom Lichtpult aus gestaltete sie das VJ-Set. Ich nahm meine Aufgabe wahr und holte mir die kleine Videokamera, mit der ich Constris Set und auch sie selbst filmen sollte. Ich filmte in kurzen Abschnitten und legte die Kamera zwischendurch weg, wenn ich tanzen oder nach draußen gehen wollte. Edaín legte auf, später abgelöst durch Kappa und andere Kollegen. Zu den Highlights gehörten "Perpetual" von VNV Nation, "This shit will fuck you up" von Combichrist und "True Life (VNV Nation Remix)" von Lights of Euphoria.
Als ich eben nach unten gehen wollte zum Tanzen, kam Rafa mir am Fuß der Treppe entgegen; er wich im letzten Moment aus, als ich nach ihm haschte.
Constris Set gefiel mir so, daß ich nach einigen Augenblicken wieder nach oben rannte, um es zu filmen. Rafa stand allein an der Brüstung vorm Lichtpult, das auf einem Gestell außerhalb der Brüstung angebracht ist, und betrachtete die Großleinwand. Links neben ihm befand sich das Türlein in der Brüstung, durch das man ans Lichtpult kommt, und da mußte ich hin, um die Kamera zu holen. Ich lief an Rafa vorbei durch das Türlein und nahm die Kamera aus der Kameratasche. Das war offenbar schon zuviel für Rafa, er ging eilig davon.
Nur selten war Rafa noch im Saal zu sehen, blieb auch nur kurz da. Einmal kam ich von der Galerie herunter und sah ihn an einem Tischchen stehen, da ging er gleich weg zum Bühnen-Seiteneingang. Am DJ-Set beteiligte er sich nicht, stand nur zwischendurch hinterm Pult und redete mit dem DJ. Wenn er verschwand, dann meistens durch den Bühnen-Seiteneingang. Draußen sah ich ihn fast gar nicht mehr. Adrienne war noch lange im Saal und meistens ohne Rafa. Zwischendurch waren Rafa und sie beide verschwunden. Zuletzt sah ich Rafa gegen drei Uhr nachts, da lief er mit einem zusammengerollten Poster in der Hand durch den Saal vom DJ-Pult zum Ausgang. Adrienne verschwand erst eine Stunde später. Mit wem sie wegging, bekam ich nicht heraus.
Als Constri sich von Kappa verabschiedete, lobte er sie überschwenglich. Sie meinte, dann könne er ihr ja beim nächsten Treffen die üppige Gage zahlen nebst einigen Goldbarren. Kappa mag nicht gern viel Geld für VJing ausgeben.
Constri erzählte mir später, daß Rafa sie einige Tage vor dem Festival angerufen hatte, um sie zu bittten, ihm den Beamer zur Verfügung zu stellen. Sie meldet sich immer mit "Hausser", und er meldete sich daraufhin mit:
"Dawyne. Rafa."
Sehr höflich trug er sein Anliegen vor, artig, wohlerzogen. So kennt ihn auch Edaín; sie kennt ihn nur von dieser Seite. Wenn er sich so verhält, mag man kaum glauben, daß er auch noch eine ganz andere Seite hat.
Berenice bestätigte in einer E-Mail, daß das Mädchen auf der Bühne bei H.F. tatsächlich nicht Darienne gewesen ist. Sie wußte aber nichts weiter über den "Ersatz" zu berichten.
Mitte Juni war ich mit der dreizehnjährigen Elaine auf einer Anime-Convention in einem Freizeitheim. Am Vortag war Elaine mit ihrer Mutter Merle dort gewesen, heute war ich an der Reihe. Elaine hatte sich als chinesische Prinzessin verkleidet. Merle hat ihr in einem China-Shop ein langes Etuikleid im original chinesischen Stil gekauft, cremeweiß mit Goldborten. Zu dem Kleid hatte Merle Elaines Haare aufgesteckt und mit Knotennadeln verziert. Ich fotografierte Elaine in diesem Kostüm hinterm Haus vor der alten Mauer im Grünen.
Elaine erzählte, daß sie am gestrigen Tag beim Synchronsprechen mitgemacht hatte. Man habe gemeint, sie habe Talent.
Das Alter der Anime-Fans liegt mehrheitlich zwischen zehn und dreißig Jahren. Viele Besucher der Convention hatten sich im Stil der von ihnen bevorzugten Comicfiguren kostümiert, was "Cosplay" genannt wird. Einige Mädchen sahen beinahe so aus wie die "Cybers" in der Elektro-Industrial-Szene, mit kurzen weiten Röckchen und Kunsthaaren.
Elaine und ich schauten uns ein Anime-Theaterstück an, "Alice im Mangaland". Die Hauptfigur, ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, trug eine weißblonde Perücke und ein blaugraues Kleid im "Alice im Wunderland"-Stil. Das Stück war garniert mit Elementen aus Anime- und Fantasy-Filmen, auch das "Letzte Einhorn" kam darin vor. Es erschien als Mädchen mit blonder Langhaarperücke und silbrig schimmerndem Gewand. Auf der Stirn trug es ein Horn. Es hatte einen Freund, dem vorgeworfen wurde, mit einem Pferd zusammenzusein. Er korrigierte entrüstet, es handele sich um ein Einhorn, das könne man doch an dem Horn erkennen.
In dem Stück ging es um die Suche nach Zauberschlüsseln. Um einem Dieb den Schlüssel wieder abzujagen, sagte der Freund des Einhorns zu ihm:
"Ich habe was mit einem Pferd, und ich liebe es total."
Da war der Dieb so erschrocken, daß er den Schlüssel fallenließ.
In dem Stück gab es mehrere Tanzeinlagen, was ebenso an Disney-Filme wie an Bollywood-Filme erinnerte.
Außer Theater, Verkaufsständen und Synchronsprechen gab es auf der Convention auch einen Raum, in dem Computerspiele gespielt werden konnten. Elaine hatte dort am Vortag am Beamer "Tanzen" gespielt. Dabei geht es nicht um Tanzen im eigentlichen Sinne, sondern darum, möglichst schnell auf die Felder zu treten, die auf der Leinwand angezeigt wurden. Was das betrifft, war Elaine wesentlich besser als ich. Ich bin zu sehr darauf eingespielt, auf die Musik zu achten. Akustische Signale sind für mich ausschlaggebend, nicht visuelle.
Vor einer Wand mit Blüten und Meereswogen konnte man sich fotografieren lassen, als Erinnerung. Elaine und ich ließen uns gemeinsam fotografieren. Danach kam im Flur ein Fotograf an und fotografierte uns noch einmal.
An einem Stand bekam Elaine eine Haarspange geschenkt, die ich ihr in die Frisur steckte. Es gab Automaten, wo man Handyschmuck ziehen konnte. Ich bat Elaine, für mich die Kurbel zu drehen. Heraus kam eben das Handy-Figürchen, das ich haben wollte, ein rosafarbenes mit Skelett-Motiv.
Im Freizeitheim gibt es ein Café, dort kehrten wir ein.
Gegen Abend fuhr ich mit Elaine zu Constris Geburtstagsparty. Merle und Zoë kamen dort auch gerade an.
Folter - unser alter Freund in HB. - erzählte, daß Derek ihn nun öfter besuchen kommt. Derek verhalte sich viel gesitteter als früher.
Am Sonntag habe ich Folgendes geträumt:

Meine Schulfreundin Constanze kam zu Besuch, völlig unerwartet. Wir umarmten uns lange. Constanze sah so aus, wie ich sie von früher kannte, mit offenen Haaren, weißer Baumwollweste und 7/8-Hose.
Mir war wichtig, daß wir unsere Adressen und Telefonnummern austauschten, aber wir hatten uns so viel zu erzählen, daß ich vorerst nicht dazu kam. Als der Traum zerfallen wollte, zog ich eine Visitenkarte hervor für Constanze, darauf stand aber etwas ganz anderes, als daraufstehen sollte; auch auf der nächsten, die ich hervorzog, fehlten meine Adresse und meine Telefonnummern.
In dem Traum war mein Leben durch eine fortgeschrittene Tumorerkrankung begrenzt.

Als ich aufwachte, war ich tatsächlich krank, es war aber nur eine Erkältung. Diejenige, deren Leben in Wirklichkeit durch eine fortgeschrittene Tumorerkrankung begrenzt ist, ist meine Kollegin Mina. Sie schrieb in einer SMS, daß sie in den nächsten Tagen operiert wird, weil sie Metastasen hat. Ich vereinbarte mit ihr, daß ich sie im Krankenhaus besuchte, nachdem ich mich von meiner Erkältung erholt hatte.
Constanze hat sich nach meinem Abitur nie mehr bei mir gemeldet. In einer Online-Kontaktbörse für ehemalige Schulkameraden entdeckte ich sie kürzlich und schickte ihr eine Nachricht. Sie antwortete, wollte sich auch mir mir treffen, machte jedoch einen Rückzieher, als es konkreter wurde, mit nebulöser Begründung:
"Alles hat seine Zeit ..."
Danach antwortete sie auf keine Nachricht mehr, auch nicht auf eine E-Mail.
Vielleicht hat Constanze immer noch viel zu viel zu verstecken, wie in unserer Jugend, als sie - wahrscheinlich - den Alkoholismus ihres Vaters verstecken wollte. Und vielleicht gab es noch viel mehr zu verstecken, etwa häusliche Gewalt und Kindesmißbrauch.

In einem Traum besuchte mich Constri und brachte Rafa mit. Sie hatte ihn eher zufällig dabei. Die beiden machten einen eiligen, geschäftigen Eindruck. Sie wollten gleich weiter. Ich wollte zur Post und zum Einkaufen, hatte aber noch mein schwarzweiß geringeltes Nachthemd an.
"Zur Post komme ich noch mit", sagte Rafa.
Er blickte mich geradewegs an und wiederholte:
"Zur Post komme ich noch mit."
Ich sah zu, daß ich meinen schwarzen Stufenrock überzog und meine schwarzen Ballerina-Schuhe anbekam. Während ich mich noch beeilte, zerfiel der Traum, ich wachte auf.

In der Online-Szene-Kontaktbörse hat Rafa endlich die Hetzrede gegen mich aus seinem Profil gestrichen. Zum Anlaß könnte er einen Eintrag in dem Gästebuch seines Profils genommen haben. Ein neunzehnjähriges Mädchen bezog anscheinend die Hetzrede auf sich und kommentierte:

Na danke auch! xD

Mit diesem Mädchen wollte Rafa es sich wohl nicht verscherzen, zumal es vom Alter her in sein "Beuteschema" paßt.
Rafa macht in seinem Profil immer noch Unsinns-Angaben. Er behauptet, nach einem Mann zu suchen, der "150 Millionen Jahre" alt sei.
Darienne gibt in der Online-Szene-Kontaktbörse schon länger nicht mehr an, ob sie vergeben, verliebt oder Single ist. Sie zeigt Fotos, auf denen sie in knapper Garderobe posiert oder als Bandmitglied von W.E zu erkennen ist. Sie zeigt aber schon länger kein Foto mehr, auf dem sie mit Rafa zu sehen ist. Ihre eigene Website hat sie aufgelöst.
Die psychiatrische Klinik in Lk., wo ich seit Mai arbeite, ist Teil eines Allgemeinkrankenhauses. Regelmäßig begegnen mir Kollegen aus anderen Abteilungen in der Kantine. Ein schöner Brauch unserer Abteilung ist es, nach der Morgenbesprechung gemeinsam zu frühstücken.
Bo erzählte von seinem Vater. Die Mutter hat mit Bo den Vater früh verlassen. Der Unterhalt für das Kind mußte eingeklagt werden. Der Vater habe mehrfach den Arbeitsplatz gewechselt, nur eines sei immer gleich gewesen:
"Er war seltsamerweise überall Chef."
Bo lebt mit seiner Katze in einer Wohnung in Lk. Die Katze sei winzig klein geblieben und eine "Setz-Katze": Wenn man sie irgendwo hinsetze, bleibe sie dort. Meine Katzen gehen immer sogleich weg, wenn ich sie irgendwo hinsetze.
Bo ist vom Sternzeichen Skorpion. Kollegin Wendy meinte, solche Menschen seien schwierig und unsympathisch. Bo sei jedoch ein "Langhaar-Skorpion", da sei das anders.
In der Kantine der psychiatrischen Klinik in Lk. habe ich Asmo wiedergetroffen, den schizophrenen Kollegen, den ich aus dem "Reha-Bunker" in Bad O. kenne. Er begrüßte mich freundlich. Ich war erleichtert, daß er mir nicht mehr nachstellte. Asmo verschwand schon bald wieder von der Bildfläche; vermutlich war seine psychische Erkrankung aufgefallen.
Von Kollegen habe ich eine Geschichte über elektrische Putzwagen gehört. Mit ihnen werden die Stationsflure gereinigt. Eines Tages soll sich ein verwirrter Patient vor einem Putzwagen geworfen haben, um Selbstmord zu begehen. Das Gefährt ist zum Glück so langsam, daß es gestoppt werden konnte, ehe der Patient verletzt wurde.
Das letzte Stück meines Arbeitsweges nach Lk. führt über Bundesstraßen. Zwischen MI. und Lk. fährt man von Dorf zu Dorf. In diesem Frühjahr scheint in der Region eine Taubenkrankheit umzugehen, die Tauben den Verstand verlieren läßt. Noch nie habe ich so viele tote Tauben auf der Bundesstraße gesehen - und nur dort, nicht etwa auf Parkplätzen oder Gehwegen. Eine Taube warf sich mit Anlauf vor meinen Kühlergrill. Man hätte auch mit dreißig Stundenkilometern nicht mehr rechtzeitig bremsen können.
Ende Juni besuchte ich meine Kollegin Mina im Krankenhaus in BS. Sie ist wegen ihres Tumorleidens operiert worden. Ihr mußte das rechte Bein abgenommen werden. Drei Kollegen aus Kingston waren ebenfalls zu Besuch. Wir unterhielten uns über die psychiatrische Klinik Kingston und die dortigen Kollegen, die auch ich kenne. Mina schien das recht zu sein. Sie schien nicht über ihre Krankheit reden zu wollen.
Minas Lebensgefährte Arnon nahm als Fotografie auf dem Nachttisch teil. Mina hat ihn in ihrer Küche fotografiert, als er sie verliebt anlächelte. Arnon rief im Laufe des Nachmittags an; er wollte Mina am kommenden Mittwoch besuchen. Er wohnt in Wien.
Kollege Avin erzählte, daß er sich von Chefarzt Amfortas im Stich gelassen fühlt. Er müsse so viele Stationen oberärztlich betreuen, daß diese Aufgabe eigentlich nicht zu bewältigen sei, wenn man sich verantwortungvoll verhalte. Immerhin gehe es nicht nur um das, was die Kollegen berichten, sondern man müsse auch das beachten, was nicht berichtet werde. Es gebe wohl einen alteingeschworenen Klüngel, der gemeinschaftlich die Arbeit von sich fernhalte. Da kratze eine Krähe der anderen kein Auge aus. Vor allem betreffe das die Sippen, die in mehreren Generationen in Kingston tätig sind.
Mina meinte, unsere Kollegin Fanny Gottseibeiuns sei nicht mehr die Fanny, die ich von früher kenne. Sie sei jetzt herrisch, unsachlich und überfordert.
Fanny war früher schon schnippisch und herablassend, jedoch insgesamt zurückhaltend. Seit aber der frühere Chefarzt - gewissermaßen als Abschiedsgeschenk - Fanny von der Stationsärztin ohne Zwischenschritt zur Abteilungsleiterin hochgehievt hat, scheint ihr das zu Kopf gestiegen zu sein. Fanny hatte jahrelang mit dem früheren Chefarzt ein Verhältnis, er betrog mit ihr seine Frau. Nun soll Fanny mit ihrem neuen Partner prahlen, der habe ein Haus.
Mina meinte, Fanny vergraule die Kollegen, die etwas besser können als sie. Das dürften viele sein, denn Fanny hat lediglich den halben Facharzt - nur Psychiatrie, nicht auch Psychotherapie.
Mina erzählte, aus früheren Jahren habe sie kaum Kontakte behalten, also auch nicht aus Schul- oder Studienzeiten. Sie wisse nicht so recht, wie ihr diese Kontakte verlorengegangen seien. Vielleicht hat es etwas mit ihr selbst zu tun. Mina erinnert mich an Jutta, die auch nur wenige Kontakte hat und im Laufe der Jahre immer wieder Kontakte verloren hat. Bei Jutta hing das damit zusammen, daß sie sich immer wieder gekränkt fühlte - auch in alltäglichen Konfliktsituationen - und das zum Anlaß nahm, Freundschaften und Beziehungen aufzugeben. Vemehrte Kränkbarkeit kann zu Einsamkeit führen.
Mit Ginger aß ich im "Always" in BS. zu Abend. Ginger erzählte von Cyras Verhältnis mit einem verheirateten Mann, das wohl nicht von Dauer sein werde. Der Mann habe sich sehr um Cyra bemüht. Sie habe sich zunächst gefragt, ob es die große Liebe sein könnte, doch sie zweifle inzwischen daran.
Ginger wird immer noch von ihrem getrennt lebenden Ehemann Tyce belagert. Er scheint nicht zu wissen, ob er seine kleine Familie lieben oder hassen soll. In einem seiner Songtexte wendet Tyce sich gegen seinen Sohn Channy und droht, ihm umzubringen. Ginger hat das dem Jugendamt mitgeteilt. Sie will Kontakte zwischen Vater und Sohn nur noch unter Aufsicht im Jugendamt zulassen.
Mit Ginger war ich nachts in "Restricted Area", wo unter anderem Velroe auflegte. Ihn hatte ich seit Jahren nicht mehr gesehen.
In einer E-Mail erzählte ich Azura von Victoire und Berenice, die ebenso wie Azura Biologinnen sind.
Azura mailte, daß sie ihre Arbeit im Labor mag. Sie ist in der klinischen Forschung tätig:

Es macht mir Spaß, immunologische Assays im Labor durchzuführen, und ich erachte es als sehr sinn- und wertvoll, neue und risikoärmere Impfstoffe zu entwickeln, wir haben Programme gegen Masern bei Kleinkindern, Krebs, Pocken und HIV (liegt leider auf Eis derzeit).

Azura berichtete, ihr Vater leide vielleicht an einer bösartigen Erkrankung, was ihr sehr zu schaffen mache.
Das Pfingstfestival in L. habe ihr sehr gut getan, vor allem das Wiedersehen mit Freunden.
Ihr Lebensgefährte Antoine will im Sommer nach Island, sie möchte ihn jedoch nicht begleiten. Mit Zelt und Fahrrad durch Island zu reisen ist nicht ihre Sache.
Azura erzählte von Veranstaltungs-Locations in M., die geschlossen wurden, weil sie abgerissen werden sollten, und die noch immer versperrt dastehen.
Immerhin gebe es Nachfolge-Parties in anderen Locations, mit vergleichbarem Programm.
Tendenziell müssen ehemalige Fabrik- oder Eisenbahngebäude in M., in denen sich Veranstaltungs-Locations befinden, nach und nach modernen Büro- oder Wohngebäuden weichen, was die Kultur- und Partyszene ärmer macht.
Am Samstagabend war ich bei Berit, die ihre Freundin Louisette zu Besuch hatte. Die beiden bestellen ihre Kleidung fast nur noch aus Katalogen, weil es Mode jenseits von Größe 46 nur in kleiner Auswahl in Geschäften zu kaufen gibt. Berit und Louisette haben das Buch "Pralle Prinzessinnen" von Wittler, in dem die übergewichtige Autorin Styling- und Mode-Tips für ihre Leidensgenossinnen gibt. Grundsätzlich geht der Trend dahin, daß mehr Geschäfte Abteilungen für Übergewichtige einrichten und mehr Versandhäuser Mode für Übergewichtige anbieten.
Gemeinsam fuhren wir zu Ferrys Geburtstagsparty nach Awb. Ich gehöre zu den Leuten, die am liebsten in der Küche feiern, weil es dort nicht so laut ist und man sich besser unterhalten kann. Viele Partygäste kannte ich noch von vorherigen Parties. Sie werden älter, und Familien-Themen treten mehr und mehr in den Vordergrund. In der Jugend bildeten mehrere von ihnen - alles Männer - eine Art "Nazi-Zirkel", doch solche Themen scheinen für sie langsam an Bedeutung zu verlieren. Man gefällt sich bislang noch darin, indizierte Tonträger abzuspielen - im Partykeller, wo es sonst niemand mitbekommt. Ferry hat eine beachtliche Sammlung verbotener CD's, die man durchaus als Wertanlage betrachten kann, wenn man nur an den passenden Käufer gerät.
Am Sonntag waren Constri, Denise und ich auf der Trasse der A39 in der Nähe von Kingston. Wir machten Aufnahmen auf einer frisch fertiggestellten, noch nie befahrenen Autobahnbrücke. Weit kamen wir mit diesem Projekt jedoch nicht. Das lag an der fünfjährigen Denise. Sie wollte die Garderobe nicht anziehen, die für diese Kulisse optisch gepaßt hätte, sie wollte ihr Fahrrad mitnehmen, mit dem man hier kaum fahren konnte, und sie quengelte, weil sie der Meinung war, ihr Fahrradhelm sitze nicht richtig. Constri schaffte es nicht, ihrer Tochter Grenzen zu setzen. Sie bemühte sich, Denise alle Wünsche zu erfüllen, egal wie unpassend sie für die geplante Unternehmung waren. Dadurch kamen wir zweieinhalb Stunden später an der Autobahnbrücke an, als es geplant war, und schon nach wenigen Minuten auf der Brücke wollte Denise zur Toilette. Wir konnten also gleich wieder umkehren. Weitere Drehs mit Denise wird es nur geben, wenn Denise bereit ist, sich an das geplante Setting zu halten, auch was die Kostümierung betrifft. Wenn sie das nicht will, werden andere Darsteller ausgewählt.
Anfang Juli war ich im "Roundhouse". Marvel spielte unter anderem "I'm a Tool" von Neon Eon, ein musikalisches Projekt von Max. "I'm a Tool" finde ich sehr tanzbar. Es paßt in eine Reihe mit den anderen Power-Elektro-Industrial-Stücken, die heute liefen, darunter "Riot green Elves" von Winterkälte und "Kerosene" von Punch Inc. Die Titel von Neon Eon gibt es faktisch nirgends, auch nicht auf Musikportalen im Internet. Ich bat Max, mir eine CD mit seiner Musik zu brennen.
Morgens frühstückten Max und ich bei "McGlutamat". Max reichte mir seinen MP3-Player, so daß ich mir noch mehr tanzflächentaugliche Stücke von Neon Eon anhören konnte. Er erzählte, er sei angezeigt worden, nachdem er sich den 150. Film illegal aus dem Internet heruntergeladen hatte. Es war ein Pornofilm.
"Die haben wohl gedacht, ich zahle lieber, als es auf ein Verfahren ankommen zu lassen und zuzugeben, daß ich Pornofilme herunterlade", meinte Max.
"Was findest du an Pornofilmen?" fragte ich.
"Ich mag einsame Stunden", erklärte Max.
Er fragte mich, was ich von Pheromonen halte. Ich antwortete, an diesen Lockstoffen könne eine Frau den für sie passenden Partner "erschnüffeln". Es sind also keine unspezifischen Lockstoffe, die auf jede Frau anziehend wirken, sondern sie sind personenspezifisch und so verschieden wie die Menschen selbst.
"Pheromone sind in der Lage, einen Menschen ein Leben lang an einen anderen Menschen zu ketten", meinte ich.
Jetzt konnte Max nachvollziehen, warum die sogenannten Pheromone, die im Handel erhältlich sind, nicht die erhoffte Wirkung auf Frauen haben. Er hat gemeinsam mit einem Bekannten mehrere, unterschiedlich mit Schweiß und Deo bearbeitete T-Shirts achtzehn Mädchen vorgelegt und sie das für sie attraktivste aussuchen lassen. Das T-Shirt, welches mit im Handel erhältlichen sogenannten Pheromonen getränkt war, fanden alle Mädchen unattraktiv.
Max kann sich nicht vorstellen, daß ein Mann und eine Frau eine Nacht in einem dunklen Zimmer verbringen können, ohne daß "was passiert".
"Rafa und ich können das", wußte ich. "Es hat genügt, um mich erschnüffeln zu lassen, daß er der genetisch passende Partner für mich ist."
"Hör' mir auf mit Rafa", stöhnte Max. "Rafa, der geht gar nicht! Der ist indiskutabel. Wenn der das Maul aufmacht ...!"
Rafa soll sich letztes Jahr im Juli auf dem Sommerfestival in K. Peinlichkeiten erlaubt haben, von denen ich auch schon durch Heloise und Barnet gehört habe. Rafa soll nach den Konzerten ans DJ-Pult gekommen sein, und kurz nach dem Beginn des ersten Stücks soll er die Musik herausgeregelt haben und durchs Mikrophon gerufen haben:
"Sind Sie bereit? Sind Sie bereit, zu tanzen?"
Dann ließ er die Musik weiterlaufen, regelte sie aber gleich danach wieder herunter und rief durchs Mikrophon:
"Sind Sie bereit? Sind Sie bereit, Musik zu hören? Oder wollen Sie weiter Sch... hören?"
Der Saal brüllte:
"Sch...!"
Dieser letztere Vorfall wiederholte sich noch zweimal während der nächsten beiden Stücke. Es wurden Stimmen laut wie:
"So, wenn Rafa das noch einmal macht, haue ich ihm eins in die Fresse."
Ein Betrunkener wollte die Bühne erklimmen, um eben dieses zu tun, er wurde jedoch von der Security daran gehindert.
Dann regelte Rafa tatsächlich noch einmal die Musik herunter und rief durchs Mikrophon:
"Sind Sie bereit? Sind Sie bereit, Musik zu hören? Oder wollen Sie weiter Sch... hören?"
Der Saal brüllte:
"Sch...!"
"Das kann ich jetzt nicht akzeptieren", entgegnete Rafa - und spielte ein Stück von seiner eigenen Band W.E.
Während der gesamten Nacht soll die Tanzfläche nie so leer gewesen sein wie eben jetzt. Nun griff Les ein, der erfahrene Resident DJ aus dem "Zone". Er schickte Rafa vom DJ-Pult weg und machte selbst weiter, sehr zur Erleichterung des Publikums. Zwischendurch ließ er Rafa aber noch einige Male ins Mikrophon quatschen.
"Benimmt Rafa sich absichtlich so, um sich unmöglich zu machen?" fragte ich. "Oder glaubt der wirklich, daß er dadurch mehr Fans kriegt?"
Henk berichtete, daß seine einundzwanzigjährige Katze Feline seit etwa drei Wochen verschwunden ist. Er hatte die Balkontür offengelassen, als er nach draußen ging, und als er heimkam, war Feline fort. Henk suchte sie überall, fragte herum, hängte Zettel auf - ohne Ergebnis. Henk vermutet inzwischen, daß Feline vom Balkon gesprungen ist, um sich zum Sterben zurückzuziehen. Sie fühlte anscheinend, daß ihre Lebensuhr abgelaufen war. Henk möchte wieder einer Katze ein Zuhause geben.
Am frühen Samstagabend fuhren Constri und ich zu "Stahlwerk" nach HH. Bevor es richtig losging, machten wir Filmaufnahmen in dem geräumigen Dachgeschoß, wo die "Stahlwerk"-Parties stattfinden. DJ Davis spielte für mich fünf Titel, die ich mir ausgesucht hatte, und Constri filmte mich beim Tanzen.








Ich verschwand hinter der Back-Projektion und wurde Teil der vorbeiflimmernden abstrakten Industrielandschaften in Schwarzweiß. Später unterlegte Constri das fertige Video mit dem meditativen Industrial-Stück "What a difference a pill makes" von Neon Eon. Da dieses Stück nie offiziell veröffentlicht wurde und Max nichts dagegen hatte, daß wir es verwendeten, brauchen wir die GEMA nicht zu fürchten. Das Video - "Body & Brain" - wird ohnehin nie kommerziell genutzt werden. Es ist vor allem ein privates Kunstwerk und eine Erinnerung.








Sylvain meinte, Rafas neues Album gefalle ihm nicht, das sei nur noch redundant. Immer fliege irgendwer durchs All, das sei ziemlich langweilig.
Ob Rafa wirklich nichts Neues mehr einfällt oder ob er glaubt, seine Fans mit bestimmten Themen bedienen zu müsssen, bleibt unbekannt.
Mitte Juli habe ich Folgendes geträumt:

Ich war im Erdgeschoß eines Hauses aus der Jugendstil-Ära. Dort hatte ich eine Party mitgefeiert, es war spätnachts, und ich wollte bald nach Hause. Eine von den Gästen war mit mir unten, der Rest der Partygesellschaft war oben in dem Zimmer, wo gefeiert wurde. Ich wollte nur noch einmal kurz hinaufschauen, um mich zu verabschieden. Oben saßen einige Leute um einen Tisch. Auf einem Zweiersofa saß Rafa, allein. Das Licht war gedämpft. Rafa schien nicht einig damit zu sein, daß ich mich schon verabschieden wollte. Er sah mich mit einem verliebten Blick an und meinte, es sei doch noch genug "Nullprozentiges" da, ich könnte doch noch bleiben und etwas trinken. Hochprozentiges gebe es auch noch, setzte er hinzu und zeigte auf eine Schnapsflasche mit verschnörkelter Beschriftung, die auf dem Tisch stand. Rafa las den Namen des Getränks vor. Das sei ausgesprochen empfehlenswert.
"Auch mit Cola?" fragte ich.
"Auch mit Cola", versicherte Rafa. "Mit Cola kannst du das auch trinken, klar."
"Nun gut, auf einen Schluck mehr oder weniger soll es mir nicht ankommen", meinte ich, "ich gehe nur noch mal 'runter und hole meine Sachen 'rauf."
Ich dachte, daß ich lieber noch eine Weile bleiben sollte, wenn ich noch etwas Alkoholisches trank, weil ich Auto fahren mußte.
Und ich dachte:
"Au weia, da ist aber einer in mich verliebt."
Leider zerfiel der Traum, ehe ich erfuhr, wie es weiterging.

Nachts war ich im "Radiostern". Ginger berichtete, eben sei ihr Mann Tyce hier gewesen, er sei aber schon fort. Tyce habe auf sie eingeredet. Er wirft Ginger noch immer vor, daran schuld zu sein, daß er sich von ihr getrennt hat.
Weil Constri eine Sommergrippe hat, gehe ich zur Zeit für sie einkaufen. Sie lädt mich dafür zum Cappuccino ein.
Constri erzählte, daß Denise neulich Aquarell-Wachsstifte bekommen hat. Sie malte etwas mit ihnen. Dann fingen die Stifte an, sich gegenseitig zu bemalen, und Denises Aufgabe war es, die Stifte wieder abzuwischen. Die Stifte führten eine lebhafte Unterhaltung. Mit ihren Puppen inszeniert Denise ähnliche Theaterstücke: Denise spielte "Kindergarten". Sie war die Erzieherin, die Puppen waren die Kinder. Eine Puppe wurde von den anderen Puppen ausgegrenzt, und Denise übernahm die Rolle der Vermittlerin. Zwei Puppen fragten, ob sie aus der Bettdecke eine Höhle bauen durften, und Denise erlaubte ihnen das. Die Puppe, die nicht so richtig in die Gruppe hineinfand, durfte zu Denise auf den Schoß.
Constri erklärte, Denise brauche sehr viele Puppen und Kuscheltiere für ihre Inszenierungen. Man könne denken, das Kind sei überschüttet mit Spielsachen, aber jedes habe für sie seinen Sinn und seinen Platz.
Die Griffe eines Eßzimmerschranks sind neuerdings mit kleinen Geländern ausgestattet; sie bestehen aus den Gittern von Playmobil-Betten. Denise wollte aus den Griffen Balkons machen, und damit die Gitter hielten, klebte Constri sie mit lila Kreppband fest. Es sollen auch schon kleine Playmobil-Püppchen auf den Balkons gestanden haben.
Am Donnerstag war ich im "Keller", wo es wieder Rippchen gab. Highscore erzählte von seinem aktuellen Hobby, dem Schießen am Schießstand mit einer halbautomatischen Pistole. In H. gibt es eine große Anlage vom Schützenverein, die auch an andere Vereine vermietet wird. Highscore geht dorthin zum Schießen. Er erklärte mir, was Tontauben sind. Es handelt sich um Wurfscheiben aus einem zerbrechlichen Material, angemalt in leuchtenden Farben, wie Gelb oder Rot. Die Wurfscheiben werden von einer Maschine in die Luft geschleudert, die sich wellenförmig bewegt. Man kann nicht voraussagen, in welche Richtung die nächste Scheibe fliegt. Es geht darum, die Wurfscheibe mit einer Schrotflinte zu treffen, bevor sie an einer Wand zerschellt. Wenn Highscore mit einer halbautomatischen Pistole schießt, zeigt ihm ein Monitor, wohin er getroffen hat. Beim Schießen mit großkalibrigen Gewehren gibt es die 100 Meter entfernte Schießscheibe, die nach dem Schuß heransaust, damit man sehen kann, wohin man getroffen hat.
Lucerna erzählte, daß sich der bösartige Hirntumor ihrer Schwester unter der Behandlung mit Temodal und Bestrahlung sehr verkleinert hat, und man hoffe, daß er ganz verschwinde. Ich meinte, das deute auf eine wesentliche Lebensverlängerung bei guter Lebensqualität hin. "Wesentlich", das heißt beim Glioblastom, daß man mehr als zwei Jahre mit der Krankheit überlebt.
Lucerna hat ihre Stelle im Jugendzentrum gekündigt und sucht neue Arbeit. Ihr Mann Ork verdient auf irgendeine Art immer wieder etwas Geld, meistens als Gelegenheitsarbeiter, und regelhaft schwarz. Beide empfangen Sozialleistungen.
Gegen zehn Uhr abends nahm ein Rudel Leute an einem Tisch Platz, unter denen erkannte ich Tyra. Sie erzählte, daß sie seit März in einem Waldorfkindergarten arbeitet, als Elternzeitvertretung - und endlich in ihrem Beruf als Erzieherin. Sie habe auch wieder ein Auto.
Tyra wohnt noch immer im Haus ihrer Mutter und ihres Stiefvaters. Der Anbau, in dem Tyra eine Wohnung bekommen soll, ist noch nicht fertig. Die Mutter hat zwei Katzen angeschafft, obwohl Tyra eine Katzenallergie hat. Auf diesen Einwand erwiderte die Mutter, daß es ihr Haus sei und daß Tyra "nicht so egoistisch" sein solle.
Tyra berichtete, sie habe neulich Berenice und Baryn in ER. besucht. Sie sei weiterhin Bandmitglied bei ihnen.
Als Tyra nach draußen zum Rauchen ging, erzählte mir einer ihrer Bekannten, Tyra habe sich am Maifeiertag furchtbar betrunken. Ich fragte mich, was Tyra erlebt haben könnte, das sie "wegsaufen" wollte. Alkoholexzesse sind eigentlich nicht ihre Art.
Tyra kam nicht wieder. Sie soll - berichtete mir Marie-Jo - nur noch einmal kurz hereingeschaut haben, ohne sich aber bemerkbar zu machen.
Am Freitag war ich im "Roundhouse". Joujou erzählte, daß ihr Arbeitsvertrag im November ausläuft, sie sei eine von vielen "Wegsortierten". Ansonsten gehe es ihr aber gut. Sie war hübsch geschminkt und trug ein Röckchen. Einen Mann hatte sie auch dabei, wohl ihr "Neuer". Er wirkte auf mich etwas verlebt und verbraucht, nicht eben jugendlich-frisch.
Max, einer seiner Bekannten und ich ergänzten die DJ-Wunschliste um einige härtere Elektro-Titel. Marvel spielte viele von ihnen.
Max brachte mir die versprochene selbstgemachte CD mit, von seinem Projekt mit dem Arbeitstitel "Neon Eon".
Am Samstag war ich mit Berit und Louisette im "Doomsday". Vorher trafen wir uns bei Berit. Berits Feuerzeug zerlegte sich, als sie sich eine Zigarette anzünden wollte.
"Billiger Schrott", meinte ich.
Louisette kennt auch solche Billig-Feuerzeuge, die sich zerlegen, wenn ihnen danach ist. Am besten seien doch die guten alten Streichhölzer, auch wenn das Anzünden damit schwieriger ist. Berit hatte ein Streichholzpäckchen da und zündete sich die Zigarette mit einem Streichhholz an.
Berit las vor, was auf dem Streichholzpäckchen stand. Es war der Name einer Schreibwarenhandlung.
"Für die arbeite ich zur Zeit", erzählte Berit.
"Das ist der Laden, wo ich früher immer meine Süßigkeiten und Schreibwaren gekauft habe", erzählte ich. "Die Tochter, die Kessy, war in meiner Klasse."
Berit erzählte, daß es noch eine andere Tochter gibt, Dreane, die den Laden von der Mutter übernommen hat. Dreane wirtschafte den Laden in den Ruin. Sie zahle die Gehälter ihrer Mitarbeiter ungefähr so zuverlässig wie das Wetter. Kessy, die mit dem zweiten Vornamen Manuela heiße, nenne sich jetzt "Manou". Sie habe eine Zeitlang ein Kosmetikinstitut gehabt, eine Zeitlang für den ZDF-Fernsehgarten gearbeitet und sei nun für einen Teleshopping-Sender in H. tätig.
Ich erzählte, wie Kessy mich im Sommer 1975 fragte, ob wir aus dem Laden ihrer Mutter eine "Krone" holen wollten. Unter "Krone" stellte ich mir eine Prinzessinnen-Krone vor, wie ich sie einst zum Kinderfasching in dem Laden bekommen hatte. Ich war erstaunt, weil Kessy eine Schachtel "Krone" aus dem Zigaretten-Regal nahm. Kessy war erstaunt, weil ich nicht rauchte und auch nicht vorhatte, damit anzufangen. Kessy war damals zehn, ich neun Jahre alt.
Berit erzählte, daß Ivo Fechtner sie neulich angerufen hat und sie gefragt hat, ob sie sich wieder mit ihm treffen wollte. Das lehnte sie ab, unter Verweis auf ihr letztes Treffen mit ihm. Damals hatten sie verabredet, daß Berit ihn auf der Arbeit abholen sollte. Als sie zur festgesetzten Zeit dorthin kam, fragte Ivo, was sie dort wollte. Sie erinnerte ihn, daß er sich mit ihr für diese Zeit und diesen Ort verabredet hatte. Da ging er mit ihr in die Innenstadt, wo sie in einem griechischen Restaurant einkehrten. Wie sich aber herausstellte, hatte er nicht einmal genug Geld bei sich, um seine Cola zu bezahlen.
Im "Doomsday" legte DJ Tayo auf, den ich aus dem "Radiostern" kenne. Unter anderem liefen "Get your body beat" von Combichrist, "Fun to be had" von Nitzer Ebb und "Kill a raver" von Leæther Strip.
Osiris war auch im "Doomsday". Er erzählte, daß er sich als Lichtmann beim Bühnenaufbau buchen läßt und damit sein Geld verdient.
Saverio erzählte, daß er noch immer mit Damian in einer WG wohnt, hier ganz in der Nähe. Damian verkrieche sich gern in seinem Zimmer, lasse sich kaum sehen. Saverio will nicht mehr als DJ unterwegs sein; es sei schwer, sich in diesem Bereich zu etablieren. Ab und zu mache er noch Musik. Eine Freundin scheint er zur Zeit nicht zu haben.
Evelyn arbeitet in einem Büro und jobbt zusätzlich in einer Spielhalle und auf einer Tankstelle. Sie weiß, daß sie nicht ewig die Kraft für drei Jobs hat, doch hat sie sich noch keine Strategie überlegt, wie sie ihre berufliche Zukunft weniger anstrengend gestalten kann. Eine Ausbildung hat sie noch immer nicht.
Tricky erzählte, daß er mit vier Leuten zum diesjährigen W.E-Fanclubtreffen fährt. Er fahre nicht wegen W.E dorthin, sondern um die Dänen und Schweden zu treffen, die er dort jedes Jahr trifft. Man sitze an einem Tisch und saufe. Den Dänen und Schweden gehe es darum, für wenig Geld viel zu trinken. Man könne zehn Bierflaschen nicht auf den Tisch fallen lassen, sie würden vorher aufgefangen.
Tricky ärgerte sich über Anwar, der sich schlecht benehme, wenn er betrunken sei. Ich meinte, wenn jemand unter Alkoholeinfluß aggressiv werde, müsse er wohl oder übel seinen Alkoholkonsum begrenzen oder ganz einstellen. Mit Diskussionen sei nicht viel zu erreichen.
Tricky erzählte von einem Zwei-Meter-Mann, der wegen schwerer Körperverletzung vorbestraft sei. Die Tat habe sich in Frankreich bei einem Spiel der Fußball-Europameisterschaft vor zehn Jahren ereignet. Das Opfer sei ein Polizist gewesen. Als der vorbestrafte Zwei-Meter-Mann auf einer Party im "Mute" aufgetaucht sei, habe er sich einen Spaß daraus gemacht, Tricky über die Tanzfläche hinweg durch lautes Schreien zu provozieren. Tricky habe sich das eine Weile angehört und schließlich den Plan gefaßt, über die Tanzfläche zu stürmen und dem Zwei-Meter-Mann eine 'reinzuhauen:
"Eine wenigstens sollte er abkriegen, selbst wenn ich fünf dafür hätte einstecken müssen."
Daraus wurde aber nichts, denn in dem Augenblick, als Tricky losjagte, wurde er von einem Security-Mann zurückgehalten. Der Security-Mann hatte die Szene beobachtet und sorgte nun dafür, daß der Zwei-Meter-Mann hinausgeworfen wurde, durch vier weitere Security-Männer.
Auf der Heimfahrt erzählte Berit, daß sie sich stationär in einer psychotherapeutischen Fachklinik in Bad B. behandeln lassen will. Heutzutage sehe man ihr nicht mehr an, daß sie seelische Probleme habe, nur noch ihr Übergewicht falle auf. Sie fresse ihre Probleme in sich hinein, statt sie nach außen zu tragen. Die Probleme seien keineswegs weg, sie seien nur verlagert. Ihr selbstverletzendes Verhalten bestehe nicht mehr in Schnittverletzungen, sondern in übermäßiger Nahrungsaufnahme. Es gehe nicht um Hunger oder um Appetit, sondern darum, bis zur Schmerzgrenze und zur Übelkeit Essen in sich hineinzustopfen, um ein Gegengewicht zu schaffen gegen seelische Qual. Sie leide vor allem unter einem verminderten Selbstwertgefühl. Berit meinte, am besten wäre es für sie, wenn immer jemand neben ihr hergehen würde und zu ihr sagen würde:
"Du bist wertvoll, du bist wertvoll."
"Das Ziel muß sein, daß man sich das selber sagen kann und unabhängig ist von Fremdbewertungen", meinte ich. "Es geht darum, die Kraft in sich selbst zu finden."
Ende Juli war ich zum Abendessen bei meiner Mutter. Calla war aus FR. zu Besuch gekommen. Sie ist seit den sechziger Jahren eine Freundin der Familie und war bis zu ihrer Rente Sozialarbeiterin. Calla erzählte, sie hätte gern eine eigene Familie gehabt, daraus sei aber nichts geworden. Sie habe sich schließlich gesagt, das Schicksal habe wohl eine andere Bestimmung für sie. Sie erzählte von den vielen Kindern, die sie in Pflegefamilien oder zu Adoptivfamilien gebracht hat, weil sie zu Hause nicht ausreichend versorgt wurden oder mißhandelt wurden. Noch heute begegnen ihr in FR. immer wieder Menschen, die sich an sie erinnern und zu ihr sagen:
"Sie haben mich gerettet!"
Am Sonntagnachmittag war ich bei Marie-Julia und ihrer Familie in Mb. Wir saßen auf der Terrasse. Die knapp zweijährige Hedy hat hellblonde Locken und sieht ihrer Mutter ähnlich. Sie geht in die Kinderkrippe. Ihr kleiner Bruder Liam ist jetzt drei Monate alt.
Marie-Julia war schon lange nicht mehr in Kingston. Sie ist in Elternzeit. Sie erzählte, in Kingston hätte ich zwei Spitznamen: "die Fledermaus" und "das Lexikon". Das hätte wohl mit langen Flatterröcken und mit Wissen zu tun.
Nic und ich machten einen Spaziergang zu dem ehemaligen Frauenkloster im Zentrum des Pilgerdörfchens Mb. Es befindet sich am Rand des Kreuzgangs hinter der Kirche und ist nach wie vor frei zugänglich. Marie-Julia und ihr Mann Nic haben in der Zeitung gelesen, daß das Kloster renoviert werden soll und daß da Mönche einziehen sollen. Bisher ist noch nicht viel passiert. Zwei Türen sind ausgehängt und in den Saal gelegt worden. Im unteren Flur fanden wir eine eingeritzte Inschrift, die besagte, daß das Kloster nach dem Krieg bis 1961 als Flüchtingsunterkunft genutzt wurde.
Am Telefon erzählte "Commodore-64-Nerd" Magnus aus E. von einem Studententreffen, das er am vergangenen Samstag veranstaltet hat. Magnus hat vor Jahren Physik studiert, das Studium jedoch nicht abgeschlossen. In dem Lokal, wo er seine ehemaligen Kommilitonen wiedersah, sei es zunächst darum gegangen, wer wieviel verdient. Danach habe man sich über Quantenphysik unterhalten und über die Frage, ob es Paralleluniversen gibt. Magnus und ich finden die Vorstellung spannend, daß es Paralleluniversen geben könnte, bewiesen wurde das jedoch nie.
Constri berichtete, daß Dereks Mutter Eda im Alter von nur sechzig Jahren ihrem Asthmaleiden erlegen ist. Sie hatte jahrzehntelang stark geraucht und bis zuletzt die Überzeugung vertreten, das Rauchen habe nichts mit ihrer Lungenkrankheit zu tun. Derek raucht nach wie vor stark. Constri bat ihn, wenigstens um des Kindes willen das Rauchen aufzugeben - damit Denise ihren Vater nicht so früh verliert wie Derek seine Mutter.
Carls Bekannter Miro hat das Rauchen auch nicht aufgegeben, nachdem sein Vater am Bronchialkarzinom gestorben ist. Die Sucht bedeutet den Suchtkranken mehr als alles andere, sie geben auch ihr Leben dafür bereitwillig hin. Laut einer Studie gibt es bei allen Suchtkranken Veränderungen im Gehirn, die dazu führen, daß sie nichts mehr genießen können außer dem Suchtmittel oder mit Unterstützung durch das Suchtmittel.
Wave erzählte in einer E-Mail von seiner Arbeit im IT-Bereich. Er habe kaum die Möglichkeit, Urlaub zu nehmen. Er sei für seinen Job nach DD. gezogen, vorher habe er auf dem Land gelebt. In seiner Firma sei eine Kindertagesstätte eröffnet worden. Eigentlich habe Tyra sich für einen Job in dieser Kindertagesstätte interessiert, allerdings habe sie sich nie dafür beworben. Wave ist enttäuscht, weil er Tyra den Weg zu diesem Job geebnet hat, sie jedoch zeigte nur flüchtiges Interesse daran.
Tyra hat schon öfters Pläne über den Haufen geworfen. Dazu gehörte auch ihr Plan, als Missionarin nach Afrika zu gehen. Sie hat mir von ihren Versuchen erzählt, möglichst viel Abstand zu Rafa zu bekommen. Diese Versuche sind bisher gescheitert. Auch das fehlende nachhaltige Interesse an dem Job in DD. kann damit zusammenhängen, daß es Tyra eben nicht gelingt, Abstand zu Rafa zu bekommen - weder räumlichen noch gefühlsmäßigen.
Wave erzählte, daß er nicht beim W.E-Fanclubtreffen war, weil Fanclub-Leiter Valerien ihm dort Hausverbot erteilt hat. Er mailte:

Außerdem würde es mir wohl das Herz zerreissen, wenn ich Shannon wieder sehen würde. Das würde mir nicht gut tun, glaube ich. Ich hab bis heute irgendwie noch zu kämpfen, und das, wo es doch schon so lang her ist und ein paar Beziehungen dazwischen liegen.

Wave erzählte, daß er seit einem Jahr mit seiner jetzigen Lebensgefährtin Jania zusammen ist und daß er mit ihr glücklich ist. Die beiden wohnen zusammen und haben einen Hund.
Berenice mailte, daß sie mit ihrem neuen Job sehr zufrieden ist. Ihr musikalisches Projekt steht vor der Veröffentlichung des ersten Albums.
Anfang August war ich bei Minette und Malvin. Sie sind umgezogen, wenige Straßen weiter, nachdem der Vermieter ihnen wegen Eigenbedarf gekündigt hatte. Beide sind zur Zeit arbeitslos.
Spätabends waren wir im "Keller" und spielten Rummykub. Danach schauten wir uns den quietschbunten, trashigen Highschool-Krimi "Der zuckersüße Tod" an. Vor allem das Ende finde ich amüsant, wenn die Königin des Abschlußballs als Totschlägerin entlarvt wird. Ihr unfreiwilliges Geständnis, das sich auf einer sprechenden Geburtstagskarte befindet, wird über die Anlage des Saales eingespielt, während sie ihre Krönungsrede hält.
Henk stellte mir seine neue Katze vor, als ich bei ihm zum Haareschneiden war. Sie heißt Bibi, wie "Bibi Blocksberg". Er hat die Katze von jemandem übernommen, der sie abgeben mußte.
An einem sonnigen Nachmittag machte ich einen Ausflug ins Grüne mit meiner Mutter, Calla und Kuni, einer Freundin meiner Mutter. Kuni weiß, wo sich ein Mausoleum befindet, das ich zuletzt vor mehr als dreißig Jahren gesehen habe. Es ist nur wenige Kilometer vom Haus meiner Mutter entfernt, liegt aber versteckt im Wald an einer einsamen Straße mit Kopfsteinpflaster, dem Alten Postweg. Es gibt keinen Hinweis und kein Schild, nur mit Kunis Hilfe fanden wir das Mausoleum wieder. Der schneeweiße Bau wurde im 19. Jahrhundert von einer vermögenden Familie errichtet. Er ist verziert mit Engelsskulpturen und hat eine Tür mit einem kunstvoll verschlungenen Gitter. Um das Mausoleum gibt es einen sorgsam gepflegten Garten mit Efeu als Bodendecker und Töpfen mit roten Geranien. In dem Maschendrahtzaun gibt es ein Loch, so daß der Garten betreten werden kann. Ich ging die Stufen zur Tür hinauf und schaute durch das Gitter in eine leere Kapelle mit einem Steinblock, der früher ein Altar gewesen sein dürfte. Hoch über dem Steinblock ist ein Engel an die Wand gemalt, schon ausgeblichen; die Wände sind ansonsten kahl. An der Rückwand des Mausoleums befinden sich Grabplatten. Über einige Stufen geht es zu ihnen herunter. Vermutlich ist dort der Eingang zur Gruft zugemauert worden. Wir machten viele Fotos.
Zum Kaffeetrinken fuhren wir an den nahegelegenen See. Der See entstand durch den Aushub für die Trasse der A7, die in der Nähe vorbeiführt. Der Autobahnlärm ist unüberhörbar. Die Gastronomie ist auf die Bedürfnisse von Dauercampern abgestimmt. Immerhin gibt es einen modernen Kaffeegarten.
Abends war ich in BI., wo Philipp seinen Geburtstag nachfeierte. Seine Tochter Celina wird in diesem Sommer eingeschult. Nino und Cal erzählten, Claire gehe es halbwegs gut, sie sei jedoch beruflich noch nicht vorwärtsgekommen. Cal studiert in OS. als Meister in einem metallverarbeitenden Handwerk als Seiteneinsteiger, mit dem Ziel, Berufsschullehrer zu werden. Er gilt dann als gesuchte Kraft und wird sofort verbeamtet, im Gegensatz zu den Lehramtsanwärtern in allgemeinbildenden Schulen.
Philipps Ehefrau Rixa erzählte, daß ihre Nichte Pandora jetzt in einer eigenen Wohnung lebt. Die Sorgen, die Rixas Schwester sich um Pandora macht, werden dadurch nicht weniger. Pandora tut nichts für ihre berufliche Zukunft.
Nachts war ich im "Zone". Chrysa erzählte, ihr neuer Job gefalle ihr immer noch sehr gut. Sie ist als Verwaltungsleiterin eines Altenheims befaßt mit Einkauf und anderen Sachthemen. Sie hat nichts mit dem Personalwesen zu tun, und das ist ihr recht, denn sie möchte sich nicht mit Personaleinsparungen und Entlassungen beschäftigen.
Chrysa war auf dem diesjährigen Sommerfestival in K. Sie erzählte, am DJ-Pult habe Rafa sich Mühe gegeben, nicht negativ aufzufallen. Vielleicht war ihm der Ärger im letzten Jahr eine Lehre.
Chrysa erinnerte sich, daß Rafa sie im Jahre 2003 anrief und fragte, ob sie bei dem Video für Das P. mitmachen wollte, das damals im "Zone" gedreht wurde. Gesucht wurden Statisten, die die Tanzfläche bevölkerten. Chrysa war einer Statistenrolle zunächst nicht abgeneigt. Als Rafa ihr aber vorschreiben wollte, was sie anziehen sollte, entgegnete sie:
"Also, wenn ich nicht meine eigenen Sachen anziehen darf, können wir es lassen."
Da beendete Rafa sofort das Gespräch.
"Er duldet keine Kreativität um sich herum", meinte ich. "Er will immer der Einzige sein, der kreative Ideen hat. Deshalb versammelt er auch nur Leute um sich, die nicht kreativ sind oder ihre Kreativität nicht zeigen. Dadurch verliert er natürlich die Möglichkeit, sich inspirieren zu lassen."
"Was man an seiner Musik merkt", setzte Chrysa hinzu. "Die ist ja nur noch einfallslos."
Ein Bekannter von Chrysa soll bei Rafas Film über eine Zeitmaschine mitgewirkt haben. Von ihm hat Chrysa die Information, daß Rafa vor Kurzem eine neue Freundin präsentiert haben soll, die noch nicht einmal zwanzig Jahre alt sein soll. Rafa wird immer älter, seine Zielgruppe bleiben jedoch junge Mädchen. Chrysa meinte, auf dem Sommerfestival in K. habe Rafa auffallend verbraucht und verlebt gewirkt. Vielleicht glaubt er, den eigenen Verfall aufhalten zu können, indem er sich wesentlich jüngere Partnerinnen sucht.
Darienne soll tief betrübt sein, weil sie durch ein noch jüngeres Mädchen abgelöst wurde. Sie ist selbst erst einundzwanzig Jahre alt.
Minette und Malvin saßen an der Bar in der Lounge und ließen sich von ihrem Lieblings-Barmixer Jo-Jo Cocktails mixen. Als ich mich zu ihnen gesellte, mixte Jo-Jo gerade mit Ruhe und Kunstfertigkeit etwas Geheimnisvolles zusammen. Er stellte vor mich und ein Mädchen, das neben mir saß, große Gläser hin. Wie Minette erklärte, waren die für uns gedacht, und wir mußten dafür nichts bezahlen.
"Das ist ja ein ganzer Obstgarten", staunte ich, als ich das Wunderwerk probierte. "Was ist da alles drin?"
Minette hatte beim Mixen zugeschaut. Jo-Jo hatte Crush-Eis, einen Apfel, Vanillesirup, Grenadine, Cranberry-Nektar, Zitronensaft und Orangensaft in den Mixer getan. Das schmeckte wahrhaft paradiesisch. Und es inspirierte mich zu einer Kurzgeschichte namens "Ein bunter Cocktail".
Am Dienstag war Constri mit Denise auf Edas Beerdigung. Danach trafen sich die engeren Verwandten bei Dereks Stiefvater, auch Constri und Denise. Derek war ohne seine Lebensgefährtin Juno da. Er traf seinen Bruder Saso wieder, der ihn durch eine Bürgschaft um viel Geld gebracht hat. Er ging Saso aus dem Weg und hielt sich sehr an Constri und Denise. Auf der Fahrt zum Friedhof saß Denise zwischen Constri und Derek im Auto, auch in der Kapelle saßen sie so, als Familie, und das bedeutete Denise viel.
Die Trauerrede sei sehr feierlich gewesen. Viele Einzelheiten aus Edas Leben seien erzählt worden. Daß Eda an den Folgen ihres Zigarettenkonsums gestorben war, habe man pietätvoll verschwiegen.
Denise wollte Derek trösten und streichelte ihm die Hand.
Constri hatte den Eindruck, für Derek war es sehr wichtig, daß Constri und Denise mit ihm auf der Beerdigung waren. Dereks Verwandte seien Constri und Denise mit viel Zuvorkommenheit begegnet.
Magenta veranstaltete zu ihrem Geburtstag eine abendliche Feier. Sie wurde dreißig. Auch Sarolyn war dabei, weil ihr Mann auf ihre Kinder aufpaßte.
Layanas Freund Levin feierte am Mittwoch seinen Geburtstag in einem Biergarten in Lnd. Der Biergarten liegt auf einem Berg am Stadtrand von H., inmitten von Gärten und Parks. Auf dem angrenzenden Grundstück befinden sich ein historischer Hochbehälter des Wasserwerks und eine Sternwarte. Layana erzählte, daß sie arbeitsbedingt oft auf Friedhöfen zu tun hatte. Wenn sie auf einem Friedhof arbeitete, mußten sie und ihre Truppe in grüner Tarnfarbe gehen und sich unsichtbar machen, wenn in der Nähe jemand bestattet wurde. Es komme gelegentlich vor, daß Erde, die für Anpflanzungen verwendet wird, Beschläge von Särgen enthält.
Cyra feierte am Donnerstag ihren Geburtstag im "Restricted Area", wie vor fünf Jahren in der kleinen Nebenlocation, eine urige Bar, mit viel Holz eingerichtet. Cyra feierte innerhalb der Woche, weil am Wochenende das Sommerfestival in HI. stattfand. Dadurch waren weniger Leute auf Cyras Feier als vor fünf Jahren. Mit Hal wollte Cyra in der Freitagnacht auf dem Festival anstoßen, denn er war DJ auf der Aftershow-Party.
Dina-Laura und Cyra hatten ihre Geburtstagsfeiern zusammengelegt. Sowohl Dina-Lauras ehemaliger Freund Arian als auch ihr jetziger Freund Cecil waren anwesend. Cecil erzählte von seinem Beruf als Polizist. Er sei schon bei Sondereinsätzen gewesen, da sei es um Schwerkriminalität gegangen und um spektakuläre Fälle, doch es sei viel Kleinarbeit und meistens langweilig und profan. Man müsse manchmal stundenlang irgendwo im Auto sitzen und warten, bis der Observierte ein Haus verläßt. Bei der Bereitschaftspolizei gefalle es ihm besser, wo er gegenwärtig eingesetzt sei. Er werde bundesweit zu Fußballspielen und Demonstrationen abkommandiert. Wenn die Polizei in der Unterzahl sei, wie in einem Haufen randalierender Demonstranten am Rande der Aktionen zum G8-Gipfel, könne man die Steinewerfer und Brandsatzwerfer nicht mehr festnehmen, sondern nur mit dem Gummiknüppel um sich schlagen. Bei Fußball-Schlägereien könne man meistens nicht mehr deeskalierend einwirken, ab einem bestimmten Pegel gehe das nicht mehr, die Hooligans reagierten nur noch auf aktive Präsenz. Ein großer, kräftiger Kerl mit Knüppel mache Eindruck auf die Hooligans, kleine, schmächtige Polizistinnen hingegen nicht. Er sei froh, daß seine Einsatztruppe nur aus Männern bestehe.
Auf Streife sei man als Polizist wesentlich gefährdeter als bei der Bereitschaftspolizei, weil man bei der Bereitschaftspolizei besser ausgestattet sei für Gewaltsituationen und weil man im Streifendienst nie wisse, was auf einen zukomme.
Bei der Autobahnpolizei wolle er niemals Dienst tun. Die entsetzlichen Unfälle, die man dort zu sehen bekomme, könne er nicht verarbeiten. Was er im Streifendienst schon gesehen habe, sei ihm genug.
Gerne sei er in Zivil in Discotheken im Einsatz, wo es ihm möglich sei, Schlägerein durch deeskalierendes Verhalten im Keim zu ersticken. Er komme näher an seine "Kunden" heran, als wenn er eine Uniform trage, und könne sie besser erreichen. Allerdings sei es schwierig, ihnen im Falle eines Falles zu vermitteln, daß er wirklich Polizist sei.
Cecil bestätigte, einer der Haupttäter im Fall des zusammengeschlagenen Polizisten bei der Fußball-Europameisterschaft 1998 in Frankreich stamme aus H., und dieser Zwei-Meter-Mann sei es wohl gewesen, dem Tricky im "Mute" begegnet sei.
Cecil erzählte, wenn er in Discotheken auf aggressive, alkoholisierte Minderjährige treffe, nehme er die mit auf die Wache und rufe deren Eltern an. Für die Jugendlichen sei das die ärgste Strafe. Sie würden lieber für den Rest der Nacht in der Ausnüchterungszelle sitzen, als daß ihre Eltern erfuhren, was sie so trieben. Manchmal frage eine verschlafene Mutter am Telefon entnervt:
"Was hat er denn jetzt wieder angestellt?"
Manchmal kämen die Eltern her, um den Sprößling zu identifizieren, seien aber nicht bereit, ihn mitzunehmen:
"Der kann hierbleiben bis zum Morgen."
Von Cecil erfuhr ich das Geheimnis der Maglite-Taschenlampe. Eigentlich ist das keine Lampe, sondern ein selbstleuchtender Prügel. Ich hatte mich immer schon gewundert, warum Maglite-Leuchten so teuer sind und so schwer und robust. Übrigens gelten die großen Maglite-Leuchten als Waffen und werden einem bei Körperkontrollen abgenommen.
In der Freitagnacht war ich im "Roundhouse". Joujou berichtete, sie sei nun gar nicht mehr sicher, ob sie ihre Stelle bei einem Software-Konzern verliere oder nicht. Man schicke sie zu Seminaren und sage heute dies und morgen das.
Am Samstag waren Constri und ich bei Hendrik und seiner Freundin Evana, die in einem winzigen Dorf bei MER. leben. Wir tranken Latte Macchiato auf der Terrasse. Hendrik hat seinen großen Garten aufgeräumt, den Boden geebnet und Gras gesät. Am Rand des Gartens gibt es ein Treppchen, das mit Solarleuchten gesäumt ist. Das Treppchen führt zum Dach eines ehemaligen Schuppens, dessen Mauern verfallen, eine romantisch umwachsene Ruine. Dort machten wir Erinnerungsfotos.
Hendriks Kater sieht krank aus und ist abgemagert, was Hendrik und Evana noch nicht aufgefallen ist. Hendrik will mit ihm in der nächsten Woche zum Tierarzt gehen.
Constri und ich besuchten vier Industrieruinen in der Region, um herauszufinden, ob sie als Filmkulissen geeignet waren. Leider waren alle unbegehbar. Mal waren die Zuwegungen abgesperrt, mal waren sie selbst versperrt, die Fenster zugemauert, die Türen zugeschweißt.
Am Dienstag war ich bei Joujou, Jeanne und Ninon in GT. Joujou erzählte, daß die dreijährige Jeanne gerne draußen mit anderen Kindern ihres Alters spielt. Sie als Mutter stehe tausend Ängste aus, doch lasse sie das Kind mit den anderen nach draußen, denn nach und nach müsse sie loslassen, das gehöre zum Leben, das Kind müsse Selbständigkeit lernen. Joujou hat die Wohnung nach Marvels Auszug dahingehend umgeräumt, daß Ninon in Jeannes ehemaligem Zimmer wohnt. Jeanne wohnt im ehemaligen Schlafzimmer, Joujou wohnt im ehemaligen Wohnzimmer. Joujou erzählte, daß sie zur Zeit keinen Lebensgefährten hat, sie lege es auch nicht darauf an.
Am Donnerstag gab es wieder Rippchen im "Keller". Dort traf ich Highscore, der berichtete, daß er seine Weiterbildungsmaßnahme im Bereich Lagerlogistik erfolgreich abgeschlossen hat. Er hat mit dieser Maßnahme die Berechtigung erworben, Gefahrgut zu transportieren. Benzin sei auch Gefahrgut. Wer die Berechtigung nicht habe, dürfe nur begrenzte Mengen davon außerhalb des Tanks transportieren.
Für Highscore und viele andere Gäste im "Keller" war das wichtigste Thema das bevorstehende Stoppelfeldrennen. Sie erzählten, in welchen Klassen ihre Autos fahren - das geht nach PS - und wie sie ihre Autos hergerichtet haben. Mavis erzählte, daß sie ihr Abitur bestanden hat und ab dem Wintersemester in HB. Politik und Geschichte studieren wird. Ins Lehramt will sie aber nicht.
Maylin erzählte, daß ihre Tochter Meryl sehr willensstark sei, sehr aufgedreht und gern zickig, "ein richtiger Wassermann".
"Ich bin auch Wassermann", sagte ich.
"Aber kein typischer", meinte Maylin.
"Ich bin doch auch ziemlich aufgedreht", meinte ich.
"Oh nein, gar nicht", widersprach Maylin. "Ich erlebe dich nur als ruhig und bedächtig."
"Das ist schön, sowas zu hören. Ich finde es schön, von anderen so wahrgenommen zu werden. Was meinst du denn, zu welchem Sternzeichen ich eher passe?"
"Steinbock."
"Rafa ist Steinbock."
"Aber kein typischer!"
An einem Samstag Mitte August waren Constri, Denise und ich in Mb. bei Marie-Julia und ihrer Familie. Deren Haus steht am Waldrand, mit unverbaubarem Blick ins Grüne. Nur ein Feldweg trennt das Grundstück vom Wald. Auf diesem Weg machten wir einen Spaziergang - alle außer Nic, dem Ehemann von Marie-Julia, der noch nicht zu Hause war.
Am Waldrand steht ein Bretterhäuschen, das einem Buswartehäuschen ähnlich sieht, aber wohl nie als solches gedient hat, eher als Unterstand. Es ist so windschief, daß man denken könnte, es fällt jeden Augenblick um. Wir machten viele Fotos vor dieser eigenartigen Kulisse.
Abends kam Nic nach Hause, und wir unterhielten uns darüber, wer von den Kollegen in Kingston alles schon tot ist. Mehrere von ihnen haben sich umgebracht oder es versucht. Welche Rolle private Gründe dabei spielten und welche Rolle der Arbeitplatz spielte, ließ sich nicht immer klären.
Am Sonntag waren Constri, Denise und ich in einem Mais-Labyrinth in der Nähe von RI., dicht an der A2. Dort wollten wir Filmaufnahmen machen. Wir mußten zweimal hinfahren, weil Constri beim ersten Versuch ihre Kamera vergaß. Das erinnerte mich daran, wie Constri in der "Neuen Sachlichkeit" den Beamer vergessen hat. Denise hatte sich zur Kulisse passend in Beige und Offwhite kleiden lassen, jedoch war es kaum möglich, mit ihr irgendwelche Aufnahmen im Labyrinth zu machen, weil sie sich nicht hineintraute. Das quengelnde Kind war nur durch ein großes Eis bei "McGlutamat" zu beruhigen.
Nachmittags besuchten wir Angelina und ihren Sohn Chay in GF. Es gab Getränke mit Eiswürfeln, die bei der sengenden Hitze guttaten. Denise und Chay spielten im Garten. Angelina lebt mit Chay in einer Wohnung auf dem Anwesen ihrer verwitweten Mutter. Angelina sitzt seit ihrer Kindheit im Rollstuhl. Ihre Mutter neigt zur Überfürsorglichkeit. Das bringt Konflikte mit sich. Angelina hat zehn Jahre lang in H. gelebt, wollte aber ihre Mutter nach dem Tod des Vaters nicht alleine lassen.
Angelina erzählte von ihrer Mutter-Kind-Kur mit Chay an der Nordsee, die den beiden gut gefallen hat. Trotz ihrer Behinderung konnte Angelina im Meer baden.
Am Samstagnachmittag war ich bei Mina zu Hause in BS. Sie ist durch ihre Krankheit sehr eingeschränkt. Wegen körperlicher Beschwerden, die zum Teil durch die Operation und zum Teil durch die Bestrahlung bedingt sind, kann sie zur Zeit ihre Beinprothese nicht tragen und bewegt sich im Rollstuhl.
Mina erzählte, daß sie ihren Geburtstag mit Arnon bei ihrer Schwester in der Nähe von GÖ. verbracht hat. Es sei ein schöner Tag gewesen. Sie befürchte, es könnte ihr letzter Geburtstag gewesen sein. Die Frage, die sie nie habe stellen wollen, lautet:
"Warum ich?"
Manchmal gehe ihr diese Frage dennoch durch den Kopf, dabei wisse sie, daß sie sinnlos sei, weil nicht zu beantworten; außerdem sei mit einer solchen Frage niemandem geholfen.
Sie sei froh, einen Lebensgefährten wie Arnon zu haben.
"Vor zehn Jahren wäre das mit dem Mann und mir noch nicht gegangen", meinte sie. "Heute ist das anders."

Mina erzählte, sie habe immer denselben Traum, von einem Zimmer, in dem ein Kaminfeuer brenne, davor stehe ein schickes, gemütliches Sofa, und zu beiden Seiten würden in Standleuchtern Kerzen brennen.

Mina würde gerne wieder arbeiten gehen, weiß aber nicht, ob sie das noch einmal schafft.
An Azura mailte ich:

Wie geht es deinem Vater? Hat sich der böse Verdacht bestätigt, oder gibt es Entwarnung?
Im September will ich nach HH. zu dem Konzert von Mêlée, eine Band zwischen Kunst und Kitsch und für mich inspirierend. Es ist aber auch nicht einfach, sich zwischen Kunst und Kitsch, zwischen Kult und Sentimentalität sicher zu bewegen. Coldplay, die ähnlich sind im Stil, kriegen das ganz gut hin, finde ich.
Nüchternheit und Gefühle miteinander zu vermischen, das versuche ich immer, wenn ich schreibe. Diesen Kontrast mag ich. Besonders krass fällt der Kontrast aus in "Abstrakte Kunst".

Außer dem Link zu der Kurzgeschichte "Abstrakte Kunst" schickte ich Azura auch die Links zu den Kurzgeschichten "Wasteland" und "Ein bunter Cocktail". "Wasteland" ist mit einem Foto illustriert, das ich 1981 an einem Umsteigepunkt der Seilbahn auf dem Reißeck gemacht habe. Ich habe es bearbeitet, so daß die Fenster in dem hangaufwärts liegenden Gebäude größer wirken. Einsam steht es in der nebligen Felsenwüste des Hochgebirges. In "Ein bunter Cocktail" werden Standard-Elemente aus Groschenromanen gemischt. Im Grunde kann man Groschenromane von Schreibprogrammen automatisch herstellen lassen, weil sie aus immergleichen Elementen zusammengesetzt sind. "Romanschreibemaschinen" gab es bereits in "1984" von George Orwell. In "Ein bunter Cocktail" werden die Roman-Elemente zerhackt, wie Obst für einen Fruchtcocktail.
Azura mailte, ihr Vater habe sich einer komplikationsreichen Operation unterziehen müssen. Eine bösartige Erkrankung habe man jedoch nicht gefunden. Ihr Vater sei 67 Jahre alt und sehr sportlich. Ein Krankenlager sei für ihn etwas Ungewohntes, mit dem er schwer zurechtkomme.
Azura und Antoine wollen im Oktober gemeinsam Urlaub machen, auf Teneriffa, wo es Azura ganz besonders gefällt.
Zu den Kurzgeschichten "Abstrakte Kunst", "Wasteland" und "Ein bunter Cocktail" schrieb Azura:

Deine Geschichten sind wie immer brillant mit spitzer Zunge und Zynismus. Ich frage mich manchmal, ob was Autobiographisches mitschwingt oder ob Du Dir das alles frei ausdenkst. Ich hab in meinen Stories und Gedichten, die ich lange Zeit schrieb, jedoch vor der Computer-Ära, immer irgendwie Persönliches verarbeitet, manchmal offensichtlich, manchmal subtiler.

An Len mailte ich:

Vor einiger Zeit war ich bei einer Fortbildung in Bad O., da hielt einer einen Vortrag über Unternehmensführung, der gehörte zu Boston Consult. Dieses Unternehmen propagiert, die Mitarbeiter sollen frohgemut unmenschliche Arbeitzeiten hinnehmen und statt geregelten Urlaubs selbstfinanzierte Sabbaticals nehmen. Alles soll nach amerikanischem Vorbild totalitaristisch gestaltet bzw. verunstaltet werden. Das klang ziemlich nach Walmart und Scientology. Mit solchen Typen hattest du doch auch schon zu tun, nicht?
Der Vortrags-Typ hat sich gebrüstet, seine Mitarbeiter hätten alle eine Top-Ausbildung und wüßten nichts Besseres damit anzufangen, als sich in einem unmenschlichen System selbst zu verheizen. Du hattest ja von einem in M. erzählt, der hat dir erzählen wollen, wie du was machen solltest, und hatte selbst keine blasse Ahnung. Das war so ein Consulting-Zeug wie McKinsey oder eben BCG (aber nicht der Impfstoff). Die sollen nur die Unternehmen auf Kosten von Kunden und Mitarbeitern heruntersparen und fressen selbst unmenschlich viel Geld. Angeblich soll es Usus sein, daß ein Geschäftsführer, der ein Unternehmen heruntersparen will, eine Consulting-Firma nur zu dem Zweck mietet, daß sie seine eigenen Sparpläne als neu erkannte Notwendigkeit den Mitarbeitern verkauft. Damit entzieht sich der Geschäftsführer der Verantwortung.

Ende August fuhr ich nach Langeoog. Dort erwarteten mich Constri, Denise und meine Mutter. Wir hatten wieder eine gemütliche Ferienwohnung in dem Haus, wo wir uns schon im letzten Jahr eingemietet haben. Im Meerwasser-Wellenbad trug Denise noch Schwimmflügel. Ich nahm sie mit auf die Rutsche. In den tiefen Teil des Wellenbeckens durfte sie noch nicht.
Das Wetter war und blieb sommerlich. Wir machten Strandspaziergänge und kehrten in der Strandhalle ein, wo es Waffeln und heißen Sanddornsaft gab und für die Erwachsenen Pharisäer. Das ist Kaffee mit Rum und Schlagsahne. Wir besichtigten ein Museums-Rettungsboot und wanderten zu einer Aussichtsdüne. Constri und ich besuchten eine Filmvorführung. Der Film handelte von Sturmfluten. Ein älteres Ehepaar erzählte von angetriebenem Strandgut. Vor vielen Jahren sei eine große Menge Sherry angetrieben worden, den hätten die Inselbewohner im Kochgeschirr untereinander aufgeteilt. Man habe eigenartige Verwendungsmöglichkeiten gefunden:
"Lecker, Sherrysuppe mit Sago. Die Kinder lagen nachher so unterm Tisch."
Einmal sei ein Container voller Turnschuhe angetrieben worden. Die Insulaner hätten seitdem alle solche Turnschuhe, würden sich aber schämen, sie zu tragen.
Constri und ich dachten uns in der Strandhalle Unsinns-Namen für ostfriesische Trachtenchöre aus und schrieben sie ins Reisetagebuch:
"De Schlammbuddlers", "De Schlickplantschers", "De Pausenfüllers", "De Seenotpaddlers", "De Stuerradverreißers", "De Opgrundlaufers", "De Shipbreakers", "De Isbergrammers".
Constri hat sich auch Namen für erfundene Vögel ausgedacht, darunter die "Störeule", die zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens Balzgesänge von sich gibt und die Leute um den Schlaf bringt. Man könnte noch den "Sumpfschwätzer" hinzufügen, nicht zu verwechseln mit dem "Dummschwätzer".
Constri und ich waren nachts am Wasserturm. In den Rohren des Geländers, das die Aussichtsplattform abgrenzt, konnte man den Wind heulen hören. Das dumpfe Heulen erinnerte an den Klang von Digeridoos.
Auf Langeoog hatte ich zwei verstörende Träume:

Im ersten Traum wurde ich von meinem bisherigen Arbeitgeber in Bad O. umworben und mit hohen Gehaltsversprechungen um Rückkehr gebeten. Dadurch war ich verwirrt und schaffte es nicht, am Montagmorgen rechtzeitig an meinem jetzigen Arbeitsplatz zu erscheinen. Im Büro der Chefsekretärin wollte ich erzählen, was mir zugestoßen war, meine Anwesenheit wurde aber nicht wahrgenommen. Also versuchte ich, so schnell es ging, meine Station aufzusuchen und endlich mit dem Arbeiten zu beginnen. Stattdessen landete ich in einer Kirche und kletterte in der Nähe des Altars auf einem Steingeländer herum. Constri und Denise waren dort auch. So endete mein Versuch, in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Im zweiten Traum wurde ich von einem Berufsverbrecher entführt, der mich einige Zeit zuvor schon einmal entführt hatte, damals konnte ich aber fliehen. Dieses Mal traf ich lauter Komplizen im Versteck des Entführers, aber nirgends war Polizei zu sehen oder zu ahnen. Ich fragte mich, wer nach mir suchen würde und wo und wann. Ich hatte das Gefühl, niemand suchte nach mir. Weil ich fort war, konnte ich meine Pflichten nicht erfüllen, das war meine besondere Sorge.
Als der Berufsverbrecher begann, anzügliche Sprüche zu machen, entgegnete ich, er brauche sich keinen Hoffungen hinzugeben. Kurz darauf hatte sich der Verbrecher in ein kriminelles junges Mädchen verwandelt. Die Komplizen wirkten wie Familienangehörige des Mädchens.

In beiden Träumen endete die Gefahr nur durch das Aufwachen. Ich konnte mir nicht selbst helfen, sondern sah mich einem zynischen Schicksal ausgesetzt.
Ich fuhr bereits vor dem Wochenende nach Hause, eher als die anderen. Meistens habe ich an den Wochenenden so viel vor, daß ich keine ganze Woche verreise.
Beatrice berichtete per SMS, daß sie ihre leibliche Mutter getroffen hat, zum ersten Mal seit ihrer Geburt. Beatrice ist als Adoptivkind aufgewachsen. Ihre Adoptiveltern sind schon lange tot. Beatrice und ich verabredeten uns. Dann will sie mir mehr über das Treffen mit ihrer Mutter erzählen.
Als ich wieder bei Henk zum Haareschneiden war, gab es Kuchen. Zwei seiner Bekannten und seine Mutter waren da. Henks Mutter erzählte, sie habe sich von ihrem Schlaganfall gut erholt, leide aber immer noch unter Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen.
Am Samstag war ich mit Jas bei "Stahlwerk". Jas erzählte von Cyrus, einem alten Freund von Kappa. Cyrus sei bei dem Plattenlabel, wo er angestellt sei, recht herrisch aufgetreten. Als Rammstein dort einen Vertrag haben wollten, habe Cyrus sie abgelehnt. Angesichts der Karriere, die Rammstein inzwischen gemacht haben, ist es allerdings unwahrscheinlich, daß sie lange bei dem kleinen Label geblieben wären, für das Cyrus arbeitet.
Cyrus soll einmal Jas und Gavin ebenso arrogant und herablassend behandelt haben, wie er Musiker zu behandeln pflegt. Jas und Gavin hätten Cyrus daraufhin im Auto mitgenommen und seien so lange mit ihm auf einem Kreisverkehr Karussell gefahren, bis Cyrus sich für sein Verhalten entschuldigte. Danach soll Cyrus sich Jas und Gavin gegenüber nie mehr arrogant verhalten haben.
Jas erzählte, daß Cyrus und seine Frau Deirdre sich getrennt haben. Ihre beiden Kinder - ein Junge und ein Mädchen - leben bei Deirdre.
Jas erinnerte sich daran, wie er vor Jahren seinen Geburtstag groß in OL. feierte. Er gab eine Tanzveranstaltung mit Freikarten und Freigetränken für die geladenen Gäste. Rafa legte auf, das DJ-Set war sein Geburtstagsgeschenk. Es sei eine sehr gute Stimmung gewesen. Rafa habe durchs Mikrophon die Gäste aufgefordert, Jas hochleben zu lassen. Finanziell sei die Party so gut organisiert gewesen, daß Jas nur einen sehr geringen Verlust machte, ungefähr in dem Rahmen eines gewöhnlichen Partybudgets.
Am Sonntag gab ich ein Damenkränzchen. Terry erzählte, daß sie sich von ihrem langjährigen Lebensgefährten Linus getrennt hat. Linus habe zu viele Versprechen nicht eingehalten. Er sei außerdem mehr in dem Internet-Phantasieuniversum "Second Life" unterwegs als im richtigen Leben. Linus und Terry leben jetzt als WG und warten ab, ob es gutgeht.
Elaine erschien zum Kränzchen mit ihrer vierzehnjährigen Freundin Jacy. Beide Mädchen trugen blaue Stirnbänder mit einem Emblem aus gestanztem Metall. Diese Stirnbänder sollen das Zeichen einer bestimmten Manga-Kämpfer-Riege sein. Elaine trug fingerfreie schwarze Handschuhe und erklärte, daran könne man erkennen, daß sie langsam eine "Böse" werde. Als "Böse" gucke sie emotionslos. Sie gab sich Mühe, emotionslos zu gucken. Lange hielt sie das freilich nicht durch.







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Am Freitag kamen Terry und ich gegen zehn Uhr abends in den "Keller", wo Rafa seinen Film über eine Zeitmaschine vorführte. Rafa stand am Durchgang zum Gastraum, der bei Parties auch als Tanzsaal dient. Dort war es dunkel, weil der Film lief. Rafa trug das schwarzweiße Hemd mit den vielen Totenschädeln darauf. Eine Brille trug er heute nicht. Er verschwand im Dunkel des Gastraums, als er Terry und mich erblickte. Terry und ich setzten uns gleich hinter dem Durchgang auf eine Bank und schauten uns den Film an. Rafa setzte sich über Eck von uns auf eine Bank, nah bei uns. Ich hatte mich für das "Roundhouse" zurechtgemacht, mit einem spitzenbesetzten schwarzen Korsett und den Lack-Puffärmeln. Um ein Uhr wollten Terry und ich zum "Roundhouse" fahren.
Rafa lief häufig zwischen Schankraum und Gastraum hin und her und kehrte zwischendurch immer wieder zu seinem Platz auf der Bank zurück. Er klagte über die hölzernen Vorsprünge, an denen er sich stieß. Er vermutete, morgen habe er bestimmt lauter blaue Flecken.
Auf der Leinwand lief gerade die Szene, in der Rafa und Dolf versuchen, eine Zeitmaschine aus den vierziger Jahren wieder zum Laufen zu bringen. Rafa genoß seinen Film und lachte öfters, auch über die Szene, in der Dolf immerzu essen will und nie dazu kommt, weil das Essen mit der Zeitmaschine in die Zukunft geschickt wird. Einmal schrie Rafa wild auf, wobei für mich nicht nachvollziehbar war, weshalb; es schien aus ihm herauszubrechen. Es hörte sich an wie Kampfgeschrei auf dem Schulhof.
Als der Film zu Ende war, lief Rafa zu dem Beamer, der in der Saalmitte aufgestellt war, und fragte:
"Den Abspann wollt ihr noch sehen, ja?"
Alles nickte.
Rafa ließ den Abspann bis zum Ende laufen. Dann setzte er sich auf eine Bank in der Nähe des Beamers. Kerzen wurden angezündet, und Rafa hielt Hof. Er erzählte von der Entstehung des Films und beantwortete Fragen. Er berichtete, der Film habe zunächst nur als Rohkonzept existiert und sich während der Dreharbeiten erst entwickelt. Er habe nur gedacht, was nehmen wir?
"Die hat dicke Titten, die können wir brauchen."
- und das war nicht die einzige sexistische Äußerung von Rafa. Freilich sagte niemand etwas dazu, und ich war mir dafür auch zu schade. Ich würde Rafa lieber im privaten Rahmen auf sein Frauenbild ansprechen.
Als Rafa gefragt wurde, wer wofür verantwortlich war, erzählte er, der Kameramann sei beim WDR. Die Kameraführung ist in der Tat eines der wenigen professionell wirkenden Elemente des Films. Rafa merkte an, der vom WDR, das sei einer, der habe wirklich Geld, und dem gehöre auch der Porsche, den Rafa in dem Film fährt.
"Und das Drehbuch und die Regie?" fragte jemand.
"Das hab' ich alles selbst gemacht", antwortete Rafa.
Er schien das Lob, das er erntete, zu genießen, und setzte gleich hinzu, der Film habe nicht den Anspruch, ein Hollywood-Streifen zu sein; es sei ein B-Film, und so sei er auch gedacht.
Anderthalb Jahre habe die Herstellung des Films gedauert, und mit dem Ergebnis sei er durchaus zufrieden.
Rafa lobte Hagvin, den Darsteller des Professors:
"Hagvin ist kein Schauspieler, aber ich fand den gut. Ich fand den echt gut als Professor. Der hat das gut 'rübergebracht."
Ich bin der Meinung, daß Hagvin unter den Darstellern der Glaubwürdigste ist. Die anderen spielen eher hölzern. Einige wirken in ihren Kostümen wie verkleidete Schüler.
Heute waren mehrere Komparsen aus dem Film im Publikum, darunter Ivco und Highscore. Außerdem traf ich Carole, Laurence aus HD. und viele weitere Bekannte. Nachdem ich sie begrüßt hatte und wieder zu meinem Platz ging, nahm ich die Gelegenheit wahr, über Rafas Rücken zu streicheln. Rafa trug eine wohlgelaunte Stimmung zur Schau und schien nicht zum Streiten aufgelegt. Er sagte an, für die "Ivco-Fraktion", die etwas später gekommen sei, wolle er gerne den Anfang des Films noch einmal zeigen, und ob dies die Zustimmung des Publikums finde?
Ja, es hatte niemand etwas dagegen, also kamen auch Terry und ich, die wesentlich später erschienen waren, noch dazu, den Film ganz anzuschauen, denn Rafa ließ ihn wieder bis zum Schluß durchlaufen.
Die meiste Zeit war Rafa vorne im Schankraum, setzte sich dann aber wieder auf seinen Platz schräg gegenüber von mir. Er stellte ein großes Bierglas vor sich hin.
Der Film war fast vorbei, da gelang es Rafa endlich, mich anzusprechen:
"Na, Hetty, was sagst du zu dem Film? Is' gut? Oder is' sch...?"
"Der Film hat einen positiven Trash-Aspekt", antwortete ich aufrichtig.
"Genau das soll er auch haben", nickte Rafa, "kein Hollywood-Film, sondern ein B-Film."
"Das ist auch gelungen", bestätigte ich. "Der Film versucht gar nicht, ein Hollywood-Film zu sein, und das macht ihn sympathisch."
"Er hat Charme, nicht?"
"Ja, er hat Charme. Und die logischen Brüche passen durchaus ins Konzept, wie bei 'Plan 9 from outer Space'. Du guckst auch gerne 'Plan 9 from outer Space', nicht?"
"Mein Style ist eher 'Bettgeflüster' mit Doris Day."
"Ich mag 'Flash Gordon conquers the Universe' von 1936", erzählte ich. "Und ich mag 'Raumpatrouille Orion'."
"Das, genau das ist ein Vorbild."
"Herrlich, mit dem Bügeleisen!" schwärmte ich.
Ich meinte, Rafas Film gehöre halt nicht zu den Filmen, die in Kinopalästen wie dem 'Cinnamon' laufen. Rafa widersprach:
"Der lief schon im Kinopalast."
"Im Rahmen des Festivals in L., nicht im normalen Kinoprogramm."
"Ja, im Rahmen."
"Und man merkt, daß ihr euch viel Mühe gegeben habt", betonte ich. "Allein schon, daß ihr einen Film von dieser Länge zustandegebracht habt, ist eine besondere Leistung."
"Die Länge ist etwas problematisch", meinte Rafa. "Der Film liegt genau zwischen Kurzfilm und Spielfilm, und man weiß nicht so recht, wie man ihn einstufen soll."
"Für die kommerzielle Verbreitung wird das kein Problem sein, weil der Film als DVD einem deiner Alben beigelegt wird."
Rafa beschrieb die Momente in dem Film, die ihm besonders gefielen. Dazu gehören die Aufnahmen von Katastrophen, die Rafa aus den Medien übernommen und rückwärts abgespielt hat. Besonders gefällt ihm, wie der Atompilz von Hiroshima wieder eingesaugt wird. Alles sei in dem Film versammelt, eine gute Mischung - der Kennedy-Mord, der 11.09.2001, die Katastrophe von Ramstein, die Challenger-Katastrophe ...
"Ich hätte auch Gladbeck gerne dabeigehabt", merkte ich an, "das besonders."
"Ach - daß die Silke wieder in den Bus steigt ..."
"Ja."
"Da gibt es ja komischerweise keinen Live-Mitschnitt von."
"Ja, obwohl so viel Presse vor Ort war."
"Ich gehe mal eben eine rauchen", sagte Rafa und entfernte sich eilig.
Rafa blieb draußen, bis der Film zu Ende war. An dem Tisch im Schankraum verteilte Rafa Filmplakate und Autogrammkarten. Nach einer Weile rief er in den Gastraum:
"So, wer Filmplakate geschenkt haben will - einfach herkommen!"
Etwas später kam Rafa in den Gastraum zurück.
"So, ich rauche jetzt!" rief er, wohl um herauszufinden, ob sich Protest regte.
Es protestierte niemand.
"Mavis!" forderte Rafa. "'n Ascher!"
"Das sagt man anders", berichtigte Bibian.
Da korrigierte er sich:
"Mavis! Kannst du bitte einen Ascher bringen?"
Mavis kam mit einem Aschenbecher herein, und Bibian erklärte, das sei nur ein Test gewesen. Sie gestattete aber, daß der Aschenbecher im Gastraum aufgestellt wurde, und Rafa rauchte von da an hier unten, ebenso Bibian und einige andere Gäste.
Rafa verteilte Zigaretten im Gastraum. Mich und Terry ließ er aus; er konnte sich wohl denken, daß uns nicht danach war.
Etwas später kam Rafa mit einem Rundtablett in den Gastraum, auf dem sich viele Gläschen mit Waldmeister-Sahne-Likör befanden, eine von mir sehr geschätzte Spezialität im "Keller". Rafa hielt sogleich Terry und mir das Tablett hin, damit wir uns jeder ein Gläschen nehmen konnten. Dann ging er weiter und verteilte die Gläschen an die übrigen Gäste. Wir lobten das Getränk sehr. Als das Tablett leer war, ging Rafa wieder zum Schankraum, mit den Worten:
"Das habe ich ausgegeben. Und ich war so uneigennützig, daß ich für mich selbst keins mehr habe."
Allmählich leerte sich der "Keller". Rafa befaßte sich nun mehr und mehr mit einem sehr jungen Mädchen in einer taillierten roten Jacke, das lange dunkle Haare trug. Es saß meistens mit einem anderen Mädchen auf einer Bank vor einem Tisch schräg gegenüber von mir. Rafa setzte sich rittlings auf die Bank zu dem rotgekleideten Mädchen und balzte, mit Küßchen und Schmeicheleien. Ein solches Verhalten zeigt Rafa normalerweise nur mit neuen Eroberungen, wie vor elf Jahren mit Berenice. Wenn sich daraus ein Verhältnis entwickelt hat, wird dieses später meistens versteckt, und Rafa tut in der Öffentlichkeit so, als sei er noch zu haben. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich bei der Rotgekleideten um das Mädchen, von dem Chrysa mir erzählt hat und das Rafa als neue Freundin präsentiert haben soll. Das Mädchen lächelte triumphierend und schien sich als Siegerin um Rafas Gunst zu fühlen.
Veva, die auch bei dem rotgekleideten Mädchen am Tisch saß, bat Rafa um eine Rolle in seinem nächsten Film. Rafa erklärte:
"Was ich sage, wird gemacht, genau das. Das mußt du wissen."
"Auf diese Art der Zusammenarbeit kann ich gerne verzichten", dachte ich.
Rafa packte seine Sachen. Zwischendurch stellte er sich vor den Tisch, wo Veva und das rotgekleidete Mädchen saßen, und erzählte von einem Foto-Kalender, den er gerne machen würde, mit halbnackten Mädchen:
"Dann muß die die Hose ein bißchen 'runterziehen, aber nicht wie zum Sch..., sondern ein bißchen keck, so, daß man das A...geweih sieht."
"Du mußt dir die Hose 'runterziehen", sagte ich zu Rafa, als er die Pose andeutete, die er bei seinem Fotomodell zu sehen wünschte. "Du mußt alles ausziehen."
"Das will doch keiner sehen!" rief er und berichtigte sich:
"Du willst das sehen. Du."
"Ja!" bestätigte ich. "Ich will dich ohne Kleider sehen."
"Du und ich", sagte Rafa zu Marie-Jo, "wir ziehen uns aus ... und wer fotografiert das?"
"Ich", sagten das rotgekleidete Mädchen und ich.
"Also, Fotografen gibt es schon mal genug", stellte Rafa fest.
Wirtin Bibian scheint schon lange verliebt in Rafa zu sein. Auch heute umarmte sie ihn immer wieder, kraulte ihn, kuschelte sich an ihn. Rafa erwiderte ihre Zärtlichkeiten nicht, hatte aber offenbar auch nichts dagegen.
Schließlich hatte Rafa alle seine Sachen zusammengepackt. Er beschäftigte sich weiter mit dem rotgekleideten Mädchen. Er setzte sich wieder zu ihr auf die Bank und balzte.
Bevor Terry und ich aufbrachen, verabschiedete ich mich von Magdalena, die im hinteren Teil des Gastraums saß. Auf dem Weg zum Ausgang kam ich an Rafa vorbei, der rittlings mit dem rotgekleideten Mädchen auf der Bank saß, sie ihm gegenüber. Ich kraulte Rafa im Genick, schüttelte ihn ein bißchen in Raubtiermanier und ging mit Terry weg.
Im "Roundhouse" amüsierte ich mich über das T-Shirt, das Max heute anhatte. In Rosa stand darauf "iPorn", unter einem dazu passenden Bild. Max erzählte, daß es auch T-Shirts mit der Aufschrift "iHang" gibt, mit dem Bild eines Erhängten.

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